Schwarzer Schmerz - Leo Born - E-Book
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Leo Born

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Beschreibung

Wer hoch steigt, wird tief fallen - sehr tief ...

In Frankfurt werden gleich mehrere Immobilienmakler grausam ermordet. Fieberhaft suchen Kommissarin Mara Billinsky und Jan Rosen nach dem Mörder, als plötzlich eine Ermittlerin aus Frankreich und ihr schwedischer Kollege um Maras Hilfe bitten. Sie jagen einen vermeintlich seriösen Geschäftsmann - der in Wahrheit eine blutige Spur durch Europa zieht und dabei jede Menge Leichen hinterlässt. Mara "die Krähe" hängt sich an seine Fährte. Noch ahnt sie nicht, was für ein tiefes Geflecht aus Beziehungen und tödlichen Abhängigkeiten der Geschäftsmann bereits gestrickt hat ...

Alles, was sich ein Thrillerherz wünscht: eine starke Kommissarin, Gänsehautmomente und atemlose Spannung - der siebte Fall für die Frankfurter Kommissarin Mara Billinsky

"Autor Leo Born hat eine faszinierende Hauptfigur geschaffen. Wer es in Krimis gerne ein bisschen düster mag, ist hier genau richtig. Das können nicht nur die Skandinavier... (WDR2-Krimitipp zu "Blinde Rache")

"Von der ersten Seite an hat der liebe Leo mich an sein Buch gefesselt und mich bis zum Ende nicht mehr losgelassen. "(angie_molly, Lesejury)

"Lesehighlight! Was für eine geniale Thrillerkost!" (Gina 1627, Lesejury)

eBooks von beThrilled - mörderisch gute Unterhaltung!

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelTeil 1: Himmel aus Stahl1234567891011121314151617Teil 2: Wolken aus Stein1819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061Teil 3: Stadt aus Nebel626364656667686970717273747576777879Teil 4: Turm aus Blut8081828384858687888990919293Über den AutorLeseprobeImpressum

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Über dieses Buch

In Frankfurt werden gleich mehrere Immobilienmakler grausam ermordet. Fieberhaft suchen Kommissarin Mara Billinsky und Jan Rosen nach dem Mörder, als plötzlich eine Ermittlerin aus Frankreich und ihr schwedischer Kollege um Maras Hilfe bitten. Sie jagen einen vermeintlich seriösen Geschäftsmann – der in Wahrheit eine blutige Spur durch Europa zieht und dabei jede Menge Leichen hinterlässt. Mara »die Krähe« hängt sich an seine Fährte. Noch ahnt sie nicht, was für ein tiefes Geflecht aus Beziehungen und tödlichen Abhängigkeiten der Geschäftsmann bereits gestrickt hat …

LEO BORN

EIN MARA BILLINSKY THRILLER

Teil 1

Himmel aus Stahl

 

1

Über Alice Klinger breitete sich der sternenlose Himmel aus. Um sie herum herrschte Stille, die nur vom Rauschen des Windes gestört wurde.

Eine Stille, die in ihrem Inneren geradezu dröhnte.

Sie hatte hoch hinausgewollt, hatte alles für ihren Aufstieg getan. Und jetzt war sie ganz oben. Hilflos kauerte sie acht Stockwerke über der Erde, zwanzig Meter über dem kalten Frankfurter Asphalt. In Sichtweite befand sich der Silberturm, mehr als dreißig Etagen und schwindelerregende hundertsechzig Meter hoch. Höhnisch schien die schimmernde Gebäudenadel auf Alice herabzustarren: das Symbol all dessen, was sie sich erträumt und wofür sie gekämpft hatte.

Sie senkte den Kopf und betrachtete ihren Schuh, bei dem der Absatz abgebrochen war. Als sie über vierhundert Euro für das Paar hingeblättert hatte, war sie von diesem prickelnd befriedigenden Gefühl erfasst worden, wie immer, wenn sie sich solch teuren Kram gönnte. So jung sie auch war, ihr bereits hervorragendes Gehalt war erst kürzlich sogar deutlich angehoben worden. Was nun fehlte, war ein neuer Titel, die nächste Stufe auf der Karriereleiter. Doch auf einmal … es war, als wäre ein Orkan über sie hinweggefegt, ein Monstrum in ihr Leben eingedrungen, um alle Träume bedeutungslos zu machen und ihr hart erarbeitetes Glück zu zerfetzen.

Alice’ Blick wanderte verloren von dem eleganten Schuh zu dem Rock, Teil eines Businesskostüms, seidig, schick, petrolfarben, ebenfalls alles andere als preisgünstig, jetzt allerdings mit dunklen Blutflecken verschmutzt. Ihrem Blut.

Sie spürte nach wie vor die Schmerzen zwischen den Beinen. Immer noch verlor sie Blut, warm verklebte es die Innenseiten ihrer Oberschenkel.

Ein weiterer Windstoß fauchte. Erst jetzt merkte sie, dass sie fror. Vorhin, im Gebäude, war sie noch schweißgebadet gewesen. In diesen qualvollen Minuten, die wie eine Ewigkeit gewesen waren – als die Gestalt urplötzlich aufgetaucht war, sie auf die Schreibtischplatte gedrückt und ihren Slip heruntergerissen hatte. Dieses rote Nichts von einem Höschen, für das sie wohl mehr bezahlt hatte als eine dreiköpfige Durchschnittsfamilie bei einem gemeinsamen Abendessen im Restaurant. Eine Familie wie ihre eigene, deren kleine, enge Welt sie unbedingt hatte hinter sich lassen wollen.

Diese Schmerzen. Ein Feuer brannte in ihr, Flammen züngelten, fraßen sie von innen auf. Es war ein Gefühl, als wäre sie innerlich zerrissen worden.

Was konnte jetzt noch kommen?

Die Stille hier oben wirkte mit jedem Wimpernschlag erdrückender. Alice wurde am Oberarm gepackt und hochgezerrt. Nur ein paar Sekunden hatte sie wohl auf dem Flachdach gelegen, nachdem der Absatz abgebrochen und sie deshalb gestolpert war. Es war ihr viel länger vorgekommen, die Zeit spielte verrückt, nein, in ihrem Kopf spielte alles verrückt. Und in ihr loderte weiterhin dieses gnadenlose Feuer.

Zitternd stand sie da, doch wiederum nur für ein paar flüchtige Momente, dann wurde sie an den Rand des Flachdachs geführt. Sie presste die Lippen aufeinander. Noch einmal spähte sie zum Silberturm. Der Schmerz war plötzlich gar nicht mehr so beherrschend, wie unter einer dicken Schicht aus Watte verborgen. Auch die Kälte hatte sich beinahe aufgelöst.

Nur die Furcht war noch da. Die Furcht und die Stille.

Ihr Slip wurde ihr in die Hand gedrückt. »Zieh das wieder an.«

Sie gehorchte und wäre erneut beinahe hingefallen.

»Knöpf auch deine Bluse zu«, befahl die Stimme, die sie kannte und die ihr doch völlig fremd war. »Du willst doch ordentlich aussehen bei deinem großen Auftritt.«

Wieder kam sie ohne Zögern, fast mechanisch der Anweisung nach. Der elegante Seidenstoff zwischen ihren Fingern fühlte sich auf einmal fremd an.

