Lila's Secret, Band 1: Trügerische Nähe - Sarah Alderson - E-Book
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Lila's Secret, Band 1: Trügerische Nähe E-Book

Sarah Alderson

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Beschreibung

Lila ist unsterblich in Alex verliebt - in den besten Freund ihres großen Bruders, dessen eisblaue Augen sie fesseln, der so undurchschaubar und unerreichbar weit weg ist. Doch Alex ist lebensgefährlich für sie. Denn wenn er ihr dunkles Geheimnis und von ihren Kräften erfährt, wird er sie unerbittlich jagen.

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Seitenzahl: 408

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017© 2013, 2017 der deutschen Fassung Ravensburger Verlag GmbH Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 in der Ravensburger Verlag GmbH unter dem Titel »Ein Herzschlag danach«.Die Originalausgabe erschien 2011 bei Simon & Schuster UK Ltd unter dem Titel »Hunting Lila«Copyright © 2011 by Sarah AldersonPublished by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd1st Floor, 222 Gray/s Inn Road, London, WC1X 8HBA CBS CompanyAll rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system without permission in writing from the Publisher.Übersetzung aus dem Englischen: Karlheinz Dürr Umschlaggestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von © Artem Meleshko/Shutterstock; © Aleshyn_Andrei/Shutterstock; © Super Prin/ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-47843-9www.ravensburger.de

1

Die scharfe Spitze bewegte sich auf sein Auge zu wie ein Skalpell auf ein Geschwür. Erst jetzt merkte ich, dass ich das Messer hielt.

Nein, ich hielt es nicht. Ich führte es.

Wie gebannt starrten wir alle drei auf das Messer, das vor uns in der Luft schwebte. Der Junge, auf dessen Auge die Spitze gerichtet war, ließ mich abrupt los. Seine Arme fielen herab wie die einer Marionette, der die Fäden durchgeschnitten wurden.

Und auf einmal spürte ich es: das Gewicht des Messers in meinen Gedanken. Klirrend fiel das Messer auf das Straßenpflaster. Ich konnte den Blick nicht davon lösen.

Endlich hob ich den Kopf. Die beiden Jungen hatten sich bereits auf ihre Räder geschwungen, traten wild in die Pedale und versuchten, die durchdrehenden Reifen auf dem schmalen Gehweg unter Kontrolle zu bringen. Unsicher, wie in Panik, rumpelten sie über die Bordsteinkante, rasten mitten auf der Fahrbahn los, stießen zusammen, stürzten beinahe und verschwanden um die nächste Ecke.

Ich kauerte immer noch am Boden. Der Verkehrslärm von der Hauptstraße, kaum zehn Meter entfernt, dröhnte plötzlich wieder auf mich ein und übertönte das würgende Keuchen, das klang, als würde neben mir jemand mit einer Schlinge aus Stacheldraht erdrosselt. Ich sah mich um, bis ich merkte, dass es von mir selbst kam. Ich biss mir auf die Lippen, dann stand ich langsam auf.

Ein scharfer Schmerz schoss durch mein rechtes Bein und brachte mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Unsicher schaute ich mich um, versuchte mich zu orientieren. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass ich an der Ecke meiner Straße stand. Einer der Radfahrer war mit mir zusammengeprallt, Vorderrad und Lenkstange hatten blutige Schrammen auf meinen Schenkeln hinterlassen. Ein dünnes, blechernes Geräusch drang aus den Ohrstöpseln, die an den Kabeln um meinen Hals hingen, und meine rechte Hand umkrampfte fest den Griff der Schultasche, die sie mir hatten entreißen wollen.

Maria war nicht da, als ich nach Hause kam, und mein Vater sowieso nicht. Er würde erst in einer Woche oder so zurückkommen. Das Haus hallte hohl wie ein leerer Kühlschrank. Ich hängte die Sicherheitskette an der Haustür ein, lehnte mich gegen die Wand und atmete tief durch. Dann hinkte ich die Treppe hinauf ins obere Bad, klappte die Klobrille hoch und übergab mich, bis nichts mehr kam außer einem dünnen, graugrünen Schleimfaden. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich sie auf dem weißen Porzellan nur verschwommen sah. Ich setzte mich auf die Fliesen, zog die Knie an die Brust und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.

Woher auch immer sie kommen mochte – ich durfte diese irre Gedankenkraft nicht mehr einsetzen, so viel war klar. Allerdings hatte ich sie auch gar nicht einsetzen wollen. Es war einfach passiert, so unbewusst wie das Atmen. Und dabei hatte ich beinahe einem Menschen ein Auge ausgestochen. Ich hatte überhaupt nicht nachgedacht. Hatte die Kontrolle verloren. So sehr, dass ich offenbar gemeingefährlich geworden war. Nur durch einen winzigen Gedanken, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Ich hätte dem Jungen die Klinge ins Auge rammen können und es wäre nicht schwerer gewesen, als ein gekochtes Ei zu köpfen. Plötzlich musste ich wieder würgen. Ich biss die Zähne zusammen und schluckte heftig dagegen an.

Bis zu diesem Augenblick war sie mein kleines Geheimnis gewesen, diese absurde Psychokraft, mit der ich Gegenstände nur durch meine Gedanken bewegen konnte. Ich hatte sie gewissermaßen ordentlich verschnürt und verpackt und so eng an mich gebunden, als wäre sie ein deformiertes Extraglied an meinem Körper – wie ein sechster Finger oder ein dritter Arm. Etwas, was ich nicht allen zeigen wollte. Aber jetzt wussten zwei vollkommen fremde Menschen davon und einen von ihnen hätte ich beinahe zum Blinden gemacht.

Während ich im Dunkeln auf dem Boden kauerte, wartete ich auf das Klopfen an der Haustür – auf die Polizei oder die Männer in den weißen Kitteln mit der Zwangsjacke. Ich würde mich widerstandslos von ihnen abführen lassen. Denn ich war eindeutig zu gefährlich, um noch länger frei auf den Straßen Südlondons herumzulaufen. Womöglich war ich verrückt. Auf jeden Fall nicht normal.

Zitternd hockte ich auf dem kalten Boden, wartete und wartete. Aber das Klopfen kam nicht.

Schließlich löste ich meine verkrampften Hände voneinander und rappelte mich mühsam hoch. Ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich würde sie nie mehr einsetzen, diese Kraft, und nie mehr hieß ab sofort niemals mehr. Ich würde damit nicht mehr Türen öffnen, das Licht ein- oder ausschalten oder das Brot schneller toasten – und ganz bestimmt würde ich sie niemals mehr einsetzen, um mich gegen jugendliche Taschendiebe zu verteidigen.

Natürlich würde ich eine Weile an Entzugserscheinungen leiden. Aber das war entschieden besser, als mein Leben in der Klapsmühle zu verbringen.

Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, spülte den bitteren Geschmack aus dem Mund und warf einen Blick in den Spiegel – ein bleiches Gesicht mit schwarzen Schatten unter den Augen starrte zurück. Wie eine Leiche. Nur sah eine Leiche wahrscheinlich sogar nach zehn Tagen noch besser aus. Meine Haare waren ein einziges blondes Chaos und die Lippen so blass, dass sie kaum von der Haut zu unterscheiden waren. Ich betrachtete meine zerschrammten Beine, lehnte mich gegen das Waschbecken und streifte mir vorsichtig die zerrissene Strumpfhose ab. Auf der rechten Schenkelseite hatte sich ein riesiger Bluterguss gebildet und inzwischen eine interessante Schwarzfärbung angenommen. Auf der blassen Haut wirkte er grausig. Vorsichtig tastete ich ihn ab und zuckte zurück. Hartes, geronnenes Blut war unter der Haut zu spüren. Ich wollte das Bein belasten – und schrie auf vor Schmerzen. Wieder warf ich einen Blick auf mein Spiegelbild und zwang mich, die Tränen zurückzudrängen, die mir in die Augen schossen.

Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Ich sehnte mich nach meinem großen Bruder Jack. Ich wünschte, er würde plötzlich neben mir auftauchen und mich retten, wie damals, als ich fünf war und ein Bein gebrochen hatte. Mit jeder Faser meines Körpers sehnte ich mich nach ihm. Zugegeben, natürlich hätte ich auch Alex gern bei mir gehabt. Jacks besten Freund wünschte ich mir genauso sehr herbei wie meinen Bruder. Oder vielleicht sogar noch ein bisschen mehr.

Terminal 5 am Heathrow Airport: eine riesige Halle in Weiß. Es war kurz vor Mitternacht. Die Anzeige der Abflugtafel schien stehen geblieben zu sein und ich versuchte, sie durch meinen Blick wieder zum Leben zu erwecken. Wenn ich doch sofort an Bord gehen könnte und nicht erst in sechs Stunden! Schon deshalb, weil mein Dad in dieser Zeit durchaus herausfinden konnte, dass ich seine Kreditkarte geklaut hatte. Mit jeder Minute stieg die Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass er nicht nur mich, sondern das ganze Flugzeug am Abflug hindern würde. Aber sosehr ich auch auf die Anzeige starrte, ich konnte sie nicht dazu bringen, sich schneller zu bewegen. Und eigentlich hatte ich ja beschlossen, Enthaltsamkeit zu üben.

Langsam ließ ich mich wieder in den Sitz zurücksinken. Lähmende Verzweiflung legte sich über mich. Vielleicht war es schiere Panik. Ich musste mir eine wirklich gute Ausrede für Jack und für Dad einfallen lassen. Die E-Mail, die ich Jack geschickt hatte, würde nicht viel nützen. Es war nur eine einzige lapidare Zeile: Überraschung!!! Komme dich in L.A. besuchen. Bin gegen Mittag da. Küsschen, Lila.

Und keinerlei Erklärung.

Aber welche halbwegs glaubhafte Begründung hätte ich ihm schon liefern können? Habe jemandem mit meiner psychotischen Gedankenkraft beinahe ein Messer ins Auge gerammt. Ist es okay, wenn ich für eine Weile bei dir bleibe? Das würde ungefähr so gut ankommen wie die Mitteilung, dass ich schon mein ganzes Leben lang in seinen besten Freund verliebt war.

Ich atmete tief ein. Dieses Mal saß ich wirklich in der Patsche. Deshalb machte ich das, was ich in Stresssituationen immer tat: Ich kramte sämtliche bruchstückhaften Erinnerungen an Alex hervor (das war nicht schwer, weil ich sie grundsätzlich in den besonders leicht zugänglichen Regionen meines Gedächtnisses abspeicherte) und setzte sie wie Puzzleteile zusammen.

An dem Tag, als ich mir das Bein brach … an diesem Tag verliebte ich mich in ihn. Er mochte damals ungefähr neun Jahre alt gewesen sein. Ich war nur fünf, aber es war definitiv seither um mich geschehen. Ich hatte meinen Schlitten gegen einen Baumstamm gefahren oder vielleicht hatte mich Jack auch in Richtung Baum gestoßen. Aber der gebrochene Knochen, der aus meiner Haut ragte, war eine meiner schönsten Erinnerungen, weil dazu auch die Erinnerung an Alex’ Gesicht gehörte. Alex, der mich in seinen roten Parka wickelte, auf den Schlitten hob und mich eine halbe Meile weit durch den Schnee zog, bis wir endlich auf einen Erwachsenen trafen. Zweifellos: Das war der Tag, an dem ich mich verliebte.

Eine andere Erinnerung zeigte uns drei im Garten unseres Hauses in Washington, D. C. Es war kalt. Eiskristalle bedeckten wie Puder den Boden und klar und deutlich hörte ich, wie die Schaufel in den gefrorenen Boden gestoßen wurde. Damals musste ich sieben Jahre alt gewesen sein, denn ich hatte den Hamster zwei Jahre zuvor von meinen Eltern bekommen, als Belohnung, weil ich den Beinbruch so tapfer ertragen hatte. Der Hamster hätte »ein langes, glückliches und sorgenfreies Leben« gehabt, verkündete Jack in seiner Trauerrede vom Kopfende des kleinen Grabes. Und ich erinnerte mich, dass Alex neben mir stand und am Schluss feierlich das winzige, in Stoff gebettete Ding mit der Schaufel ins Grab senkte. Ich erinnerte mich an die heißen Tränen, die mir über die Wangen liefen, und dass mir Alex’ Finger noch heißer erschienen waren, als er nach meiner Hand griff und sie festhielt. Und dass er sie wortlos weiter hielt, bis ich zu weinen aufhörte.

Ohne Vorwarnung sprang meine Erinnerung zu einer anderen Szene. Es war jetzt fünf Jahre her und ein düsteres Echo des vorangegangenen Ereignisses. Ich war zwölf Jahre und drei Tage alt. Auch das wusste ich genau, weil meine Mutter vor sieben Tagen gestorben war und wir sie nun beerdigen mussten. Wieder hielt Alex meine Hand. Mein Vater, der dafür eigentlich zuständig gewesen wäre, war laut schluchzend vor dem Grab meiner Mutter auf die Knie gesunken. Menschen mit besorgt ausgestreckten Armen umringten ihn. Jack nahm ich nur am Rande wahr; kurz danach schob er sich aus der versammelten Menge und stahl sich davon. Wie mir erst später klar wurde, hatte sich Alex offenbar bewusst dazu entschieden, bei mir zu bleiben.

Ich konnte mich deutlich an die lehmverschmutzten Schuhsohlen meines Vaters erinnern, aber das war auch schon alles. Von der Trauergemeinde, den Trauerreden, den Gesängen, den Kränzen und Blumengebinden wusste ich nichts mehr. Nein, ich erinnerte mich nur an Dads verschmutzte Schuhe und an Alex, der an meiner Seite gestanden hatte und dessen Hand mir Sicherheit gab wie der Anker einem Schiff im Hafen.

Auch beim Empfang nach der Beerdigung ließ Alex mich keine Sekunde allein. Ich hatte keine Ahnung, warum er nicht Jack nachgelaufen war, der seinen Beistand ebenso dringend brauchte. Aber Alex hatte nicht einmal versucht, ihn zu finden, sondern war bei mir geblieben. Er hatte mich zu einem abseitsstehenden Sofa geführt, sich neben mich gesetzt und höflich an meiner Stelle geantwortet, wenn sich irgendwelche Leute, deren Gesichter ich nur verschwommen wahrnahm, zu mir herabbeugten und ihr Mitgefühl ausdrückten. Und es war Alex, der mich schließlich an den gedämpft murmelnden Trauernden vorbei zur Treppe geführt hatte. In meinem Zimmer hatte er mich ins Bett gesteckt und zugedeckt, sich auf die Bettkante gesetzt und tröstend meine Hand gehalten, bis ich schließlich eingeschlafen war.

