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Das Böse hasst, das Böse liebt, das Böse vergisst nie.
Kalter Herbstwind weht durch Frankfurts dunkle Straßenschluchten. Hier, zwischen glitzernden Wolkenkratzern und dem Elend des Bahnhofsviertels, ist das Revier der »Krähe«. Hier jagt Kommissarin Mara Billinsky einen psychopathischen Serienmörder, der seine scheinbar zufällig ausgewählten Opfer mit Stacheldraht zu Tode foltert. Als Mara eine heiße Spur zu dem Täter verfolgt, tritt ihr ein mächtiger Strafverteidiger in den Weg: ihr eigener Vater. Doch Mara lässt nicht locker - und bemerkt dabei nicht, wie sich im Hintergrund ein gewaltiger Sturm aus Rache und Verrat zusammenbraut ...
Es ist nicht alles schwarz und weiß, im Gegenteil, die Welt ist verdammt grau. Und das Böse war nicht immer schon böse. Es wurde dazu gemacht.
Der neunte Fall für Frankfurts härteste Ermittlerin ist brutal ehrlich und erschreckend persönlich - danach wird für die »Krähe« nichts mehr so sein, wie es war.
Dieses »Thrillerformat [hat] Kultpotenzial und ragt weit heraus aus dem Einheitsbrei der Regionalkrimis.« MANFRED HITZEROTH, OBERHESSISCHE PRESSE
Leserstimmen aus der LESEJURY zu Leo Born:
»Mega Spannend, beeindruckend geschrieben, mit gewohnt fantastischen Charakteren. Leo Born ist und bleibt mein persönlicher Thriller-König auf dem Thriller-Markt.« (Bambarenlover)
»Die Mara Billinsky Reihe ist für mich eine der zurzeit besten deutschen Thriller-Reihen (...) die Sucht wird irgendwann jeden befallen.« (Cybergirl)
»Mara Billinsky (...) ermittelt knallhart und schonungslos. Schonungslos gegen sich selbst und andere. (...) Einmal begonnen will man einfach wissen, wie es weitergeht und vor allem wie es enden wird.« (Nirak03)
Die bisherigen Fälle für Mara »Die Krähe« Billinsky:
Blinde Rache
Lautlose Schreie
Brennende Narben
Blutige Gnade
Vergessene Gräber
Sterbende Seelen
Schwarzer Schmerz
Eisige Stille
Entdecke auch die neue Thriller-Reihe von Leo Born mit Jakob Diehl:
Lilienopfer. Dein Tod gehört mir
Racheherz. Der Schrecken in dir
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung
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Seitenzahl: 403
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Das Böse hasst, das Böse liebt, das Böse vergisst nie.
Kalter Herbstwind weht durch Frankfurts dunkle Straßenschluchten. Hier, zwischen glitzernden Wolkenkratzern und dem Elend des Bahnhofsviertels, ist das Revier der »Krähe«. Hier jagt Kommissarin Mara Billinsky einen psychopathischen Serienmörder, der seine scheinbar zufällig ausgewählten Opfer mit Stacheldraht zu Tode foltert. Als Mara eine heiße Spur zu dem Täter verfolgt, tritt ihr ein mächtiger Strafverteidiger in den Weg: ihr eigener Vater. Doch Mara lässt nicht locker - und bemerkt dabei nicht, wie sich im Hintergrund ein gewaltiger Sturm aus Rache und Verrat zusammenbraut …
Es ist nicht alles schwarz und weiß, im Gegenteil, die Welt ist verdammt grau. Und das Böse war nicht immer schon böse. Es wurde dazu gemacht.
Der neunte Fall für Frankfurts härteste Ermittlerin ist brutal ehrlich und erschreckend persönlich - danach wird für die »Krähe« nichts mehr so sein, wie es war.
LEO BORN
EIN MARA BILLINSKY THRILLER
Rote Spitze auf weißer Haut.
Im Hintergrund klassische Musik, Antonio Salieris L’amore innocente.
Der Champagner prickelte auf seiner Zunge. Der Duft des Parfüms kitzelte seine Nase … Das machte ihn verrückt, das trieb ihn schier zum Wahnsinn.
Was gab es Reizvolleres, als sich zu ergeben? Sich vollkommen fallen zu lassen? Er zuckte zusammen, als er die kalte Seide der Stoffstreifen spürte, mit denen seine Hand- und Fußgelenke ans Bett gefesselt wurden. In ihm wuchs die Spannung, ein aufregendes Feuer, das sich von seiner Leibesmitte aus im ganzen Körper ausbreitete.
Ein weiterer Streifen aus Seide tauchte direkt vor seinem verschwitzten Gesicht auf, nahm ihm die Sicht.
Er lächelte, als die Frau ihm damit die Augen verband.
Ihr Körper glitt von der Matratze, ihre spitzen Absätze klackten auf dem Eichenparkett. Sie ließ ihn allein, nur für ein paar Minuten. So war es immer nach der ersten Runde. Damit sich seine Vorfreude bis ins fast Unerträgliche steigerte und jede Faser seines Körpers danach gierte, dass es weiterging.
Er atmete tief ein, völlig im Reinen mit sich selbst, mit seinem Leben, seinem Erfolg, seiner Gewissheit, sich alles leisten, alles auskosten zu können. Vor seinen Augen nichts als eine funkelnde Dunkelheit, in seinen Ohren die wilden Streicher und die Sopranstimme, beinahe überdeckt vom Pulsieren des Bluts, das wild durch seinen Schädel rauschte.
Er wartete. Leckte sich die Lippen.
Diesmal ließ sie sich besonders lange Zeit. Kleines Miststück. Wie er das mochte. Sein Herz trommelte, seine Gliedmaßen zuckten.
Endlich! Die Tür ging auf und gleich wieder zu.
Er holte Luft, stellte sich auf das ein, was kommen würde.
Schritte näherten sich, doch nicht so laut wie zuvor.
Hatte sie die High Heels abgestreift?
Etwas Kaltes berührte seine Haut, diesmal allerdings war es keine Seide. »Was ist das?«, fragte er.
Keine Antwort.
»Was ist das?«, wiederholte er.
Wieder erfolgte die kalte Berührung, an mehreren Stellen seines Körpers. Nein, sicherlich keine Seide. Eine Schnur? Ein Draht?
Was sollte das? Nichts dergleichen war abgesprochen. Wollte sie ihn überraschen? Mit ihm spielen?
»Ich werde brav sein. Versprochen.« Die Worte drangen über seine trockenen Lippen. »Aber sag mir bitte, was das ist.«
Ein Gewicht auf der Matratze. Sie beugte sich zu ihm herunter.
Er lächelte erneut. Doch etwas irritierte ihn. Der Duft. Er kam nicht von ihrem Parfüm, er war viel herber. Ein Aftershave? Vermischt mit …? Der Atem, der auf ihn einströmte, roch widerlich nach Essen, vielleicht ein Cheeseburger, auch nach Bier.
Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich plötzlich auf. Die erwartungsfrohe Hitze in ihm verlosch.
»Was ist los?« Seine Stimme klang schrill.
Erst jetzt spürte er wieder den kühlen Seidenstoff. Blitzschnell wurde er damit geknebelt.
Er strampelte mit Beinen und Armen, doch die Fesseln gaben nicht nach. Er würgte, die Angst quoll als klebriger Schweiß aus seinen Poren. Das Schlimmste war, wie unvorhersehbar die Situation über ihn hinwegschwappte, ihn mitriss.
Das war nicht abgesprochen!
Er schrie, aber der Knebel schluckte seine Stimme.
Greller Schmerz durchzuckte ihn, als würden sich viele winzige Zähne in sein Fleisch verbeißen. Erneut kreischte er vergeblich.
Eine Stimme sagte etwas zu ihm, aber seine Nerven spielten völlig verrückt, er konnte gar nicht zuhören. Von Neuem bissen die Zähne zu, an immer anderen Stellen seines Körpers.