Weitere Sekunden verstrichen wie in Zeitlupe, vor ihren Augen verschwamm alles.

Sie konnte den Worten kaum folgen, brachte keinen Ton hervor.

»Das war dir immer sehr wichtig, nicht wahr? Deine Optik und große Auftritte zu haben. Heute gehört dir die große Bühne. Ist das nicht wunderbar?«

Sie kam sich ganz klein vor, als wäre sie plötzlich wieder das sechsjährige sommersprossige Kleinstadtmädchen von früher, stockdürr und schwach, unwissend, völlig hilflos.

»Geld und Karriere, das ist alles, was für dich von Bedeutung ist. Big Business, Cashflow, Bonuszahlungen, natürlich alles asap. Kotzt es dich nicht manchmal an, wie oberflächlich dein Leben ist?« Sanft, beinahe mitleidig wurde ihre Schulter getätschelt. »Es spricht nichts dagegen, ehrgeizig und strebsam zu sein. Aber euch allen fehlt es an den wahren Werten, Engelchen. An Reinheit, an Tiefe.«

Alice wurde weiter nach vorn geschoben, sodass sie plötzlich ganz dicht am Rand des Dachs stand. Vom Abgrund trennte sie lediglich eine hüfthohe Betonmauer. Ihr Blick verlor sich in den Weiten der Stadt, die verrückterweise um sie herum zu wogen schien wie die aufgepeitschten Wellen eines Ozeans, dann starrte sie verzweifelt in die Endlosigkeit des dunklen Himmels, der wie polierter Stahl wirkte.

Eine Hand umklammerte wie ein Schraubstock ihren Arm und zwang sie, die Mauer emporzuklettern.

»Heute werde ich deinem Leben Tiefe geben.«

Sie schluckte. Nicht nur Blut, auch Urin floss mittlerweile an ihren Oberschenkeln herunter.

»Guten Flug, meine hübsche Taube!«

Es folgte ein kräftiger Stoß, und die nächste Windböe zog Alice Klinger mit in die Tiefe. Unter ihren Füßen spürte sie eine jähe Leere. Es gab nichts mehr, rein gar nichts außer der Stadt, die sie hatte erobern wollen und auf deren nackten, grauen Asphalt sie zuflog. Hilflos, scheinbar federleicht, für immer verloren.

 

2

Kommissar Jan Rosen war froh, aus den Schuhen und den schweißgetränkten Sportklamotten schlüpfen zu können.

Seit mehreren Wochen lief er nun schon mit entschlossener Regelmäßigkeit, zum ersten Mal in seinem ganzen Leben, und allmählich gewöhnte er sich daran. Er war nicht mehr so ausgepumpt, und der anschließende Muskelkater ließ auch deutlich nach. Spaß allerdings machte es ihm nach wie vor kein bisschen.

Jogging war ohnehin nur ein nebensächlicher Aspekt bei dem Versuch, sich wieder einmal neu zu erfinden. Entscheidender war der Entschluss, dem Polizeidienst den Rücken zu kehren. War es wirklich eine so großartige Idee, von vorn anzufangen? Es würde einen drastischen Einschnitt bedeuten, das stand fest. Und Rosen war nicht der Typ für drastische Einschnitte.

Der bisherige Alltag, die Routine, die Pensionsberechtigung, all das würde sich in Luft auflösen. Es fehlte eigentlich nur noch die letzte Unterschrift, mit der er es besiegeln würde. Kriminalermittler zu sein war ihm immer merkwürdig vorgekommen, beinahe fremd, trotz zwischenzeitlicher Erfolge. Als hätte er sich ein Kostüm übergestreift, eine Maske, die nichts mit dem Menschen zu tun hatte, der er in Wirklichkeit war.

Er legte eine Chet-Baker-Vinylscheibe auf und stellte die Musik laut, damit er sie auch unter der Brause hören konnte. Das Duschen war das Beste am Sport, wie er fand.

Noch immer war er vom Dienst freigestellt. Psychische Probleme, die sich zu einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt hätten, hieß es in einem Befund des Psychologischen Dienstes der Kriminalpolizei, den er zweimal pro Woche aufsuchen musste. Es war eben alles auch verdammt viel gewesen. Einsätze, die ihn nicht nur an die körperlichen Grenzen gebracht hatten. Und dann vor allem das eine Ereignis, das ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte: Anyana Lupescus Tod.

Anyana war eine Prostituierte gewesen, in die er verliebt gewesen war. Er hatte alles darangesetzt, sie aus dem verbrecherischen Sumpf herausziehen, der ihr Dasein bestimmt hatte – und war gescheitert.

Ja, er hatte versagt, und das trug er in jeder einzelnen Minute eines jeden Tages mit sich herum. Die schrecklichen Erlebnisse drückten auch jetzt noch wie Blei auf seine Schultern, auf sein Herz. Als wäre es erst gestern geschehen.

Chet Bakers Trompete verstummte gerade mit ihrem melancholischen Jazz, als Rosen aus dem Badezimmer kam. Er bereitete sich einen Smoothie aus frischem Obst und Ingwer zu. Nach einem ersten Schluck begann er sein Handy zu suchen. Ihm fiel auf, dass er es immer seltener nutzte, immer häufiger stumm schaltete. Das war es, was er als Wohltat, als echten Luxus empfand: nicht ständig erreichbar zu sein und auf Absprung bereitstehen zu müssen.

Er fand es auf dem Schreibtisch, dessen Oberfläche so penibel aufgeräumt war wie der Rest der Wohnung. Jemand hatte auf der Mailbox eine Sprachnachricht hinterlassen. Mit einem gewissen Erstaunen, aber trotzdem ohne Neugier stellte Rosen fest, dass der Absender sein Cousin Niko war.

Sie hatten weder viel gemeinsam noch viel füreinander übrig. In Rosens Augen war Niko ein Aufschneider, arrogant und gönnerhaft, angetrieben von blankem Ehrgeiz, der nichts infrage stellte und alles billigte, was dem eigenen Aufstieg zugutekam. Wie Niko ihn sah, war ihm auch bewusst: Niko nahm ihn nicht ernst und machte gern Witze über ihn. Das war früher jedenfalls so gewesen, als sie sich noch ab und zu bei Familienfeiern über den Weg gelaufen waren.

Rosen hörte sich die Nachricht an. Schon mit dem Einsetzen der immer noch vertrauten Stimme wurde ihm klar, dass Niko bei der Aufnahme mächtig angespannt gewesen war. Im Nu war die Mitteilung zu Ende. Rosen stand vor dem Schreibtisch, in der einen Hand das Glas mit dem Smoothie, in der anderen sein Smartphone.

Was war denn das?

Noch einmal hörte er seinem Cousin zu: »Ich glaube, du musst mir helfen, Jan! Kannst du dich mal melden? Ruf zurück, okay?«

Rasch tippte er Nikos Nummer an, doch es ertönte nur die automatische Mailbox-Stimme mit der Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen.

Nikos Handy ausgeschaltet?

Handy aus bei einem Typ wie Niko? Unvorstellbar.

