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Neue Reihe, neuer Ermittler - aber unverwechselbar Leo Born!
Die Reihe: Kriminalhauptkommissar Jack Diehl kämpft gegen das Böse - und kennt doch selbst nur zu genau die menschlichen Abgründe. Aber auch ein brillanter Ermittler ist immer nur so gut wie sein Team, davon ist Jack überzeugt. Insbesondere sein Partner Robert, die Profilerin Viola und die Tatortfotografin Berenice helfen ihm immer wieder, bei den Ermittlungen keine rote Linie zu überschreiten ... Denn: Wie weit darf ein Polizist gehen, um einen Täter zu überführen? Dieser Frage muss sich Kommissar Diehl in der neuen Thriller-Reihe von Leo Born stellen!
Der erste Band: Eine grausame Mordserie erschüttert Frankfurt: Die Opfer sind Frauen, ihre nackten Leichen schmückt der Täter mit blutgetränkten weißen Lilien. Die Taten haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer fünf Jahre alte Mordserie, deren brutaler Täter von der Boulevardpresse "Lilienmörder" genannt wurde. Aber der Serienmörder befindet sich hinter Gittern! Handelt es sich jetzt um einen Trittbrettfahrer? Kommissar Jack Diehl vom LKA Hessen rollt den Fall, der damals den Grundstein seiner Karriere bildete, erneut auf. Doch alle Hinweise laufen ins Leere - und es werden weitere Frauen grausam ermordet aufgefunden! Schließlich stößt die Profilerin Viola Hendrick auf Ungereimtheiten und gerät selbst ins Visier des Killers ...
Stimmen unserer Leser und Leserinnen:
»Spannungsgeladen, temporeich und super gut konstruiert.« (HOPE23506, Lesejury)
»Leo Born versteht es, mit seiner Geschichte, mit seinem Schreibstil Spannung aufzubauen, die mich nicht mehr losgelassen hat. Bis fast zum Schluss hatte ich keine Ahnung, wer sich hinter dem Täter verbirgt, und was sein Antrieb war.« (LUCYCA, Lesejury)
»Teilweise hält man beim Lesen regelrecht den Atem an.« (LABELLOPRINCESS, Lesejury)
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Seitenzahl: 452
Cover
Weitere Titel des Autors
Über dieses Buch
Über die Reihe
Über den Autor
Titel
Impressum
1. Strophe:
1
2
3
4
5
6
Erinnerungen an das Lilienhaus
2. Strophe:
7
Erinnerungen an das Lilienhaus
8
Erinnerungen an das Lilienhaus
Erinnerungen an das Lilienhaus
9
10
Erinnerungen an das Lilienhaus
11
3. Strophe:
12
Erinnerungen an das Lilienhaus
13
Erinnerungen an das Lilienhaus
14
15
Erinnerungen an das Lilienhaus
4. Strophe:
16
17
Erinnerungen an das Lilienhaus
Erinnerungen an das Lilienhaus
18
Erinnerungen an das Lilienhaus
19
Erinnerungen an das Lilienhaus
20
5. Strophe:
21
22
23
24
25
26
Aus der Mara-Billinsky-Reihe:
Blinde Rache
Lautlose Schreie
Brennende Narben
Blutige Gnade
Vergessene Gräber
Sterbende Seelen
Eine grausame Mordserie erschüttert Frankfurt: Die Opfer sind Frauen, ihre nackten Leichen schmückt der Täter mit blutgetränkten weißen Lilien. Die Taten haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer fünf Jahre alte Mordserie, deren brutaler Täter von der Boulevardpresse »Lilienmörder« genannt wurde. Aber der Serienmörder befindet sich hinter Gittern! Handelt es sich jetzt um einen Trittbrettfahrer? Kommissar Jack Diehl vom LKA Hessen rollt den Fall, der damals den Grundstein seiner Karriere bildete, erneut auf. Doch alle Hinweise laufen ins Leere – und es werden weitere Frauen grausam ermordet aufgefunden! Schließlich stößt die Profilerin Viola Hendrick auf Ungereimtheiten und gerät selbst ins Visier des Killers ...
Kriminalhauptkommissar Jack Diehl kämpft gegen das Böse – und kennt doch selbst nur zu genau die menschlichen Abgründe. Aber auch ein brillanter Ermittler ist immer nur so gut wie sein Team, davon ist Jack überzeugt. Insbesondere sein Partner Robert, die Profilerin Viola und die Tatortfotografin Berenice helfen ihm immer wieder, bei den Ermittlungen keine rote Linie zu überschreiten ... Denn: Wie weit darf ein Polizist gehen, um einen Täter zu überführen? Dieser Frage muss sich Kommissar Diehl in der neuen Thriller-Reihe von Leo Born stellen!
Leo Born ist das Pseudonym eines deutschen Krimi- und Thriller-Autors, der bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht hat. Seine unkonventionelle Kommissarin Mara Billinsky hat zahlreiche Fans und auch in seiner neuen Reihe lässt der Autor LKA-Kommissar Jack Diehl gewohnt spannend auf Verbrecherjagd gehen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main.
Der erste Fall für Jakob Diehl
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Bernhard Stäber
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven von © kosmofish/shutterstock; © Krasovski Dmitri/shutterstock; © ndreashofmann7777/shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0609-4
be-thrilled.de
lesejury.de
Schlaf in stiller süßer Ruh,
Tu die kleinen Äuglein zu.
»Sag mir, was du riechst.«
Nele zitterte. Sie lag auf dem Boden, hatte die Hände auf den Rücken gefesselt und versuchte sich zu konzentrieren. Doch in ihrem Kopf war alles wie vernebelt, ihr Gedächtnis spielte völlig verrückt. Was war denn nur geschehen? Wo befand sie sich? Furcht ballte sich in ihrem Inneren zusammen wie ein Klumpen.
Alles war schwarz. Nele konnte nichts sehen, irgendetwas war auf ihren Augen. Klebeband? Ihr Atem kam stoßweise, ihr Herz trommelte wild. Sie hatte es noch nie so intensiv gespürt, während hinter ihrer Stirn weiterhin alles wie aus Watte war.
»Sag mir, was du riechst.«
Die Stimme klang seltsam. Nele war so ängstlich, sie konnte sie überhaupt nicht einordnen. Es hörte sich an, als würde jemand durch ein Tuch oder einen Schal sprechen.
Nele veränderte ihre Lage, unter ihr knisterte es. Worauf lag sie? Auf Plastik? Einer Art Folie?
Sie erschrak fürchterlich, als etwas ihre Nase kitzelte. Etwas Weiches.
Zum dritten Mal erklang die Aufforderung, jetzt strenger: »Sag mir, was du riechst!«
Sie strengte sich an, schnupperte verzweifelt, zerbrach sich den Kopf, was das unter ihrer Nase wohl sein konnte. »Es riecht nach ...«, brachte sie mühsam über die Lippen. »Es riecht nach ... irgendwie ...« Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, Schweiß floss in Strömen an ihrem Gesicht herab.
»Der schönste Duft der Welt«, sagte die Stimme. »Betörend, süßlich, kraftvoll, exotisch. Findest du nicht? Der Geruch soll übrigens aphrodisierend wirken.« Ein spöttisches Lachen ertönte.
Ihre Nase wurde nicht mehr gekitzelt, doch Nele zitterte immer heftiger.
Die Stimme erklärte: »Das sind die Blütenblätter einer Trompetenlilie. White American heißt die Sorte.«
»Bitte«, hörte Nele sich jammern, »lassen Sie mich gehen.«
»Du bist wirklich sehr hübsch. Warum bist du bei einem Radiosender gelandet? Du müsstest zum Fernsehen. Oder ist das dein großes Ziel? Träumst du davon, ein großer TV-Star zu sein, wenn du in deinem Bettchen liegst?«
Wieder erklang das Lachen.
Die Schwärze um Nele wurde immer erdrückender. Es war, als würde sie allmählich davon zerquetscht. Sie bestand nur noch aus Verwirrung und Verzweiflung.
»Ich schaue mir gerade im Handy deinen Steckbrief an, Nele. Du weißt schon, auf der Website deines Senders. Was ist dein Lieblingssong?, will man hier wissen. Here Comes the Sun von den Beatles, hast du angegeben. Mal sehen, ob für dich die Sonne noch mal scheint.«
Warum passierte das? Und wieso ihr? Wem hatte sie etwas angetan? Hatte sie während einer Sendung bei der Moderation unüberlegt etwas Beleidigendes ... Oder war sie nur das Opfer einer Verwechslung?
»Lesen wir mal weiter«, stoppte die Stimme Neles wilde Gedankenflut. »Was du besonders an dir selbst magst, will man als Nächstes wissen. Meine Augen, hast du geantwortet.«
Plötzlich wurde das Band von Neles Kopf gerissen. Sie fuhr zusammen, schrie auf. Teile ihrer Brauen und einzelne Wimpern blieben am Klebestreifen haften. Es schmerzte heftig. Das Licht, das von einer nackten Glühbirne stammte, tat fast ebenso weh, und sie musste blinzeln.