Wer ist das?, fragte er sich hilflos, während die Stimme weiterhin auf ihn einredete.
Wer ist das?
Mara Billinsky stand im Badezimmer vor dem Spiegel, nur mit einem winzigen schwarzen Slip bekleidet. Ihre Augen waren trotz des frühen Morgens bereits von Kajal umrahmt, ihre Lippen dunkelrot nachgezogen, und ihre bleiche Haut leuchtete noch leicht rötlich von der heißen Dusche Minuten zuvor.
In der rechten Hand hielt sie eine große Küchenschere.
Die Badtür war angelehnt. Aus dem Schlafzimmer direkt nebenan drang Erik Nordins leises Schnarchen zu ihr. Mit einem kräftigen Stoß ließ sie die Tür ins Schloss fallen.
Das war ein Moment, der vollkommene Stille erforderte.
Sie sah ihr Spiegelbild an, fast ein wenig misstrauisch, als müsste sie herausfinden, ob sie sich verändert hatte, ohne dass es ihr selbst bewusst geworden wäre.
Ein paarmal ließ sie die Klingen der Schere laut auf- und zuschnappen, dann war es wieder still.
Sie betrachtete die Narbe auf ihrer Wange. Eine Erinnerung an einen Verbrecher, der ihr einen Gasanzünder ins Gesicht gedrückt hatte.
Ihre Nase, klein und spitz. Ihre Augen, dunkel und groß.
Sie wusste, dass sie mit ihrem harten, direkten Blick bei Befragungen selbst abgebrühte Typen in Unruhe versetzen konnte. Und sie wusste ebenso gut, dass nur wenige die Verletzlichkeit kannten, die sie mit dieser Härte zu verbergen versuchte. Hanno Linsenmeyer hatte diese Verletzlichkeit gekannt. Und auch Rafael Makiadi.
So wenige Freunde hatte Mara im Laufe ihres Lebens gefunden, und immer noch konnte sie nicht fassen, dass zwei von ihnen nun tot waren. Dass ihr diese beiden Menschen auf besonders tragische, grausame Weise entrissen worden waren. Das Leben war brutal, ein knallharter Drecksack, es war hinterhältig und unberechenbar.
Seit den Ereignissen im Sommer hatte sich Mara keinen Tag, keine einzige verdammte Stunde freigenommen. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, sie war noch früher als sonst im Büro erschienen, hatte sich vor keiner Extraschicht gedrückt. Das war ihre Art, so war sie, und so wollte sie bleiben. Unveränderbar. Unerschütterlich.
Und dennoch …
Sie hob die Schere an und packte mit der linken Hand entschlossen ihre schwarzen Haare.
Seit sie fünfzehn war, immerhin nun schon etwa die Hälfte ihres Lebens, trug sie die Haare so lang, dass ihr die Spitzen weit über die Schultern fielen.
Erneut wechselte sie einen prüfenden Blick mit der Frau im Spiegel. Die Klingen neben ihrem Kopf funkelten im Licht der Badezimmerlampe. In diesem Moment klingelte ihr Handy.
Nicht einmal eine halbe Stunde später stieg Mara aus ihrem schwarzen Alfa. Sie marschierte auf ein kastenförmiges City-Wohnhaus zu. Unmittelbar dahinter ragten die Bankentürme auf, um die sich graue Wolken schmiegten. Das war eine Frankfurter Top-Lage, die sich wahrlich nicht jeder leisten konnte.
Am offen stehenden Eingang waren uniformierte Polizisten postiert. Sie grüßten Mara mit knappem Kopfnicken. Sie nahm den Fahrstuhl und traf vor der Wohnungstür auf den Beamten des Kriminaldauerdienstes, der sie zuvor angerufen und erste knappe Informationen an sie weitergegeben hatte. Sie kannten sich flüchtig von früheren Ermittlungen, sein Name war Gerber.
Er ließ den Blick betont unauffällig über ihre Haare gleiten, die knapp unter ihren Ohrläppchen endeten. Ein paar kurz entschlossene Schnitte hatten genügt, um eines der hervorstechenden Merkmale der Krähe verschwinden zu lassen. So wurde Mara seit ihrem ersten Tag im Präsidium genannt. Es war ein Spitzname, den sie erst gehasst hatte, der dann jedoch zu einem so prägenden Teil von ihr geworden war, dass sie sich ein Krähenmotiv hatte tätowieren lassen.
Der Beamte machte keine Bemerkung über ihre Frisur. Kein Wunder, Mara ließ sich mit fast niemandem aus dem Kollegium auf private Plaudereien ein.
»Mord«, sagte sie schlicht, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
»Und zwar ein ziemlich brutaler«, bestätigte er.
»Wann und von wem entdeckt?«
»Heute Morgen. Von der Reinigungskraft, die einmal in der Woche die Wohnung in Ordnung bringt«, erwiderte Gerber. »Die arme Frau ist ziemlich geschockt. Und zwar nicht nur wegen der Tat an sich, sondern auch wegen der Kleidung, die der Tote trägt.«
»Ist die Reinigungskraft noch anwesend?«
»Ja, Sie können sie gleich befragen.«
»Vorher will ich den Leichnam sehen.«
»Die Leute von der Spurensicherung sind schon dran.«
»Frühaufsteher, das mag ich«, sagte Mara. »Um wen handelt es sich bei dem Toten?«
»Harald Wilding, Rechtsanwalt. Zweiundfünfzig Jahre, alleinstehend. In juristischen Kreisen wohl recht angesehen. Hobbygolfer. Mehr wissen wir noch nicht.«
»Dann will ich mir den Herrn Anwalt mal anschauen.«
»Übrigens, ich habe eine vielversprechende Nachricht.«
Ein Klingelton unterbrach ihn. Mara zog das Handy aus der Innentasche ihrer abgewetzten, etwas zu großen Motorradlederjacke und wandte sich ein wenig von Gerber ab.
»Kann gerade nicht«, sprach sie kurz angebunden ins Telefon.
»Wohin bist du verschwunden?«, erklang Erik Nordins Stimme mit dem harten schwedischen Akzent.
»Ein neuer Fall.«
»Okay … Aber du weißt, dass wir heute das Meeting haben. Es ist wichtig.«
»Ich brauche keine Sekretärin.«
»Übrigens, dein Kollege Rosen hat auch zugesagt.« Nordin lachte leise. »Obwohl er mich nicht leiden kann.«
»Keine Sorge, ich werde da sein.«
Mara trennte ohne ein weiteres Wort die Verbindung. Nein, Plaudereien waren wirklich nicht ihr Ding. Rasch drehte sie sich wieder zu Gerber um. »Was ist die vielversprechende Neuigkeit?«
»Ich habe mich schon hier im Haus umgehört, und es gibt eine Zeugin.«
»Wofür?« Maras Augenbraue zuckte kurz nach oben. »Doch wohl nicht für die Tat?«
»Nein, natürlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber eine ältere Dame, die ein Stockwerk höher wohnt, kam gerade die Treppe herunter, als Harald Wilding einen Gast in die Wohnung gelassen hat.«
»Eine ältere Dame, die nicht den Aufzug nimmt?«
»Sie traut den Dingern nicht und ist offenbar stolz darauf, dass sie äußerst rüstig ist. Hat sie in dem kurzen Gespräch gut vierzigmal erwähnt. Auch sie steht Ihnen für eine weitere Befragung zur Verfügung.«
»Wann hat Wilding den Gast empfangen?«
»Gestern Abend.«
Wieder zuckte Maras Augenbraue. »Ist der Todeszeitpunkt schon zu erahnen?«
Gerber nickte. »Gestern Abend oder gestern Nacht, da gibt es angesichts der Temperatur des Leichnams und seines allgemeinen Zustands keinen Zweifel, der Experte von der Spurensicherung ist sich sicher.«
»Wen hat die Zeugin gesehen?«
Gerber grinste anzüglich. »Sie hat über den Besuch die Nase gerümpft, so viel steht fest.«
»Machen wir kein Quiz draus, Kollege. Wen hat sie gesehen?«
Goyo
Als ich vier war, sah ich meine ersten Leichen. Sie saßen ohne Kopf auf Campingstühlen am Straßenrand. Was für ein Anblick!
