Racheherz. Der Schrecken in dir - Leo Born - E-Book

Racheherz. Der Schrecken in dir E-Book

Leo Born

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Beschreibung

Er nennt sich »Der Rächer« und seine Rache ist grausam: Gleich drei Opfer werden kurz nacheinander in der Nähe von Frankfurt brutal ermordet aufgefunden. Die Identität der toten Frau kann schnell geklärt werden, doch die beiden männlichen Mordopfer stellen die Ermittler rund um Hauptkommissar Jack Diehl und die Profilerin Viola Hendriks vom LKA vor ein Rätsel. Jack ist aber sicher, dass die Opfer sich kannten! Das Ermittler-Team hat allerdings noch mit weiteren Schwierigkeiten zu kämpfen: Ihre neue Chefin ist ehrgeizig und fest entschlossen, ihren ersten Fall im LKA so schnell wie möglich abzuschließen. Sie setzt das Team so stark unter Druck, dass es zu einer Tragödie kommt. Aber Jack Diehl bleibt keine Zeit für Trauer: Denn »Der Rächer« hat sein nächstes Opfer schon im Visier ...

Die Reihe: Kriminalhauptkommissar Jack Diehl kämpft gegen das Böse - und kennt doch selbst nur zu genau die menschlichen Abgründe. Aber auch ein brillanter Ermittler ist immer nur so gut wie sein Team, davon ist Jack überzeugt. Insbesondere sein Partner Robert, die Profilerin Viola und die Tatortfotografin Berenice helfen ihm immer wieder, bei den Ermittlungen keine rote Linie zu überschreiten ... Denn: Wie weit darf ein Polizist gehen, um einen Täter zu überführen? Dieser Frage muss sich Kommissar Diehl in der neuen Thriller-Reihe von Leo Born stellen!

Stimmen unserer Leser und Leserinnen zu Band 1:

»Dieser Thriller ist perfekt getaktet und entwickelt so einen super Flow. Das Buch ist der Hammer.« (thalia.de)

»Es gibt nicht viele Autoren, die geübte Krimileser trotz einer geringen Anzahl an Figuren sehr lange Zeit in die Irre führen können, aber Leo Born gehört eindeutig zu dieser Gruppe. « (Melange, Lesejury)

»Grandioser erster Teil.« (Hope23506, Lesejury)

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Seitenzahl: 392

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Titel

Teil 1 Der Blutwanderer

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Teil 2 Der Grabsteinpalast

15

16

17

18

19

20

21

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26

27

28

Epilog

Impressum

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Teil 1Der Blutwanderer

Prolog

Die beiden Mädchen fangen an zu tanzen. Sie wiegen sich in den Hüften, schmiegen sich dabei immer wieder eng aneinander. Die Brünette schält sich aus ihrem Top und öffnet den Reißverschluss des Minirocks, der der Blonden an den schmalen Hüften klebt.

Ich schaue ihnen zu.

Sie lächeln mich an, die eine frech, die andere mit einem zaghaften, unsicheren Zug um die roten Lippen. Sie tanzen immer aufreizender, die Brünette selbstsicher, die Blonde schüchtern, und ich weiß nicht, was mich mehr anmacht.

Die Musik hämmert in meinem Kopf, das Herz in meiner Brust. Ich nehme einen großen Schluck von dem Rum aus Costa Rica. Sie machen das gut, jedenfalls besser als die letzte kleine Schlampe, die bei mir rein gar nichts ausgelöst hat. Ich feuere sie mit ein paar derben Sprüchen an, und mir wird bewusst, dass mir das Primitive gefällt. Es ist unter meinem Niveau, aber es ist, als würde ich in eine andere Haut schlüpfen. Konventionen, Manieren, die trägen Rituale des Alltags – weg damit!

Die Brünette steckt die Zunge in den Hals der Blonden, die sich erst wehren will, es dann aber doch geschehen lässt. Ich höre, wie ich begeistert aufkreische. Noch ein Schluck Rum, und in diesem Moment explodiert das Koks, das ich mir vor ein paar Minuten reingezogen hab, mit einer jähen Wucht in meinem Schädel. Ein Bungeesprung mitten rein ins Nervenzentrum.

Ich mache einen Schritt auf die beiden zu und rieche ihre Parfüms und ihren köstlichen Schweiß. Ich haue der Blonden mit der flachen Hand auf die Wange und bin davon fast noch überraschter als sie, es kam so schnell, so gedankenlos. Aber das Erstaunen hält nur einen Moment lang, dann schlage ich erneut zu. Das klatschende Geräusch ist großartig. Ihre Sommersprossen leuchten wie winzige Kristalle.

Sie wirkt nicht nur verdutzt, sondern scheint auch irgendwie neben sich zu stehen und sieht dabei ziemlich dämlich aus, worüber ich lachen muss. Ich koste es aus, alles auszublenden, mich dem Moment hinzugeben. Zu wissen, dass die Welt weit weg ist. Dass nur dieses Zimmer existiert. Und ich. Und die beiden Schlampen.

Die Brünette gibt der Blonden ebenfalls ein paar Backpfeifen und lacht auf, ein greller, unsagbar verdorbener Ton, der mich total anmacht. Noch mehr Rum, noch ein wenig Koks. Die Musik scheint jetzt lauter, hämmernder zu sein, dabei hat niemand den Regler hochgedreht. Carmina Burana. Das Klang gewordene Klischee, aber ich mag es. Jetzt kommt die Stelle, die Cour d'amours genannt wird: Hof der Liebesabenteuer. Wie grotesk, denke ich, während ich zusehe, wie die Schlampen aufs Doppelbett sinken. Die Überdecke ist aus grellrotem Seidenstoff, ein kleiner Teich wie aus Blut.

Ich gehe zum Beistelltisch, greife diesmal zum Dope und setze mich auch aufs Bett. Die Brünette und ich ballen die Faust. Zwischen der Basis des Daumens und dem gekrümmten Zeigefinger entsteht eine perfekte kleine Kuhle für das Dope. Fast synchron führen sie und ich die Hand zur Nase, wir halten ein Nasenloch zu und schnupfen. Die Blonde schaut erst zu, dann macht sie es uns nach.

Wir lachen. Ich schlage noch ein paarmal hart zu, ich grapsche nach der weißen Haut, ich lecke den fremden Schweiß, ich beiße zu, und plötzlich ist alles anders.

Es ist wie ein Riss. Als wäre die ganze Szene mit einer riesigen Klinge zerfetzt worden.

Mein Verstand kommt nicht nach, kann das, was meine Augen sehen, nicht verarbeiten. Weder den starren Blick noch das Blut, das aus den Nasenlöchern quillt. Alles ist wie eingefroren. Nur die Musik dröhnt unverändert laut aus den Boxen, und plötzlich klafft mitten im Raum ein Abgrund vor mir, in den ich hinabstarre.

Nicht stürzen, denke ich nur, bloß weg von hier.

Aber es ist zu spät.

1

Sie nannten ihn den Müllmann. Herablassend und voller Spott. Am liebsten hätte er sie jedes Mal in ihre Visagen geschlagen, aber es ging eben nicht immer so, wie man wollte. Erst recht, wenn man ziemlich am Arsch war und gerade aus dem Mauseloch rausgeworfen worden war, in dem man mit Müh und Not Unterschlupf gefunden hatte.

Johannes Diehl spuckte auf den Asphalt, ohne den bitteren Geschmack im Mund loszuwerden.

Er schlich auf die mittlerweile reichlich verlotterte Reihenhaushälfte zu. Ringsum war alles still, wie er feststellte. Hier war immer alles still. Graue Vorstadt, Biederkeit, Langeweile, kein Platz für große Träume. Er hatte wenigstens zu träumen gewusst, damals, irgendwann einmal.