Und dann, nur ein paar Tage später, hatte mich Dad mit nach London genommen. Ich hatte keine Wahl gehabt, war nicht einmal vorgewarnt worden, abgesehen von einem knappen »Das Taxi kommt gleich«. Keine Zeit zu packen oder mich von meinen Schulfreunden zu verabschieden. Und ich hatte mich nicht dagegen wehren können, denn ich war noch immer vor Trauer wie benommen. Dad hätte mir ebenso gut mitteilen können, dass wir nur mal schnell zum Einkaufen gehen müssten. Jack dagegen war sofort explodiert. Die Wut, mit der er auf Dads Ankündigung reagierte, war verheerend. Mir raubte sie den letzten Rest von Energie. Aber auch mein Vater hatte nicht mehr die Kraft, mit ihm zu streiten. Seine Batterien schienen seit Mums Tod für immer erschöpft zu sein.

Und so wurde Jack bei Alex’ Familie untergebracht und durfte in Washington bleiben, während ich nach London, in Dads Heimatstadt, ziehen musste. Zuerst empfand ich gar nichts, nicht einmal im Flugzeug, wo Jacks leerer Sitz wie ein schwarzes Loch zwischen uns gähnte. Aber in den Monaten danach, als die Betäubung allmählich nachließ, kochte blanker Zorn in mir hoch. Eine scharfe, beißende Wut auf meinen Vater, der mich aus allem herausgerissen hatte, was ich kannte und was mir vertraut war. Und Wut auf Jack, der mich im Stich gelassen hatte. Und der bei Alex hatte bleiben dürfen.

Aber wie so vieles im Leben lässt sich auch Zorn nur schwer über längere Zeit aufrechterhalten. Nach ein paar Monaten flaute meine Wut ab, wurde milder, sanfter, bis sie schließlich der Sehnsucht nach Jack wich. Ich schickte ihm E-Mails, telefonierte mit ihm und stellte fest, dass ich ihm verziehen hatte. Denn, um ehrlich zu sein, wenn ich wie er die Wahl gehabt hätte, bei Alex zu bleiben, hätte ich dasselbe getan. Ohne eine Sekunde zu zögern.

2

Erschöpft stolperte ich durch die Einwanderungskontrolle. Ich war nicht nur übermüdet. Das Pochen in meinem Bein war durch das stundenlange Sitzen im engen Flugzeug immer schmerzhafter geworden und machte mich völlig fertig. Im Ankunftsterminal drängelten sich die Wartenden. Ihre Gesichter konnte ich hinter der ständig auf- und zugleitenden Milchglastür nur verschwommen wahrnehmen. Ich war sowieso nicht sicher, ob Jack mich abholen würde. Und wenn, ob er mir nicht sofort ein Rückflugticket in die Hand drücken und mich ohne große Umstände zum Check-in zurückschleppen würde.

»Lila!«

Eine vertraute Stimme. Schon zwängte sich Jack zwischen den Wartenden durch und grinste mich an. Ich war so erleichtert, dass ich beinahe heulend auf der Stelle zusammengebrochen wäre. Ohne auf das Absperrband zu achten, fiel ich ihm in die Arme. Ich unterdrückte ein Schluchzen und presste mein Gesicht fest gegen seine Brust. Nach einer Weile schob er mich sanft von sich, nahm meine Reisetasche, hob das Absperrband an, damit ich darunter hindurchschlüpfen konnte, legte mir den Arm um die Taille und steuerte mich sanft durch das Gedränge.

Erst als wir die Menschenmenge hinter uns ließen und durch die Halle zum Ausgang gingen, warf er mir von der Seite einen fragenden Blick zu. »Na, wie war der Flug?«

Ich musste ihn einfach angrinsen – es war lächerlich, aber ich war unendlich erleichtert, dass er mich nicht gleich wieder zum Ticketschalter zurückführte und dass er nicht sofort mit der einen Frage über mich herfiel, vor der ich mich am meisten fürchtete: nämlich, warum ich überhaupt so plötzlich hierhergeflogen war.

»War ganz okay«, antwortete ich.

Er sah anders aus. Wie und warum hätte ich nicht genau sagen können, aber irgendetwas an ihm war definitiv verändert. Jack war immer selbstbewusst gewesen – wie so viele Menschen, die gut aussehen und überall beliebt sind. Aber als er uns jetzt durch den Terminal manövrierte, wurde mir klar, dass seine Ausstrahlung stärker geworden war. Vielleicht war er von einer Giftspinne gebissen worden und dadurch zum Superhelden mutiert? Früher war ihm sein Charme durchaus bewusst gewesen und er hatte ihn ganz gezielt ausgespielt, um die Mädchen zu beeindrucken. Aber jetzt schien ihm seine Wirkung auf andere gleichgültig zu sein und war dabei stärker als je zuvor. Eine junge Frau, die einen Koffer hinter sich herzog, blickte sich nach ihm um und zwei Mädchen, die ein bisschen jünger waren als ich, stießen sich an und kicherten. Ohne jede Mühe zog er die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich und ließ sie hinter sich, wie trockenes Laub, das von einem vorbeibrausenden Auto hochgewirbelt wird.

Jack trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Die Sonnenbrille hatte er in den Ausschnitt gehakt. Als wir in die gleißende Sonne hinaustraten, setzte er sie auf und warf mir ein strahlendes Lächeln zu. Ja, dachte ich mit einem vertrauten Anflug von Neid, er sieht aus, als wäre er direkt einem Werbespot für Police-Sonnenbrillen entsprungen. Ich dagegen stand hier in diesem Land voller gebräunter und schicker Menschen und fühlte mich blass und zerknittert. Ich wollte nur noch nach Hause und unter die Dusche.

Nach Hause?, dachte ich verblüfft. Seltsam, ich fühlte mich schon wie daheim. Dabei war ich grade eben erst in L.A. angekommen.

Auf der Fahrt Richtung Süden nach Oceanside redeten wir pausenlos. Aber das Thema meiner unerwarteten Ankunft saß unausgesprochen zwischen uns. Ich ignorierte es so gut wie möglich und konzentrierte mich darauf, alles aufzusaugen, was Jack erzählte – und die Fahrt zu genießen. Von Autos hatte ich null Ahnung, aber dieses hier war nun doch sehr eindrucksvoll. Wie viel Sold bekamen Soldaten eigentlich heutzutage? Der Wagen hatte ein niedriges, schnittiges Dach, eine Innenausstattung aus Leder und ein irres Soundsystem. Beim Einsteigen hatte uns eine körperlose Stimme begrüßt.

Jack war ein guter Fahrer; ohne mit der Wimper zu zucken, reizte er die Grenzen des Zulässigen aus und wand sich geschickt durch den Verkehr auf dem Freeway. Ich sank in den Sitz zurück und ließ ihn reden. Sein Blick wechselte unablässig von der Straße zum Rückspiegel und von dort zu mir zurück. Er erzählte mir von seinem Haus – in Strandnähe. Das klang schon mal gut. Viel besser, als mitten in Südlondon, wo man bei helllichtem Tag auf der Straße überfallen wurde.

Ich lauschte seiner Stimme und genoss seinen Anblick im Profil. Er war sonnengebräunt und sein dunkles Haar etwas länger, als der Militärschnitt vorsah. Er war längst kein Teenager mehr. Es war drei Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und wir hatten uns beide verändert. Ich fragte mich, wie ich wohl in seinen Augen aussah.