Im Laufe der Jahre kamen immer mehr dazu. Sie hingen von Brücken. Sie lagen erschossen in Rinnsteinpfützen. Sie starrten mit leeren Augen aus zerbombten Autowracks.
Ich nannte sie immer meine Leichen, weil ich sie seither mit mir herumschleppen musste. Sie klebten an mir wie Schlamm an den Schuhsohlen. Das Gute ist flüchtig, das Böse bleibt. So war es schon immer, oder etwa nicht?
Ich erinnerte mich oft an die Toten und auch an die Stimmung, die im Viertel herrschte. Es gab durchaus Tage voller Fröhlichkeit. Es gab die Rufe der Marktverkäufer, die Lieder der Mariachi-Gruppen und das Lachen junger Frauen. Es gab Ruhe und Frieden, vor allem aber eine unterschwellige Angst, die die Leute dazu brachte, sich selbst bei Festen unablässig zu bekreuzigen. Es gab Tage, an denen etliche Schüsse fielen. Tage voller Schmerzensschreie und Polizeisirenen.
Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich der Stille misstraute und beinahe schon darauf wartete, dass es losging. Dass irgendwo jemand den Abzug drückte und die Ruhe zerfetzte. So saß ich da, seltsam konzentriert, schon von Anfang an ein Freund der Stille.
Niemand achtete auf mich. Und niemand kannte meine Augen, weil ich den Blick ständig gesenkt hielt. Ich muckte niemals auf, ich war schüchtern und verschlossen. Aber trotzdem bekam ich vieles mit. Später lernte ich, wann der Moment gekommen war, den Blick zu heben.
Nein, eine Person kannte meine Augen, und das warst natürlich du, liebe Ximena.
Mein kleiner, großer Goyo, hast du immer zu mir gesagt und mir liebevoll übers Haar gestrichen. Ich mochte es, wenn du mich bei meinem Spitznamen nanntest. Goyo. Das hörte sich toll an. Es klang nach jemandem, der hilfsbereit und gutherzig war. Nach einer Person, die einen Platz im Leben hatte.
Wie schön es war, wenn wir nur zu zweit waren in den engen Mauern unseres alten, hellgelb getünchten Hauses. Scheinbar allein auf der Welt, du und ich. Du hast mir heiße Schokolade zubereitet. Du hast mich liebkost und geneckt. Ich mochte jeden einzelnen Tag mit dir, ich mochte alles an dir. Nur nicht, wenn du mir Mädchenkleider angezogen hast, liebe Ximena. Dann haben wir Picknick gespielt und so getan, als würden wir Tee aus den kleinen Spielzeugtassen aus billigem Plastik trinken.
Kamen Leute zu dir, mussten wir natürlich damit aufhören. Dann bist du mit ihnen durch die Hintertür nach draußen gegangen. Ich zog mich schnell um, das Gesicht feuerrot, unsicher, ob sie mich in der Bluse und dem geblümten Rock gesehen hatten. Und schließlich folgte ich euch, um zuzuschauen, du hattest nichts dagegen.
In unserem Hinterhof, umgeben von einer hohen Steinmauer, stand die fast zwei Meter große Skelettnachbildung mit der schwarzen Robe. Gefertigt aus Holzstäben, mit einem Totenkopf, von dem ich immer annahm, es sei ein echter. La Santa Muerte. Der heilige Tod. Dir überreichten die Leute zerknitterte Geldscheine, dem heiligen Tod aber brachten sie Gaben, die sie ehrerbietig zu seinen Füßen ablegten. Äpfel, Zigaretten, Lutscher, manchmal ein Fläschchen Tequila.
Du hast gebetet, liebe Ximena, und für mich gab es keine schönere Musik auf der Welt als deine Stimme.
Auch die Leute lauschten jedes Mal andächtig mit geschlossenen Augen. Konnten sie noch mehr Geld erübrigen, wurde unter dem Kessel des Blutes ein Feuer entzündet. Nganga. So nanntest du den Kessel.
Wenn die Flammen züngelten, bildete sich ein richtig übler Gestank. Aber keiner störte sich daran.
Doch, einer störte sich daran. An allem störte er sich.
Rodrigo.
Selbst Jahre später hatte ich manchmal Albträume von ihm.
Albträume von Rodrigo.
Inzwischen war es Mittag und noch immer recht kühl. Die Wolkendecke über Frankfurt hatte Risse erhalten. Ein paar schwache Sonnenstrahlen kämpften sich bis zum Polizeipräsidium durch, einem sechsstöckigen Klotz, der an Festungen aus früheren Jahrhunderten denken ließ.
Die ersten achtundvierzig Stunden spielten bei einer Mordermittlung eine entscheidende Rolle. Spuren waren noch frisch, die Erinnerungen möglicher Zeugen ebenfalls. Mara war sich dessen nur allzu bewusst, als sie mit eiligen Schritten dem langen Gang folgte, zwischen debattierenden Kollegen hindurch, vorbei an scheußlichen Drucken in alten Rahmen.
Sie erreichte die geschlossene Bürotür, klopfte an und stürmte hinein, ohne eine Aufforderung zum Eintreten zuzulassen.
Hauptkommissar Rainer Klimmt saß am Schreibtisch und riss bei ihrem Überfall den Kopf hoch. Sein Blick verfinsterte sich. »Können Sie nicht wenigstens ein einziges Mal warten, bis ich …« Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen in der Luft hängen. Er starrte auf ihre kurzen Haare, aber wie auch Kollege Gerber verzichtete er auf einen Kommentar. »Ach vergessen Sie’s«, meinte er nur. »Setzen Sie sich.«
Mara schloss die Tür und nahm Platz. Bevor sie etwas sagen konnte, übermannte ein Hustenanfall den Hauptkommissar. Er sah mitgenommen aus, hatte zudem an Gewicht eingebüßt. Vor Kurzem war er aus gesundheitlichen Gründen zu einer Auszeit gezwungen gewesen, ohne dass irgendwer im Präsidium Genaueres erfahren hätte. Wie Mara wurde Klimmt ebenfalls niemals auf Privatangelegenheiten angesprochen.
»Ich glaub, ich bin erkältet«, brummte er und warf ein Papiertaschentuch in den Mülleimer. »Scheißherbst.«
»Ich mag den Herbst.«
»Na klar, Sie sind sogar beim Wetter anderer Meinung, was?«
Statt einer Antwort grinste sie ihn nur an. Anfangs hatten sie dienstliche Scharmützel ausgetragen, mittlerweile herrschte zwischen ihnen eine knurrige Verbundenheit, die nicht nur den Rest der Abteilung, sondern wohl auch sie beide überraschte.