»Oh ja, deine Augen sind wirklich auffallend schön.«
Noch einmal ertönte das Lachen, lauter als zuvor.
Nele gewöhnte sich an das Licht. Was sie zuerst sah, waren Blütenblätter. Strahlend weiß, makellos, seltsam unwirklich.
Was sie als Nächstes erblickte, war die Gestalt, deren Gesicht von einer schwarzen Motorradhaube verborgen wurde.
»Wer hätte nicht gern so wunderschöne Augen? Wärst du so nett, sie mir zu schenken?«
Berenice Silva Benevides schreckte hoch. Einen verwirrenden Moment lang konnte sie das Surren gar nicht einordnen. Mühsam tastete sie auf dem Nachttisch nach dem Handy, dessen Display bläulich aufleuchtete.
Sie gähnte und hielt es sich ans Ohr. »Ja?«
Die Worte prasselten förmlich auf sie ein, bis eine jähe Stille entstand.
»Okay«, sagte sie rasch, und ihr wurde bewusst, dass sie auf einmal hellwach war. »Ich mache mich sofort auf den Weg.«
Sekunden nach dem kurzen Telefonat hüpfte sie eilig ins Bad, ein Bein bereits in der Jeans. Die langen Haare wirbelten in verstrubbelten Strähnen um ihren Kopf. Kaltes Wasser ins Gesicht, Zahnbürste in den Mund, während ihr Kopf noch immer dabei war, die Informationen zu ordnen.
Sie konnte es einfach nicht glauben. Seit Wochen war alles ruhig gewesen – und nun das! Ausgerechnet jetzt, wo ihre beiden älteren Kollegen nicht zur Verfügung standen, einer im Urlaub, der andere mit Hexenschuss zu Hause. Schon seit mehreren Tagen hatte sie den nächtlichen Bereitschaftsdienst übernommen, aber nie hätte sie damit gerechnet, dass sie gebraucht werden würde.
Ihr erster Einsatz an einem Tatort. Total verrückt!
Aufregung kribbelte unter ihrer Haut, während sie im Spiegel in ihre dunklen Augen blickte und mit der Haarbürste den wilden Schopf zu bändigen versuchte. Wieso eigentlich kämmen? Keine Zeit dafür! Weg mit der blöden Bürste!
Los!, trieb Berenice sich an. Schuhe, Jacke, Rucksack, Helm. Los!
Draußen schwang sie sich auf ihre mintgrüne Vespa. Das Wohnviertel ringsum lag in tiefem Schlaf, Sterne funkelten. Fahrig scrollte sie über das Handydisplay, um mithilfe einer Navigations-App festzustellen, wo genau sie hinmusste. Sie startete den Motor und hielt vor Schreck den Atem an. Die Kameras! Hatte sie ihre geliebte Lumix und als Ersatz die Canon dabei? Ein rascher Blick in den Rucksack. Natürlich hatte sie sie eingesteckt, dazu verschiedene Objektive. Ihre Werkzeuge, ihre Schusswaffen, wie sie die Fotoapparate scherzhaft nannte. Nun war ihr jedoch überhaupt nicht nach Witzen zumute. Die Hinweise des Beamten vom Kriminaldauerdienst hatten sich schrecklich angehört.
Eigentlich hatte sie diesem Moment entgegengefiebert, jetzt allerdings war ihr das Herz bis in ihre Sneaker gerutscht. Sie fuhr los und beschleunigte forsch. Hoffentlich machte keiner dumme Sprüche, weil sie kein Auto besaß.
Es war erst zwei Monate her, dass Berenice auf die Stellenausschreibung geantwortet hatte, eine Kurzschlusshandlung, ohne sich Gedanken zu machen, ob etwas daraus werden könnte. Zwei schnelle Vorstellungsgespräche später war sie eingestellt worden. Das war alles. Als wäre es ein weiterer Praktikumsposten bei einem Fotografen oder ein Junior-Art-Director-Job in einer Werbeagentur. Dabei gehörte sie nun dem Kriminaltechnischen Institut des Landeskriminalamts Wiesbaden an. Und heute würde sie ... Nicht so viel denken!, sagte sie sich. Konzentrier dich!
Eine knappe halbe Stunde später gelangte sie ans Ziel. Die Industriehalle schälte sich aus der Nacht. Berenice verlangsamte und brachte die Vespa zum Stehen. Absperrbänder, Streifenwagen mit flirrendem Blaulicht, eine schwarze Limousine des Kriminaldauerdienstes, Schutzpolizisten, zivile Beamte. Sie stoppte und zog den Helm herunter.
Die Luft war klar und kühl. Ein Maschendrahtzaun rostete vor sich hin, überall wucherte Unkraut. Das große Doppeltor der Halle war geschlossen, doch ein Seiteneingang stand offen.
Berenice näherte sich. Angespannt und aufgekratzt wies sie sich aus. Nicht etwa einer der wichtigen Kriminalbeamten oder ein erfahrener Kollege des Erkennungsdienstes, sie würde die Erste sein, die dem Opfer ganz nahe kam. Erst musste sie Fotos machen, um alles exakt so festzuhalten, wie die Leiche vorgefunden worden war, danach würden die Experten Spuren sichern.
Nur Männer waren anwesend, wie Berenice nebenbei wahrnahm, als Kollegen eine Schneise bildeten, um sie durchzulassen. Schutzkleidung aus Kunststoff wurde ihr in die Hände gedrückt. Rasch schlüpfte sie in den Ganzkörperoverall, zupfte nervös am Mundschutz und an der Kapuze herum.
Sie betrat die Halle. Bewegte sich auf das Grauen zu. Hielt die Luft an. Konzentrier dich!, schärfte sie sich erneut ein. Um Himmels willen nicht nachdenken, Gedanken gar nicht erst zulassen, Emotionen ausblenden.
Unter den Einweghandschuhen waren ihre Finger im Nu schweißnass. Sie spürte die Blicke der hinter ihr stehenden Männer. Auch deren Erwartung, Berenice müsse sich übergeben. Sie biss kurz die Zähne zusammen und kaute dann so heftig auf der Unterlippe herum, dass sie Blut auf der Zungenspitze schmeckte.
Totenlichter waren im Halbkreis arrangiert worden, sodass eine milchige Helligkeit auf die Leiche fiel, die rücklings auf dem Boden lag. Die Gliedmaßen waren vom Körper abgespreizt, der Mund leicht geöffnet. Sie war völlig nackt, abgesehen von einer aufgesetzten Sonnenbrille, die der gesamten Szenerie etwas noch Bizarreres verlieh.
Oh Gott! Berenices Knie wurden weich, aber sie fasste sich. Nicht grübeln, sondern funktionieren.
Sie nahm die Kamera aus dem Rucksack, zog den Riemen über den Kopf, schaltete die Kamera ein, nahm die Objektivschutzkappe ab.
Weiße Haut, von Blut verschmiert. Klick!
Ziffern, mit Blut auf die Stirn gemalt. Klick!
Wörter, eher kurze Zeilen, mit Blut auf den Bauch gemalt. Klick!
Um die Tote herum – eine Flut aus Blütenblättern. Weiße Blätter, viele davon dunkelrot verfärbt, weil sie mit Blut getränkt waren. Klick!
Berenice stellte sich mit gespreizten Beinen über die Frau und – klick, klick, klick! Sie entschied sich für einen größeren Abstand. Alles zusammen im Suchfenster: Lichter, Blütenblätter, Leiche. Die Stille wurde nur gestört, wenn sie den Auslöser drückte. Sie bewegte sich wieder näher heran. Jedes Hämatom, jeder Kratzer, jeder Blutstropfen. Das unentwegte Klicken war ihr nie so laut, so intensiv erschienen. Sie würde die Kamera niemals wieder Schusswaffe nennen, das wusste sie genau.
Noch ein Stück näher heran. Sie beugte sich dicht über das Gesicht der Toten. In den leicht spiegelnden Gläsern der Sonnenbrille schimmerten ihr eigener Kopf mit der Kapuze und ihre Hände, die den Fotoapparat hielten. Sie drückte auf den Auslöser.
Langsam senkte sie die Kamera, hielt sie nur noch locker mit der linken Hand. Sie wusste nicht, weshalb, aber sie konnte die Augen nicht von der Brille lassen.
»Wie sieht's aus, Kollegin?«, drang eine Stimme zu ihr durch, der sie kaum Beachtung schenkte, so konzentriert war sie. »Haben Sie genug? Wir müssten uns jetzt auch mal eingehender mit der Dame befassen.«
Die Brille. Was war damit?
»Kollegin, gehen Sie mal rüber, bitte«, forderte dieselbe Stimme sie auf. Sie gehörte einem der Männer des Erkennungsdienstes.
Ohne dass Berenice es eigentlich wollte, bückte sie sich erneut. Ihre rechte Hand bewegte sich auf die Brille zu.
»Hey, was machen Sie? Nichts anfassen! Lassen Sie uns das ...«
Doch sie hatte bereits mit den vom Handschuh verhüllten Fingerspitzen nach der Brille gegriffen. Behutsam zog sie sie vom Gesicht.
Schwarze Höhlen starrten sie an. Höhlen ohne Augen.