Als hätte er meine Gedanken gehört, warf er mir einen prüfenden Blick zu. »Du siehst anders aus, Lila.«

»Ja klar, total ausgepowert«, sagte ich. »Ich hab seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen, dreißig Stunden oder noch länger.«

Darüber grübelte er kurz nach. Ich hoffte, dass er nicht nach dem Grund meiner Reise forschen würde. Ich sah, dass ihm genau diese Frage auf der Zunge lag.

Stattdessen sagte er: »Hätte dich fast nicht erkannt, als du in der Ankunftshalle auf mich zukamst.«

Darauf gab ich keine Antwort. In den letzten drei Jahren war ich natürlich auch gewachsen, aber er war über eins achtzig und mir fehlten noch gute fünfzehn Zentimeter zu seiner Größe. Ich trug das Haar immer noch lang, aber vielleicht hatte es nicht mehr den honiggoldenen Schimmer, an den er sich erinnern mochte. Woher auch? Für Goldsträhnen gab es schlicht nicht genug Sonne in England. Wir hatten die gleichen Augen, dunkelgrün, umrahmt von dichten Wimpern, aber seine waren sogar noch länger und dichter als meine. Natürlich gab es da noch meine geheime Veränderung, aber die war unsichtbar, und da er meine Gedanken eben doch nicht lesen konnte, war ich sicher, dass er das nicht gemeint haben konnte. Ich rutschte ein wenig auf dem Sitz herum und versuchte, nicht daran zu denken.

Als er in einen anderen Gang schaltete, fiel mir etwas ins Auge. Ich beugte mich hinüber und schob mit einem Finger den Saum seines T-Shirt-Ärmels höher. Auf seinem Bizeps prangte eine Tätowierung: zwei gekreuzte Schwerter, darüber die Wörter Semper Fi.

»Mum würde einen Anfall kriegen«, bemerkte ich.

»Ja, meinst du? Aber sie ist nun mal nicht hier und sieht es nicht.« Er schob den Ärmel wieder zurück und starrte geradeaus auf die Straße.

Ich blickte ebenfalls nach vorn. Ich hätte Mum nicht erwähnen sollen. Auch nach fünf Jahren reagierte er noch gereizt, wenn er ihren Namen hörte. Er biss die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskeln deutlich hervortraten. Jack war schon immer so leicht zu durchschauen gewesen wie ich, und jetzt standen ihm seine Gefühle klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Nicht zu fassen – ich hatte es geschafft, ihn schon nach weniger als einer halben Stunde zu verärgern! Nicht gerade der beste Anfang, wenn ich ihn bitten wollte, mich für die nächste Zeit bei sich wohnen zu lassen.

»Was bedeutet es?«, fragte ich schnell, um ihn abzulenken.

Jacks Miene entspannte sich ein wenig. »Es ist das Motto des Marine Corps – Immer treu, abgekürzt von Semper Fidelis. Die gekreuzten Schwerter sind das Emblem der Einheit. Wir haben es uns alle tätowieren lassen, als wir die Recon-Spezialausbildung und das Special-Operation-Training hinter uns hatten.«

Seine Einheit. Davon hatte er mir nur selten erzählt, wenn wir miteinander telefonierten. Eigentlich wusste ich kaum etwas darüber. Ich hatte sogar Monate gebraucht, bis ich herausgefunden hatte, dass »Recon« die Abkürzung für Reconnaissance war und seine Einheit also für Aufklärungsarbeit zuständig war. Im Grunde wusste ich nur, dass seine Ausbildung zwei lange Jahre gedauert hatte und er in dieser Zeit selten erreichbar gewesen war. Das war hart für mich gewesen.

Mir kam ein anderer Gedanke. »Hat Alex auch so eins?«

»Yep, klar doch.«

Klar doch. Hätte ich mir ja auch denken können. Ich verbiss mir die nächste Frage: Wenn Alex Gift schlucken würde, würdest du es dann auch tun? Damit hatte meine Mutter ihn ständig aufgezogen. Aber mir war klar, dass es keine gute Idee war, ihn gerade jetzt daran zu erinnern.

»Alex schaut später vorbei. Er kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.«

Mein Herz vollführte einen Hüpfer. Ich war sogar sicher, dass es triumphierend aus meiner Brust sprang, wie man es manchmal in den Cartoons sah. Ich biss mir auf die Lippen, um das unvermeidliche breite Grinsen zu unterdrücken. Schließlich sollte Jack nicht merken, in welche Ekstase mich diese kleine Information versetzte.

Eine halbe Stunde später saßen wir immer noch in der klimatisierten Kühle des Autos. Ich blickte gedankenverloren aus dem Fenster auf den blauen Ozean und stellte mir Alex in Uniform vor. Dann deutete Jack plötzlich mit dem Kopf nach links hinüber. Wir näherten uns einer Abzweigung. Ein großes Schild verkündete, dass hier die Zufahrt zum Camp Pendleton abging, der Basis des Marine Corps. Ein paar Militärtrucks bogen vor uns zum Camp ab.

Im Vorbeifahren erhaschte ich einen Blick auf die Zufahrtsstraße. »Dort also arbeitest du?«

»Richtig.«

»Ist es groß? Sieht jedenfalls groß aus.«

»Fünfhundert Quadratkilometer. Wir fahren übrigens schon seit einer halben Stunde daran entlang.«

Das gab mir zu denken. »Du wohnst nicht auf dem Gelände?«

»Nein, unsere Einheit wohnt außerhalb. Wir müssen näher an San Diego und der Grenze sein.«

Grenze? Zu Mexiko, vermutete ich, Orange County konnte er damit ja wohl nicht meinen. Ich fragte mich, warum das so wichtig war. Drogenhandel, vielleicht auch illegale Einwanderer – andere Gründe fielen mir dazu nicht ein, aber ich forschte nicht weiter nach. Jack würde mir sowieso keine direkte Antwort geben. Für gewöhnlich wechselte er immer das Thema, wenn ich wissen wollte, was seine Einheit genau machte. Fest stand nur, dass er noch nie im Ausland eingesetzt worden war, dem Himmel sei Dank. Aber es kam mir doch ein bisschen eigenartig vor, dass die Jungs das harte Training hinter sich gebracht hatten, nur um jetzt im sonnigen Kalifornien abzuhängen und in Zivilkleidung mit schnellen Autos durch die Gegend zu brettern. Außerdem: Waren nicht Polizei und Grenzschutz für Drogenhandel und illegale Einwanderung zuständig?

Ein paar Meilen weiter erreichten wir Oceanside, ein kleines, von der Sonne gebleichtes Städtchen direkt am Pazifik. Ein Ort wie in einer TV-Serie oder einem Film, wo hohe Palmen in der Meeresbrise schwankten. Wir fuhren durch ein paar Nebenstraßen und hielten schließlich vor einem kleinen zweistöckigen Haus an. Es hatte einen Vorgarten mit halb verdorrtem Rasen und eine Holzveranda, die sich über die gesamte Hausbreite erstreckte. Das Haus selbst war grau gestrichen und hatte eine angebaute Garage. Jack drückte auf einen Knopf am Schlüsselbund; die Garagentür öffnete sich.