»Bringen Sie wenigstens erste Ergebnisse mit, Billinsky? Ich meine den Mord an dem Rechtsanwalt, über den mich die Kollegen in Kenntnis gesetzt haben.«
»Schon klar, was Sie meinen.« Mara schlug ein Bein übers andere, sodass einer ihrer staubüberzogenen Doc-Martens-Stiefel zum Vorschein kam. »Trotz der relativ kurzen Zeit haben wir einige Punkte zusammengetragen, die von Bedeutung sein könnten.«
»Nämlich?«
»Durch den Terminkalender des Ermordeten wissen wir, dass er sich einmal pro Woche, immer am selben Tag, immer um dieselbe Zeit in seiner Wohnung mit Kim getroffen hat.«
»Ein digitaler Kalender, nehme ich an.«
»Nein, ein guter alter Moleskine-Block. Auf digitalem Wege haben wir nichts über Kim gefunden, weder im Handy noch auf seinem Laptop. Aber die geschriebene Notiz wiederholt sich Woche für Woche: Kim, 21.00 Uhr. Jedes Mal am Mittwoch. Also auch gestern. Ich gehe demzufolge von einem bereits recht lange bestehenden Agreement aus.«
»Warum notierte er sich das, wenn es doch regelmäßig war?«
»Er hat sich sämtliche Termine aufgeschrieben, auch die digital erfassten, wie zum Beispiel wöchentliche Status-Calls mit Kollegen. Vielleicht war er vergesslich oder einfach nur ein exzessives Ordnungstier wie unser Rosen.«
»Apropos Rosen. Er könnte sich doch mal …«
»Schon geschehen, Chef.« Sie winkte ab. »Er ist dabei, die gesamte digitale Welt des Toten gründlich zu durchleuchten. Deshalb weiß ich ja, dass Kim dort nicht auftaucht. Das habe ich als Erstes checken lassen.«
»Kim?«, wiederholte Klimmt betont. »Mann oder Frau?«
»Eher eine Frau.«
»Lebenspartnerin, Affäre oder Nutte?«
»Letzteres.«
»Warum so sicher?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Weil eine Nachbarin gestern Abend gesehen hat, wie der Rechtsanwalt eine Frau empfangen hat. Eine junge, attraktive Frau. Die Nachbarin hat sie sofort erkannt als – Achtung, Zitat – eine, die dem horizontalen Gewerbe angehört.«
»Die letzte Person, die den Anwalt lebend gesehen hat. Ist das die Annahme?«
»Korrekt.«
»Wie hieß er eigentlich?«
»Harald Wilding. Experte für Strafrecht. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Er schüttelte den Kopf. »Nee. Und ich dachte immer, ich kenne alle diese Vögel.«
»Übrigens ein Vogel mit dem Hang zu bizarren Freuden, wenn ich daran denke, wie er aufgefunden worden ist. Er trug nichts am Leib außer knallroter Frauenunterwäsche. BH, Stringtanga und halterlose Strümpfe.«
»Ach du Scheiße!« Klimmts Gesichtsausdruck zufolge war er keineswegs ein Anhänger bizarrer Freuden.
»Wilding war geknebelt und mit Händen und Füßen am Bett fixiert. Diese Fesselungen sind eher freiwillig erfolgt, aber auch das ist bisher nur eine Annahme. Und erst recht ein Grund, warum ich Kim als Prostituierte einstufe.«
Der Hauptkommissar runzelte die Stirn. »Diese Fesselungen. Sie betonen das, als gäbe es noch Weiteres in der Art.«
»Sein Körper war umwickelt worden.«
»Umwickelt?«
»Man hat ihn zu einem hübschen Päckchen verschnürt. Allerdings nicht mit einer Kordel oder Schnur, sondern mit Stacheldraht.«
Klimmt machte große Augen »Was?«
»Richtig gehört, Chef. Die Stacheln sind über einen Zentimeter lang. Harald Wilding ist wieder und wieder mit mehreren langen Drahtstücken umschlungen worden, von den Knöcheln bis zum Brustkorb. Die Drahtstücke hat man fest angezogen, sodass jeder einzelne Stachel Schaden anrichten konnte. Es muss eine lange und aufwendige Prozedur gewesen sein.«
»Aber doch wohl keine tödliche.«
»Nein, irgendwann hat man den Mann erlöst und ihm eine scharfe Messerklinge durch die Kehle gezogen.«
»Hat der Täter sonst noch etwas zurückgelassen? Ich meine, außer dem Draht. Den hat er doch mitgebracht, oder?«
Mara nickte. »Davon gehe ich aus, klar. Aber sonst ist nichts gefunden worden, was auf ihn oder sie schließen lässt.«
»Fingerabdrücke, DNA-Spuren?«
»Die Kollegen sind noch nicht mit der Auswertung fertig.«
»Ist der Stacheldraht irgendwie, hm, auffällig?«
»Gängige Ware, in jedem Baumarkt erhältlich. Zwei Drahtstränge aus verzinktem Stahl, die miteinander verdrillt sind.«
Klimmt musste die Informationen wohl erst einmal in sich aufnehmen und starrte aus dem Fenster. Die grauen Wolken hatten sich wieder verkeilt, von der Sonne war nichts mehr zu sehen.
»Billinsky, erinnern Sie sich auch nur an ein einziges Tötungsdelikt, das Ähnlichkeiten dazu aufgewiesen hätte?«
»Nein, an kein einziges.«
»Ich auch nicht. Stacheldraht …« Er schüttelte den Kopf.
Maras Handy klingelte. Sie betrachtete das Display und nahm den Anruf entgegen. »Hi, Rosen, gibt’s schon was Neues?«
Während Klimmt sie anschaute, hörte sie Rosens spröder Stimme zu: »Wir haben Harald Wildings E-Mail-Account und sein Handy vollständig überprüft und dabei auch schon Jahre zurückliegende Kommunikation durchforstet. Wir wissen ohne Zweifel, wer Kim ist.«
»Sehr gut, Rosen.« Nachdem er ihr die Details durchgegeben hatte, beendete sie das Gespräch. Sie sah über den Schreibtisch hinweg zu Klimmt und sagte: »Die Annahmen waren richtig. Und zwar beide.«
»Welche?«
»Erstens, Kim ist eine Frau. Und zweitens, Kim ist eine Prostituierte.«
»Das heißt …«
»Dass ich mir Kim vorknöpfen werde.«
Mara drosselte die Geschwindigkeit ihres Alfas, allerdings bei Weitem nicht genug, weshalb sie bei ihrem schwungvollen Einparkmanöver seitlich an einem Stromkreisverteiler vorbeischrammte. Ein weiterer Kratzer im schwarzen Lack ihres mittlerweile ziemlich ramponierten Wagens.
Sie überprüfte den Schaden nur mit einem beiläufigen Blick und ärgerte sich nicht einmal sonderlich darüber. Vielleicht war das sogar ein gutes Zeichen. Es bewies ihr, dass sie nach den Todesfällen von Hanno und Rafael ihr gewohntes Lebenstempo zurückgewann, sich nicht mehr ausbremsen ließ. War das Überlebenswille oder einfach nur Trotz? Oder beides?
Sie checkte ihr Handy und stellte fest, dass sie per E-Mail einen ersten Bericht von der Spurensicherung erhalten hatte. Sie las ihn zufrieden durch, schaute sich um und ging los. Der Sandweg war eine schnurgerade, leicht ansteigende Straße. Keine so teure Wohngegend wie im Falle von Harald Wildings Domizil, aber alles andere als günstig. Mara wusste das, sie wohnte selbst nicht weit entfernt.
Vor einem weißen Wohnblock blieb sie stehen. Im Erdgeschoss gab es einen Thai-Imbiss, direkt daneben befand sich die Eingangstür, die zu den Wohnungen in den fünf oberen Stockwerken führte. Sie las die Klingelschilder und stieß auf den Namen, den sie suchte.
Sie läutete zweimal. Dreimal, viermal. Keine Reaktion.
Genervt stieß sie einen leisen Fluch aus.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein knapp sechzigjähriger Mann mit einem Pudel an der Leine trat ins Freie.
»Kennen Sie die Frau, die in der dritten Etage wohnt?«
Misstrauisch musterte er Maras Piercing an der Oberlippe, ihre schwarze Kleidung. »Wüsste nicht, was Sie das angeht.«
Sie zeigte ihren Dienstausweis. »Also: Kennen Sie sie?«
»Nicht gut, aber ja, ich kenne sie.« Der Hund begann, an Maras Doc Martens zu schnüffeln und wurde weggezogen. »Sie ist immer sehr freundlich und hilfsbereit. Eine ruhige Nachbarin. Wir plaudern manchmal ein wenig.«
»Wissen Sie, wo sie jetzt gerade ist?«
»Um diese Zeit wird sie am Main sein, in der Nähe des Eisernen Stegs. Da macht sie immer ihren Spaziergang mit Gerd.«
»Ist das ihr Freund?« Mara hob eine Augenbraue. »Oder hat sie auch einen Hund?«
Der Mann lachte. »Nein, beide Male falsch geraten.«
»Wer ist es dann?«
»Nun ja, das werden Sie schon sehen, wenn Sie sie finden.«
Kaum zwanzig Minuten später bugsierte Mara ihren Alfa in eine enge Parklücke in direkter Nähe zum Fluss, diesmal ohne dem Wagen eine Schramme zu verpassen. Sie folgte der Uferpromenade, die an dem trüben Herbstnachmittag von recht wenigen Leuten aufgesucht wurde.