Rosen stellte das Getränk ab und hörte sich zum dritten Mal die Nachricht an. Die darauf einsetzende Stille kam ihm auf einmal unbehaglich vor. Ohne dass er wusste warum, überlief ihn eine Gänsehaut.

 

3

Tja, da war sie also wieder.

Wenn es eine Umgebung gab, die ihr vertraut war, dann genau dieser Platz: in der hintersten Zweierzone des Großraumbüros, abgeschirmt von Trennwänden, die verbargen, wie sie in diesem Moment vor sich hin starrte, die Füße mit den Doc-Martens-Stiefeln auf den Schreibtisch gelegt.

Vor Kurzem hatte Kommissarin Mara Billinsky die Vertretung für den Leiter der Mordkommission übernommen, was in der Abteilung mächtig Staub aufgewirbelt hatte. Die meisten Kollegen fanden, mit ihren dreißig Jahren sei sie zu jung für diese Position – und davon abgesehen vor allem viel zu speziell. Es war nicht gerade leicht gewesen für Mara.

Aber wann war es das überhaupt je gewesen für sie?

Nun war Hauptkommissar Klimmt jedenfalls zurück an Bord. Er hielt das Schweigen über die Krankheit, die ihn ausgehebelt hatte, mit seiner üblichen Brummigkeit aufrecht, nahm sein altes Büro in Beschlag und lüftete ausgiebig, damit auch die letzten Reste von Maras herbem Parfümduft verschwanden. Leather von Malin + Götz passte nun wirklich nicht zu Klimmt.

Alles wie gehabt also. Fast alles.

Als Mara nach dem Becher mit scheußlichem, bereits kalt gewordenen Automatenkaffee griff, streifte ihr Blick den freien Platz, der sich ihrem genau gegenüber befand. Jan Rosen, der einzige Kollege, der es als ihr Teampartner ausgehalten hatte, wollte seine Ankündigung wahr machen und sich samt seinem sensiblen Gemüt aufs Abstellgleis schieben. Mara konnte es immer noch nicht glauben.

Dabei imponierte ihr im Stillen sein Vorhaben, Sharonna beizutreten, einer bemerkenswerten Organisation, die mit großem Engagement und viel Herzblut ehemalige Zwangsprostituierte unterstützte. Nun würde Rosen da anheuern. Mit seiner Beflissenheit, seiner Anständigkeit und seiner Schüchternheit. Eine verrückte Vorstellung, doch wenn Mara eingehender darüber nachdachte, passte es eigentlich ganz gut in das Bild, das sie von ihm hatte: ein Idealist und Menschenfreund, kein Zyniker, kein Typ mit der Elefantenhaut, die sich viele Ermittler im Laufe der Zeit zulegten. Rosen wollte helfen. Und womöglich würde er mit diesem Schritt auch sich selbst helfen.

Das hieß, dass sie die Zweierzone für sich alleine hatte. Wie lange? Und wer mochte es sein, der irgendwann Rosens Platz einnehmen würde? Mara war nicht sonderlich scharf darauf, das zu erfahren.

Sie nippte am Automatenkaffee, verzog das Gesicht und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen. Der Frühling wollte einfach nicht in Gang kommen. Aber die Kälte machte Mara nichts aus. Kaum etwas machte ihr etwas aus. Außer wenn zu viel Ruhe herrschte.

Jenseits der Trennwand ertönten stampfende Schritte, die von einem Schnaufen begleitet wurden. Auf einmal stand neben Maras Schreibtisch Hauptkommissar Klimmt, ein schwerfälliger Bär mit eingezogenem Nacken und wuchtigen Schultern. In seiner Auszeit schienen die Falten um die Augen tiefer geworden zu sein, sein ungepflegtes, grau durchsetztes Haar wirkte dünner, der altmodische Walrossschnauzbart hingegen dicker.

»Sie wollten mich sprechen, Billinsky?«, murmelte er. »Vorhin ging es nicht. Eines dieser nutzlosen Scheiß-Meetings, die kein Mensch braucht.«

Mara ließ die Stiefel auf dem Tisch, auf dessen Kante der Hauptkommissar nun seinen Hintern schob. »Ich muss mit Ihnen über die Frau reden, die in der City von einem Bürohaus gestürzt ist«, erklärte sie.

Er runzelte unwillig die Stirn. »Man hat mir gesagt, das war Selbstmord. Von uns möchte ich da keinen hinschicken, schon gar nicht zurzeit, wo ich zu wenig Manpower habe und …«

»Ich werde mir das trotzdem mal genauer ansehen. Erst wenn es wirklich feststeht, dass …«

»Mein Gott, Ihren Dickschädel hab ich echt nicht vermisst.« Er verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich lasse mich wieder krankschreiben.«

»Das glaube ich nicht.« Mara musterte ihn vielsagend. »Apropos krankschreiben. Was ist mit Rosen?«

»Was soll mit ihm sein? Gar nichts. Er hat sich entschieden.«

»Dachte nur, Sie hätten noch mal in Ruhe mit ihm gesprochen.«

»Ich? Nee.«

Ein tatsächlich abwegiger Gedanke, überlegte Mara.

»Jedenfalls hat er sich nicht den besten Augenblick ausgesucht, um Bye-bye zu sagen«, brummte Klimmt. »Wir haben nicht mal Normalbesetzung. Ich muss unbedingt noch mal mit ein paar Herren in teuren Anzügen telefonieren, was sich da machen lässt.«

»Und ich versuche mehr über die Tote herauszufinden.«

Er stutzte. »Ich sag doch, vergessen Sie’s. Wenn wir jeden verfluchten Selbstmord …«

»Falls es einer war.«

Klimmt taxierte sie eingehender. »Wieso haben Sie Zweifel?«

»Ich finde, solange nicht hundertprozentig …«

»Wenn Sie im Stress sind, machen Sie mir Angst, dann weiß man nie, was passiert. Wenn Sie allerdings Langeweile haben, kriege ich gleich noch mehr Schiss.« Fast hätte er sich zu einem Lächeln hinreißen lassen, aber eben nur fast. »Die letzten Wochen waren recht ruhig. Hoffen wir, dass es so bleibt. Und das nicht nur wegen unserer nicht gerade beeindruckenden Teamstärke.«

»Ich habe Fotos gesehen«, meinte Mara betont beiläufig.

»Fotos?«

»Ich habe mir die Tatortfotos per Sicherheitslink von den Kollegen vom Dauerdienst zuschicken lassen.«

»Meine Güte, Sie müssen wirklich Langweile haben, Billinsky.«

Sie klickte auf die Tastatur ihres Laptops und öffnete die Aufnahmen, damit Klimmt sie sich anschauen konnte.

Er fuhr sich stirnrunzelnd über den Schnauzbart. »Und jetzt? Was sagt uns das?«

»Fällt ihnen nichts auf?« Sie betätigte die Maus, um eines der Fotos besonders groß zu ziehen.

»Außer dass es ein grauenhafter Anblick ist? Nein. Und Ihnen?«

Mara verengte nachdenklich die Augen »Mir eigentlich auch nicht.«

»Eigentlich«, wiederholte er betont. »Wenn Sie dieses Wort sagen …«

»Da ist einfach ein Detail, das mir …« Mara beendete den Satz nicht und gab den Druckbefehl für alle Fotos ein.