»Verfluchte Scheiße!«, hörte sie wieder den Mann neben sich.
Sie legte die Brille vorsichtig neben dem Leichnam ab. Ihre Hand schloss sich fest wie nie zuvor um die Kamera. Sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte, ihre Kehle war wie ausgetrocknet.
Die beiden schwarzen leeren Öffnungen.
Sie schluckte hart, blinzelte, ihre Knie waren schon wieder weich.
Klick! Klick! Klick!
***
Zurück im Freien, riss Berenice sich den Mundschutz vom Gesicht. Sie schnappte nach Luft. Ihr Magen rotierte noch immer. Sie versuchte ganz ruhig zu atmen. Nur nicht kotzen, dachte sie. Nein, sie wollte sich vor den anderen auf keinen Fall eine Blöße geben.
Langsam entfernte sie sich von der Halle. Sie streifte die Handschuhe ab. Die kalte Luft tat gut, sie fühlte sich etwas besser. Ein Motorgeräusch ertönte, laut und durchdringend. Sie sah zu, wie ein gelber Sportwagen auftauchte und neben den übrigen Fahrzeugen geparkt wurde. Ein Porsche. Berenice hob die Augenbrauen. Wie konnte jemand ernsthaft ein derartiges Auto fahren? Gerade in der heutigen Zeit? Ein Mann stieg aus, und sie betrachtete seine Silhouette. Nachdem er in der Industriehalle verschwunden war, drehte sie sich um, den Blick wieder auf die Dunkelheit jenseits des zweckmäßigen, wohl schon länger leer stehenden Gebäudes gerichtet.
Sie stellte sich neben eine einsame Birke und ließ eine Minute verstreichen, froh darüber, allein zu sein. Die Sonne ging bereits auf und schickte zaghaft einen dünnen zartrosa Schein über den Horizont. Ein irritierend schöner Anblick. Beinahe erschien es ihr, als ob alles nur ein böser Traum gewesen wäre und jetzt das echte Leben wieder seinen Lauf nähme.
Und dann musste Berenice sich doch noch übergeben, ganz plötzlich überkam es sie. Gebückt stand sie da und würgte. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Mit einer Hand suchte sie Halt am Baumstamm. Endlich hörte es auf. Fehlte nur noch, dass die anderen es bemerkt hatten. In ihrem Hals war ein widerliches Brennen.
Sie erschrak, weil ihr plötzlich jemand ein ausgebleichtes, ordentlich gefaltetes Stofftaschentuch hinhielt. Automatisch ergriff sie es, um sich damit über den Mund zu wischen. Erst dann richtete sie sich auf. Ihr Blick fiel auf das Gesicht eines Mannes. Es war derjenige, der mit dem Porsche eingetroffen war.
Noch einmal säuberte sie sich die Lippen. Gedankenlos wollte sie ihm das Tuch zurückgeben, fing sich aber im letzten Moment und stopfte es in die Hosentasche.
»Danke«, meinte sie leise.
Er wirkte gelassen und hatte ein Grinsen auf den Lippen, das vielleicht spöttisch war, vielleicht auch nicht.
»Ich bin übrigens Beren–«, wollte sie sich vorstellen, doch erneut musste sie würgen.
Als sie sich zum zweiten Mal schnaufend aufrichtete, grinste er immer noch.
»Ich bin Jack«, sagte er.
Aus den Boxen drang der Song Don't Take Your Guns to Town. Hauptkommissar Diehl sang unbewusst den Text mit, als er einparkte. Er stellte den Motor ab und stöpselte das Handy mit der Playlist aus. Die letzten Worte des Lieds, begleitet von einem verlorenen Gitarrenakkord, hingen noch für einen Moment im Wageninnern, als wollte Johnny Cash ihn vor kommendem Unheil warnen. Beim Aussteigen hatte Diehl das Gefühl, mit dem Leichenfund hätte sich eine gewaltige schwarze Wolke am Himmel gebildet, die bedrohlich über dem Landeskriminalamt in Wiesbaden schwebte.
Gleich darauf folgte er den vertrauten verwinkelten Fluren des riesigen Gebäudekomplexes, bis er die Abteilung 4 für Schwere und Organisierte Kriminalität erreichte. Die abgewetzten Tony-Lama-Cowboyboots, gekauft während eines seiner vielen Arizona-Trips, gaben das vertraute Tock-tock von sich, doch ansonsten herrschte Stille. Seit er nachts die Industriehalle betreten hatte, waren gut vier Stunden vergangen. Eine schnell verflogene Zeitspanne, die er zu nutzen versucht hatte, um erste Erkenntnisse zu gewinnen. Kurz hatte er im Eiltempo eine Dusche genommen und war dann direkt ins Präsidium gefahren.
Gewiss hatten sich bestimmte grausige Details der Tat bereits im ganzen Haus herumgesprochen. Die Anspannung war schon jetzt wie mit Händen zu greifen. Aus den Büros, die er passierte, rief ihm daher auch keiner der Kollegen einen der üblichen Sprüche zu. Kein Wie läuft's in Texas, Sheriff?
Mit einem entspannten Grinsen hätte er geantwortet: Bestens läuft's. Jedenfalls seit ich da für Ordnung sorge.
Jakob Diehl wurde praktisch sein Leben lang Jack genannt, und kein Spitzname hätte besser passen können. Er war der Cowboy, der Bulle mit den Stiefeln und den karierten Flanellhemden, der in dem Ruf stand, ganz gern mal wild loszugaloppieren, um Ermittlungen voranzutreiben.
Zur Morgenbesprechung traf er pünktlich ein, genau wie alle anderen. Ein derartiges Verbrechen trieb jeden noch stärker zu Gewissenhaftigkeit an. Keine Minute, keine Sekunde durfte verschenkt werden. Niemand machte einen Scherz, niemand plauderte. Sie standen erst am Anfang der Ermittlungen, es gab noch nicht viele Details zu verkünden, und so nahm das Meeting nicht viel Zeit in Anspruch.
Danach blieb Diehl allein im Besprechungsraum zurück. Er telefonierte kurz mit Kollegen des Kriminaltechnischen Instituts, das in einem anderen Flügel untergebracht war. Erneut betrachtete er die mit Magneten auf einem Whiteboard platzierten Tatortfotos, um alle Einzelheiten im Kopf abzuspeichern.
Nach einer Weile ging die Tür auf, und Kommissariatsleiter Robert Kornfeld schob sich ins Büro. »Dachte ich mir, dass du noch hier bist, Jack.«
Egal wie groß und schlagkräftig das für Ermittlungen zusammengestellte Team sein mochte, Kornfeld und Diehl nutzten gern die Gelegenheit, um sich unter vier Augen zu besprechen. Das war ihnen wichtig, oft hatte sie das vorangebracht.
Diehls Blick blieb auf die Fotos geheftet. »Im Meeting wurde ja erwähnt, dass die Labor-Jungs noch nichts Verwertbares finden konnten. Was nicht erwähnt wurde, ist die Tatsache, dass sie kaum Hoffnung haben, es könnte sich daran was ändern. Offenbar hat hier jemand verdammt saubere Arbeit geleistet.«
Kornfeld ließ sein Hinterteil auf dem zentral im Raum platzierten Tisch nieder. »Im Haus reden alle über die Mordserie von damals. Gute Taten finden kaum Nachahmer, aber Schweinehunde werden viel zu oft kopiert, findest du nicht?«
Sie musterten sich vielsagend. Mehr Worte waren auch nicht nötig. Der Name Curt Weinert stand im Raum, ohne dass man ihn aussprechen musste.
»Wenn Einzelheiten rauskommen, vor allem das mit den Lilien, wird ganz schön was los sein«, meinte Kornfeld. »Zurzeit haben wir ja ein normales, erfreulich professionelles Verhältnis zu allen Pressefritzen, aber bei derart aufsehenerregenden Fällen ist nichts normal.«
Diehl trat ganz nahe an das Board heran und konzentrierte sich auf die letzte Aufnahme, die er angebracht hatte: die leeren Augenhöhlen des Opfers schienen seinen Blick zu erwidern.
»Übrigens, wer ist die neue Tatortfotografin?«, murmelte er.
Kornfeld runzelte die Stirn. »Die Brasilianerin?«
»Talentiertes Mädchen.«
»Zu jung für dich, Jack.« Kornfeld schüttelte mit einem milden Schmunzeln den Kopf. »Und gerade du weißt ja: nie im heimischen Revier jagen. Denn da fällt mir doch sofort ein anderes talentiertes Mädchen ein. Eines mit roten Haaren.«
»Kommen wir lieber noch mal zu den Fakten, was?«
»Gute Idee, Jack.«
»Erstens: Wie sind wir auf Nele Schneyders Leiche aufmerksam geworden? Durch einen anonymen Anruf. Nicht zurückverfolgbar. Stimme stark verstellt, wie durch ein Tuch gesprochen, zusätzlich eventuell elektronisch manipuliert. Zweitens: Wo befindet sich der Fundort? Die Halle liegt abgelegen auf halbem Weg zwischen Frankfurt und Wiesbaden. Offenbar keine Spurenrückstände des Täters.« Diehl nahm die Notizen, die er sich bei dem Telefonat mit dem Erkennungsdienst gemacht hatte. »Denn in dem Fall müsste irgendetwas an der Leiche dran sein. Ein Härchen, ein paar Hautschuppen. Da findet sich aber bislang nichts. Auch keine Spermareste. Ein solches Verbrechen kann man fast nicht begehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Also ist der Mörder wohl woanders zur Tat geschritten. Nach den Folterungen und dem Tod der Frau hat er seine Schmierereien auf ihr angefertigt. Dann hat er sie zur Halle transportiert. Das ist zumindest im Moment die Meinung der Experten.«
Kornfeld sagte nichts.