Im Gehen hielt sie Ausschau nach der Frau, deren Internet-Website sie sich dank Rosens Informationen aufmerksam angeschaut hatte, vor allem die Fotos. Da war auch eine Handynummer angegeben, doch bei mehreren Anrufen war Mara nur auf einer Mailbox gelandet, und sie hatte bewusst darauf verzichtet, eine Nachricht zu hinterlassen.
Es dauerte nur eine Viertelstunde, bis Mara sie erblickte. Knallenge Jeans, die den Po betonten, lässige hüftlange Jacke, weiße Sneaker von Nike. Die langen blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie schob einen Rollstuhl, in dem ein Mann saß.
Mara verfolgte die beiden eine Weile, um sich unauffällig ein erstes Bild von der Frau zu machen, die als Kim im Terminkalender des Opfers auftauchte. Sehr attraktiv. Tolle Figur, hochgewachsen. Eines dieser weiblichen Wesen, die allein schon mit ihrem wiegenden Gang die Blicke der Männer auf sich zogen. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, wie Mara von Rosen wusste.
Unvermittelt tauchte Mara dicht neben den beiden auf. »Hallo, Kimberly!«
Die Frau blieb abrupt stehen und stoppte den Rollstuhl. »Bitte?«
»Sie sind doch Kimberly, oder? Und Sie werden wahrscheinlich oft Kim genannt.«
Die blauen Augen in dem perfekt oval geformten Gesicht mit hohen Wangenknochen taxierten Mara feindselig. »Wer sind Sie?«
Sie wedelte kurz mit dem Dienstausweis. »Kommissarin Billinsky. Und Ihr richtiger Name ist Darina Ivanova, wie ich in Ihrer Akte lesen konnte.«
»Akte«, wiederholte die Frau abfällig. »Das klingt, als wäre ich eine Schwerverbrecherin.«
»Na ja, Sie haben immerhin mal mit Drogen gedealt. So was bleibt an einem hängen.«
»Ein bisschen was verkauft, ansonsten Eigenbedarf, das ist alles. Kleinkram. Ich war echt keine Dealerin.«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
Die Blonde verzog ihre vollen Lippen, willigte aber ein, Mara zu einer sauber gemähten Rasenfläche ein Stück abseits des asphaltierten Weges zu folgen, auf der im Sommer Spaziergänger saßen und die Sonne genossen. Hier konnten sie sich ungestörter unterhalten.
Der Mann im Rollstuhl hatte bislang keinen einzigen Ton geäußert. Er saß in sich zusammengesunken, und es war schwer einzuschätzen, ob er Maras Auftauchen überhaupt registriert hatte. Er hatte einen wild wuchernden Schnauzbart wie Hauptkommissar Klimmt, trug eine tief in die Stirn gezogene Wollmütze, eine Hornbrille mit dicken Gläsern und einen Anorak, in dem er nahezu versank. Sein Blick schien keine der beiden Frauen wahrzunehmen, ebenso wenig die Umgebung.
»Das ist Gerd, nehme ich an«, sagte Mara.
Darina Ivanova nickte.
»Können wir in seiner Anwesenheit sprechen?«
»Müssen wir wohl.« Mit einem bitteren Lächeln fügte die Frau hinzu: »Er kann es sowieso niemandem weitererzählen …«
»Ein Verwandter? Ein Freund?«
Sie schüttelte mit dem Kopf. »Ich bin ehrenamtliche Helferin und kümmere mich um Menschen wie ihn. Menschen, die Zuwendung brauchen.«
»Wenn es ehrenamtlich ist, wie verdienen Sie Ihr Geld?«
»Das wissen Sie doch, sonst hätten Sie mich nicht Kim genannt. Außerdem sehen Sie mich so abwertend an, das kenne ich. Wenn die Leute erst mal wissen …«
»Nicht abwertend, sondern prüfend. Ich muss mir ein Urteil über sie bilden. Je mehr sie mir erzählen, desto zutreffender wird es ausfallen.«
Darina schwieg.
»Bei der erwähnten Drogengeschichte sind Ihre Fingerabdrücke genommen worden. Tja, und die sind nach einem Abgleich nun wieder aufgefallen.«
Darina schwieg erneut.
»Wollen Sie nicht wissen, in welchem Zusammenhang?«
»Nein.«
Mara bedachte Gerd mit einem Seitenblick. Er saß noch immer völlig unverändert im Stuhl. An seinen Lippen hing Sabber. Dann nahm sie wieder die hübsche junge Frau ins Visier. »Wo waren Sie gestern Abend, ab 21 Uhr?«
»Zu Hause.«
»Allein?«
»Allein.«
»Kennen Sie Harald Wilding?«
»Warum sollte ich Ihnen das sagen?«
»Weil es Ihren Arsch retten könnte. Falls der noch zu retten ist.«
Darina musterte sie. »Sie sind wohl keine gewöhnliche Polizistin, oder?«
»Und was sind Sie? Eine gewöhnliche Prostituierte? Eine Edelprostituierte? Ein Call- oder Escort-Girl? Wie bezeichnen Sie sich?«
»Als Entertainerin.«
»So was in der Art bin ich auch. Zurück zu Wilding. Er ist einer Ihrer Stammkunden, das ist mir längst bekannt. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Ich gebe keine Auskünfte über meine geschäftlichen Bekannten.«
»Sie sind gestern Abend gesehen worden, als er Sie in seiner Wohnung empfangen hat.«
»Na und?«
»Harald Wilding ist ermordet worden«, sagte Mara schlicht. »Irgendwann zwischen 21 Uhr und den frühen Morgenstunden.«
Darinas ohnehin schon abweisende Miene versteinerte sich. Ihre prägnanten Wangenknochen wirkten wie aus Granit.
»Die ersten Auswertungen der Spurensicherung sind ziemlich interessant«, fuhr Mara betont gelassen fort. »Auf dem Bettgestell in Wildings Schlafzimmer wurden Ihre Fingerabdrücke gefunden. Außerdem einzelne lange blonde Haare. Wir wissen beide, was ein Abgleich dieser Haare mit Ihrem Kopfhaar ergeben wird, oder?«
»Na und?« wiederholte Darina in eisigem Tonfall. »Ich war dort. Mehr als einmal. Das macht mich nicht zu einer Mörderin.«
»Wie lange haben Sie sich in der Wohnung aufgehalten?«
»Zwei Stunden. Wie jedes Mal.«
»Und dann?«
»Bin ich nach Hause gegangen. Was sonst?«
»Und da hat Wilding noch gelebt?«
»Na klar.«
»Hatten Sie Ihr Handy dabei?«
Darinas Augen verengten sich. »Wieso?«
»Weil man damit ein Bewegungsprofil von Ihnen erstellen kann. Sie verstehen schon, wann und wo Sie um welche Uhrzeit waren.«
Die junge Frau kaute auf ihrer Unterlippe und sah an Mara vorbei.
»Liefen die Termine bei Harald Wilding immer nach demselben Muster ab?«
Ein blitzschneller Blick schoss in Maras Richtung. »Wie meinen Sie das?«
»Beschreiben Sie, was zwischen Ihnen beiden passierte. Ihre Dienstleistung.«
Darina holte Luft. »Noch mal: Ich gebe keine Auskünfte über meine geschäftlichen Bekannten.«
»Er ist tot und wird es Ihnen kaum übel nehmen«, meinte Mara.