Regen setzte ein. Das passte ja perfekt zu der Scheißsituation, in der er festsaß. Ohne Dach über dem Kopf, ohne Perspektive. Er fluchte und hielt inne, den Blick auf das schwarze Fenster gelenkt, hinter dem er das Schlafzimmer wusste. Mit schnellem Griff schlug er den Kragen seiner abgewetzten Biker-Lederjacke hoch und ging in die Knie, was die alten Gelenke mit einem vertrauten Schmerz quittierten. Er nahm kleine Steinchen in die Hand und schmiss sie an die Scheibe im ersten Stock. Erst mit Vorsicht, dann recht fest. Eine Stunde zuvor war er schon einmal hier gewesen und hatte am Eingang geklingelt, aber seine Frau hatte sich mit einem schnellen Blick durchs Fenster vergewissert, wer ihr da einen Besuch abstattete, und sich offenbar entschlossen, nicht aufzumachen.

Plink, plink! Ein Stein nach dem anderen.

Das Licht ging an, Ritas Gestalt erschien schemenhaft am Fenster. Sie entdeckte ihn, er spürte es. Sekunden verstrichen. Er starrte zu ihr empor. Na los, sagte er lautlos, mach schon auf!

Ihre Antwort war es, den Rollladen herunterzurattern.

»Scheiße«, knurrte er. Der bittere Geschmack war wieder da.

Johannes Diehl befand sich nun schon seit einiger Zeit auf freiem Fuß. Jenseits der Gitter war er allerdings nicht angekommen. Im Gegenteil, er baumelte in der Luft. Die einzige Geldquelle war sein Job als Mädchen für alles bei diesen Großschnauzen, die kaum trocken hinter den Ohren waren. Wie er die Typen hasste! Das einzig Gute an dem Job war der alte, angeschrammte SUV, den sie ihm überlassen hatten und zu dem er nun missmutig zurückstapfte. Wieder eine Nacht auf der Rückbank. Hätte er sich nicht mit seiner alten Freundin verkracht, die ihn in ihrer Wohnung hatte schlafen lassen, wäre das für seinen Rücken wesentlich angenehmer gewesen.

»Egal, drauf geschissen«, murmelte er.

Er rettete sich vor dem stärker werdenden Regen auf den Fahrersitz. Von einer Straßenlaterne drang Licht ins Innere. Im Rückspiegel musterte er sich. Die Falten. Die harten Wangenknochen. Das mehr als einmal gebrochene Nasenbein. Das mit Gel zurückgekämmte graue, dünn gewordene Haar, das die Kopfhaut sehen ließ. Er zwinkerte sich bissig zu und kam sich vor wie eine dem Tod geweihte Nebenfigur in einem Tarantino-Film.

Die Tropfen prasselten aufs Dach. Bei Regen war es noch schlimmer, in der Kiste zu pennen. Allein der Gedanke daran schmerzte ihn. Nicht nur im Rücken, auch in der Seele. Bei dem Wagen handelte es sich um einen Cayenne der zweiten Baureihe. Also ein Porsche, aber kein echter Porsche, jedenfalls nicht für Johannes. Er hatte diese Marke geliebt. Dass sie in Stuttgart-Zuffenhausen jetzt Familienkutschen bauten, war doch nur ein weiteres Zeichen dafür, dass alles vor die Hunde ging. Keine Sportwagen mehr, kein Rock ›n‹ Roll mehr. Nur noch angepasste Schmierlappen und Feiglinge, so weit das Auge sah.

Der Klingelton des Handys riss ihn aus den trüben Gedanken. Auch dieses verdammte Mobiltelefon, mit dem er kaum zurechtkam, hatte er von den Großschnauzen erhalten. Er rief sie nie an, sie waren diejenigen, die sich meldeten, und er musste auf Abruf parat stehen.

»Hey, Müllmann«, drang die Stimme an Johannes' Ohr. »Gib Gas. Ich brauch dich hier.« Es war Silk. Johannes hasste sogar ihre Spitznamen. Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er überhaupt kapiert hatte, dass es ein Spitzname war.

»Wo hier?«, murmelte er.

Silk beschrieb ihm den Standort und forderte ihn erneut auf, sich zu beeilen.

Er ließ den Motor an. Lust hatte er keine, aber so gab es wenigstens ein Ziel.

Als er nach gut zwanzigminütiger Fahrt durch das nächtliche Frankfurt das alte Gebäude erreichte, goss es nicht mehr so stark.

Silk wartete vor dem Eingang, geschützt durch ein kleines Vordach. Als Johannes parkte, bedeutete ihm der Mann durch hektische Handzeichen, die Rückklappe des Autos zu öffnen.

Nachdem er der Anweisung gefolgt war, schob Johannes sich den einzigen Glücksbringer, den er je besessen hatte, über die Finger: einen abgescheuerten Schlagring. Bisher hatte er ihn bei den Typen noch nicht gebraucht, aber man konnte ja nie wissen – erst recht nicht bei Silk.

Ohne sich vom Fahrersitz zu erheben, verfolgte er durch die Seitenfenster, wie Silk einen länglichen, offenkundig schweren, in Plastikfolie gewickelten Gegenstand aus dem Gebäude heraus und zum Cayenne zog, um das Ding auf die Ladefläche zu wuchten. Dann holte er von drinnen eine Schaufel. Auch sie landete im Wagen.

Anschließend eilte Silk zum Fahrerfenster, das Johannes herunterließ, wobei er darauf achtete, den Schlagring im Verborgenen zu halten.

»Wurde auch Zeit, Müllmann.«

Johannes erwiderte nichts.

»Abfallentsorgung steht an.« Silk lief Regenwasser übers Gesicht. In seiner üblichen großspurigen Art gab er Johannes ein paar weitere Befehle.

Wieder sagte Johannes kein Wort, er fühlte nur den Stahl des Schlagrings und hätte das Ding am liebsten benutzt.

»Drück auf die Tube, Müllmann.«

Johannes musterte ihn eine lange Sekunde, dann schaute er geradeaus. Silk sah grauenhaft aus. Scheißdrogen. Früher hatte Whisky gereicht, heute wurden alle durch das Dreckszeug zu Karikaturen, zu Gespenstern.

Er startete den Motor und starrte weiter nach vorn durch die Windschutzscheibe, auf der etliche kleine Bäche aus Regenwasser flossen. Er stellte sich vor, es wäre Blut. Bei einem Blick in den Rückspiegel sah er die Plastikfolie aufschimmern. Ihm war klar, was darin eingewickelt worden war.

2

Im Konferenzraum war jeder Stuhl rund um den langen rechteckigen Tisch besetzt: Frühbesprechung im LKA Wiesbaden, Abteilung 4 für Schwere und Organisierte Kriminalität. So begann jeder Morgen, ein wichtiger Teil der täglichen Routine. Es wurden Vergehen bekannt gegeben, die in der Nacht gemeldet worden waren, Teameinteilungen vorgenommen, neue Ansätze bei laufenden Ermittlungen ins Auge gefasst. Heute jedoch herrschte eine besondere Spannung. Deshalb auch der große Andrang. Selbst Mitarbeiter, die für solche Meetings nicht benötigt wurden, waren hinzugebeten worden.

Alle warteten, keiner äußerte etwas. Auch nicht Hauptkommissar Jakob Diehl, der wie üblich seine abgewetzte, am Ärmel nach einem Messerangriff geflickte M65-Army-Jacke, ein verwaschenes Karohemd, Jeans und die Tony-Lama-Boots trug. Er hatte sich nicht in die erste Reihe der Wartenden gedrängt, sondern hielt sich auf der Fensterseite auf, das Hinterteil aufs Sims geschoben. Wie die meisten anderen ahnte er, was gleich folgen würde.