»Drittens: die Lilien. Sie erinnern natürlich automatisch an damals. Sie stellen die große Gemeinsamkeit dar. Aber ich frage mich eher: Was sind die Unterschiede zu den früheren Morden, die Curt Weinert begangen hat? Das wäre dann viertens.« Diehl verschränkte die Arme vor der Brust. Mit Mitte dreißig war er einige Jahre jünger als sein Vorgesetzter, auch schlanker und mit einem Meter fünfundachtzig ein wenig größer.
»Die auffälligste Abweichung? Natürlich die Augen«, antwortete Kornfeld entschieden.
Diehl nickte. »Bei der damaligen Mordserie kam es zu brutalen Vergewaltigungen, aber nicht zu einer Grausamkeit wie dem Entfernen der Augen. Die Experten gehen aufgrund des schlimmen Zustands der Augenhöhlen davon aus, dass das geschah, als die Frau noch am Leben war.«
Wieder sagte Kornfeld nichts.
»Ich hab die verdammten Lilien nicht gerade vermisst.« Diehl ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte die Beine aus. Seine Stiefel waren noch staubig von der Halle.
»Wer ist der Nachfolger des Lilienmörders?« Kornfeld fuhr sich durch sein schütteres Haar. »Wer vergewaltigt, mordet und hinterlässt, genau wie Curt Weinert, sowohl saubere weiße als auch blutgetränkte Lilienblüten am Tatort?«
»Bevor wir zu den Antworten kommen, lass uns bei den Fragen bleiben. Was ist noch anders im Vergleich zu damals?«
Kornfeld deutete auf eines der Fotos. »Die Worte.«
»Eine Strophe, die mit dem Blut des Opfers auf den Bauch geschrieben wurde, den Experten zufolge wohl mithilfe eines stinknormalen Pinsels, wie ihn Kinder für Wasserfarbenbilder benutzen.« Diehl sah von seinem Platz zu dem entsprechenden Foto und las vor:
»Schlafe, Kindlein hold und weiß,
das noch nichts von Sorgen weiß,
schlaf in stiller süßer Ruh,
tu die kleinen Äuglein zu.«
Kornfelds Miene drückte Ratlosigkeit aus. »Ein Gedicht. Nun echt nicht Weinerts Stil. Wer macht so was?«
»Ich habe den Wortlaut gegoogelt und bin sofort fündig geworden. Es ist die erste Strophe eines Gedichts mit dem Titel Des Lilienmädchens Wiegenlied. Verfasst von einem gewissen Ernst Moritz Arndt, einem Dichter aus dem neunzehnten Jahrhundert.«
»Gibt der irgendwas her?«
»Rein gar nichts.« Diehl musterte ihn. »Aber das ist die falsche Frage.«
»Ach? Welche ist die richtige?«
»Wie viele Strophen hat das Gedicht?«, erwiderte Diehl. »Die Antwort ist vier.«
»Verstehe.« Kornfeld nickte. »Du meinst, die Sache geht weiter.«
»Ein Nachahmungstäter, der nur einmal zuschlägt? Würde mich wundern.«
»Mich auch. Und das heißt, wir müssen schnell sein.«
»Bezieht sich Kindlein auf ein reales Kind?« Diehl strich sich grübelnd über die Stoppeln am Kinn. »Oder eher auf das Opfer, das ja recht jung war? Äuglein ... hm, da muss man wohl nicht lange grübeln.« Er stand auf, um sich wieder vor das Board zu stellen. »Was ist außerdem anders als damals?« Mit der Fingerspitze tippte er auf das dritte Foto. »Die Ziffern auf der Stirn. Wohl ebenfalls mit einem Pinsel aufgetragen. Mit dem Blut des Opfers.«
»Neun, null, sechs, eins.« Kornfeld beschrieb eine ratlose Geste mit der Hand. »Zwei Rätsel auf einmal.«
»Wir müssen die Ziffern von den IT-Spezialisten durch die Computersysteme rattern lassen. Damit würde ich nicht warten. Sie sollen alle Kombinationsmöglichkeiten durchspielen, auch in Bezug auf Nele Schneyders Leben. Vielleicht ergibt sich etwas, das uns weiterhilft. Was meinst du, sind die Ziffern eine Botschaft an uns?«
»Vielleicht auch so etwas wie eine Signatur. Oder ein Hinweis für die Angehörigen des Opfers.«
Diehl bearbeitete wieder sein Kinn. »Oder ist es viel simpler? Etwas ganz Naheliegendes?«
»Alles ist möglich. Und das erleichtert uns die Arbeit nicht.« Seit Kornfeld vor fünf Jahren zum Leiter des Kommissariats befördert worden war, hatte er es sich angewöhnt, formellere und weniger praktische Kleidung zu tragen. Doch wie meistens spannte der Stoff auch jetzt um seinen in die Breite gegangenen Körper, und er wirkte immer, als hätte man ihn gezwungen, einen Anzug anzuziehen.
»Augen, Gedicht, Ziffern. Das sind also die wichtigsten Unterschiede zu den früheren Lilientatorten«, fasste Diehl zusammen. »Womit wir bei fünftens wären.«
»Dem Opfer.«
»Nele Schneyder, Radiomoderatorin.« Diehl warf wieder einen Blick auf seine Notizen. »Nur ein paar Klicks, und man weiß recht viel über sie. Fünfundzwanzig Jahre, ledig, nicht liiert, geboren und wohnhaft in Frankfurt. Hat an der Goethe-Uni Sprach- und Geisteswissenschaften studiert, nebenher Praktika bei verschiedenen Radiosendern gemacht, bis sie von Radio MainRock fest eingestellt wurde.«
»Bei einer Radiomoderatorin denkt man eigentlich zuerst an ihre Stimme, nicht an die Augen«, warf Kornfeld ein.
»Der Gedanke kam mir auch, und ich hab schon ein bisschen recherchiert. Vor Kurzem gab es eine Werbekampagne von MainRock. Auf Großflächenplakaten wurden mehrere Moderatoren präsentiert, die Gesichter hinter den Stimmen. Und von da an wuchs Nele Schneyders Fanschar schnell an. Ihre Facebook- und Instagram-Profile wurden überschwemmt. Schlagartig hatte sie ihren Bekanntheitsgrad vervielfacht. Vor allem die männlichen Hörer waren ganz außer sich, weil sie auffallend hübsch war.«
»Einer ihrer Fans ist offenbar auch ein Fan des Lilienmörders.« Kornfeld löste sich schwerfällig von der Schreibtischkante. »Ihre Familie?«
»Einzelkind, in Niedernhausen aufgewachsen. Dort wohnen auch die Eltern. Sie wissen es noch nicht. Ich werde das übernehmen.« Diehls Augen verengten sich. »Und dann werde ich die arme Nele genauer unter die Lupe nehmen.«
»Übrigens, der Vizepräsident hat mich vorhin angerufen, er möchte mit uns sprechen. Wir treffen uns nachher bei der Obduktion und legen im Anschluss den Schlachtplan fest.«
»Hat er sonst noch was gesagt?«
Kornfeld nickte. »Hm, ich glaube, er will, dass dieselbe Truppe eingesetzt wird wie bei Weinert. Und das wären wir beide.«
»Unter anderem ...«, kommentierte Diehl anspielungsreich.
»Ja, da wäre auch eine bestimmte Fallanalytikerin dabei. Und damit sind wir wieder bei den talentierten Mädchen aus dem eigenen Revier, in dem man nicht wildert.«
Diehl meinte in vollendet ironischem Ton: »Vorhin dachte ich, mir könnte nichts einen größeren Schrecken einjagen als ein neuer Lilienmörder.«
»Und was ist noch erschreckender?«
»Ein neuer Lilienmörder in Kombination mit Viola Hendrick.«
***
Viola Hendrick hatte eigentlich angenommen, sich im Gebäudekomplex des Landeskrimanalamts bestens auszukennen und in jeder Ecke schon gewesen zu sein. Doch in diesem Stockwerk befand sie sich zum ersten Mal. Es war früher Nachmittag. Von draußen flutete Sonnenlicht in den Korridor, dem sie folgte, bis sie endlich die gesuchte Zimmernummer entdeckte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen.
Sie spähte ins Innere, wo es totenstill war. Die Regale waren voller Kamerazubehör, die beiden Doppelschreibtische unbesetzt. Am einzigen Fenster stand eine junge Frau und sah nach draußen in den blauen Himmel, offenbar in Gedanken versunken.