Nach einem kurzen, mit Blicken geführten Duell sagte Darina bestimmt: »Ich verweigere die Aussage.«
»Dann nehme ich Sie mit.«
»Wohin?«
»Dreimal dürfen Sie raten.«
Darina wies auf den Mann im Rollstuhl. »Und was ist mit Gerd?«
»Bringen wir ihn nach Hause.« Mara sah sie herausfordernd an. »Und dann begleiten Sie mich in unser wunderschönes Präsidium.«
Goyo
Wenn Rodrigo gegen Abend von der Arbeit zurückkam, brannte kein Feuer mehr unter dem Kessel im Hinterhof. Der Gestank hatte sich dann auch verflüchtigt, und La Santa Muerte war mit einer alten Decke verhüllt.
Und der Klang deiner Stimme war dann ein anderer, liebe Ximena.
Ich sprach dich mit deinem Vornamen an, jedenfalls in Gedanken, nicht mehr mit Mama oder Mutter. Wir waren so vertraut miteinander. Immer schon, nicht wahr? So sehr, dass wir es schafften, uns in Rodrigos Gegenwart nur durch Blicke zu verständigen, ohne dass er es mitbekam.
Erst recht seit Santiago nicht mehr da war und sich Rodrigos unberechenbare Wut nur noch gegen uns beide richtete.
Dieser glühende Zorn, der ein Teil von ihm war, wie seine Arme oder seine Beine. Genährt von der Enttäuschung, es zu nichts gebracht zu haben und sich mit seinen Gelegenheitsjobs kaum über Wasser halten zu können. In einem Haus zu leben, das eigentlich seiner Frau gehörte, geerbt von den Schwiegereltern, die längst tot waren. Dieser bösartige Versager.
Kein Wunder, dass das Band zwischen uns beiden immer fester wurde, liebe Ximena.
Wir hatten unsere Geheimnisse, stimmt’s? Etwa die Katzen und Hunde. So viele streunende Tiere gab es in unserem Viertel. So unglaublich viele. Ich sah dir zu, wie du ihnen die Kehle durchgeschnitten hast.
Jedes Mal, wenn es wieder so weit war, war ich total aufgeregt. Ich wollte es selbst tun, aber du erklärtest mir, das hätte noch Zeit. Eines Tages würdest du mir alles zeigen und mich in alle deine Geheimnisse einweihen. Das war dein Plan, damals, in diesem anderen Leben.
Die toten Katzen und die toten Hunde. Ich sah sie später noch häufig vor mir, und ich holte mir immer wieder ins Gedächtnis zurück, wie es sich anfühlte, mit den Fingern über ihr räudiges Fell zu streichen. Manchmal meinte ich, ich könnte noch ihren Herzschlag spüren, aber das war natürlich Unsinn. Wenn man tot war, war man tot, oder etwa nicht?
Wie oft bin ich schon einen dieser langen Gänge im Präsidium entlanggestürmt?, fragte Mara sich bei einem Blick zur Uhr auf ihrem Handy. Wie oft schon war sie zu spät zu Meetings erschienen? Immer in Eile, immer angetrieben, doch auf eine verrückte Art mochte sie an ihrem Job genau das: dieses Gefühl, in ein Gewässer gerissen zu werden und wild strampeln zu müssen, um nicht unterzugehen. Je unvorhersehbarer der Alltag war, desto mehr hatte sie das Gefühl, lebendig zu sein.
Auch jetzt war Mara eine Viertelstunde über der verabredeten Zeit. Und wenn schon, sagte sie sich stumm, als sie die Tür zum Besprechungsraum aufstieß.
Erik Nordin saß am Kopfende der Tafel und starrte ihr ungeduldig entgegen. »Dachte schon, du kommst nicht.« Er wirkte konzentriert und bedachte ihr kurzes Haar nur beiläufig.
Wortlos nahm sie Platz. An die Fensterscheiben prasselten erste Tropfen eines herbstlichen Schauers.
»Wo warst du denn?«, schnarrte er.
»Im Gegensatz zu Klimmt bist du nicht mein Boss, merk dir das.« Sie spießte ihn mit einem vernichtenden Blick aus ihren schwarzen Augen auf. »Aber ich sag’s dir trotzdem: in einer scheißwichtigen Befragung mit einer Frau, die Verdächtige in einem Mordfall ist.«
»Polaris ist wichtiger«, erwiderte er lapidar und fuhr sich über sein militärisch kurz geschnittenes weißblondes Haar.
»Erzähl das mal Klimmt. Für dich existiert nur Polaris, ich muss mich aber auch um anderen Kram kümmern. Und seit Rosen zu den Cybercrime-Nerds gewechselt ist, hab ich noch nicht mal einen Teampartner.«
»Stichwort Rosen«, nutzte Nordin die Bemerkung, um die Diskussion nicht noch hitziger werden zu lassen. »Er verspätet sich ebenfalls. Hat mir eine kurze E-Mail geschickt.«
»Ich hatte keine Zeit, dir eine Scheiß-E-Mail zu schicken.«
»Würde ich für jedes Mal, wenn du Scheiße sagst, einen Schnaps kriegen, wäre ich konstant betrunken.«
»Lass uns anfangen«, sagte sie. »Mit deinem Scheiß-Polaris.«
»Er ist unser Polaris.« Nordins kantiges Gesicht zeigte ein sanftes Grinsen, mit dem er offenkundig die Atmosphäre entgiften wollte. Er war ein kräftiger, knochiger Mann, der Wert auf Training legte, und zudem sehr groß gewachsen: Neben der zierlichen, eher kleinen Mara wirkte er wie ein Riese.
Sie gehörten beide einer internationalen Ermittlertruppe an, die damit betraut war, Polaris zu stellen, einen im Verborgenen agierenden Verbrecher. Und die dabei bislang gescheitert war.
So hatten sie sich kennengelernt, Billinsky und Nordin, zuerst als berufliche, dann auch als private Partner. Sie hatten eine Beziehung, wie bald schon getuschelt wurde. Mara war dieses Wort unheimlich. Sie fühlte sich verfolgt und in die Enge getrieben von der Beziehung, traute der wohligen Zweisamkeit, nach der sich alle anderen sehnten, nicht über den Weg. Immer schon hatte sie damit ihre Schwierigkeiten gehabt.
Jetzt wohnte der Schwede sogar bei ihr, wachte morgens mit ihr auf, trank den Frühstückskaffee mit ihr. Keine Frage, bisweilen genoss sie seine Anwesenheit, weil er zweifellos etwas hatte, das sie gewaltig anzog – und gleichzeitig traute sie dem Braten nicht. Beziehung. Wirklich? Die Krähe?
»Sorry, war nicht so gemeint, ich wollte dich nicht sauer machen«, sagte Nordin mit einem versöhnlichen Blick aus seinen eisblauen Augen.
»Ich bin nicht sauer, nur nachdenklich.«
»Ich will dich auch nicht unter Druck setzen.«
»Sehr witzig. Wegen Polaris würdest du auch den lieben Gott unter Druck setzen.«
»Wundert dich das? Bei einem Einsatz gegen diesen Mann ist meine Frau gestorben«, antwortete er. Unnötigerweise. Wenn jemand die Geschichte kannte, dann war es Mara.
»Die dich verlassen wollte.« Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie über die Stuhllehne. »Wir hatten den Punkt bereits. So etwa dreihundertmal.«
»Ich musste mich vor Gericht verantworten, weil es hieß, ich hätte sie erschossen.« Wie immer, wenn es um dieses Thema ging, kam eine bedrohliche Schärfe in seine Stimme. Als könnte er jeden Moment unkontrolliert mit den Fäusten um sich schlagen. »Meine Karriere stand auf dem Spiel. Wegen dieses Einsatzes. Wegen Polaris.«
»Auch den Punkt hatten wir schon«, entgegnete sie mit ähnlicher Schärfe.
Kurz zuckte es verärgert in seinem Gesicht, dann sah sie ihm an, dass er sich beherrschte und sich wieder zu konzentrieren versuchte.