Als wir das Haus durch die Garage betraten, blieb ich verblüfft stehen. Ich hatte eine verwahrloste, unordentliche Bleibe erwartet, so ungefähr, wie sein Zimmer früher immer ausgesehen hatte. Stattdessen stand ich in einem Raum, der genauso gut in »Schöner Wohnen« hätte abgebildet sein können. Mir blieb die Luft weg, als ich im Flur einen kleinen Garderobentisch entdeckte. Das letzte Mal hatte ich dieses Tischchen vor fünf Jahren in unserem Haus in Washington gesehen. Ich blickte mich um und erkannte noch mehr Gegenstände aus unserer Kindheit: ein weiß lasiertes Bücherregal im Wohnzimmer, der gerahmte Druck eines Klee-Gemäldes im Flur, der Kleiderständer neben der Haustür. Kein Wunder, dass ich mich schon auf den ersten Blick wie zu Hause fühlte. Es war mir unbestimmt vertraut, wie wenn man im Herbst zum ersten Mal wieder den Mantel vom Vorjahr anzieht. Obwohl sie nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt hatte, war meine Mutter überall zu spüren.

Jack führte mich in die Küche, die mir mit ihrem großen Keramikspülbecken, dem rissigen Linoleumbelag und dem klapprigen Tisch und den Stühlen reichlich altmodisch vorkam. Ich schaute mich nach etwas Vertrautem um, entdeckte aber nur eine Ansichtskarte von Big Ben, die Jack an die Kühlschranktür gehängt hatte. Die Karte hatte ich ihm vor einem oder zwei Jahren geschickt. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich ihm damals geschrieben hatte, wahrscheinlich eine meiner üblichen Lügen, wie super es mir doch gehe und so.

Ich schlenderte hinüber. Die Karte hing zwischen einer ganzen Ansammlung von Notizzetteln und ein paar Fotos. Ich zuckte zusammen, als ich mich auf einem der Fotos erkannte. Es war bei meinem letzten Aufenthalt in Washington vor drei Jahren aufgenommen worden. Mein vierzehnjähriges Ich tat mir im Nachhinein richtig leid. Auf dem Foto sah ich so schuldbewusst aus, als müsste ich ein furchtbares Geheimnis verbergen. Der Witz an der Sache war, dass ich damals noch gar keine Ahnung gehabt hatte, welche furchtbaren Geheimnisse es gab – ich war einfach nur ein verängstigtes vierzehnjähriges Ding gewesen, das entsetzt und verwirrt war über die Kluft, die sich zwischen seinem Vater und seinem Bruder aufgetan hatte. Damals hatte ich nicht gewusst, ob ich Jack oder Alex jemals wiedersehen würde. Ich widerstand dem Impuls, das Foto vom Kühlschrank zu reißen und zu zerfetzen.

Das andere Foto, das ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, wollte ich zuerst gar nicht richtig anschauen. Es war, als würde ich den Schorf von einer juckenden Wunde reißen – im ersten Augenblick Genugtuung, auf die aber sofort Schmerzen und neue Blutgerinnung folgten. Das Foto hatte Eselsohren und zeigte eine wunderschöne, lachende blonde Frau. Einen Arm hatte sie einem Jungen um die Schultern gelegt. Er blickte sie an. Der Junge war Jack und die Frau meine Mutter. Der obere Teil eines weiteren Kopfes war in der linken unteren Bildecke zu sehen, aber es ließ sich nicht sagen, ob es mich zeigte. Ich blieb vor dem Kühlschrank stehen, damit Jack das Foto nicht sah, bis mir einfiel, dass er es selbst dorthin gehängt hatte und wahrscheinlich jedes Mal betrachtete, wenn er die Milch herausholte. Das war immerhin ein Fortschritt, dachte ich.

»Nett hast du’s hier, Jack, echt«, sagte ich.

»Ja«, nickte er, »ich komme gerne nach Hause.«

Das glaubte ich ihm sofort. Ich beschloss, dass ich es wagen konnte, meine drängende Frage zu stellen. »Und wo wohnt Alex? Komisch, dass ihr keine gemeinsame Wohnung habt.« Na gut – an einem gleichgültigen Tonfall musste ich noch arbeiten.

Jack lachte. »Schwesterherz, entgegen der weitverbreiteten Meinung sind Alex und ich nicht an der Hüfte zusammengewachsen. Alex wohnt fünf Minuten von hier entfernt. Er hat sich eine absolut coole Junggesellenbude direkt am Wasser genommen.«

Mein Herz klopfte wie wild. Junggesellenbude?

Aber hallo. Natürlich mussten alle hinter Alex her sein. Er sah nun mal gut aus. Obwohl ich ihn natürlich durch eine rosarote Brille sah, war das eine unbestreitbare Tatsache. Alex und Jack hatten schon immer die höchsten Standards gesetzt, was gutes Aussehen und Charisma betraf. Als ich ungefähr zehn war, hatte ich unter tausend stillen Qualen miterlebt, wie Alex mit verschiedenen Mädchen ausging – alle älter als ich und alle füllten schon ihre BH-Körbchen aus. Ich hätte sterben können. Aber in der Fantasiewelt, die ich mir seit meiner Abreise zurechtgezimmert hatte, lebte Alex in einem frauenfreien Vakuum. Sonst hätte ich den Verstand verloren. Doch jetzt hatte mir Jack die Wörter »Junggeselle« und »Bude« hingeworfen und schon machte sich mein Gehirn daran, die sorgsam konstruierte Fantasie auszuradieren und sie mit Bildern von blauen Lagunen und Frauen in Bikinis zu ersetzen.

Krieg dich wieder ein, ermahnte ich mich streng. Es geht um Alex. Nicht um Jack. Alex war immer kühl und beherrscht, im Gegensatz zum extrovertierten Jack. Alex hatte nie den Mädchen nachgestellt, er war immer derjenige gewesen, der sich für Jack entschuldigt hatte, wenn der den Namen einer Freundin nicht mehr wusste. Alex hielt sich stets im Hintergrund und beobachtete mit belustigt gehobenen Augenbrauen, wie Jack auf die Jagd ging. Selbst wenn er in einer Junggesellenbude wohnte, hieß das noch lange nicht, dass er Nacht für Nacht eine andere zu sich einlud oder überhaupt irgendeine hatte.

Ja, klar, träum weiter, Lila.

»Was zu essen? Was zu trinken?«, fragte Jack.

Hungrig war ich ganz bestimmt nicht. Mein Magen war ein einziger Knoten. Ich schüttelte den Kopf.

Jack führte mich wieder in den Flur, wo er vor einem kleinen weißen Kasten an der Wand stehen blieb.

»Die Alarmanlage«, erklärte er und öffnete den Kasten. Ich sah eine Reihe von blinkenden Lichtern und ein Touchpad mit Buchstaben und Ziffern, richtig futuristisch.

»Der Code ist 121007«, sagte er. »Der Alarm muss auch eingestellt sein, wenn du da bist, nicht nur, wenn du gehst. Wenn er ausgelöst wird, solange du drinnen bist, wird das ganze Haus dichtgemacht. Du kannst dann nicht mehr hinaus. Bleib einfach ruhig und warte, bis ich komme – oder die Polizei.«

Ich starrte ihn schweigend an. Auf die Anweisungen hatte ich gar nicht geachtet, sondern nur auf den Code. Der Todestag meiner Mutter. Jack ignorierte meinen Gesichtsausdruck und schlug geräuschvoll die Tür des Kastens zu. Ich verstand seine Paranoia. Dad hatte in unserem Haus in London ebenfalls eine Alarmanlage installieren lassen. Aber auch ein Alarmsystem hätte Mum nichts genutzt.