»Welches Detail?«

»Wahrscheinlich täusche ich mich.« Sie ließ die Fotos per Klick verschwinden, loggte sich aus dem System aus und klappte den Laptop zu. »Bis nachher, Chef!«

Die Leiche lag, bedeckt mit einem weißen Tuch, auf einem glänzenden Edelstahltisch. Daneben befand sich eine Ablage für entnommene Organe. Ein bräunlich verfärbter Schlauch diente dazu, dass Flüssigkeiten abfließen konnten. Auf einem zweiten, deutlich kleineren Tisch waren zwei einschüchternde Sägen sowie mehrere Skalpelle in verschiedenen Formen und Größen säuberlich aufgereiht. Es roch nach Verwesung und starken chemischen Substanzen.

Mara Billinsky stand auf der einen Seite des Stahltisches und blickte auf die Umrisse der Frau, die sie auf den Fotos gesehen hatte. Alice Klinger war nur sechsundzwanzig Jahre alt geworden.

Auf der anderen Seite des Leichnams hatte sich Dr. Laszlo Tsobanelis positioniert, der Leiter der Rechtsmedizin. Er hatte die Obduktion an Alice Klinger bereits vor Maras Eintreffen vorgenommen.

»Warum interessiert Sie die Sache, Kommissarin?« Er strich sich sein in üppigen Wellen wucherndes, fast schlohweißes Haar aus der Stirn und richtete die John-Lennon-Brille.

»Hätten Sie nicht bis zu meinem Eintreffen warten können?«, fragte Mara zurück. »Normalerweise …«

»Ach was, hier dürfte doch alles klar auf der Hand liegen«, unterbrach er sie. »Wieso ist Klimmt eigentlich nicht selbst gekommen, wenn sich eure Abteilung schon für die Angelegenheit interessiert? Er ist doch wieder im Einsatz, wie ich gehört habe.«

Tsobanelis war ein Exzentriker, der eine bisweilen morbide Faszination für die Verbrechen aufzubringen schien, mit denen er konfrontiert wurde. Und er erwartete immer Klimmt – oder jeden anderen Ermittler, jedenfalls nicht Mara, und das musste er auch jedes Mal loswerden. Nein, sie hatten sich wirklich nie gemocht.

»Da müssen Sie wohl mal wieder mit mir vorliebnehmen«, meinte sie flapsig und zuckte die Achseln. »Sie werden’s überleben.«

»Das hoffe ich zumindest.« Er schaute sie von oben herab an, was ihm mit seinen knapp zwei Metern leichtfiel, zumal Mara alles andere als groß gewachsen war.

»Ich drücke Ihnen die Daumen.« Sie schenkte ihm ein kurzes, freudloses Grinsen.

Er zeigte eine säuerliche Miene. Dann hob er seinen Arm, lang und dünn wie ein Windmühlenflügel, und zog das Tuch mit der theatralischen Geste eines Bühnenmagiers weg.

Eine große OP-Lampe direkt über der entkleideten Toten machte jede Pore in der mittlerweile gesäuberten Haut sichtbar, jede Verletzung, jede Verfärbung. Obwohl sich Mara mithilfe der Fotos versucht hatte, auf den Anblick einzustellen, zog sich ihr Magen zusammen. Es war beklemmend, dass aus einem Menschen ein Klumpen aus Fleisch und zerborstenen Knochen werden konnte. Und aus einem Gesicht eine bizarre Fratze. Wie zerbrechlich man selbst doch war. Die Frau hatte eine eher grazile Figur, die Mara frappierend an ihre eigene erinnerte.

Wie oft sich Gedanken an den eigenen Tod heranschlichen, wenn man diesen Job hatte.

»Was fällt Ihnen auf?«, fragte Tsobanelis mit dieser herausfordernd manierierten Art, die Mara immer schon mächtig auf die Nerven gegangen war.

»Eigentlich bin ich hier, um zu erfahren, was Ihnen auffällt.«

»Ein Sturz aus dieser Höhe auf einen derart festen Untergrund ist in einhundert Prozent aller Fälle tödlich«, begann er. »Durch den Aufprall werden in erheblichem Maße Knochen gebrochen, die inneren Organe können abreißen und zerfetzen, schwere innere Blutungen sind die Folge. Hinzu kommt in der Regel die Zerstörung der Schädelpartie mit erheblichen Quetschungen des Gehirns, bis hin zum Platzen des Schädelknochens und dem Austritt von Gehirnmasse. Genau das hat die Obduktion bestätigt.«

Mara zog die Ausdrucke der Tatortfotos aus der Innentasche ihrer schwarzen Motorradlederjacke und hielt einen davon Tsobanelis unter die Nase. »Fällt Ihnen auch darauf etwas auf?«

Irritiert starrte er das Blatt an, dann Mara. »Was soll das? Ein Spiel? Von mir aus, spielen wir ein Spiel.«

Sie deutete auf die Tote. »Fragen Sie Alice Klinger, ob sie ein Spiel für angebracht hält.«

Daraufhin sagte er nichts.

»Rückstände von Alkohol oder sonstigen Drogen im Blut?«, fragte Mara knapp und betrachtete erneut die Ausdrucke.

»Nein.«

»Geschlechtsverkehr kurz vor Todeseintritt?«

»Machen Sie Scherze?«

»Nein, mache ich nicht«, antworte sie betont ernsthaft, als wäre es keine rhetorische Frage gewesen. »Das ließe sich also nicht mehr feststellen?«

Damit hatte sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt, wie ihr sein abermals irritierter Blick zeigte. »Nun ja, völlig auszuschließen ist es nicht, dass man das selbst nach einem solchen Sturz …«

»Sie wissen es also nicht.«

»Nun spielen Sie sich mal nicht so auf.«

»Ich will, dass Sie die Tote noch einmal genau überprüfen.«

»Bitte?«, kam es spitz aus seinem Mund.

»Danke«, gab Mara frech zurück.

»Nein-nein, das war eine Frage. Mit einem Fragezeichen am Ende.«

Mara wiederholte gelassen und wortwörtlich ihre Forderung.

»Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden, Frau Kommissarin?«

Sie hob den Kopf, um ihm direkt in die Augen zu schauen. Zum ersten Mal lächelte sie. »Selbstverständlich weiß ich das. Mit dem Besten. Gerade deshalb fordere ich Sie ja dazu auf.«

Tsobanelis blaffte eine ärgerliche Entgegnung, aber Mara hörte gar nicht zu und verbarg das noch nicht einmal vor ihm. Von Neuem besah sie sich nachdenklich den Leichnam.

Ja, diese verdammten Details.

Sie hatte eine Ahnung. Die ganze Zeit schon. Wie ein ständiges Brennen unter der Haut.

 

4

Heute hatte sich Jan Rosen vor dem Jogging gedrückt. Dabei war es ihm immer leichtgefallen, diszipliniert zu sein.

Er befand sich zu Hause. Sicher, wo auch sonst? Er fühlte sich wie in einem seltsamen Schwebezustand gefangen. Später würde er Heidrun Vogel, die Leiterin von Sharonna, zu einem weiteren Gespräch treffen, und er freute sich darauf.