»In Paris hält man sich bedeckt, ob es für Colette einen Nachfolger geben wird«, sagte er.
Colette Pelletier war ebenfalls Teil der internationalen Truppe gewesen, jedoch als Verräterin entlarvt worden, die Polaris vertrauliche Informationen übermittelt hatte.
»Seit dem Desaster mit Colette hält sich Paris offenbar hinsichtlich der gesamten Ermittlung bedeckt«, kommentierte Mara.
»Nicht so mein Chef.« Nordin hob die Hand, um die eigenen Worte zu unterstreichen. »Lundmark ist entschlossen, uns weiterhin umfassend zu unterstützen.«
»Trotzdem hängt über unserer Einheit das Damoklesschwert, da sollten wir uns nichts vormachen.«
»Umso wichtiger ist es, die Zeit zu nutzen, die wir noch haben«, bekräftigte er erneut. »Wir sind einen gewaltigen Schritt weiter. Wir haben zum ersten Mal eine exakte Beschreibung von Polaris. Wir haben ein Phantombild, das wir für die groß angelegte Öffentlichkeitsfahndung verwenden können, nicht nur hier in Deutschland, auch in Stockholm. Nach wie vor spricht einiges dafür, dass er dort nicht nur Geschäfte betrieben hat. Zumindest ist er lange Zeit dort heimisch gewesen, vielleicht ist er sogar schwedischer Staatsbürger.«
Mara nickte, immer noch mit Skepsis im Blick.
»Wir haben außerdem die Aussage von Tim Bernhard Weller, der für Polaris gemordet hat und nun einer Haftstrafe entgegensieht«, fuhr Nordin fort.
»Wirklich neue Informationen kamen durch Weller nicht hinzu. Polaris versteht es, selbst für seine engen Mitarbeiter ein Geheimnis zu bleiben.« Anspielungsreich fügte sie hinzu: »Sogar für die, mit denen er schläft.«
»Ja, auch durch Colette wissen wir noch zu wenig. Aber wenn sie erst bereit ist, den Mund richtig aufzumachen …«
»Das ist sie jetzt schon«, fiel Mara ihm ins Wort. »Das Dumme ist nur, dass auch sie nichts weiß, was uns direkt zu Polaris’ Türvorleger führt. Es ist umso bemerkenswerter, dass er jemanden wie Colette, die nicht auf den Kopf gefallen ist, für seine Zwecke einspannen konnte, ohne neue Details über seine Identität preiszugeben. Er hat auch eine erfolgreiche Geschäftsfrau wie Tessa Steinberg mühelos um den Finger gewickelt, und die ist alles andere als naiv.«
»Tja, ein Typ, auf den die Frauen stehen«, brummte Nordin, dann sah er auf. »Übrigens, einen Hinweis, den wir von Colette erhielten, habe ich dir noch nicht mitgeteilt. Sie ist mehrfach auf die Buchstabenkombination TBH gestoßen. Es ging offenbar um eine Reihe von Treffen, die Polaris mit TBH abgehalten hat oder abhalten wollte.«
»TBH? Ein Mann, eine Frau, eine Firma?«
»Keine Ahnung.«
Es klopfte leise an der Tür, und Jan Rosen trat ein. Seine schütteren Haare waren von einem fast so hellen Blond wie die des Schweden, aber sonst gab es kaum Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern, nicht nur was die Äußerlichkeiten betraf.
Rosen näherte sich auf gewohnt bescheidene, beinahe schüchterne Art. Er trug einen seiner bunten Pullover, die er zeitweise aufgegeben und auf die er dann doch wieder zurückgegriffen hatte. Heute war es ein türkisfarbener. Abrupt blieb er stehen. Mit großen Augen betrachtete er Mara. »Du warst beim Friseur!«, entfuhr es ihm, mindestens so verdutzt, als wäre sie in ein rosa Kleid mit Blümchenmuster geschlüpft.
»Setz dich doch einfach hin, Rosen«, lautete ihre Antwort.
Er nahm Platz und entschuldigte sich brav für sein Zuspätkommen.
»Danke für deine Unterstützung auf digitaler Ebene, Kollege.« Nordin maß ihn mit einem Blick. »Das hilft uns sehr.«
»Freut mich«, murmelte Rosen verlegen und sortierte eine Menge Blätter, auf denen er seine ausgedruckten Notizen gesammelt hatte. »Ich untersuche nach wie vor die Geldströme, die aus Firmen, mit denen Polaris in Zusammenhang steht, in alle Welt fließen.«
Der Regen ließ nach, auf den Scheiben schimmerten noch etliche Wasserperlen.
»Da ist eine Menge Kapital in Umlauf, und es geht auch um Geldwäsche«, fuhr Rosen fort. »Wie es aussieht, stößt Polaris seine Firmen in der Regel nach kurzer Zeit wieder ab. Er kauft sie, melkt sie, wirft sie weg. Und zwar atemberaubend schnell, um möglichst wenige Spuren zu hinterlassen, erst recht in der digitalen Welt.«
Maras Handy klingelte. Sie griff hinter sich, um es aus der Jackentasche zu fischen. »Da muss ich drangehen.« Sie wischte übers Display. »Chef, was ist los?«
Sie hörte zu, dann rief sie laut aus: »Was? Das geht jetzt nicht, ich bin mitten im … Was? Okay, okay! Ich mache mich auf den Weg.« Eilig stand sie auf, ließ das Handy wieder verschwinden und schnappte sich ihre Jacke.
»Du kannst jetzt nicht abhauen!«, rief Nordin.
»Doch, ich kann«, antwortete sie und war schon draußen.
Mara marschierte wieder einmal mit ihrem typischen Billinsky-Gang durchs Präsidium, die Ellbogen leicht angewinkelt, den Blick entschlossen nach vorn gerichtet.
Diesmal verzichtete sie aufs Anklopfen und betrat ohne Zögern das Büro des Hauptkommissars, der gerade eine Zigarettenkippe ins Freie schnippte.
»Warum holen Sie mich direkt aus dem Meeting?«, fragte sie. »War das wirklich nötig?«
»Das werden wir gleich feststellen.« Er schloss das Fenster und ließ sich in seinen Drehstuhl fallen. »Sie haben die Verdächtige hierhergebracht, wie ich höre. Wie lief die Befragung mit ihr?«
Mara setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle. »Bin ganz zufrieden. Nicht, dass Darina Ivanova etwas Sensationelles preisgegeben hätte, aber ich hab den Eindruck, dass sie ihr Schweigen nicht durchhalten wird. Ob sie nun die Mörderin ist oder nicht, sie war in der Wohnung des Opfers. Harald Wilding hat sich fesseln lassen, dann kam es zur Tat. Stacheldraht, Mord. Ivanova weiß etwas darüber. Ich werde sie so lange bearbeiten, bis sie den Mund aufmacht. Die meisten halten nicht durch. Es ist nicht so leicht, stunden- oder tagelang zu schweigen, wie sich die Leute das vorstellen.«
Klimmt musterte sie. »Aber was wird da auf einmal gespielt?«
»Gespielt?« Sie machte eine ratlose Geste. »Ich verstehe nicht.«
»Sie wissen es also tatsächlich noch nicht?«
»Was?«
»Ivanova hat jetzt einen Rechtsbeistand.«
»Seit wann?«
»Seit nicht einmal einer Stunde, schätze ich.«
»Na ja, das ist ihr gutes Recht, ich hab sie selbst darauf hingewiesen. Aber ihre Situation wird sich dadurch nicht verbessern.«
»Ich überlege, ob ich Sie von dem Fall abziehe.«
»Was?«, blaffte Mara verblüfft. »Wieso sollten Sie?«
»Hm, schon gut.« Er spielte mit seiner Zigarettenschachtel herum. »Machen Sie erst mal weiter.«
»Warum auch nicht?«
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, und plötzlich verstand sie. »Ah, um ihn geht es also bei diesem Anwalt«, meinte sie.