Jack hob meine Tasche auf, die er am Fuß der Treppe hatte fallen lassen, und winkte mir hinaufzugehen. Ich ging voran und blieb oben stehen, da ich keine Ahnung hatte, welche Tür die richtige war.

Jack schob sich an mir vorbei, ging zur letzten Tür des kurzen Flurs und öffnete sie. Er ließ mich zuerst eintreten. Da war er, der Raum, der mein Schlafzimmer sein würde, so lange, wie Jack mir zu bleiben erlaubte. Es war ein freundliches Zimmer: ein einfaches Bett, eine schlichte Kommode, auf der ein stacheliger Kaktus in einem roten Blumentopf stand, und ein bequemer blauer Sessel in der Ecke – ein weiteres Relikt aus unserem alten Leben. Vom Fenster blickte man auf den Garten hinter dem Haus. Ja, hier konnte ich mich wohlfühlen.

»Das ist super, danke«, sagte ich und drehte mich zu ihm um. Zwischen uns herrschte eine angespannte Stimmung. Jack wusste immer noch nicht, warum ich hier war. Ich erzählte es ihm nicht und er fragte nicht danach.

Er setzte die Tasche auf dem Sessel ab und sagte: »Möchtest du erst mal schlafen? Würde dir bestimmt guttun. Ich habe am Nachmittag noch ein paar Dinge zu erledigen. Wenn du aufwachst, essen wir zu Abend und reden mal ein bisschen miteinander.«

Aha, jetzt war es heraus. Ich hatte also noch ein paar Stunden Zeit, mir auszudenken, was ich ihm erzählen wollte. Ich warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Kurz vor halb vier.

»Okay – klingt nach einem Plan«, stimmte ich zu.

Ich umarmte ihn und ließ den Kopf gegen seine Brust sinken. »Danke«, murmelte ich in sein T-Shirt.

»Hey, du brauchst dich nicht zu bedanken«, sagte er sanft. Ich spürte seine Lippen auf meinem Haar. Dann ging er.

Ich setzte mich auf das Bett, streifte die Schuhe von den Füßen und ließ mich rückwärts auf die kühle Bettdecke fallen. Es fühlte sich so verlockend an, aber meine Haut war klebrig von Schweiß und staubig von der Reise. Duschen war nötiger als schlafen. Stöhnend setzte ich mich wieder auf und schaute mich nach meiner Tasche um. Gehorsam flog sie vom Sessel hoch und segelte auf mich zu, während sich der Reißverschluss wie von selbst öffnete. Dann wurde mir klar, was ich gerade tat. Abrupt ließ ich die Tasche fallen, dass sie hart auf dem Boden aufschlug.

»Lila? Alles okay?«, rief Jack von unten.

»Äh, ja, alles in Ordnung. Hab nur die Tasche fallen lassen«, rief ich zurück.

Heftig atmend kniete ich neben der Tasche nieder. Ich musste mich beherrschen. Ich durfte diese … Kraft unter keinen Umständen einsetzen! Das war ab sofort Gesetz. Wenn ich weitere Zwischenfälle vermeiden wollte, musste ich mich einfach daran halten. Ich musste mich zusammenreißen. In der Schule hatte ich das ziemlich gut hingekriegt, besonders dann, wenn andere Leute um mich waren. Aber so müde, wie ich jetzt war, fiel mir die Kontrolle schwer. Müdigkeit und ein Messer an der Kehle …

Ich griff in die Tasche und tastete nach meinem Kulturbeutel und einem sauberen T-Shirt. Es fühlte sich seltsam an. Ich benutzte Muskeln und meinen Tastsinn, den ich schon eine ganze Weile nicht mehr eingesetzt hatte. Daran würde ich mich gewöhnen müssen.

3

Ich saß auf dem Bettrand, so benommen vom Jetlag, als wäre mein Akku beim Schlafen nur mit Schwachstrom aufgeladen worden. Mein Kopf brummte. Von unten waren Stimmen zu hören. Eine davon gehörte Jack. Ich hörte ihn lachen und herumalbern. Die andere Stimme klang weicher, tiefer, und ich hätte sie überall und jederzeit erkannt. Sie war durch meine Träume gedrungen und hatte mich wachgerüttelt. Alex.

Das Zimmer lag im Halbdunkel der späten Abenddämmerung. Ich drehte mich zum Wecker um – es war schon halb acht, aber ich fühlte mich, als hätte ich höchstens zehn Minuten geschlafen. Die Zeitverschiebung brachte mich ganz durcheinander. Aber das war kein Vergleich zu dem, was diese eine Stimme von unten in mir anrichtete. Mein Herz raste. Schon konnte ich spüren, wie meine Wangen zu glühen begannen.

Ich warf einen Blick zum Lichtschalter und kniff die Augen zusammen. Das Licht leuchtete auf, flackerte, als mir klar wurde, was ich da tat, und ging wieder aus. Ich stand auf, schimpfte mit mir selbst und schaltete das Licht von Hand ein.

Einerseits wünschte ich nichts sehnlicher, als auf der Stelle aus dem Zimmer zu stürzen und die Treppe hinunterzurasen. Das Verlangen, Alex zu sehen, war schier übermächtig. Es kam mir so vor, als hätte ich die letzten drei Jahre auf dem Meeresgrund verbracht, wo ich nur mit einem kleinen Rest Luft überlebt hatte, und könnte nun plötzlich ein paar Meter entfernt die Wasseroberfläche sehen. Aber vom Schlaf zerwühltes Haar und ein zerknittertes T-Shirt waren nicht gerade das, was man für einen umwerfenden Auftritt brauchte, und mit diesem Gedanken siegte meine Eitelkeit. Ein paar Minuten Wartezeit würden mich schon nicht umbringen, während es mein absolutes und sofortiges Ende bedeutete, wenn mich Alex in diesem Zustand zu sehen bekäme.

Doch was sollte ich anziehen? Ich war in Panik aufgebrochen, ohne groß nachzudenken, und hatte nun folglich eine höchst zufällige Auswahl von Klamotten zur Verfügung. Immerhin war für jede Gelegenheit etwas dabei, vom Skifahren mal abgesehen. Ich zog ein leuchtend blaues Seidenkleid hervor. Keine Ahnung, welches Szenario sich ergeben musste, damit dieses Ding zum Einsatz kam, aber man konnte ja nie wissen. Dann entdeckte ich eine Bluse, die zu meiner Schuluniform gehörte, knüllte sie zusammen und feuerte sie in den Papierkorb. Ich brauchte wirklich nicht daran erinnert werden, wo ich mich in diesem Augenblick eigentlich befinden sollte. Schließlich wählte ich eine Jeans, zog das T-Shirt aus und schlüpfte in ein lila Top.

Dann betrachtete ich mich im Spiegel über der Kommode. Meine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Sie waren noch feucht gewesen, als ich ins Bett gefallen war, deshalb hätte ich jetzt problemlos als eine blonde Alice Cooper durchgehen können. Um es einigermaßen glatt zu bekommen, musste ich die verfilzten Haarenden kräftig ausbürsten.

Ich beugte mich vor und betrachtete mein Gesicht aus größerer Nähe. Normalerweise machte ich mir nichts aus Make-up, aber an diesem Abend musste ich gewisse Leute beeindrucken – ein bisschen Mascara, vielleicht auch ein wenig Lipgloss? Rouge brauchte ich auf keinen Fall, das stand fest. Ich blickte mich nach meiner Make-up-Tasche um, konnte sie jedoch nirgends finden.