Viola klopfte an und stieß die Tür weiter auf. »Sorry, darf ich stören?«
Die Frau drehte sich um. Ihr freundliches Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie tatsächlich irgendetwas ziemlich beschäftigte.
Kein Wunder, dachte Viola. Sie trat näher. »Ich wollte mich nur kurz vorstellen, da wir uns noch nicht begegnet sind. Ich bin Viola Hendrick, Fallanalytikerin.«
»Freut mich. Ich bin Berenice.« Die junge Frau nickte ihr zu. Sie war Mitte zwanzig, schlank, sportlich gekleidet: Sneaker, lässige Chinos, Hoodie, die langen dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Außerdem wollte ich Ihnen ein Kompliment machen«, fuhr Viola fort. »Ich habe die Tatortfotos gesehen, die Sie erstellt haben. Ausgezeichnet.«
»Danke«, kam es hörbar bescheiden von Berenice. »Sehr nett von Ihnen.«
»An einem Tatort zu sein, erst recht an einem solchen, erfordert Nerven wie Stahlseile.«
»Und einen starken Magen.«
»Davon habe ich auch gehört. Machen Sie sich bloß keine Gedanken deswegen. Das ist schon ganz anderen so ergangen.«
»Äh, Frau Hendrick, können Sie mir sagen ...«
»Viola. Und du, wenn du magst.«
»Klar, gern.« Das Lächeln der jungen Frau wirkte nun entspannter. »Viola, kannst du mir sagen, wer der Lilienmörder ist? Seit heute Morgen schnappe ich ständig diesen Begriff auf.«
»Das kann ich mir vorstellen. Vor einigen Jahren gab es eine Mordserie an Frauen. Der Killer wurde von der Presse Lilienmörder getauft. Wegen der ... nun ja, das weißt du ja jetzt selber. Eine wahre Tötungsmaschine namens Curt Weinert. Fünf erschreckend grausam zugerichtete Leichen innerhalb von nicht einmal vier Monaten.«
»Ah, jetzt erinnere ich mich. Aber der Mann wurde gefasst. Er befindet sich hinter Gittern, richtig?«
»Zum Glück, sonst wäre es weitergegangen. Er war ein Mörder, der niemals hätte aufhören können. Die Verhaftung wurde zu einem Medienereignis. Danach kam es zu einem spektakulären und ebenfalls ziemlich von der Presse ausgeschlachteten Fluchtversuch. Weinert wurde von Kommissar Diehl gestellt, für den der Fall ein richtiges Karrieresprungbrett war. Er wurde zum Hauptkommissar befördert.«
»Ich hab ihn am Tatort kennengelernt.«
»Diehl? Ganz bestimmt war er dort.« Violas Ausdruck veränderte sich, als sie seinen Namen aussprach, sie merkte es selbst. Und sie merkte außerdem, dass das auch der aufmerksamen Berenice nicht entging. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Noch mal mein Kompliment, Berenice. Beeindruckend gut, die Fotos.«
»Danke. Meine ersten in diesem Job.«
Viola registrierte, dass sie eingehender von Berenice betrachtet wurde. Sie wusste, dass sie ein wenig älter wirkte als ihre zweiunddreißig Jahre. Vor allem aufgrund einer gewissen Strenge, die sie in bestimmten Situationen, erst recht im Dienst, einfach nicht abzulegen vermochte.
»Du bist Brasilianerin, Berenice, nicht wahr?«, meinte sie.
»Nein, Deutsche, aber alle glauben das und nennen mich ›die Brasilianerin‹. Mein Vater stammt von dort, meine Mutter von hier, sie ist Deutsch-Brasilianerin. Ich bin in Frankfurt geboren und aufgewachsen.«
»Das bin ich auch.« Rasch blickte Viola auf ihre Armbanduhr. »Und fast zu spät für eine wichtige Besprechung.«
»Wegen des Mords?«
»Richtig. Falls wir dich brauchen, holen wir dich einfach dazu, ja? Oft ergibt sich ja noch die eine oder andere Frage.«
»Klar, gern.«
Eine nette, erfrischend natürlich wirkende Frau, dachte Viola, als sie das Büro verließ. Doch sofort drängten sich wieder die Tatortfotos in ihr Bewusstsein, und ein eisiger Schauer überfuhr sie. Ihr Gespür sagte ihr, dass das keine Einzeltat gewesen sein konnte. Und es sagte ihr auch, dass das nur der Anfang von etwas war, das ihnen allen noch gewaltig zu schaffen machen würde.
Diehl verriegelte seinen gelben 911 und warf einen Blick die Straße herunter. Er verspürte den Druck, gegen den man sich nie würde wappnen können. Die ersten Tage nach einem Kapitalverbrechen waren entscheidend, man durfte sich kaum einmal zum Luftholen Zeit nehmen. Seit er vor der mit Lilien geschmückten Leiche gestanden hatte, waren gut elf Stunden vergangen, in denen er nichts gegessen hatte und ständig beschäftigt gewesen war, angespannt, voller Konzentration. Deshalb brauchte erst einmal einen schnellen Bissen, bevor er sich zu dem Wohnblock in der Jordanstraße im Frankfurter Stadtteil Bockenheim begab. Bei einem türkischen Imbiss in der belebten Leipziger Straße holte er sich einen Dürüm-Döner mit Halloumi und aß im Gehen.
Dabei spulte er die Bilder des Tages im Kopf ab. Die geschockten Gesichter der freundlich wirkenden Eltern des Opfers. Das schwierige Gespräch mit den beiden, die am Boden zerstört waren. Die anschließende Obduktion, die ergeben hatte, dass Nele Schneyder vor ihrem letzten Atemzug sehr gelitten hatte. Scheidenwand und Anus wiesen Spuren auf, die auf eine extrem brutale Vergewaltigung schließen ließen, die Hämatome auf heftige Schläge mit einem schweren, stumpfen Gegenstand. Und die Augen waren offenbar mit bloßer Gewalt der Hände aus dem Schädel gedrückt worden, was für einen eher kräftigen Täter sprach.
Nach der Obduktion folgte eine weitere Teambesprechung, bei der die Aufgaben verteilt wurden. Und dann war da auch noch Viola. Ihre Trennung war recht turbulent verlaufen, und weder er noch sie begrüßten es, dass ihre Wege sich jetzt wieder beruflich kreuzten. Aber jeder von ihnen war natürlich zu dickköpfig, um sich ein neues Arbeitsumfeld zu suchen. Im Laufe der damaligen Lilienmörder-Ermittlungen hatten sie sich kennen-, später lieben und entlieben gelernt. Jetzt führten die Lilien sie wieder zusammen. Ausgerechnet Viola. Schöner Mist, dachte Diehl.
Vor etwa einer halben Stunde hatte er Befragungen im Gebäude des Radiosenders MainRock durchgeführt, Diehls bislang letzte Station des Tages. Normalerweise brachen sie zu zweit auf, doch der Mord hatte die Abteilung auf dem falschen Fuß erwischt. Einige Kollegen waren noch im Urlaub, es musste improvisiert werden.
Genau wie bei der Unterhaltung mit den Eltern hatte er bei den Kollegen, mit denen Nele Schneyder offenbar auch freundschaftlich verkehrt hatte, das Entsetzen über die Tat deutlich spüren können. Nele war beliebt gewesen. In ihrem privaten wie beruflichen Alltag hatte es keine ernsten Streitfälle gegeben, keine Auffälligkeiten, keine Misstöne. Sie hatte zuletzt keinen Partner gehabt und sich nach Angaben der Befragten vor allem auf ihren Job konzentriert, der nach der Werbekampagne des Senders volle Fahrt aufnahm. Auf den ersten Blick gab es niemanden, der ihr etwas Schlechtes gewünscht, niemanden, der ein böses Wort über sie verloren hätte.
Diehl hatte sich gerade mit seinen spärlichen Notizen verabschieden wollen, als endlich ein Name fiel, der ihn aufhorchen ließ. Mark Linde. Ein früherer Tontechniker des Senders. Er habe Nele ebenso beharrlich wie erfolglos angebaggert. Ein komischer Typ, wie es hieß, der aufgrund seiner Unzuverlässigkeit entlassen worden und seither beschäftigungslos sei.
Diehl warf das Döner-Papier in einen Mülleimer. Der Abend zeigte sich mit ersten dunklen Tupfern am eben noch blauen Himmel. Die Uhr tickte. Unter seiner abgewetzten M65-Armyjacke und dem Flanellhemd schwitzte Diehl. Er erreichte die Jordanstraße und klingelte am Knopf mit dem Namensschild Linde. Im Lauf des Tages hatte er die Datenbanken durchforstet, doch Mark Linde war bislang wegen keiner noch so geringen Gesetzesübertretung erfasst worden. Der Türsummer ertönte.
Minuten später saß Diehl in einer unaufgeräumten Wohnung einem jungen Mann mit knapp schulterlangen Haaren gegenüber, der wirkte, als wäre er gerade erst aufgewacht. Er streifte die Cowboystiefel seines Besuchers mit einem abfälligen Blick.
In der schlechten Luft des Wohnzimmers hing noch der süßliche Geruch eines Joints – oder eher vieler.