Er stellte sich mit dem Handy ans Fenster, das den Blick auf seine langweilige Wohnstraße freigab, und rief seinen Cousin an. Doch erneut wurde er von der Mailbox gestoppt. Anschließend meldete er sich bei seiner Tante, Nikos Mutter. Zwar bekam er sie an den Apparat, aber ergiebig war die Unterhaltung nicht. Offenbar hatte auch sie seit einigen Tagen keinen Kontakt zu Niko gehabt, aber weil das öfter vorkam, war es ihr nicht alarmierend erschienen. Sie kündigte an, bei Freunden nachfragen zu wollen, ob sie etwas von ihm gehört hätten.

Rosen sagte ihr, sie solle nicht beunruhigt sein, aber er spürte, wie phrasenhaft er sich anhörte, und verschwieg lieber, dass er Niko auch in der Firma, in der er arbeitete, nicht erreicht hatte. Er selbst hatte keine gemeinsamen Bekannten mit seinem Cousin, aber eine Person fiel ihm doch ein.

Gleich nach dem Telefonat suchte er im Netz nach Nikos Ex-Frau Elisabeth, der Geschäftsführerin einer kleinen Eventagentur im Frankfurter Osten. Er fand die Agenturwebsite und rief sie an. Niko lebte seit einigen Monaten getrennt von ihr, eine Scheidung im Unfrieden, deshalb würde Nikos Mutter sich bei ihr bestimmt nicht erkundigen. Rosen war Elisabeth bei Familienfesten begegnet. Die beiden hatten sich gut verstanden und immer wieder mal angeregt miteinander geplaudert.

»Niko? Verschwunden?«, fragte sie mit einem Ton, der ihr Desinteresse unterstreichen sollte.

»Zumindest nicht erreichbar, und das ist gerade bei ihm ziemlich merkwürdig.«

»Hm, ich habe ihn schon lange nicht mehr gesprochen. Um ehrlich zu sein, habe ich auch kein Verlangen danach. Jan, du weißt, wie das zwischen uns am Ende war.« Sie seufzte. »Ich glaube, dass er zwei Tage Auszeit nimmt, um sich mit irgendeiner Kollegin ein bisschen Spaß zu gönnen. Du kennst ihn doch.«

»Tja, um ebenfalls ehrlich zu sein, daran hatte ich auch schon gedacht.«

»Kein Wunder«, meinte sie anspielungsreich. »Ich merkte es ihm immer an, wenn er sich ein Auswärtsspiel gönnte. Dann bekam er Anrufe und musste so einen künstlich geschäftsmäßigen Ton aufsetzen. Sollte unauffällig sein, war aber das Gegenteil.«

»Tut mir leid, ich wollte die Erinnerungen nicht …«

»Schon gut, Jan. Meine Welt ist ja nicht untergegangen.«

»Weißt du, mit wem er zuletzt … äh …«

»Rumgebumst hat, meinst du wohl?« Elisabeth lachte bitter auf. »Ich kenne nur den Vornamen. Irgendeine popowackelnde Schnecke aus der Firma, wie meistens bei ihm.«

»Wie heißt die Frau, wenn ich fragen darf.«

»Darfst du.«

Sie nannte den Vornamen, und Rosen notierte ihn zur Sicherheit auf einem Block.

 

5

Seit wie vielen Stunden lag er hier?

War schon ein ganzer Tag vorübergezogen?

Niko Rosen wusste es nicht.

Er hatte jegliches Gefühl für Zeit längst verloren – wie auch für alles andere. Nur die Angst war spürbar, die Hilflosigkeit, das blanke Unverständnis dafür, warum gerade er in diese ausweglose Lage geraten war.

Wo befand er sich überhaupt?

In einem Schuppen, einer Garage?

So kam es ihm jedenfalls vor, ein Raum, der bestimmt nicht in einem gewöhnlichen Haus lag. Keine frische Luft, dafür sein eigener abgestandener Schweiß. Ringsum nichts als Totenstille. Keine Passanten, kein Hundegebell, lediglich weit entfernt das stetige Motorenbrummen von Fahrzeugen.

Geknebelt. Gefesselt. Die Augen verbunden. So lag er da. Auf einer Decke auf dem kalten Boden. Es roch schwach nach Holz.

Warum? Warum er?

Schließlich hatte Niko niemandem etwas angetan. Oder war es eine seiner Geliebten, die jemanden … Nein, das war völlig abwegig.

Es war im Parkhaus passiert, er war auf dem Weg zu seinem Wagen gewesen und … Oder war er gerade ausgestiegen, um zum Ausgang …

Er wusste nicht einmal mehr das mit Sicherheit, so verstört war er. Jedenfalls hatte man ihn von hinten überrascht und ein mit scharf riechender Flüssigkeit getränktes Tuch in sein Gesicht gepresst.

Warum? Warum, um Himmels willen?

Eine Tür ging jäh auf. Quietschende Scharniere, das Scharren von Schuhsohlen, Niko erschrak fürchterlich.

Jemand stand vor ihm, starrte auf ihn herab, er spürte es. Hände packten ihn, wuchteten ihn auf die Füße, schleiften ihn nach draußen, wo ihn die kühle Luft empfing. Er wurde in einen Kofferraum gestoßen. Klappe zu, Motor an, die Fahrt ging los. Niko hatte noch mehr Angst, trotz der Kälte badete er förmlich im eigenen Schweiß.

Er hätte nicht sagen können, wie lange es dauerte, bis das Auto anhielt und der Motor wieder verstummte. Als man ihn herauszog, jammerte er kläglich, und so absurd es auch sein mochte, er schämte sich für die Laute, die er von sich gab. Er erhielt einen Schubs und landete auf der Erde. Schotter, Sand, Gras.

Das Klebeband wurde von seinem Mund gerissen, er japste nach Luft.

»So leichtfüßig bist du durchs Leben geeilt, findest du nicht?«, sagte eine Stimme, die er erst gar nicht einordnen konnte. »Und jetzt liegst du da im Dreck wie ein Wurm.«

Niko unterdrückte ein Würgen. »Was soll das?«, fragte er weinerlich. Wieder schämte er sich, und dann platzte mit einem gellenden Schrei das Wort aus ihm heraus, das ihn unentwegt quälte: »Warum?«

»Alles war so easy für dich. Der Job, der Erfolg, die Frauen. Sicher, du hast dich reingehängt, aber letztlich genügte doch ein Fingerschnippen von dir, und alles lief wie am Schnürchen.«

Kannte er diese Stimme? Er war so verdammt aufgeregt. Außerdem klang es so, als würde mit einem Schal vor dem Mund gesprochen. Oder einer Maske über dem Kopf, wie Ski- oder Motorradfahrer sie benutzten? Um sich einem möglichen zufälligen Zeugen nicht zu erkennen zu geben?

Ein Wind wehte, Niko hörte ein leichtes blubberndes Rauschen: Gewässer.

»Wo sind wir?«, fragte er völlig verzweifelt.