Super!, stöhnte ich innerlich, einfach su-per. Am einzigen Tag des Jahres, an dem alles darauf ankam, umwerfend und vielleicht auch ein wenig älter auszusehen, hatte ich meine Make-up-Tasche in achttausend Kilometern Entfernung deponiert. Eine wahre Spitzenleistung.

In wachsender Panik unterzog ich mein Spiegelbild einer genaueren Prüfung. Hatte ich noch vor ein paar Stunden wie eine Halbleiche ausgesehen, so sah ich jetzt sehr, sehr lebendig aus. Fast zu lebendig – als wäre ich high. Was ja in gewisser Weise auch stimmte. Aber dagegen konnte ich jetzt nicht viel tun. Ich bürstete das Haar hinter die Ohren und biss mir kräftig auf die Lippen, damit sie ein bisschen röter wurden und die Aufmerksamkeit von meinen glühenden Wangen ablenkten.

Tief durchatmen, Lila. Und gleich noch einmal. Du schaffst es.

Ich schaffte es bis zur Treppe. Dort krallte sich meine Hand ins Geländer. Wie kam es nur, dass ich zwar alle möglichen unbelebten Gegenstände mit reiner Willenskraft bewegen konnte, meine eigenen Gliedmaßen mir aber nicht gehorchen wollten? Ich nahm die erste Stufe in Angriff – sie knarrte und die Stimmen in der Küche verstummten schlagartig. Da stand ich nun und kam mir wie eine Schauspielerin vor, die auf die Bühne stolpert, ohne ihre Rolle zu kennen oder auch nur das Stück gelesen zu haben. In der Küche scharrten Stühle über den Fußboden. Ich beeilte mich, um als Erste im Flur anzukommen, und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Schon tauchte rechts neben der Treppe Alex’ Kopf auf. Mir stockte der Atem und mein Herz klopfte wie wild. Das führte dazu, dass ich die vorletzte Stufe verpasste und stolperte. In dem Sekundenbruchteil, bevor ich gegen die Wand krachte, dachte ich noch, dass dieses Wiedersehen nicht unbedingt dem Drehbuch folgte, das ich mir in meiner Fantasie in jeder wachen Minute zusammengeschrieben hatte.

Unwillkürlich schloss ich die Augen und wappnete mich gegen den Aufprall. Ich krachte gegen etwas Festes, Hartes, aber es war keine Wand. Vorsichtig öffnete ich ein Auge. Alex hatte mich aufgefangen, an den Oberarmen gepackt und hielt mich fest. Sollte ich meine Hände zurückziehen? Sie wollten mir nicht gehorchen. Da war er nun, zum Greifen nah. Seit einer Ewigkeit hatte ich genau davon geträumt (nur hatten wir in meinen Träumen weniger Kleider an …). Ich spürte seine Muskeln und sie wurden meinen Fantasien gerecht. Am liebsten hätte ich den Kopf gegen seine Brust gelegt und ewig dort ruhen gelassen. Leider bemerkte ich Jack aus den Augenwinkeln. Weil ich nicht wollte, dass er meinen Ausdruck äußerster Verzückung zu sehen bekam, richtete ich mich schnell auf und trat zurück.

Alex sah sogar noch besser aus, als ich ihn in Erinnerung gehabt hatte. Sein sonnengebräuntes Gesicht und die eisblauen Augen versetzten mich in Entzücken. Ich packte das Treppengeländer, um nicht gleich noch einmal umzukippen. Das wäre nun wirklich das Allerletzte.

»Schön, dich wiederzusehen, Lila«, sage Alex grinsend.

Ich lächelte entschuldigend.

»Ja, äh, gleichfalls«, stotterte ich, unfähig, einen vollständigen Satz zu bilden.

»Kriege ich keine richtige Umarmung?«, fragte er.

Ich umarmte ihn. Seine Nähe, das betörende Gemisch von vertrauten Düften brachte zahlreiche Erinnerungen zurück. Als hätte jemand einen Fernseher von stumm auf volle Lautstärke hochgedreht.

»Lange nicht gesehen«, sagte Alex, als wir in die Küche gingen. »Du siehst gut aus.«

Er schob mir einen Stuhl zurecht und ich setzte mich, während er sich, groß und schlank, gegen die Arbeitsplatte lehnte. Jack wandte sich dem Herd zu, wo etwas in einer Pfanne brutzelte.

»Na, erzähl mal«, sagte Alex. »Warum die plötzliche Flucht nach Südkalifornien? Hat London nicht genug zu bieten für einen Teenager? Oder wolltest du nur mal kurz schauen, was eine Militärbasis so an Unterhaltung zu bieten hat?«

Vielleicht hatte ihm Jack die Frage zugesteckt. Glaubte ich aber nicht. Alex hatte seinen eigenen Kopf.

»Sozusagen«, murmelte ich. Momentan hatte ich keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten. Ich wollte einfach nur den Augenblick genießen. Daher war ich sogar bereit, zu überhören, dass er mich einen Teenager genannt hatte. Ich war mit den beiden Menschen zusammen, die ich am meisten auf der Welt liebte. Ich fühlte mich vollständig, perfekt. Und glücklicher, als ich seit langer Zeit gewesen war.

»Und wann kommt Sara?«, wandte sich Alex an Jack.

Na, mein Glück war von kurzer Dauer gewesen. Ich spürte, wie mein Lächeln gefror. Wer war Sara?

»Sie hat heute Dienst und kommt morgen vorbei«, antwortete Jack über die Schulter.

»Das ist aber schade. Sie freut sich so darauf, dich kennenzulernen, Lila. Du wirst sie mögen, sie ist wirklich zum Verlieben«, sagte Alex zu mir.

Das gab mir den Rest. Mein Herz stand still. Alex hatte eine Freundin und er benutzte ihren Namen und das Wort »verlieben« in einem Atemzug!

»Die Frau, die Jack zähmte«, fuhr Alex fort. »Eines muss man ihr lassen: Das ist keiner anderen Frau vor ihr gelungen.«

Ich schüttelte benommen den Kopf. Mein Herz kam stolpernd wieder in Gang. »Verstehe ich nicht. Was willst du damit sagen?« Ich drehte mich zu Jack um. »Du – du – hast eine Freundin?«

Dass sich Jack auf eine feste Beziehung einlassen würde, hätte ich für so wahrscheinlich gehalten, wie dass ich dieses Jahr eine Auszeichnung für fleißigen Schulbesuch bekommen würde. Sicher, Jack hatte seine Tändeleien, Flirts und One-Night-Stands, aber sobald es ernst wurde, ergriff er die Flucht. Hatte er sich in den letzten Jahren so grundlegend verändert?

»Korrekt, kleine Schwester. Ich habe eine Freundin«, sagte Jack.

Mir blieb der Mund offen stehen. Ich stand auf und schwang mich auf die Arbeitsplatte, sodass ich ihm ins Gesicht schauen konnte. »Ich will alles wissen!«

»Sie heißt Sara. Hol mal den Senf raus.« Er drehte sich um und trug die brutzelnde Pfanne zum Tisch.

»Sara wer? Keine Ahnung, wo du den Senf aufbewahrst. Lenk nicht vom Thema ab!«

Alex trat neben mich, streckte den Arm aus und griff in einen der Schränke über meinem Kopf. Ich musste mich ducken, um der Tür auszuweichen. Als ich mich zur Seite beugte, berührte ich seinen Arm. Mein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Alex reichte Jack das Senfglas. In der einen Sekunde, in der ich sein Gesicht im Profil sah, brannte sich jedes winzige Detail in mein Gedächtnis ein, als wäre es Fotopapier und er die Sonne.