Fast lautlos kam Vizepräsident Philipp Söring herein. Taubengrauer Anzug, schmale Krawatte, akkurater Kurzhaarschnitt. Er war knapp sechzig, groß gewachsen und strahlte auch in diesem Moment die norddeutsche Unaufgeregtheit aus, die seiner Autorität zuträglich war, ohne dass er jemals hätte laute Töne anschlagen müssen. Während er den Krawattenknoten richtete, waren alle Augen auf ihn gerichtet.

Nach einem Räuspern begann er: »Ich will Sie nicht mit unnötigen Vorreden langweilen, sondern sofort zum Punkt kommen. Es ist an der Zeit, diesen Schritt zu gehen, da Robert Kornfeld uns, äh, nicht mehr zur Verfügung steht.«

Diehl bemerkte, dass Söring bei diesen Worten geflissentlich darauf achtete, nicht in seine Richtung zu schauen. Der Abgang Robert Kornfelds, bis vor Kurzem Kommissariatsleiter des LKA, war ein Thema, das in den Gängen und Büros noch sehr präsent war, aber nur hinter vorgehaltener Hand angesprochen wurde.

»Die so entstandene Vakanz galt es zu füllen«, sprach der Vizepräsident weiter. »Und nun kann ich Vollzug vermelden.«

Er ging wieder zur Tür, öffnete sie und machte eine einladende Handbewegung, worauf unverzüglich jemand hereinrauschte. Schnell und zielgerichtet, ohne sonderliche Zurückhaltung.

Diehl musste grinsen, als er so manchen offenen Mund in der Runde wahrnahm. Es gab bestimmte Positionen, bei denen es noch immer eine Überraschung darstellte, wenn sie von Frauen bekleidet wurden. Obwohl mit Eva Bagus bereits eine Präsidentin dem LKA vorstand, hatte offenkundig niemand damit gerechnet, dass auch die Leitung des Kommissariats in weibliche Hände gelegt würde.

»Darf ich vorstellen?«, rief Söring etwas lauter, obwohl es immer noch mucksmäuschenstill war. »Das ist Oreana Massoudi. Sie hat als Hauptkommissarin die Kripo in Darmstadt geleitet, und das überaus erfolgreich. Ab heute ist sie unsere Kommissariatsleiterin. Der Großteil von Ihnen hat gewiss schon von Frau Massoudi gehört, ihre Reputation spricht für sich. Umso erleichterter bin ich, dass es uns gelungen ist, ausgerechnet sie für die Aufgabe im LKA Wiesbaden zu gewinnen. Ich bin kein Freund von großen Reden, deshalb gebe ich das Wort direkt weiter. Frau Massoudi, bitte.«

Wie alle anderen betrachtete Diehl mit voller Aufmerksamkeit die Frau mit den extrem kurz gehaltenen schwarzen Haaren, aus denen über dem linken Ohr eine graue Strähne hervorstach. Sie war recht groß, schlank und wirkte durchtrainiert. Ihre Kleidung war dunkel gehalten. Ein nachtblauer Seidenschal umfing locker den schmalen Hals. Jacke, Pullover und Hose waren eng anliegend und schlicht, spiegelten aber gerade deshalb Stilgefühl wider.

»Mir liegt es ebenfalls nicht, Reden zu schwingen«, erklärte Oreana Massoudi. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, als wären ihr Maker's Mark und andere Bourbonsorten ähnlich vertraut wie Diehl, bei dem der Klang erneut ein unauffälliges Schmunzeln auslöste.

»Im Gegenteil«, fuhr sie fort. »Ich bin für klare Ansagen, und ich hasse Umwege. Ich will kein Gelaber. Ich will Transparenz und Offenheit.« Ihre eindrucksvolle Stimme gewann an Schärfe. »Ich will, dass die Ermittlung immer an erster Stelle steht. Sie kommt immer vor Hierarchien, vor persönlichen Befindlichkeiten, vor jeglicher Form von Eitelkeit. Wir sind Ermittler. Wir sind das Team. Wir verlassen uns aufeinander und hauen uns nicht gegenseitig in die Pfanne. Wir sind diejenigen, die handeln.«

Sie ließ die Worte wirken.

Diehl suchte in den Reihen der Kollegen ein bestimmtes Gesicht und entdeckte nach ein paar Sekunden Viola Hendrick. Sie stand auf der anderen Seite des Raums, in der Nähe der Tür, wie üblich mit kerzengerader Körperhaltung und klarem, fokussiertem Blick. Das feuerrote Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Die Fallanalytikerin bemerkte, dass er sie musterte, und er zwinkerte ihr frech zu. Was sie natürlich demonstrativ ignorierte. Manchmal konnte er nicht widerstehen, sie mit solchen Albernheiten zu reizen, gerade weil sie so viel Wert auf Ernsthaftigkeit legte. Mehrere Jahre lang waren ausgerechnet sie beide ein Paar gewesen: Feuer und Wasser, Himmel und Hölle. Eine turbulente Zeit, an der sie beide noch zu knabbern hatten.

Unterdessen sprach die neue Chefin mit unveränderter Schärfe weiter: »Natürlich könnte ich einige Punkte meines Werdegangs herunterbeten, Herr Söring hat meine letzte Anstellung erwähnt. Aber wichtiger als die Vergangenheit ist die Gegenwart – und vor allem die Zukunft. Ich will, dass unsere Zusammenarbeit hervorragend abläuft. Ich erwarte, regelmäßig über Fortschritte informiert zu werden.« Sie taxierte die gesamte Mannschaft prüfend. »Wenn Sie sich beklagen wollen, rufen Sie Ihre Mama an. Wenn Sie aber Probleme ansprechen und Lösungen finden wollen, kommen Sie zu mir. Meine Tür steht Ihnen offen.«

Vizepräsident Söring begann zu klatschen. Sofort fielen alle Kollegen ein.

Massoudi nahm den Beifall mit einem knappen Nicken, aber offenbar wenig beeindruckt zur Kenntnis.

Diehl spähte abermals in Violas Richtung. Sie schenkte ihm einen Blick, der unzweifelhaft besagte, dass Oreana Massoudis Klartext ihre Zustimmung fand. Und da war sie nicht die Einzige. Eine offene, klare Ansprache war etwas, das ankam.

Er hingegen runzelte die Stirn. Mit Zustimmung wollte er sich noch zurückhalten.

3

Graue Wolken hingen über den Feldern, Morgenregen lag in der Luft. In der Ferne war die Frankfurter Skyline zu sehen. Die sich aneinanderreihenden Gebäude kamen Flash unwirklich vor, eine Fata Morgana irgendwo am Rande dieser menschenleeren Einöde.

Ein Eindruck, den die Tränen noch verstärkten, die Flashs Augen füllten. Er schrie laut auf, als feuchte Erde über ihn geschaufelt wurde. Ein einsam gellender Laut, der vom trostlosen Nichts ringsum sofort verschluckt wurde.

Flash stand aufrecht, die Hände auf den Rücken gefesselt, das Kinn keine zwanzig Zentimeter oberhalb der Grasnarbe, und er konnte sich nicht rühren, weil die Erde, die die Grube füllte, ihn immer stärker zusammenpresste. Noch mehr Erdklumpen wurden über ihn geschaufelt, der Dreck brannte zusätzlich in den Augen, der Boden um ihn herum wurde platt getrampelt.

Hilflos starrte er nach oben. Nie hätte er damit gerechnet, dass etwas schiefgehen könnte, dass er wirklich in Gefahr geraten würde.

Bis man ihn mit Waffengewalt gezwungen hatte, dieses verdammte Loch zu graben.

Scheiße! Wie hatte es nur so weit kommen können?