»Exakt.«
»Aber wie kommt ausgerechnet er dazu, Ivanovas Vertretung zu übernehmen?«
»Fragen Sie ihn das.«
Sie sah vor sich hin. »Scheiße«, murmelte sie.
»Da stimme ich Ihnen ausnahmsweise mal zu.«
Erneut folgte Mara einem der unzähligen Flure, die das Präsidium durchzogen. Neonröhren warfen kaltes Licht, während es draußen dunkel wurde. Sie war nicht auf dem Weg zurück zu dem Meeting mit Nordin und Rosen, sondern wollte einen Herrn treffen, den sie schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen hatte.
Wie gegen Klimmt hatte sie auch gegen ihn eine Art Krieg geführt, allerdings einen deutlich längeren und heftigeren. Doch auch ihm hatte sie sich zuletzt angenähert, ja mehr als das, und in seinem Fall war das für Mara noch unerwarteter gewesen als im Fall des Hauptkommissars.
Er stand vor der geschlossenen Tür eines Besprechungsraums, den er wohl nutzte, um sich mit seiner Mandantin auszutauschen. Wahrscheinlich wartete Darina Ivanova darin ungeduldig auf seine Rückkehr, damit er sie von dem Gespräch mit Mara unterrichten konnte.
Mit demonstrativer Gelassenheit sah Edgar Billinsky dem energischen Auftritt seiner Tochter entgegen. Wie immer war er wie aus dem Ei gepellt, Eleganz in jedem Detail, etwa der jadegrünen Lorenzo-Cana-Krawatte, für die er wahrscheinlich im Vorbeigehen an die 250 Euro hingeblättert hatte.
Nichtsdestotrotz hatten seine Vorliebe für junge Frauen und alten Rum Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, die roten Äderchen auf den Nasenflügeln, die tief eingekerbten Krähenfüße um die Augen und die ungesund wirkende Gesichtshaut, worüber auch der Einsatz einer Höhensonne nicht hinwegtäuschen konnte.
»Ausgerechnet du«, sagte Mara, als sie vor ihm stehen blieb.
»Ausgerechnet ich«, bestätigte er mit einer selbstzufriedenen Nonchalance, die sie früher oft auf die Palme gebracht hatte. »Du bist also nicht von dem Fall abgezogen worden? Das freut mich, Mara.« Er nickte ihr zu. »Ganz ehrlich.«
»Mich freut es weniger, dass du Ivanovas Verteidigung übernehmen musstest«, erwiderte sie spitz. »Ganz ehrlich.«
»Das verwundert mich keineswegs.«
Nur er konnte ein Wort wie keineswegs auf diese Weise betonen. Als würde seine wohlartikulierte Stimme für ein Hörspiel aufgenommen werden.
»Ich dachte, du wolltest kürzertreten und nur noch ausgesuchte oder eher besonders gut gestellte Mandanten annehmen«, sagte sie. »Warum also gerade diese Ivanova, die ich kaum als so zahlungskräftig wie deine sonstigen Klienten einschätze? Oder hat es eher damit zu tun, dass sie ein hübscher Käfer ist, wie du es wahrscheinlich ausdrücken würdest?«
»Es liegt daran, dass ich viel Zeit und ein großes Herz habe.«
»Ich bleibe dabei und vermute, dass dich nicht dein Herz, sondern ein anderes Körperteil mit ihr verbindet.«
Edgar Billinsky schmunzelte. »Mara, du solltest dir solche kindischen Geschmacklosigkeiten abgewöhnen.«
»Ich wette, wenn wir weitersuchen, finden wir dich noch auf Ivanovas Kundenliste.«
»Nur dass wir nicht in einem Wettbüro sind. Es geht um einen Menschen.«
»Wenn du so was sagst, klingt es immer nach irgendeiner schrägen Parodie.«
»Eine komplette Fehleinschätzung von dir. Wie öfter schon, was meine Person betrifft. Aber lassen wir das.« Sein Ausdruck wurde ernster. »Mara, du kannst Frau Ivanova nicht weiter hier festhalten.«
Sie funkelte ihn an. »Und ob ich das kann!«
Es war nach wie vor verwirrend für Jan Rosen, nach Hause zu kommen und seine Wohnung nicht leer vorzufinden. Als hätte er sich in der Tür geirrt.
Tessa Steinberg hielt sich nun oft bei ihm auf. Sie strahlte ihn an und gab ihm zur Begrüßung einen stürmischen Kuss und einen Gin-Tonic. Jedes Zimmer duftete fruchtig-blumig nach ihrem Parfüm, Donna von Acqua di Portofino.
Tessas Temperament irritierte ihn noch immer, ihre sexuelle Energie, ihr lautes Lachen. Doch gleichzeitig spürte er, wie gut sie ihm tat, wie viel von ihrer Lebendigkeit auf ihn abstrahlte.
Sie saßen dann eng auf dem Sofa beisammen, in der Hand hielt er ein Longdrink-Glas, aus dem ein Rosmarinzweig und ein Trinkhalm herausragten. Er erzählte ihr von der Arbeit, und wenn Tessa wieder einmal ihre Abneigung gegen die forsche Art, in der Mara Billinsky ermittelte, betonte, verteidigte Rosen seine Kollegin mit einem sanften Schmunzeln auf den Lippen. Billinsky hatte sein berufliches Leben ähnlich durcheinandergewirbelt wie Tessa sein privates, sie hatte ihm bisweilen gewaltig Tempo gemacht.
Er wechselte aber lieber das Thema und erzählte Tessa, dass er Erik Nordin einfach nicht so recht trauen wollte und ihn nichts mit dem Mann verband.
»Ich nehme an«, sagte Tessa ungewohnt zurückhaltend, »dass Nordin noch immer Polaris hinterherjagt.«
Rosen nickte knapp und ärgerte sich dann doch, den Schweden erwähnt zu haben, denn mit Nordin stand plötzlich gleichzeitig auf seltsame Weise Polaris unsichtbar im Raum.
»Nun mach nicht so ein Gesicht.« Tessa strich ihm über die Wange. »Ich hätte nicht von Polaris anfangen sollen. Denk nicht an ihn. Wenigstens nicht zu Hause, wenn wir zusammen sind.«
»Das ist nicht so leicht. Du warst immerhin mit ihm zusammen.«
Sie bedachte ihn mit einem nachsichtigen Blick. »Ich war nicht mit ihm zusammen. Okay, nennen wir es eine Affäre, eine kurze Schwärmerei. Aber es war nicht …«
»Du warst sehr beeindruckt von ihm.«
»Er hat mich geschäftlich über den Tisch ziehen und sich meine Firma unter den Nagel reißen wollen. Danach hätte ich ihn sowieso nie wiedergesehen. Ich war einsam, orientierungslos. Es war eher die Situation, in der ich steckte, als der Mann an sich.«
»Nach allem, was wir über ihn wissen, ist er ein …« Rosen suchte nach einem passenden Begriff. »Hm, ein anziehender Typ.«
»Das bist du auch«, antwortete sie prompt.
»Mach dich nicht lustig über mich. Was findest du nur an mir? Wenn er so großartig ist, was soll dir dann an mir …«
»Dass du das Gegenteil von ihm bist.«
»Also nicht großartig.«
»Was soll das? Fishing for compliments?« Sie lächelte wieder. »Du sollst dich nicht immer so klein machen, Jan. Du hast Charakter, du bist ehrlich, du bist liebevoll. Alles, was die meisten anderen Männer nicht sind.«
Er wollte etwas erwidern, doch sie drückte ihm den Finger auf die Lippen, stellte ihr Glas ab, nahm ihm auch seines aus der Hand, und dann schlang sie die Arme um ihn, um ihn zu küssen. Sie wurde drängender, begann an seinem türkisfarbenen Pullover zu zerren, an seinem Gürtel, und dann waren sie beide nackt.
Später standen sie nebeneinander in der Küche. Sie waren nicht mehr nackt, hatten sich bequeme Klamotten übergestreift und schnippelten Gemüse für eine Ratatouille.