»Am Main. Irgendwo zwischen Frankfurt und Offenbach.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Sie?« Ein Lachen ertönte. »Was ich will? Reden.«

Niko schnaufte schwer. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er einen Riesendurst hatte. »Geht es um Geld? Ich habe einiges an … Äh, oder soll ich über die Firma reden? Interna ausplaudern? Ich könnte …«

Wieder hörte er das Lachen, diesmal in abfälligem Ton. »Das Leben besteht doch nicht nur aus dem Job. Ach, ihr seid wirklich alle gleich.«

»Worüber soll ich dann reden?«, kreischte Niko.

Weshalb sah ihn niemand, weshalb half ihm niemand? Ihm traten Tränen in die Augen.

»Wir alle sprechen viel zu wenig miteinander, denkst du nicht? Jeder quatscht von Kommunikation, aber keiner spricht wirklich mit dem anderen.«

Niko stöhnte.

»Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Kennst du das Buch? Oder die wunderbare Verfilmung? Bestimmt nicht. Zeitverschwendung, richtig? Nichts, womit man Geld verdienen könnte oder was sich irgendwie für Sex mit einer Blondine nutzen ließe. Wie wäre es damit? Die unerträgliche Schwere des Seins?«

Ein dumpfer Knall, dicht neben Niko, er fühlte den Aufprall von etwas Massivem auf der Erde, gleich darauf ein zweiter Aufprall, ebenfalls nahe bei ihm.

»Erschrocken? Du zitterst ganz schön. Hätte nicht gedacht, dass du so ein Feigling bist, Niko.«

»Was wollen Sie von mir?«, jammerte er, und inzwischen war es ihm egal, was für ein klägliches Bild er abgab.

»Ich versuche deinem Leben etwas Gewicht zu verleihen.«

Der Stofffetzen vor Nikos Augen verschwand. Obwohl es nicht sonderlich hell war, tat ihm das milchige Tageslicht weh. Grauer Himmel, grauer Nebel, grauer Fluss, kahle Bäume. Morgendämmerung, Abenddämmerung?

Seine Lider flatterten. Dann erblickte er die Wasserflasche aus durchsichtigem Plastik. Der Drehverschluss war abgeschraubt. Er robbte hin, biss mit den Schneidezähnen fest um den Flaschenhals, rollte sich auf den Rücken und kippte den Kopf nach hinten.

Es dauerte nur einige Sekunden, bis der halbe Liter in seinem Magen war. Er spuckte die Flasche aus. Erleichterung. Die Flüssigkeit tat so gut.

»Hat’s geschmeckt?« Die Stimme ertönte hinter ihm.

Niko wollte sich umdrehen, doch der Anblick zweier Betonplatten und eines zusammengerollten Seils ließ ihn jäh innehalten. Die Gegenstände brachten die Angst zurück, stärker als zuvor, abermals zitterte er.

»So schweigsam? Hast doch sonst immer gern gequatscht.«

Jetzt erkannte er die Stimme – er konnte es kaum glauben. Erneut wollte er sich umdrehen, diesmal jedoch stoppte ihn ein urplötzliches Stechen in seinem Magen. Ein glühender Schmerz, der ihn aufschreien und seinen Körper zusammenkrümmen ließ.

»Du hast nie was gegen ein Gläschen gehabt, stimmt’s? Selbstverständlich nur die edlen Tropfen.« Das Lachen erklang mit großer Fröhlichkeit. »Das Beste war gerade gut genug für dich, mein hochgeschätzter Niko.«

Das Brennen wurde schlimmer.

Wieder schrie Niko auf.

Es war, als würden in seinem Inneren Rasierklingen ruckartig hin und her bewegt. Er wurde zerfetzt, zerrissen, eine wilde kleine Bestie saß in seinem Bauch und verbiss ihre Fangzähne in ihn, wieder und immer wieder.

 

6

Mara Billinsky beschleunigte in dem Moment, als sie das Ortsschild passierte. Rasch wurden die Häuser von Schlüchtern im Rückspiegel kleiner. Sie war ein echtes Stadtkind. Dem in gewisser Regelmäßigkeit aufbrandenden Gerede von der besonderen Lebensqualität fernab der Metropolen hatte sie nie etwas abgewinnen können. Die herrliche Stille, die angenehme Beschaulichkeit? Sie würde durchdrehen, wenn sie auch nur ein Wochenende in einer Gegend wie dieser verbringen müsste.

Ganz davon abgesehen, dass sie eigentlich immer froh war, ländliche Gemeinden hinter sich zu lassen, fühlte sie jetzt aber vor allem Erleichterung darüber, die traurigste Aufgabe erledigt zu haben, die es in ihrem Job gab.

Sie schloss das Handy an und ließ ihre Playlist laufen, diesen wilden Mix, der keinem bestimmten Genre folgte, aber alles miteinschloss, das rau und direkt war. Verzerrte Gitarren, dazu Bass und Drums wie knallharte Hammerschläge, Sänger, die nicht sangen, sondern mit ihren Stimmen an die Grenzen gingen. Nirvana, Motörhead, Social Distortion, die alten dreckig-rockigen Stücke von PJ Harvey.

Doch egal wie laut Mara auch aufdrehte, das hinter ihr liegende Gespräch wühlte sich ständig in den Vordergrund. Es war immer schlimm, immer niederschmetternd, und es fühlte sich immer an wie damals, als sie zum ersten Mal jemandem den Tod eines Angehörigen hatte mitteilen müssen. Alice Klingers Eltern waren wie vom Donner gerührt gewesen, als sie von Alice’ Ende erfuhren – zu konsterniert und zu geschockt, um in Tränen auszubrechen.

Mara hatte förmlich mit ansehen können, wie diesen geradlinigen, freundlichen Leuten durch die Nachricht das eigene Leben ausgesogen wurde, wie sie alterten, ihre Gesichter aschgrau wurden und in ihrem Innersten etwas zerbrach.

Anschließend hatte sie ihre Fragen gestellt, betont ruhig, eine nach der anderen. Zu möglichen Freunden, aktuellen und ehemaligen Liebhabern, zum Alltag von Alice, ihrer Vergangenheit, ihrer Situation vor dem Tod. Doch viel war dabei nicht herausgekommen. Keine Geschwister, kaum Freunde, dafür große Karriereträume: eine ehrgeizige, aber nicht verbissene Tochter, der es nicht schnell genug hatte gehen können, direkt nach dem Abitur in die große Stadt zu ziehen und eine berufliche Laufbahn zu beginnen. Nein, einen Freund habe Alice zuletzt nicht gehabt, schon länger nicht mehr: den Job klar im Fokus, das aufregende City-Leben, nur noch gelegentliche Besuche zu Hause.

Eine bedrückende Atmosphäre. Wie jedes Mal bei solchen Unterhaltungen. Und Mara war währenddessen immer wieder von der grausamen Erinnerung an die Tatortfotos überfallen worden. Alice Klinger, eine tote Masse aus Fleisch und zersplitterten Knochen auf dem Asphalt. Auf der Rückfahrt bedrängten sie die deprimierenden Eindrücke immer stärker. Sie dachte auch an sich selbst, an Situationen, in denen es um alles gegangen war: um Leben und Tod. Was ging einem Menschen in den letzten Sekunden durch den Kopf? Wenn alles, was vorher so verdammt wichtig gewesen war, plötzlich völlig bedeutungslos wurde? Oder erlangte es gerade dann Bedeutung?