Er fror und schwitzte zugleich. Seine Lippen bebten. Erneut kreischte er auf. Niemand auf der ganzen verdammten Welt konnte ihn hören. Niemand außer diesem Typen, der das Gesicht mit Kapuze und Schal verbarg und nun den Spaten wegwarf, um nach einem Kanister zu greifen.

»Hilfffeeee!«

Flashs heisere Stimme ging in ein Röcheln über, er musste husten, Tränen und Dreck klebten auf seinen Wangen.

Der Typ mit der Kapuze ging in einem Kreis um Flash herum und hielt dabei den Kanister leicht gekippt, damit sich die Flüssigkeit gleichmäßig verteilen konnte. Ein scharfer Geruch breitete sich rasch aus, und Flash hörte sich schon wieder brüllen, bis ihm die Stimme versagte.

Die Flüssigkeit wurde ihm über den Kopf gegossen, nicht viel davon, nur eine Handvoll. Es roch gleich noch intensiver, Tropfen kitzelten seine Nasenspitze, bis sie herabfielen. Ungläubig sah er vor sich hin, ohne den Mut aufzubringen, noch einmal Blickkontakt aufzunehmen. Sein Schweiß vermischte sich mit dem Spiritus, dem Benzin oder was auch immer dieser verfluchte Gestank sein mochte.

»Bitte«, stammelte er. »Bitte.«

Ein Ratschen ertönte, und sofort wusste er, worum es sich bei dem Geräusch handelte. Ein Streichholz war entzündet worden.

Erst jetzt brachte er es über sich, nach oben zu sehen.

Die Flamme kam ihm unnatürlich groß vor. Sie erhellte die Augen, die unter der Kapuze und über dem Schal zum Vorschein kamen. Er meinte, sie wiederzuerkennen.

Das Streichholz ging aus, doch sofort wurde ein zweites angerissen.

Flash verfolgte, wie es fallen gelassen wurde.

Eine Riesenflamme erwuchs aus der Erde, ein Feuerring entstand, der wie eine Flut auf Flashs Kopf zuströmte. Überall züngelte es, Flammen zischten auf hin zu, bissen ihn, er roch den Gestank seiner brennenden Haare, seiner brennenden Haut. Das Feuer schien zu brüllen, vielleicht war es aber auch Flashs eigenes Kreischen, das hoch in den trüben Himmel stieg. Die Flammen fraßen ihn, und irgendwo in seinem Kopf entstand schiere Fassungslosigkeit darüber, wie lange es dauerte. Dass es einfach nicht aufhörte.

***

Die Saiten der Gitarre wurden geradezu beiläufig angeschlagen, als sollte ihr Klang nicht von der Stimme ablenken, die fast physisch wirkte, wie Granitgestein, rau und unbeugsam. Johnny Cash sang von der Bestie, die er in sich spürte und deren Käfigstäbe viel zu schwach seien, um das Unheil aufhalten zu können. Der Song kam von einem uralten CD-Player mit grauenhaftem Klang, doch das Rauschen schien auf morbide Weise perfekt zu passen.

Es lag mehr als zwei Stunden zurück, dass Robert Kornfelds Nachfolgerin vorgestellt worden war, und vielleicht war es Diehl erst in diesem Moment bewusst geworden, dass sein Freund, sein Mentor im LKA endgültig der Vergangenheit angehörte.

Kornfeld hatte einen Fehler begangen. Um einen Mörder zu überführen, waren Beweise manipuliert worden. Viola Hendricks hartnäckige Nachforschungen hatten nach Jahren alles wieder an die Oberfläche gespült, und Kornfeld hatte die Konsequenzen tragen müssen. Es wurde zwar nicht mehr von der Dienstaufsichtsbehörde gegen ihn ermittelt, doch er war kaltgestellt. Und daran würde sich nie wieder etwas ändern. Dass er eine große Lücke hinterließ, lag gewiss nicht an seiner mittlerweile fülligen Figur. Er war ein echter Ermittler gewesen, zäh und unnachgiebig, zugleich auch ein verdammt guter Vorgesetzter. Ein Mann mit Seele.

Diehl hatte ihn mehrfach angerufen, aber Robert war einem Treffen bislang mit fadenscheinigen Begründungen ausgewichen. Er wollte niemanden sehen. Diehl konnte das verstehen und fragte sich, wie es für ihn selbst wäre, auf dem Abstellgleis zu landen. Ohne den Job, zu dem es ihn mit aller Macht hingetrieben hatte, allein schon um seinem Vater eins auszuwischen, dem ewigen Kleinkriminellen, der die eigene Großmutter für ein paar Scheine an den Teufel verkauft hätte.

Das Bürotelefon rasselte mit diesem alten, surrenden Signalton, den Diehl mit diebischer Freude nicht durch einen angenehmeren, neueren ersetzte. Er griff zum Hörer, froh darüber, aus den eigenen Gedanken geholt zu werden. Bei der Anruferin handelte es sich um seine Mutter Rita. »Was gibt es?«, fragte er.

»Ich weiß auch nicht ...« Sie hörte sich unsicher an.

»Er war also wieder da«, schloss Diehl aus ihrem zögerlichen Tonfall. Wut keimte in ihm. Er drehte sich um, damit er den CD-Player leiser stellen konnte, der hinter ihm auf einem Aktenboard stand.

»Nein«, antwortete sie. »Es ist nur ...« Sie brach den Satz ab.

»Wann war er zuletzt bei dir?« Er stützte die Ellbogen auf dem Schreibtisch ab, auf dem ein wildes Durcheinander aus Papieren, Notizzetteln, Kaugummipackungen, CDs und Kaffeetassen herrschte.

»Das ist jetzt schon einige Wochen her. Er stand vor der Tür und klingelte, aber ich ließ ihn nicht ins Haus. Später, da lag ich schon im Bett, hat er Steine ans Fenster geworfen und mich aus dem Schlaf geholt. Wieder hab ich auf stur geschaltet.«

»Und seitdem ist er nicht mehr aufgetaucht?«

»Zum Glück nicht.« Sie seufzte. »Du weißt ja, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, hat es nicht lange gedauert, bis er bei mir auf der Matte stand. Ich weigerte mich, ihn aufzunehmen, er haute wieder ab und fand wohl tatsächlich eine Bleibe.«

»Jetzt scheinst du ja Ruhe vor ihm zu haben.«

Wieder seufzte sie. »Vorher war ich beunruhigt, weil er jeden Moment vor der Tür stehen konnte, nun macht es mich nervös, dass er nicht auftaucht. Bescheuert, oder?«

»Nein, völlig normal.« Sie tat ihm leid, und das vergrößerte seinen Zorn nur.

»Ehrlich gesagt ...« Sie suchte nach Worten. »Manchmal glaube ich, er ist in der Nähe. Nenn mich übergeschnappt, aber immer mal wieder hab ich das Gefühl, er beobachtet mich. Ich gucke aus dem Fenster und meine, draußen wäre eben noch ein Schatten gewesen.«

Er sagte nichts und strich sich mit der Hand über seine nach hinten gekämmten Haare.

»Du hältst mich für plemplem, was?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Es ist nur so eine Ahnung.«

»Vielleicht sollte ich mal ein Auge auf ihn werfen.«

»Nein, das will ich auf keinen Fall«, gab sie mit plötzlicher Bestimmtheit zurück.

»Mama, melde dich einfach sofort bei mir, wenn er noch einmal etwas von sich sehen lässt.« Nebenbei notierte er sich hastig, später einen Kollegen auf die Sache anzusprechen, ohne dass er das allerdings seiner Mutter gegenüber erwähnen wollte. »Egal, wann es ist, selbst mitten in der Nacht. Auch wenn es nur ein vager Eindruck ist. Melde dich! Falls Pa–« Es widerstrebte ihm zutiefst, Papa zu sagen. »Falls er wirklich wieder ...«

»Dann rufe ich dich an«, unterbrach sie ihn sanft.