Er war mir so nahe, dass ich mich nur ein paar Zentimeter hätte bewegen müssen, um den Mund auf seinen Nacken drücken zu können. Heroisch widerstand ich der Versuchung, den Schatten der Bartstoppeln an seinem Kinn bis zur Halsgrube zu küssen. Sein dunkelblondes Haar war vor Kurzem geschnitten worden – eine dünne helle Linie zog sich vom Haaransatz bis zum Nacken. An den äußeren Augenwinkeln zeigten sich winzige Lachfalten. Ich spürte einen Stich der Eifersucht, dass jemand anders ihn zum Lachen brachte, sich sein Lachen anhören durfte.

Als hätte er gemerkt, dass ich ihn betrachtete, drehte sich Alex zu mir um. Ich schaute schnell weg. Dann spürte ich zwei warme Hände an der Hüfte, genau dort, wo mein Top über die Jeans nach oben gerutscht und eine Handbreit Haut freigegeben hatte. Ich wurde von der Arbeitsplatte gehoben und sanft auf den Boden gestellt. Ich hob den Kopf. Alex war noch größer als Jack. Er schenkte mir ein schnelles Lächeln.

»Abendessen?«, fragte er. Wieder schob er mir den Stuhl zurecht und ich ließ mich darauf sinken. Er rückte mich samt Stuhl zum Tisch und setzte sich mir schräg gegenüber.

Allmählich kriegte ich mich in den Griff, sodass ich mich wieder auf Jack konzentrieren konnte. »Nun komm schon, Jack, erzähl endlich. Wer ist Sara? Wie habt ihr euch kennengelernt?«

Jack setzte sich mir gegenüber. »Sie arbeitet bei uns – in unserer Einheit.« Er und Alex wechselten einen kurzen Blick.

»Sie ist super«, kommentierte Alex.

Es gefiel mir überhaupt nicht, dass Alex irgendein Mädchen »super« fand, auch wenn es um die Freundin meines Bruders ging. Wie ein hungriger Hai tauchte ein weiterer Verdacht in mir auf. Wenn Sara Jacks Freundin war, hieß das noch lange nicht, dass Alex keine Freundin hatte. Aber hätte Jack Alex’ Wohnung dann als »Junggesellenbude« bezeichnet? Keine Ahnung, was ich schlimmer fand.

»Ich dachte, Frauen würden bei den Recon Marines nicht aufgenommen?« Das hatte ich mal gegoogelt.

»Sara ist keine Soldatin. Sie ist Neurowissenschaftlerin.«

Das verschlug mir erst mal die Sprache. »Neurowissenschaftlerin? Wozu braucht eure Einheit eine Neurowissenschaftlerin?«

Wieder fing ich den Seitenblick auf, den Alex Jack zuwarf. Als wartete er gespannt darauf, was Jack antworten würde. Die Sache kam mir immer bizarrer vor.

»Na, äh, das ist sozusagen Standard«, murmelte Jack lahm.

Ach ja? Womit beschäftigte sich eigentlich die US Army heutzutage? Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn scharf an. »Du gehst also mit einer Frau, die anderen Leuten im Gehirn rummacht? Bist du so was wie ein Versuchskaninchen?«

»Ha, ha.«

»Wie alt ist sie überhaupt?« Ich war sicher, dass Neurowissenschaftler nicht schon nach drei Jahren von der Uni abgingen. Jack musste sich mit einer älteren Frau eingelassen haben.

»Sechsundzwanzig.« Kühl erwiderte er meinen Blick. Eine klare Warnung, jetzt sofort mit den Fragen aufzuhören.

Ich schluckte meine spontane Reaktion hinunter. »Okay – wie lange seid ihr schon ein Paar? Wo wohnt sie?«

»Acht Monate. Sie wohnt auf der Basis.«

»Aber du hast gesagt, dass deine Einheit nicht auf der Basis wohnt.« Ha – jetzt hatte ich ihn kalt erwischt!

Er ging einfach darüber hinweg. »Tun wir auch nicht. Nur sie. Für sie ist es besser, auf der Basis zu wohnen.«

»Warum?«, fragte ich.

»Reich mir bitte mal den Senf rüber«, unterbrach uns Alex, wobei er Jack einen scharfen Blick zuwarf. Dann wandte er sich an mich. »Und wenn wir schon vom Wohnen reden …«

Ich wurde misstrauisch. Ich hatte es schon immer gemerkt, wenn die beiden mir etwas verheimlichten. Wie damals, als ich in Jacks Zimmer platzte und die beiden mich abzulenken versuchten, während sie möglichst unauffällig ein Playboy-Heft verschwinden lassen wollten.

Aber Jack und Alex sahen mich nur durchdringend und fragend an. Simultanangriff an zwei Fronten. Ich säbelte übertrieben sorgfältig ein Stück von meinem Steak ab und betrachtete es von allen Seiten, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Das Steakmesser hatte eine gezackte Klinge. Plötzlich verging mir der Appetit. Ich legte das Messer weg.

»Lila. Sagst du uns bitte, warum du so plötzlich hergekommen bist?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich Jack erzählen sollte. Mein Geheimnis war schon so lange und so tief in mir vergraben, dass es nicht mehr herauskommen wollte. Selbst unter normalen Umständen hätte ich nicht gewusst, wo ich die Worte finden sollte, mit denen man so etwas beschreiben konnte. Ganz abgesehen davon, dass ich jetzt unter Stress stand. Ich hätte mir tausend Ausreden einfallen lassen können. Die nackte Wahrheit war, dass ich den Gedanken nicht ertragen konnte, von Alex für einen Freak gehalten zu werden. Es war schlimm genug, dass er in mir nur Jacks kleine Schwester sah.

Ich holte tief Luft. »Ich bin in der Abschlussphase«, begann ich vorsichtig. »Ich muss mich bald entscheiden, was ich danach mache. Dachte, es sei eine gute Gelegenheit, mir hier mal paar Colleges anzusehen.«

»Colleges?« Jack runzelte die Stirn.

»Ja, klar. Das sind Einrichtungen zur Erzielung eines höheren Bildungsabschlusses, verstehst du? Manche halten sie auch für Einrichtungen, von denen man vorzeitig abgeht, wenn man sich entschließt, zum Militär zu gehen.«

»Sehr witzig. Du bist ja richtig in Form heute Abend. Und warum willst du dir die Colleges hier in den Staaten ansehen?«

Jack war zweifellos nicht besonders glücklich darüber. Alex hatte zu kauen aufgehört und betrachtete mich nun seinerseits aufmerksam. Keine Ahnung, was er dachte. Verdammt, der Junge konnte wirklich extrem verschlossen wirken!

»Die Unis sind hier besser. Die Universität San Diego zum Beispiel hat einen sehr guten Ruf. Oder die Universität von Südkalifornien …« Meine Stimme versagte.

»Lila … Ich glaube nicht, dass Kalifornien eine gute Wahl wäre.«

Das traf mich wie ein Pfeil. In meinem Innern zog sich etwas zusammen. »Ich … aber … ich kann nicht in England bleiben.«

»Pass auf. Ich will damit nicht sagen, dass ich dich nicht hierhaben möchte. Es ist nur …« Jack suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Anderswo wäre es sicherer.«

Jep, genau, im Süden Londons zum Beispiel