PJ Harvey sang immer noch, jetzt nicht mehr laut, sondern düster und leise: »Dear darkness, I’ve been your friend for many years …«

Durch eine weitere jähe Beschleunigung ihres Alfas versuchte Mara, den düsteren Gedanken zu entkommen. Die Landschaft flog an ihr vorbei, kahle Felder, Wiesen und Waldstücke, der Motor brüllte auf, doch die Stimme aus den Boxen ging nicht unter: »… dearest darkness, cover me from the sounds of the words tightening around my throat …«

Sie erreichte die Autobahn Richtung Frankfurt und drückte das Gaspedal noch stärker durch. Es war später Vormittag, der Verkehr nicht allzu dicht. Nach ein paar weiteren Kilometern rief Klimmt an. Mara drosselte das Tempo, wählte die rechte Fahrspur, machte die Musik leiser und meldete sich über die Freisprecheinrichtung: »Was gibt’s, Chef?«

»Nichts Erfreuliches«, erklang seine brummige Stimme.

»Na, wenn jemand dran gewöhnt ist, dann wir.«

»Es geht um einen Verwandten von Rosen. Einen Cousin. Niko Rosen. Er ist verschwunden. Eine offizielle Vermisstenanzeige liegt noch nicht vor, aber Rosen hat mich vorhin deswegen angerufen. Das klingt alles noch nicht besorgniserregend, aber er wirkt alarmiert.«

»Und das gerade jetzt, da unser Rosen völlig auf seinen Ausstieg konzentriert ist«, meinte sie grüblerisch.

»Wie gesagt, viel weiß ich noch nicht, aber ich wollte, dass Sie zumindest darüber im Bilde sind.«

Kurze Zeit später hatte Mara ihren Wagen in einem Parkhaus mitten in der Frankfurter Innenstadt abgestellt. Sie eilte Richtung Goetheplatz mit dem steinernen Denkmal des Dichters, umgeben vom hier üblichen Menschengewirr. Geschäftsleute, Touristen, Shopper. Überall wimmelte es. Straßenmusiker sangen, Bettler hockten am Boden mit Pappbechern oder Hüten vor sich. Der Himmel war bleigrau, noch immer war es erstaunlich kalt für die Jahreszeit.

Nach einer weiteren großen Straßenkreuzung tauchte Mara in das Reich der Hochfinanz ein. Die imposanten Wolkenkratzer der Skyline stachen kalt spiegelnd in die Wolkenschicht. Früher war sie von diesem Teil der Stadt abgeschreckt gewesen, sogar angewidert. Ihre Welt war eine andere, auch heute noch.

Sie erreichte die deutsche Hauptniederlassung von Atlantique, eines mächtigen, in Frankreich beheimateten Unternehmens, das sowohl im Banken- als auch im Immobiliensektor zu den Big Playern gehörte, wie sie sich zuvor im Netz informiert hatte. Auf dem rautenförmigen Stück Kopfsteinpflaster vor dem Eingang war Alice’ Klingers Körper zerschmettert worden. Man hatte das Blut weggewischt, doch als Mara genau hinsah, entdeckte sie noch Flecken in den Ritzen zwischen den Steinen.

Moderne Glasfassade, acht Stockwerke, zwei Außenaufzüge, von denen sie einen nutzte, um nach oben in die fünfte Etage zu gelangen, in der sich der Empfang befand.

Sie stellte sich mit Namen und Rang vor, zeigte ihren Dienstausweis und verlangte, mit Mitarbeitern zu sprechen, vor allem mit Alice Klingers Chef. Die Empfangsdame, platziert hinter einem Tresen in elegant geschwungener Wellenform mit Blumen in der Vase, versuchte erfolglos, ihre Abneigung gegenüber Maras Erscheinungsbild zu verbergen und tätigte mit gedämpfter Stimme einen Anruf. Als sie wieder aufgelegt hatte, meinte sie: »Sie werden gleich abgeholt.«

Man ließ Mara lange warten. Erst nachdem sie ihren Unmut darüber unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte, wurde sie schließlich in ein Büro geführt, das im Gegensatz zur kühlen, unpersönlichen Atmosphäre, die ihr ansonsten in dem Gebäude entgegenschlug, sehr einladend wirkte. Es war groß, fast schon loungeartig. Verner-Panton-Lampen, langflorige Wollteppiche, zwei niedrige italienische Sofas mit weichen Kissen, alles in dezenten, geschmackvollen Farben. Vor einer vollflächigen Glaswand mit Sicht auf den Goetheplatz befand sich der Schreibtisch, auf dem nichts außer Laptop und Telefon stand. Dahinter gab es eine Kommode mit einem Drucker darauf. An der Wand links davon hingen ein großes Frankfurt-Gemälde und eine silbern gerahmte, großformatige Fotografie: ein strahlender Mann reckte mit breitestem Grinsen und scheußlicher fuchsiaroter Seidenkrawatte einen Preis in die Höhe.

Die Tür ging auf, und derselbe Mann kam herein, gehüllt in einen maßgeschneiderten Anzug von Boggi, der Marke, die auch Maras Vater Edgar bevorzugte. Schlank, sportlich, wohl Mitte vierzig, leicht ergrauendes, akkurat gescheiteltes Haar, Brille mit elegant schmalem Silberrahmen. Ein durchaus attraktiver Mann – ebenfalls wie Maras Vater.

»Silvio Wilmersdorf, sehr erfreut.« Er reichte ihr mit dieser schwungvoll-automatisierten Art eine Visitenkarte.

»Billinsky. Kriminalpolizei.«

Managing Director, las sie auf dem mit einem Goldstreifen verzierten Rechteck aus festem, hochwertigem Papier. Während sie am Empfang gewartet hatte, war sie über die Firmen-Website gescrollt und auf Wilmersdorfs Kurzportrait gestoßen. Studium mit Auszeichnung in Frankfurt, den USA und Frankreich. Seit vielen Jahren in leitender Position, verheiratet, zwei Kinder im Teenageralter.

»Was bedeutet der Zusatz MRIC?«, fragte sie.

Ein Lächeln umspielte seinen Mund, hauchfein nur, und doch offenbarte es Selbstgefälligkeit. »Member of RICS. Das ist die Royal Institution of Chartered Surveyors. Ein in der Immobilienwirtschaft überaus geachtetes Gütesiegel, sowohl branchenintern als auch für Kunden. Detaillierte Erläuterungen würden, so denke ich, zu weit führen.«

»Ein Siegel habe ich nicht, nur das hier.« Sie hielt kurz ihren Dienstausweis hoch.

Er betrachtete ihn, dann ausführlich Mara selbst: ihre Stiefel, ihre knallenge schwarze Jeans, die hoffnungslos abgewetzte Lederjacke, das Augenbrauen-Piercing, die rabenschwarzen Haare, die ihr bei den Kollegen den Spitznamen »die Krähe« eingetragen hatten.

Rasch zeigte sich ein Stirnrunzeln bei ihm. Eine Reaktion, die Mara vertraut war.