»Augenblicklich.«

»Augenblicklich«, wiederholte Rita und fügte grüblerisch hinzu: »Ich hätte gar nicht mit ihm reden sollen. Das war der Fehler. Ich meine, als er rauskam. Du weißt schon, du warst ja dabei.«

Und ob er die erste Begegnung mit seinem Vater nach vielen Jahren Funkstille noch in Erinnerung hatte. Der Zufall hatte sie zusammengeführt, als Diehl zu seiner Mutter gefahren war, um ihr von der Entwicklung um Robert Kornfeld zu erzählen und unversehens auf Johannes Diehl gestoßen war. Sein Vater hatte noch förmlich nach Knast gerochen, so frisch war er auf freiem Fuß gewesen.

Zu dritt hatten sie an Ritas Küchentisch gesessen, betont harmlos geplaudert, sich aber keinen Sekundenbruchteil aus den Augen gelassen. Johannes hatte geraucht, obwohl er wusste, dass Rita das nicht mochte. Der Rauch war Diehl in die Nase gestiegen und hatte ihn darin erinnert, wie Viola ihn vor Jahren dazu gebracht hatte, mit der Qualmerei aufzuhören – oder eher, wie sie ihn gezwungen hatte.

»Melde dich bei mir«, sagte er nun noch einmal in den Hörer.

»Danke!« Eine gewisse Erleichterung schwang in dem leisen Wort mit.

Jemand erschien mit einer forschen Bewegung im Rahmen der offenen Bürotür. Diehl sah auf und beendete das Telefonat mit seiner Mutter.

Oreana Massoudi kam herein und schloss die Tür hinter sich.

Er deutete auf den freien Besucherstuhl, doch sie blieb stehen. »Ich habe gehört, Sie werden von allen Jack genannt. Was dagegen, wenn ich es auch so halte?«

Im Hintergrund sang Johnny Cash inzwischen über Narben, die man nicht sah, die aber für immer blieben.

Diehl warf seiner neuen Vorgesetzten einen prüfenden Blick zu, den sie unbeeindruckt an sich abprallen ließ.

»Nichts dagegen«, antwortete er schließlich mit einem Schulterzucken. Er hatte ihren Namen nach der Vorstellung durch Söring nicht extra googeln müssen, um einige Eckpunkte über sie zu wissen. Die Mittvierzigerin besaß als Ermittlerin einen tadellosen Ruf. Sie galt als zielstrebig und ehrgeizig – jemand mit großer beruflicher Perspektive, was der neue Karriereschritt ja auch bestätigte. Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater, der aus Tunesien stammte, war ein renommierter Oberstaatsanwalt, ganz anders als Diehls alter Herr.

»Jack, ich bin selbstverständlich im Bilde über die besondere freundschaftliche Beziehung, die Sie mit Robert Kornfeld verbunden hat – oder wahrscheinlich nach wie vor verbindet.« Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt sah ihn unverwandt an. »Ich werde mich davon in keiner Weise beeinflussen lassen.«

»Warum sollten Sie?«

»Ich meine nur, ich werde Sie aufgrund dieses Hintergrunds nicht mit Samthandschuhen anfassen.«

Diehl streckte seine langen Beine neben dem Schreibtisch aus und legte sie bequem übereinander, sodass seine abgewetzten Tony-Lama-Cowboystiefel zum Vorschein kamen. »Das trifft sich gut, ich stehe nicht auf Samt«, meinte er gelassen.

»Übrigens, ich bin nicht nur hier, um mich Ihnen persönlich vorzustellen.«

»Sondern?«

Ihr Mund erhielt einen harten Zug. »Sondern um Sie über die Leiche zu informieren, die gefunden wurde.«

***

Im Gebäudekomplex des LKA eilte Diehl einen der vielen Gänge entlang. Mittlerweile war es später Nachmittag, die eilig durchgeführte Obduktion war schon eine Weile her, war aber immer noch sehr präsent. Der Gedanke an einen Schluck Maker's Mark hatte etwas Verlockendes, dafür war jedoch keine Zeit: Er war bereits zu spät für das kurzfristig anberaumte Meeting.

Als er um die Ecke in den nächsten Gang bog, entdeckte er jemanden, der ein paar Meter vor ihm ähnlich schnell unterwegs war. Geschmeidig, sportlich, mit einem wiegenden Hinterteil, das länger als nötig seinen Blick auf sich zog.

Als spürte sie ihn, hielt Berenice Silva Benevides abrupt inne. Sie drehte sich um. »Sieh mal einer an«, sagte die Tatortfotografin, die noch nicht lange dem Team im Kriminaltechnischen Institut angehörte. Immerhin lange genug, um Diehl nahegekommen zu sein. Sehr nahe.

Direkt vor ihr blieb er stehen. »Du warst vorhin gar nicht bei der Vorstellung des neuen Häuptlings.«

»Frau Häuptling, meinst du«, korrigierte Berenice. Unter dem Arm trug sie eine große, flache Mappe.

»In jedem Fall jemand, der mit dem Kriegsbeil umzugehen weiß.«

»Ich hab heute verschlafen. Tja, und ich dachte, ich lerne die Lady ja sowieso noch kennen.« Sie erklärte das mit einer Unbefangenheit, die nur sie fertigbrachte und die sie sich bewahrte, trotz der im Dienstalltag oft vorherrschenden Hektik und Angespanntheit. Lange dunkle Haare umrahmten das hübsche Gesicht mit den tiefbraunen Augen, die keinen Zweifel an ihrer brasilianischen Herkunft ließen.

Häufig spukte sie ihm im Kopf herum, und er wusste einfach nicht, ob sie das spürte. Sie gab sich jedenfalls lässig und tat so, als wäre nie etwas zwischen ihnen passiert. Das war sonst oft genug sein Umgang mit solchen Situationen gewesen ...

»Ich muss ins Meeting«, meinte sie und lächelte ihn mit dieser wissenden Hintergründigkeit an, die ihn echt verrückt machen konnte, wie er sich selbst eingestand – nicht allerdings ihr.

»Ich auch.«

Sekunden später betraten sie hintereinander den Besprechungsraum. Es war derselbe wie am Morgen, in dem sie bereits von Söring, Massoudi und einem Teil des Teams erwartet wurden, darunter die Kommissare Karen Pawlowski, Bernd Schrommel und Dirk Heller.

Berenice zog stark vergrößerte Fotografien aus ihrer Mappe und befestigte sie sorgfältig an einer Magnetwand.

Alle starrten darauf. Eine beträchtliche Weile äußerte niemand einen Ton, bis Massoudi unvermittelt sagte: »Sie sind die Tatortfotografin, nehme ich an?« Ihr konzentrierter Blick umschloss Berenice geradezu.

»Genau die bin ich. Berenice Silva Benevides. Und Sie sind ...«

»Genau die bin ich.« Massoudi zeigte ein kurzes mechanisches Lächeln. »Danke für die Aufnahmen. Für das Meeting werden Sie nicht benötigt. Ich lasse Sie es wissen, wenn wir Sie doch noch brauchen.«

Diehl hob die Augenbrauen. Kornfeld hätte das anders gemacht, dachte er.

Berenice versuchte ihre offenkundige Enttäuschung mit einem knappen Achselzucken zu überspielen. »Jederzeit,« meinte sie und verließ das Zimmer.

»Es hätte nicht geschadet, wenn wir Berenice ...«, begann Diehl, kam aber nicht weit.