»Wann haben Sie Nele Schneyder zuletzt getroffen?«
Linde musterte ihn aus müden Augen. »Hm. Das muss Monate her sein.«
Durchgehockte Sessel, an der Wand ein riesiges Poster, auf dem Flo Rida lässig den Arm um Keshas Schultern legte. Leere Kekspackungen und Zigarettenschachteln, ein überquellender Aschenbecher. Linde, der mit seinem schmalen Gesicht und seinen hellen, geraden Haaren an Kurt Cobain erinnerte, gähnte immer wieder.
Nachdem Diehl weitere Fragen gestellt hatte, ohne nennenswerte Antworten zu erhalten, sagte er unvermittelt: »Es muss hart gewesen sein.«
»Was?«
»Bei der Frau abzublitzen, auf die man so verdammt scharf ist. Das kennt doch jeder von uns. Das trifft einen.«
»Ich hab's überlebt.«
Diehl nahm ihn ins Visier. »Sie schon.«
»Hä?« Lindes Kopf ruckte hoch, seine Augen wirkten auf einmal wacher. »Wie meinen Sie das? Warum überhaupt die Fragen? Was ist mit Nele?«
Diehl ließ ihn keinen Sekundenbruchteil aus den Augen. »Sie ist tot.«
Keine Veränderung im Blick, das Gesicht wie eine Maske, noch verstärkt durch die ungesund bleiche Haut. Kein Laut, gar nichts.
»Wussten Sie das nicht, Herr Linde?« Diehl legte ein Bein lässig übers andere. Er merkte, wie wenig sein Gegenüber ihn leiden konnte, aber gerade das half manchmal, unerwartete Reaktionen hervorzurufen.
»Tot?«
»Bleiben Sie dabei, dass es Monate zurückliegt, seit Sie Nele Schneyder zuletzt gesehen haben?«
Es kam keine Antwort.
»Was haben Sie gestern gemacht?«
»Ich war zu Hause.«
»Den ganzen Tag?«
»Die ganze Woche.«
Lindes Ausdruck war nach wie vor unverändert, und Diehl kam zu dem Schluss, dass es nicht nur an Schläfrigkeit, sondern auch an Drogen lag. Womöglich hatte der Kerl einen Dauerpegel. Oder hatte er sich das Zeug gegönnt, um ein bestimmtes Erlebnis noch intensiver auszukosten?
»Immer in der Wohnung?«
»Ja.«
»Was tun Sie den ganzen Tag?«
»Ich träume, ich höre Musik.« Linde lachte dümmlich auf. »Ich pflücke Blumen.«
»Aber essen müssen Sie doch gelegentlich etwas. Und demzufolge auch mal zum Einkaufen raus, oder?«
»Ich brauch nicht viel, nur meine Ruhe.«
»Sie haben Ihr Zuhause also nicht verlassen? Auch nicht für einen Termin bei der Agentur für Arbeit? Oder um in einer Kneipe ein Bier zu trinken?« Diehl ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Oder um Ihrer großen Liebe hinterherzuschleichen?«
Linde erwiderte nichts.
»Kann jemand bezeugen, dass Sie hier waren? Haben Sie Besuch erhalten?«
Der Mann glotzte leer durch ihn hindurch.
»Ihre früheren Kollegen sagen aus, Sie hätten unverhältnismäßig aggressiv darauf reagiert, dass Sie bei Nele nicht landen konnten. Und dass Sie nicht nett über sie gesprochen hätten. Schlampe. Bitch. Miststück. Was man halt so äußert, wenn man stinksauer ist.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Linde ebenso lahm wie leise.
»Nele soll einmal sogar im Kollegenkreis gesagt haben, dass sie das Gefühl habe, Sie würden sie beobachten.«
Linde schwieg.
»Haben Sie sie verfolgt? Ihr nachgestellt?«
»Nein, so ist das nicht gewesen.«
»Wie dann?«
»Ich wollte halt noch mal mit ihr quatschen, das ist alles.«
»Und so kam es zum Streit«, gab Diehl prompt zurück, als wäre es eine feststehende Tatsache. »Sie wollten der – Zitat – Bitch eine Lektion erteilen.«
Erst jetzt veränderte sich etwas in Lindes Augen, die finster aufblitzten, ganz kurz nur. »Nein, es kam nicht zum Streit, das stimmt nicht.«
»Haben Sie eine Freundin?«
Linde senkte stumm den Kopf, sodass Diehl nur noch den ungekämmten Schopf sah.
»Wann hatten Sie zuletzt eine Freundin?«
»Kann mich kaum dran erinnern.«
»Besitzen Sie ein Auto?«
»Nein.«
Obwohl Linde eher schmal gebaut war, wirkten seine Hände kräftig, auch die Finger, wie Diehl feststellte. Nach einer langen Pause sagte der Kommissar: »Schon eigenartig, dass Sie nicht fragen, Herr Linde.«
Der Kopf blieb unten. »Fragen? Wonach?«
Diehl stand auf. »Wie Nele starb. Vielleicht wissen Sie es ja schon.«
»Was sagten Sie vorhin? Sie sind vom LKA?«
»Genau das sagte ich.«
»Ich weiß nichts. Und ich will auch nichts wissen.«
»Nele wurde ermordet, Herr Linde.«
Ein Tropfen fiel nach unten auf den billigen, ausgefransten Teppich, gleich darauf noch einer und noch einer.
Tatsächlich, der Mann weinte. Ohne einen Ton von sich zu geben, ohne ein Zucken der Schultern.
Diehl betrachtete ihn lange, ehe er sagte: »Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wir werden sicher noch einmal mit Ihnen sprechen müssen.«
Weitere Tränen landeten auf dem Teppich.
***
Dunkelheit wölbte sich über den Dächern der schlichten Häuser. Diehl saß hinter dem Steuer seines Wagens, der in einer fast schon dörflich anmutenden Wohnstraße parkte. Er befand sich im Frankfurter Stadtteil Seckbach, und er hätte nie gedacht, dass er jemals wieder auch nur in die Nähe dieser Adresse kommen würde.
Er betrachtete die Doppelhaushälfte, die er zuletzt vor fünf Jahren betreten hatte, während seine Gedanken noch bei dem Besuch bei Mark Linde waren. Ihm war, als hätte er irgendetwas übersehen oder überhört, als wäre ihm eine Kleinigkeit entgangen, die wichtig sein könnte. Aber welche?
Im Rückspiegel schimmerten Scheinwerfer eines Autos auf, das direkt hinter ihm abgestellt wurde. Der doppelte Lichtstrahl erstarb, ein Mann stieg aus und näherte sich dem Porsche. Gleich darauf ließ sich Robert Kornfeld auf dem Beifahrersitz nieder.
»Wie war's bei dem Tontechniker?«, wollte er wissen. »Am Handy hast du dich ja ziemlich bedeckt gehalten.«
»Entweder ist Linde nur eine zugedröhnte Drogenbirne und damit unverdächtig. Oder ein exzellenter Schauspieler – und damit wiederum sehr verdächtig.«
»Wenigstens ein Verdächtiger.«
»Stimmt, ansonsten stehen die ja nicht gerade Schlange bei uns.« Diehl deutete auf die Doppelhaushälfte. »Dort werden wir jedenfalls keinen Verdächtigen finden. Oder was versprichst du dir davon, Curt Weinerts Familie aufzusuchen?«
»Ich? Gar nichts. Aber Viola. Sie hat Söring und mich ins Gebet genommen. Und du weißt ja: Das kann sie.« Kornfeld sah ihn auf diese beschwichtigende Art an, die nur er hinbekam. Er besaß die Fähigkeit, Wogen im Team zu glätten, Unstimmigkeiten im Keim zu ersticken. Dann hatte er immer etwas von einem großen, gutmütigen Bären, der einem zornigen Kollegen die Pranke auf die Schultern legte und so die Wut verrauchen ließ.
»Wegen der Lilien, Jack. Das ist der Punkt«, fügte er hinzu.
»Das ist kein Punkt, solange wir es nicht verifizieren und konkret mit Curt Weinerts heutiger Situation verbinden können. Ich sag's gern noch mal: Er sitzt. Und das weiß auch Viola. Was hab ich von dir gelernt? Vor der Kür müssen wir erst mal die Pflicht erledigen. Also Opferumfeld. Und da haben wir an nur einem Tag schon mal Ballast abgeworfen. Aus dem familiären und dem beruflichen Umfeld können wir die meisten Personen als Verdächtige ausschließen. Alle haben ein Alibi, bei keinem lässt sich ein Motiv erahnen. Außer vielleicht bei Mark Linde. Gut, wir konnten noch nicht alle Bekannten checken, geschweige denn sie befragen, das dürfte ohnehin noch eine Weile dauern. Allein wenn ich daran denke, dass Nele Schneyders Social-Media-Welt aus allen Nähten platzt ...«
»Wir bleiben dran, wie immer«, meinte Kornfeld im selben beruhigenden Tonfall.