»Im Moment hätte ihre Anwesenheit nicht geholfen«, sagte Massoudi ungerührt. »Fangen wir an.«

Doch auch sie wurde unterbrochen, als die Tür aufgestoßen wurde und Viola Hendrick hereinkam, offensichtlich in Eile, wie die leicht geröteten Wangen erkennen ließen. »Entschuldigung, dass ich zu spät bin. Ich erfuhr gerade eben erst von ...«

»Überhaupt kein Problem«, stoppte Massoudi sie mitten im Satz. »Denn Ihre Anwesenheit ist unnötig. Ich hätte Ihnen Bescheid gesagt, falls wir Ihre Unterstützung benötigen. Momentan ist das noch nicht der Fall.«

Anders als Berenice konnte Viola ihre Verblüffung keineswegs verbergen. »Äh ...«, kam es ihr völlig perplex über die Lippen. In ihren Augen entzündete sich ein Funkeln, das Diehl nur allzu vertraut war.

»Sie sind Viola Hendrick, nicht wahr?« Massoudi lächelte sie an. »Ich habe viel von Ihnen gehört – nur absolut Positives. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Aber im Moment ist Profiling noch nicht das Thema. Danke!«

Massoudi wandte sich den Fotografien an der Wand zu und bekam dadurch nicht mit, wie Viola mit versteinerter Miene aus dem Besprechungszimmer rauschte.

Diehl warf Söring einen Seitenblick zu, doch der Vizepräsident ließ keine Reaktion erkennen, ebenso wenig wie der Rest des Teams. Es hatte sich bereits bis zu Diehl herumgesprochen, dass Massoudis erster Auftritt überaus positiv wahrgenommen worden war

»Fangen wir jetzt aber wirklich an«, meinte die Kommissariatsleiterin. »Zwei Jugendliche, die mit einem Hund unterwegs waren, stießen in der Nähe des Stadtwalds auf einen eher nachlässig verscharrten, vollkommen nackten weiblichen Leichnam. Die zuletzt starken Regenfälle haben dazu beigetragen, dass Erdreich über der Toten abgetragen wurde und es dem Hund wohl leichtfiel, auf den Körper aufmerksam zu werden. Dr. Rubio hat die Obduktion bereits durchgeführt, bei der Herr Söring und ich sowie Hauptkommissar Diehl zugegen waren.«

Sie deutete mit dem Zeigefinger nacheinander auf verschiedene Details der Fotografien.

»Die größte Besonderheit ist unübersehbar. Wir haben es mit einer Leiche ohne Kopf, Hände und Füße zu tun. Die Identität ist demzufolge noch ungeklärt. Das Alter wird auf Anfang zwanzig geschätzt. Viel mehr wissen wir nicht. Und das sollen wir auch nicht, sonst hätte man sich nicht die Mühe gemacht, die Tote derart massiv zu verunstalten.«

»Andererseits hat der Unbekannte das Problem«, warf Söring ein, »auch die abgetrennten Körperteile loswerden zu müssen.«

»Die allerdings kleiner sind«, stellte Massoudi klar. »Und damit ist es ohne Zweifel leichter, sie verschwinden zu lassen, als es mit einem kompletten Rumpf plus Beinen der Fall ist.«

»Irgendwelche Spuren am Fundort?«, fragte Karen Pawlowski.

»Das Ergebnis der Kollegen vom Erkennungsdienst ist enttäuschend. Keine Zigarettenkippen, keine weggeworfenen oder verloren gegangenen Gegenstände, keine Reifen- oder Schuhabrücke im ohnehin sehr feuchten Boden. Womöglich hat der Regen einiges vernichtet. Sie kennen die alte Faustregel: Hat man keinen Tatort, gilt der Fundort als Tatort. Das schließen wir hier aus. Die Verstümmelungen müssen woanders stattgefunden haben. Wir gehen davon aus, dass man die Leiche so, wie sie vorgefunden wurde, dorthin transportiert hat.«

Wiederum deutete Massoudi auf die Vergrößerungen an der Wand und warf einen raschen Blick in die Runde.

»Solche Verstümmelungen sind sehr selten, nicht nur in unserem Raum, sondern überall auf der Welt. Ich habe in knapp zwanzig Jahren nur einen ähnlichen Fall bearbeitet. Hat hier jemand umfassendere Erfahrungen damit?«

Alle schwiegen.

»Dr. Rubio sagt, die Wundränder an den Stümpfen sehen aus, als wären Kopf und Gliedmaßen laienhaft mit einer Feinsäge amputiert worden. Bei einer mikroskopischen Untersuchung konnte er feststellen, dass der Täter das Werkzeug bis zu zwanzigmal pro Knochen ansetzen musste, bis es ihm gelang, ihn durchzusägen.« Sie öffnete eine der kleinen Mineralwasserflaschen, die auf dem Tisch standen, nahm einen Schluck und fuhr fort: »Auch das Abschneiden des Kopfs schien den Täter vor Probleme zu stellen, was zahlreiche oberflächliche und parallel verlaufende Schnitte zeigen. Die Experten bezeichnen das als Probierschnitte. Ich persönlich kenne so etwas von Selbstmördern, die sich erst geringfügig an den Hals- oder Handgelenksgefäßen verletzen, ehe sie sich die finalen Schnitte oder Stiche zufügen.

Aus unserer Sicht bedauerlich ist die Tatsache, dass der Täter trotz allem geschickt genug war, keine verwertbaren Spuren von sich selbst am Leichnam zu hinterlassen. Keine Haare, keine Hautschuppen, nichts für einen DNA-Abgleich. Sicher hat er Handschuhe getragen und nach der Prozedur vielleicht auch noch eine Reinigung des Körpers vorgenommen. Erschwerend kommt die recht lange Zeit hinzu, die die Tote unter der Erde zugebracht hat.«

»Konnte die Todesursache festgestellt werden?«, fragte Karen Pawlowski.

»Die Frau ist offenbar an einem Herzstillstand gestorben.«

»Sehr jung für ein derartiges Ende«, kommentierte Pawlowski.

»Ja und nein«, lautete Massoudis Antwort. »Der Herzstillstand trat aufgrund einer enorm hohen Menge an Alkohol und eines Mix aus Drogen ein. Das kann auch für ein junges, gesundes Herz zu viel sein. Zumal die Frau sich in den letzten Tagen vor ihrem Tod anscheinend nur unregelmäßig ernährt und darüber hinaus konstant Drogen konsumiert hat. Dadurch muss sie zusätzlich schwächeanfällig gewesen sein.«

»Was die Todesursache betrifft, gehen wir also nicht unbedingt von Fremdeinwirkung aus«, ergänzte Vizepräsident Söring auf seine gewohnt ruhige Art.

»Deshalb meine ich mit Täter auch nicht notwendigerweise Mörder«, nahm Massoudi den Faden auf. »Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Frau Gewalt angetan wurde. Auch nicht in sexueller Hinsicht. Verstümmelungen allerdings lassen durchaus eine Vielzahl an Schlüssen zu. Nun ja, wir werden sehen.« Sie machte eine knappe Geste mit der Hand. »Bei einem Kapitalverbrechen würden wir nach der Täter-Opfer-Beziehung fragen. Das tun wir auch hier. Was verbindet denjenigen, der die Frau verstümmelt hat, mit ihr? Aber dazu müssen wir eines wissen. Nämlich?«

Ihr Frageton hatte nichts Oberlehrerhaftes, im Gegenteil, das Team schien sie schon jetzt mit Respekt zu betrachten. Alle hörten ihr mit sichtlicher Konzentration zu. Diehl hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er schwieg, obwohl ihm Massoudis beiläufiger Blick signalisierte, dass sie Äußerungen von ihm erwartete.

»Was müssen wir wissen?«, wiederholte sie mit aufforderndem Nicken.

»Natürlich wer die Tote war«, antwortete Pawlowski, die seit drei Jahren der Abteilung 4 für Schwere und Organisierte Kriminalität angehörte und für ihre Zuverlässigkeit geschätzt wurde. Sie war Anfang dreißig, schlank, ihre sandfarbenen Haare waren zu einem Pagenkopf geschnitten.