»Weinerts Familie ist Zeitverschwendung«, beharrte Diehl. »Sein Vater und seine Schwester Ellen sind seit Jahren auf Tauchstation. Was sollten sie jetzt zu sagen haben? Solange wir keinen Ansatzpunkt ...«
»Willst du hören, was Viola meint?«
»Nein, will ich nicht«, erwiderte Diehl mit einem herausfordernden Grinsen. »Eher, was du meinst, Robert. Ich hab dir einiges zu verdanken. Du hast immer zu mir gehalten, auch wenn ich einfach losgestürmt bin, selbst in die falsche Richtung. Also, lass deine Meinung hören.«
»Jack, ich sehe es wie du. Weinerts alter Vater und die Schwester nützen uns nichts. Aber ganz ehrlich, ich konnte mich einfach nicht durchsetzen. Söring hat immer schon gern auf Viola gehört, und sie sagt, es führt kein Weg daran vorbei. Wir müssen in beide Richtungen gehen, selbst wenn eine davon unweigerlich Zeitverschwendung sein wird. Also Nele Schneyders Umfeld plus die Weinert-Familie. Sie meint, die Sache mit den Lilien zwingt uns förmlich in Richtung Weinert.«
»Sie muss es ja nicht machen.«
»Will sie aber. Sie wird Curt Weinert persönlich aufsuchen.«
»Ein Hoch auf Viola«, meinte Diehl. »Okay, dann statten wir den Weinerts mal einen kleinen Überraschungsbesuch ab.«
Nebeneinander gingen sie auf den Eingang zu, Kornfeld drückte den Klingelknopf.
Ellen Weinert öffnete, schaute verdutzt auf und ließ sie herein, fast ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. Wie früher schon wirkte sie verstockt. Eine Frau von vierunddreißig Jahren, etwas füllig, praktische Kurzhaarfrisur. Ihre Unsicherheit versuchte sie hinter einer gewissen Unfreundlichkeit zu verbergen, aber Diehl hatte stets Verständnis für sie aufgebracht. Vater und Schwester litten darunter, dass sich ihr Angehöriger in ein Monster verwandelt hatte. Curts Taten färbten auf die Familie ab. So war es immer; ein Verbrecher schadete, wenn auch in anderem Maß, nicht nur seinem Opfer und dessen Umfeld.
Das spiegelte auch die trostlos wirkende Doppelhaushälfte wider. Außer ihr besaßen die Weinerts noch eine kleine Garage, die sie nie nutzten, weil Ellen ihr Auto hier parkte. Niemals eine Urlaubsreise, keine Vereinszugehörigkeit, kaum gesellschaftliche Kontakte. Ellen ging einem Halbtagsjob in der Buchhaltung einer E-Business-Firma nach, Alfred war berufsunfähig. An welcher Krankheit er litt, wusste Diehl nicht, aber es war bekannt, dass er schon seit Langem das Haus nicht mehr verlassen hatte.
Wiederum ohne viele Worte zu verlieren, verschwand Ellen im obersten Stockwerk, kehrte aber rasch zurück, um dann auch Diehl und Kornfeld die Treppe nach oben zu führen. »Ich hab Papa gesagt, dass Sie mit ihm reden wollen«, meinte sie knapp.
Die alten Stufen knarzten. Außen blätterte der Putz ab, innen roch es modrig. Ein Haus im Verfall, eine Familie im Zerfall. Die Mutter war schon vor Längerem gestorben.
Ellen deutete auf eine offene Tür und ließ sie vorangehen, ehe sie folgte.
Der siebzigjährige Alfred Weinert lag unter einer Wolldecke im Bett, sein Kopf ruhte auf zwei Kissen. Im Raum roch es nach kalter Zigarettenasche und Schweiß, die Tapete war gelb verfärbt, die Einrichtung alt und abgenutzt.
Feindselig starrte der alte Mann sie an. Er hatte den Kummer über Curts Taten in sich hineingefressen und ließ offenbar hier die Tage in aller Stille an sich vorüberziehen.
»Wir müssen mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen«, begann Kornfeld bedächtig. Breit nahm er den freien Raum seitlich des Bettes ein, während Ellen und Diehl im Hintergrund blieben.
»Worüber auch sonst?« Weinert tastete nach der fast leeren Schachtel auf dem Nachttisch, nahm dann aber doch keine Zigarette heraus.
»Hat in letzter Zeit jemand von früher versucht, mit Ihnen in Kontakt zu treten?«
Umständlicher Anfang, dachte Diehl insgeheim. Wohl kein Wunder, noch war es schwierig, gezielte Fragen anzubringen, die Türen hätten öffnen können. Das hier gefiel ihm immer weniger.
Kornfeld fuhr fort: »Ich meine, irgendjemand, der Curt nahestand.«
»Keiner stand Curt nahe«, blaffte der Alte, der so bleich war wie das Bettlaken. Weiße Strähnen verloren sich auf dem fast kahlen Kopf. Er wirkte eingesunken, deutlich schwächer als noch vor ein paar Jahren.
»Haben Sie kürzlich mit jemandem über Curt gesprochen? Hat sich jemand an Sie gewendet, vielleicht ganz unauffällig, um ...«
»Wir sprechen nie über Curt. Mit keinem Menschen. Was wollen Sie überhaupt hier? Aus heiterem Himmel!«
»Es ist etwas vorgefallen, das uns ...«
»Vorgefallen!«, unterbrach ihn Weinert. Der Mann wirkte, als hätte ihn ein Stromstoß erfasst. Plötzlich war Farbe in seinem Gesicht, Zorn ließ die Ader an der Stirn pochen. »Bei uns ist gar nichts vorgefallen! Uns interessieren Ihre Vorfälle nicht.« Er stützte sich auf die Ellbogen, wühlte sich unter der Decke hervor. »Und jetzt raus hier! Sonst ...« Er kam auf die Beine, griff nach dem an die Wand gelehnten Krückstock.
»Herr Weinert«, setzte Kornfeld an, kam aber nicht weit. Krumm stand der Alte in Jogginghose und T-Shirt da. Er hob die Krücke an, erfüllt von einer jähen Kraft, und versuchte Kornfeld zu schlagen, der reglos verharrte, völlig verblüfft.
Geistesgegenwärtig packte Diehl Weinert, drückte dessen Arm nach unten und schob zugleich den Alten zurück aufs Bett.
Auch Ellen war bemüht, den Wutanfall ihres Vaters zu ersticken, ehe er richtig begann. Sie setzte sich auf den Bettrand und redete beruhigend auf den aufgebrachten Mann ein. »Hauen Sie ab!«, zischte sie zwischendrin den Polizisten zu. »Lassen Sie uns endlich in Ruhe!«
Alfred Weinert lag da, Sabber in den Mundwinkeln, die Augen grotesk verdreht, und zuckte mit den Gliedmaßen. Die Krücke fiel polternd auf den Boden.
Diehl tippte mit der Hand auf Kornfelds Schulter. »Komm schon, Robert, lass es gut sein.«
»Raus hier!«, zischte Ellen. »Raus!«
***
Die Nadel kratzte auf dem Vinyl. Er liebte dieses Geräusch. Die Stimme setzte ein, tief und kraftvoll. Jack Diehl schloss die Augen und hörte dem Song zu, als wäre er neu für ihn, dabei kannte er ihn auswendig.
Mitternacht war längst vorbei. Seit über zwanzig Stunden war er nun auf den Beinen. Einerseits war er froh, zu Hause durchatmen zu können, andererseits war jede weitere Minute, in der sie nicht weiterkamen, eine verlorene Minute – und damit eine gewonnene für den Täter.
Diehl wohnte im Frankfurter Nordend, und nicht nur Robert Kornfeld verstand nicht, warum er zweimal am Tag eine ziemliche Strecke zurücklegte, statt nach Wiesbaden in LKA-Nähe zu ziehen. Aber Mainhattan war immer sein Lebensmittelpunkt gewesen, sein Wilder Westen. Außerdem führten ihre Fälle sie oft genug hierher. Er hatte hier seine ersten wilden Jahre als Bulle verbracht, er kannte die schmutzigen Ecken der Stadt. Erst das Teamwork unter Kornfelds Führung hatte ihn bedachtsamer werden lassen, der Hitzkopf von früher kam erheblich seltener zum Vorschein – sagte sich Jack zumindest.
Er versank in seinem alten Sessel, ein Bein auf die Armlehne hochgelegt. Über dem Knie entdeckte er ein fadenscheiniges Loch – kein fragwürdiges modisches Accessoire, sondern schlicht Verschleiß. Es war nicht seine einzige Jeans, die so aussah. Die Stiefel standen mit eingeknickten Schäften neben ihm auf dem grob gezimmerten Alabama Oak-Parkettboden. Er hatte das Licht gedimmt, sodass es wie Honig durch den Raum floss. Jacks Reich. Mit allem, was dazugehörte. Die riesige Plattensammlung. Der Flipper aus den Neunzigern, für eine aberwitzige Summe im Netz ersteigert. Die Dartscheibe, natürlich eine echte, keine elektronische. Daneben der große blecherne Kokopelli, eine Figur aus Indianermythen. Das simple Garderobengestänge, an dem etliche Karohemden hingen. Die zwei übrig gebliebenen Umzugskartons, seit Jahren in eine Ecke gedrückt und als Ersatz-Klamottenkommode genutzt.
Die Wohnung lag unter dem Dach, auf dem Stockwerk gab es keine sonstige Mietpartei. Jack mochte es, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und in Gedanken Kassensturz zu machen, wie er es nannte, wenn er aktuelle Ermittlungsstände aus dem Gedächtnis Punkt für Punkt durchging, im Hintergrund die nicht sehr laut eingestellten knarzenden Molltöne.
Er erhob sich aus dem Sessel und machte sich in die kleine Küche auf. Nicht gerade unwiderstehlicher Appetit, aber ein leichtes Hungergefühl machte sich bemerkbar. Er öffnete den Kühlschrank und starrte auf ein halb leeres Glas mit Remoulade, ein noch ungeöffnetes Glas mit scharfen Chilischoten und einen Rest südafrikanischen Weißwein, übrig geblieben von einem länger zurückliegenden, nicht sonderlich gut verlaufenen Date. »Mal wieder einkaufen wäre nicht die schlechteste Idee«, murmelte er, als er den Kühlschrank schloss und den Hunger ausblendete.
Zurück im Wohnzimmer, ließ er sich erneut in den Sessel sinken. Er griff zu seinem Smartphone und betrachtete die Aufnahmen, die er von den im Besprechungsraum aufgehängten Tatortfotos gemacht hatte. Der Mörder hat ein Gemälde erstellt. Das hatte Kornfeld gesagt.
Was mochte Robert jetzt tun? Nach dem Besuch bei den Weinerts war er schweigsam und in sich gekehrt gewesen. Er hatte Diehl leidgetan. Kornfeld hatte ihm von Anfang an ein Vertrauen entgegengebracht, das ihn insgeheim erstaunte. Welcher Chef hätte das getan bei einem Greenhorn, das kaugummikauend in ausgelatschten Cowboyboots seinen Dienst antrat und sich keinen Spruch verkneifen konnte?
Diehl schenkte sich aus der Flasche Maker's Mark ein und trank einen Schluck. Während er an das Gespräch mit Mark Linde und den Wutausbruch des alten Weinert dachte, drang das Knistern auf der Vinylscheibe wieder in sein Bewusstsein. Johnny Cashs Stimme stand wie etwas Physisches im Raum, eine staubige, in sich ruhende Unerschütterlichkeit ging von ihr aus: »I shot a man in Reno just to watch him die ...«
Schon als Jack vor Jahren beim Hören der zerkratzten Platten seines Vaters auf die Songs gestoßen war, hatte ihn diese Zeile wie ein Blitzschlag getroffen und seither nicht mehr losgelassen. In den schlichten Worten spürte er all das Unheil, das im Verborgenen lauerte. Die Welt war kein friedlicher Ort, das Böse lauerte überall, und manchmal schoss jemand auf einen anderen, nur um ihn sterben zu sehen. Diehl war überzeugt, dass in jedem Menschen ein Mörder stecken konnte, je nachdem wie groß der Druck wurde. Besser also, man war darauf vorbereitet ...
Halb im Ernst, halb scherzhaft stellte er sich die Frage, welchen Anteil der alte Song daran gehabt hatte, dass er Polizist geworden war. Warum wurde man überhaupt Polizist? Viele schlugen diesen Weg aus Familientradition ein und eiferten ihren Verwandten bei der Polizei nach. Bei Jack war es eher so, dass er dort gelandet war, um seinem Vater nicht nachzueifern. Jenem Mann, den er allzu selten gesehen hatte – was vielleicht auch besser so war. Hin und wieder versuchte Jack sich vorzustellen, wie die Situation wohl wäre, falls sie sich plötzlich wieder gegenüberstünden. Kein beruhigender Gedanke. Schließlich wusste Johannes Diehl seit Langem, dass er allen Grund dazu hatte, unsagbar wütend auf den eigenen Sohn zu sein.
Die prägendste Erinnerung an den Vater war Jacks erste Fahrt in einem gelben 911, Modellreihe 993, Baujahr 97, 270 Stundenkilometer. Das überwältigende Gefühl in der Magengrube, das ihn als kleinen Jungen auf dem Beifahrersitz erfasste, als der Wagen beschleunigte – auch das war wie ein Blitzschlag gewesen. Alle dachten, er fahre die neuere, wahnwitzige 400 PS starke Version dieses Modells aus Angeberei, doch er allein wusste, dass da etwas völlig anderes dahintersteckte. Etwas, vor dem er sich allerdings drückte, es genauer zu benennen.
Während der seltenen Besuche bei seiner Mutter, die immer noch in Bonames lebte, wurde Johannes Diehl nie erwähnt. Nicht einmal mit Viola hatte Jack über ihn sprechen wollen, obgleich ihre Beziehung intensiv gewesen war – wohl die einzige intensive in seinem Leben. Sie waren wahrlich kein Friede-Freude-Eierkuchen-Pärchen gewesen, aber ...
Sein Handy gab das Anrufsignal von sich, die scheppernden Trompeten des Songs Ring of Fire, was Kollegen manchmal zur Weißglut trieb. Er war ganz froh über die Störung, weil er sonst wohl noch tiefer in nutzlose Gedanken abgeglitten wäre. Überrascht betrachtete er das Display, das ihm die Anruferin anzeigte, deren Nummer er nie gelöscht hatte. Er wartete noch ein paar Sekunden, ehe er angriffslustig ins Telefon sagte: »Wenn man vom Teufel spricht. Beziehungsweise an ihn denkt.«
»Fast zwei Uhr nachts, und du denkst ausgerechnet an mich?«, meinte Viola Hendrick mit dem spöttischen Unterton, den er mochte und vor dem er sich zugleich in Acht nahm.
»Was ist los, Viola? Hast du kalte Füße?« Eine Anspielung darauf, dass sie früher im Winter gern seine Socken zum Schlafen übergestreift hatte.
»Wenn das stimmt, was mir gerade durch den Kopf geht, müssen wir alle kalte Füße haben.«
Er sah sie vor sich, beim heutigen Teammeeting, ihrem ersten gemeinsamen seit Langem. Professionell und reserviert hatte sie sich präsentiert, als hätte es nie etwas zwischen ihnen gegeben. Viola eben.
»Jack? Noch da? Eingeschlafen? Du warst doch sonst immer ein Nacht–«
»Sag schon, was du auf dem Herzen hast«, unterbrach er sie. »Du hast doch ein Herz, oder?«
Sie überging seinen Spruch. »Die Ziffern auf der Stirn des Opfers.«
»Ich warte noch auf die Auswertungen der Spezialisten. Alle Kombinationsmöglichkeiten, alle nur denkbaren –«
»Ich bin der festen Ansicht, dass es hier nicht um ein mathematisches Wunderrätsel geht. Im Gegenteil. Ich habe mir frühere Fälle vorgenommen, in denen Täter ebenfalls mit Zahlen –«
»Mein erster Gedanke war auch, es könnte etwas Simples –«
»Und was ist eines der simpelsten Dinge, das man mit Ziffern ausdrücken –«
»Einfach reizend, wie wir uns immer gegenseitig ins Wort fallen, findest du –«
»Na los! Oder kommst du nicht darauf?«
»Sag du es mir, zauberhafte Viola.«
Er hörte, wie sie Luft holte, ehe sie schlicht antwortete: »Datum.«
»Neun, null, sechs, eins«, zählte er skeptisch auf.
»Oder eins, sechs, null, neun. Sechzehnter September.«
»Hm«, meinte er noch skeptischer. »Der sechzehnte September war ja noch nicht, das ist ja erst in –«
»Erst?«, schnitt sie ihm wieder das Wort ab. »Schon, willst du sagen.«
»Ach so«, meinte Diehl rau.
»Ja, Jack. Das könnte viel mehr als eine Botschaft an uns sein. Nämlich eine Androhung. Das Datum hat eventuell rein gar nichts mit Nele Schneyder persönlich zu tun.«
»Sondern mit dem nächsten Opfer. Falls du –«
»Ja, falls.«
Er nippte am Glas. »Dann hätten wir nur noch drei Tage, bis –«
»Nicht einmal mehr drei.«
***
Berenice Silva Benevides' Mutter Elena arbeitete als freie Journalistin für mehrere große Zeitungen, vor allem in den Politik- und Wirtschaftsressorts. Das war für die temperamentvolle, streitbare Dame nicht nur ein Beruf, es war Berufung. Sie sog die Themen förmlich in sich auf und vermochte bis heute, mit fast sechzig Jahren, einfach nicht abzuschalten. Wenn Berenice ihr früher abends von der Schule oder von Freundinnen erzählt hatte, dann hatte sie immer gemerkt, dass ihre Mutter nur halb zuhörte und in Gedanken eigentlich woanders war. Auch an Wochenenden und selbst im Urlaub kreiste unablässig in Elenas Kopf ihr Job umher, ein hartnäckiger, unsichtbarer Begleiter.
Deshalb hatte Berenice sich fest vorgenommen, nicht denselben Fehler zu begehen. Leidenschaft für den Job? Ja, unbedingt. Gerade bei der Fotografie ging es gar nicht ohne Leidenschaft. Aber man musste doch mal loslassen