»Exakt«, stimmte Massoudi zufrieden zu. »Erst wenn uns bekannt ist, wer sie gewesen ist, können weitere Ermittlungen die nächsten wichtigen Fragen klären, wie etwa, wo sie gewohnt hat und wie ihre familiären und beruflichen Verhältnisse waren. Wann wurde sie zuletzt lebend gesehen? Wie hat sie ihre Freizeit verbracht? Und vor allem: mit wem? Denn so kommen wir unweigerlich zu der Frage, wer sie verstümmelt und verscharrt haben könnte.« Erneut folgte ein prüfender Blick. Massoudi war offensichtlich eifrig bemüht, ihre neue Mannschaft einzuschätzen. »Also – wie können wir die Tote identifizieren? Was denken Sie, Herr ... Wie war noch Ihr Name?«

»Heller«, beeilte sich der Angesprochene. »Kommissar Dirk Heller.« Er war das jüngste Mitglied des Ermittlerteams, noch recht unerfahren, aber beflissen und fleißig. Etwas untersetzt, gut im Training, glatt rasiert, mit militärisch kurzen, flachsblonden Haaren.

»Bitte, Kommissar Heller, teilen Sie uns Ihre Gedanken mit.«

»Nun ja, körperliche Auffälligkeiten wären wichtig für uns.«

»Richtig. Bestimmt ist Ihnen bereits aufgefallen, was das letzte Foto deutlich zeigt.« Sie wies kurz darauf. »Wir sehen hier ein Muttermal, etwa doppelt so groß wie ein Zweieurostück. Wohlwollend könnte man es als herzförmig bezeichnen. Jedenfalls ist es so auffällig, dass es von nahezu jedem Menschen, der es einmal bemerkt hat, wiedererkannt werden könnte, vor allem von Familienangehörigen und engen Freunden. Es befindet sich oberhalb der linken Kniekehle.«

»Derjenige, der sie verstümmelt hat, scheint dem Hautfleck keine Beachtung geschenkt zu haben«, meinte Söring grüblerisch.

»Also setzen wir möglichst früh auf Mithilfe durch die Öffentlichkeit«, fuhr Söring fort. »Wenn bei der Überprüfung sämtlicher Vermisstenfälle, die im Zusammenhang mit der unbekannten Toten von Bedeutung sein könnten, nichts herauskommt und auch ein DNA-Abgleich der Frau ohne Treffer in den Datenbanken bleiben sollte, schalten wir die Presse ein.«

»Welcher wichtige Faktor fehlt noch?«, fragte Massoudi, kaum dass er zu Ende gesprochen hatte. »Na, Herr Heller, was meinen Sie?«

»Äh ...« Heller schien angestrengt, aber erfolglos zu überlegen.

»Todeszeitpunkt«, kam das Stichwort von Bernd Schrommel, einem der erfahrensten Beamten, der in den letzten Jahren in die Breite gegangen war, aber dessen Expertise oft genug von großem Wert gewesen war.

Massoudi nickte. »Sie sind ...?«

»Schrommel.«

Die Kommissariatsleiterin trank erneut aus der Wasserflasche. »Dr. Rubio geht davon aus, dass die Frau bereits seit mehreren Wochen tot ist. Diesen Schluss legt der Verwesungszustand des Körpers nahe. Sie sehen ja auf den Bildern die Verfärbungen der Haut.«

Keiner sagte etwas.

Massoudis Blick fiel auf Diehl. »Jack, ich hoffe, Sie haben kein Schweigegelübde abgelegt.«

»Wenn ich das hätte, wäre schon so manch einer froh gewesen.«

»Ich nicht. Was beschäftigt Sie?«

»Eine bestimmte Sache.« Er trat nahe an die Aufnahmen heran und besah sie sich genau. »Jemand wollte also beim möglichen Auffinden der Leiche die Identifizierung verhindern oder zumindest erschweren. Dafür hat man ja einiges an Mühe auf sich genommen. Was ich mich frage, ist Folgendes: Warum ist man dann beim Verstecken der Toten eher nachlässig vorgegangen? Sie lag nicht weit entfernt von einem vielfach genutzten Spazierweg und auch nicht sonderlich tief in der Erde.«

»Vielleicht Zeitdruck«, mutmaßte Dirk Heller spontan.

»Und zuvor beim Sägen hat kein Zeitdruck geherrscht?« Diehl runzelte die Stirn. »Hm, dennoch nicht völlig auszuschließen.«

»Vielleicht war der Täter sicher, dass die Verstümmelungen ausreichen würden, um die Identifizierung zu verhindern.«

»Auch denkbar.« Diehl starrte unverwandt auf die Fotos und kratzte sich die Stoppeln seines Dreitagebarts. »Aber ich glaube es nicht.«

»Und ich glaube nicht, dass das ein derart entscheidendes Detail ist«, kommentierte Massoudi zweifelnd.

»Abwarten«, erwiderte Diehl.

***

Viola Hendrick nippte an ihrem grünen Tee. Er war mittlerweile deutlich kälter als die Wut, die in ihr kochte. Nein, sie war gar nicht wütend. Überhaupt nicht. Ganz ruhig saß sie da, oder etwa nicht? Und in gewisser Weise war es durchaus nachvollziehbar, was Oreana Massoudi hinsichtlich Profiling gesagt hatte.

Langsam stand Viola auf. Sie betrachtete die Tasse. Darauf war eine Schildkröte abgebildet, die mit einem Cocktail in einer Hängematte lag. Über dem Tier stand das Wort Chillkröte. Einzig und allein Jack Diehl hatte auf die Idee kommen können, ausgerechnet ihr ein derart albernes Geschenk zu machen. Und dabei auch noch, als hätte sie den Hinweis nicht verstanden, grinsend anzumerken, sie solle nicht alles so ernst nehmen und öfter mal chillen.

Viola atmete tief ein, ergriff die halb volle Tasse und schleuderte sie kraftvoll gegen die Bürowand, wo sie mit einem lauten Knall zerschellte. Die Scherben prasselten auf den Boden, die Flüssigkeit hinterließ einen großen Fleck.

Doch. Sie war wütend. Stinksauer.

Abgefertigt. So war sie sich vorgekommen. Nachvollziehbar oder nicht, Massoudi hatte sie abgefertigt, daran änderten auch die lobenden Worte nicht viel. In Violas Augen war es überflüssig gewesen. Sollte man als Chefin, gerade zu Beginn, nicht alle Kräfte bündeln und ... Egal! Scheiß drauf, wie Jack es formulieren würde.

Sie schnappte sich die Kartons mit Akten, die sie angefordert hatte, und teilte sie in Bündel auf. Ablenkung war gefragt. Während andere eine Zigarette oder etwas Hochprozentiges gebraucht hätten, griff Viola auf Arbeit zurück.

Die Akten beinhalteten Fälle aus den zurückliegenden Jahren. Allen gemeinsam war die Tatsache, dass sie sich auf einem geografisch recht überschaubaren Gebiet zugetragen hatten. Auf einer Landkarte hinter ihrem Schreibtisch hatte Viola ein schmales Rechteck eingezeichnet, das von ländlichen Gemeinden in der Rhön bis nach Frankfurt reichte. Allen Fällen gemeinsam war außerdem, dass sie nie aufgeklärt worden waren.

Viola las einige der dicht bedruckten Blätter und zog auf dem Laptop per Computermaus die Statistiken größer, die sie parallel aufgerufen hatte. Im vergangenen Berichtsjahr wiesen die Zahlenkolonnen des Bundeskriminalamts über zweitausendfünfhundert Delikte aus, die als Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen qualifiziert wurden. In 96,7 Prozent der Fälle gelang es, den oder die Täter zu ermitteln. Eine enorme Quote, auch im internationalen Vergleich, und sie blieb schon länger auf konstant hohem Niveau. Dennoch gab es in Deutschland pro Jahr immer noch sechzig bis hundert ungeklärte Tötungsdelikte. Statistisch erfassbare Werte, hinter denen sich unermesslich großes Leid verbarg. Akten vergilbten, Narben blieben, vor allem seelische. Viola war sich dessen nur allzu bewusst, und es nagte an ihr.

Wie viele Mörder und Totschläger mochten unter uns leben, fragte sie sich oft, wie viele von ihnen bewegten sich wie selbstverständlich durch ihren Alltag, während Opfer, die einen mörderischen Angriff überlebt hatten, und Angehörige von Todesopfern nie mit einer Tat abschließen konnten? Weil unerträglich quälende Gefühle wie Angst, Verzweiflung, Ungewissheit nicht etwa abnahmen, sondern sich mit der Zeit verstärkten.

Das war etwas, das Viola umtrieb. Immer schon.

Noch ein paar Klicks mit der Maus, dann widmete sie sich wieder den Akten.

Ein Klopfen an der Bürotür ließ sie verärgert aufblicken – ausgerechnet jetzt, wo sie gerade wieder so schön Konzentration aufgebaut hatte. »Ja?«

Berenice steckte den Kopf herein. »Hi! Wie geht's dir?«

»So lala, würd ich sagen.«

»Hab schon gehört, dass deine Dienste nicht gefragt sind.«

»Es war kein Drama, aber trotzdem ... Na ja, Schwamm drüber.«

Es sollte nebensächlich klingen, doch Viola war nie eine vortreffliche Schauspielerin gewesen, sie kannte sich.

Mit einem schiefen Grinsen deutete Berenice auf den Fleck an der Wand und die Scherben. »Wenn du quatschen willst ...«, bot sie an.

Manchmal gab es so etwas, dass Frauen auf Anhieb miteinander klarkamen. Man sah sich gegenseitig an und wusste einfach Bescheid. Über die Reise vom Mädchen zur Frau, über Träume und Hoffnungen, über Enttäuschungen. Man sah sich in die Augen und kannte die jeweils andere sofort.

Bei Viola und Berenice war es so gewesen. Auch wenn Viola gelegentlich älter wirkte als Anfang dreißig und Berenice jünger als Mitte zwanzig. Auch wenn die eine sich businessmäßig kleidete und die andere eher lässig. Ober vielleicht lag es ja gerade an diesen Gegensätzen, dass sie gut miteinander konnten.

»Quatschen? Sonst immer gern, nur jetzt gerade ...« Viola zeigte auf den Berg aus Akten. »Bin froh, dass ich mich gerade reingewühlt hab.«

Berenice nickte. »Na klar, kapiert. Sag Bescheid, wenn – na, du weißt schon.«

Damit war sie draußen und die Tür wieder zu.

Jetzt tat es Viola leid, wie sie reagiert hatte, aber sie nahm sich fest vor, das Gespräch bald nachzuholen.

Ja, es gab vieles, was sie und Berenice verband.

Und etwas, das sie trennte.

4

Diehl befand sich in einem rasch einberufenen Teammeeting, als ihn per Handy die Nachricht erreichte, auf die er insgeheim gewartet hatte. Er las sie und wandte sich wieder Dirk Heller zu, der auf seine Notizen schaute und zu einer kurzen Zusammenfassung ansetzte: »Also, es hat sich absolut nichts ergeben. Die DNA-Proben der Toten wurden von unseren Spezialisten durch alle Datenbanken gejagt – ohne Erfolg.«

»Was ist mit aktuellen Vermisstenfällen?«, fragte Oreana Massoudi und warf einen Blick in die Runde.

Diehl musste an Viola denken. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie gerade vor Wut kochte, weil sie nicht dabei sein durfte.

Sie befanden sich im selben Besprechungszimmer wie zuvor. Der Raum war inzwischen für diesen Fall reserviert und durfte nicht für andere Meetings genutzt werden. Die Fotos mit den grausam anmutenden Verstümmelungen hingen nach wie vor an der Wand.

»Die Vermisstenfälle hab ich überprüft.« Karen Pawlowski strich sich durch ihre sandfarbenen Haare. »Sowohl landes- als auch bundesweit. Es gibt nur eine Handvoll vermisster Frauen, die vom Alter und der Statur her infrage kämen, die unbekannte Tote zu sein. Doch deren Wohnorte liegen weit entfernt, kein einziger in Hessen, und es ergaben sich nicht einmal vage Hinweise, dass eine von ihnen die Tote sein könnte.«

»ViCLAS«, warf Massoudi ein Stichwort in den Raum.

»Obwohl nichts darauf hindeutet, dass uns das weiterhilft,« beeilte sich Pawlowski mit der Antwort, »hab ich mich auch damit befasst.«

ViCLAS war die Abkürzung für Violent Crime Linkage Analysis System. Dabei handelte es sich um eine Datenbank für Tötungs- und Sexualdelikte, die in den 1990er Jahren von der kanadischen Polizei ins Leben gerufen worden war und seither auch von Ermittlern aus den USA, Neuseeland und europäischen Ländern gefüttert wurde. Sie war enorm hilfreich, wenn es darum ging, Tat-Tat-Übereinstimmungen und Tat-Täter-Übereinstimmungen zu erkennen.

»Es hat also nichts gebracht?«, hakte die Kommissariatsleiterin nach.

»Rein gar nichts. Keine vergleichbaren Leichenfunde in unseren Breitengraden in den letzten Jahren. Zur Sicherheit habe ich auch HEADS gecheckt.«

»Ebenfalls keine verwertbaren Ergebnisse, schätze ich.«

Pawlowski schüttelte den Kopf. »Die Auskunftsdatei für Haftentlassene hat keinen einzigen Täter ausgespuckt, dessen Name bei Verstümmelungen eine Rolle gespielt hätte und der für unseren Fall von Interesse sein könnte.«

»Nichtsdestotrotz: Das war sehr sorgfältig von Ihnen, das gefällt mir.« Massoudi runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir gehen direkt über zum nächsten Schritt und schalten die Presse ein. Die sollen eine Beschreibung der Frau, zumindest so weit wie möglich, und ein Foto des herzförmigen Muttermals veröffentlichen. Mehr haben wir nicht. Aber wer weiß, vielleicht reicht das. Oder hat sonst noch jemand eine Idee?« Ihr Blick blieb an Diehl haften, doch der machte sich eilig bereit zum Aufbruch und hatte schon das Handy am Ohr.

Beim Verlassen des Raumes rief er den Kollegen an, der ihm die Nachricht geschickt hatte, und nach einer kurzen Nachfrage eilte er nach draußen zum Parkplatz, um sich hinters Steuer zu setzen und zur Fahrt nach Frankfurt zu starten.

Johnny Cash knarzte aus den Boxen, der Turbomotor des zitronengelben Porsche 911 röhrte. Sowohl den Sänger als auch das Auto verband Diehl mit seinem Vater. Trotzdem hätte er beides unter keinen Umständen aus seinem Leben verbannt. Die zerkratzten Platten aus der Sammlung des Alten und die erste Fahrt auf dem Beifahrersitz eines 911 stellten die frühesten Erinnerungen an seine Kindheit dar, in der Johannes Diehl selten zu sehen gewesen war und dennoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Cash sang über einen Desperado, und genau das war Johannes geworden.

Eine Entscheidung, die viel damit zu tun gehabt hatte, dass sein Sohn in die Gegenrichtung getrieben worden war. Der Gangster und der Bulle. Seit Jahren hatten sie sich aus dem Weg gehen können, was vor allem mit Johannes' regelmäßigen Knastausflügen zu tun gehabt hatte. Sollte sich das nun ändern?