»Kommissarin? Tatsächlich?« Sein Ausdruck spiegelte einen kaum versteckten Anflug von Erheiterung wider. Er hätte Mara gewiss eher auf einer Fahndungsliste als im Polizeipräsidium verortet. Auch das kannte sie, obgleich seine Überheblichkeit besonders ausgeprägt war. Wie üblich versuchte sie, so etwas an sich abperlen zu lassen. Manchmal gelang es ihr gut, manchmal allerdings nicht.

»Nehmen wir doch Platz«, sagte Wilmersdorf zögernd, als überlegte er, ob er seinen edlen Polstern Maras Klamotten zumuten konnte.

»Wir können auch stehen bleiben.«

»Kaffee? Mineralwasser?«

Er bot es so gezwungenermaßen an, dass sie nicht darauf einging.

»Was können Sie mir über Alice Klinger sagen?«, fragte sie.

Seine Miene wurde ernst, geradezu staatsmännisch. Als müsste er vor geladenen Gästen in ein Mikrofon sprechen. »Wie traurig, wie erschütternd. Wir alle sind völlig mitgenommen. Eine derart ausgezeichnete Mitarbeiterin.

Mehr als das. Eine große Hoffnung für die Zukunft. Jeglichen Abwerbungsversuchen wären wir energisch gegenübergetreten.« Es wurde ihm bewusst, wie unpassend die letzte Bemerkung geklungen hatte, und so fügte er schnell hinzu: »In der Tat, sehr bedauerlich.«

»Hat irgendetwas darauf hingedeutet, dass Alice Klinger …« Sie sparte sich den Rest des Satzes.

»Dafür gab es nicht die geringsten Anzeichen.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein absoluter Schock für uns alle, dass Alice sich zu dieser tragischen Tat veranlasst gesehen hat.«

»Mit wem hat sie am engsten zusammengearbeitet?«

Der Managing Director vollführte eine ausholende Geste mit der Hand, die das gesamte Unternehmen miteinzuschließen schien. »Bei uns wird viel gearbeitet. Auch abends, auch an den Wochenenden. Aber da gibt es kein Gejammer wegen Überstunden oder zu großem Workload. Frau … äh, wie war doch gleich Ihr Name?«

»Kommissarin Billinsky.«

»Sie müssten mal meinen E-Mail-Account sehen, Kommissarin Billinsky. Die Hälfte der Nachrichten kommt nachts rein. Alle geben Gas, alle arbeiten zusammen, mal bei diesem Projekt, mal bei einem anderen. Manche spezialisieren sich auf Wohnimmobilien, andere auf Office, wieder andere auf Retail oder Logistics.«

»Worauf war Alice Klinger spezialisiert?«, fragte Mara mit diesem kategorischen Ton, den sie immer anschlug, wenn jemand meinte, ihr die Welt erklären zu müssen.

»Alice war einfach großartig. Sie war praktisch in allen Sektoren tätig, stets interessiert, voller Einsatzfreude.«

»Dann noch mal: Mit wem hat sie am engsten zusammengearbeitet? Und mit wem war sie darüber hinaus befreundet?«

»Befreundet?«, wiederholte er, als wäre das ein Begriff, mit dem er wenig anzufangen wusste. »Das müsste Esra Tuncel sein.«

»Gut, dann will ich mit Esra Tuncel sprechen.«

Keine fünf Minuten später saß Mara in einem Konferenzraum, einem kleinen, durchsichtigen Kasten, zentriert in der vierten Etage gelegen, Glastür, drei gläserne Wände, vor der vierten ein Großbildmonitor. Da bei Atlantique wohl nur die Chefs Einzelbüros besaßen, die restlichen Mitarbeiter aber in Großraumbüros untergebracht waren, sollte hier die Befragung stattfinden.

Schon wieder musste Mara warten. Sie hasste es, Zeit zu verlieren, und nahm sich mit ihrem Handy erneut die Website von Atlantique vor, doch das war nicht ergiebig.

Eine Frau Mitte zwanzig klopfte kurz an und kam herein. Kinnlange, ebenso tiefschwarze Haare wie Mara, hochhackige Schuhe, enger Rock, apricotfarbige Bluse – die Big-Business-Ritterrüstung für weibliche Angestellte, wie Mara es in Gedanken nannte.

»Ich bin Esra Tuncel, Senior Consultant«, sagte die Frau.

Dann saßen sie sich an dem Tisch gegenüber, der leer war abgesehen von der Technik für den Beamer und Anschlüssen für Laptops.

Esra musterte Mara auf ähnliche Art wie Silvio Wilmersdorf, wenn auch nicht ganz so hochnäsig.

»Sie wissen, weshalb ich mit Ihnen sprechen will«, meinte Mara, nicht in fragendem Ton.

Esra Tuncel nickte. »Ja, wegen Alice. Es ist so schrecklich.«

»Wie lange haben Sie mit ihr zusammengearbeitet?«

»Mehr als drei Jahre. Wir haben bei Atlantique an exakt demselben Tag angefangen.«

»Das verbindet, kann ich mir vorstellen.«

»Ja, wir mochten uns.«

»Würden Sie Alice als Freundin bezeichnen?«

»Keine enge Freundin, aber ja, wir haben uns oft ausgetauscht und nach der Arbeit mal einen Cocktail zusammen getrunken, auch über private Sachen gesprochen.«

»Hat sie sich zuletzt anders verhalten als üblich?«

»Eigentlich nicht. Ich hätte nie gedacht, dass sie so etwas tun könnte. Wir haben uns nie gegenseitig das Herz ausgeschüttet, aber ich glaube, dass ich es doch gemerkt haben müsste, dass sie so depressiv war.«

»Sie hat also keineswegs bedrückt gewirkt, richtig?«

»Nein. Sie war …« Esra Tuncel verstummte und senkte den Blick.

»Wie war sie überhaupt?« Mara versuchte das Gespräch in Gang zu halten. »So im Alltag? Während der Arbeit, in den Pausen?«

»Sie war nett, eine gute Kollegin, hilfsbereit, lustig, sehr tüchtig.«

»Sie wollte was erreichen im Job, stimmt’s?«

»Wer nicht? Vor allem hier. Bei uns arbeitet niemand, der nicht ehrgeizig und ambitioniert wäre.«

»Sie alle geben Gas«, wiederholte Mara die Worte des Chefs.

»Kann man so sagen, klar.« Die junge Frau hatte ein ernstes Gesicht, und Mara hatte nicht den Eindruck, dass das nur aufgrund der Situation so war. Esra wirkte zuverlässig, intelligent, sachlich.

»Als es passierte, war es spät am Abend«, meinte Mara. »Es kommt bei Atlantique anscheinend häufiger vor, dass man um eine solche Tageszeit noch hier ist.«

»Sehr häufig. Alice hat wirklich viel und gern gearbeitet, oft bis spät in die Nacht. Und sich nie beschwert.«

»Wer hielt sich sonst noch von der Belegschaft im Gebäude auf?«

»Keiner«, kam prompt die Antwort.

»Wie können Sie so sicher sein?«

»Weil ich an dem Abend noch mit Alice telefoniert habe.«

Maras Kinn ruckte hoch. »Ach?«

»Ich wusste, dass sie viel zu tun hatte und bot an, noch mal reinzukommen und ihr zu helfen. Aber sie lehnte ab. Sie meinte, sie würde auch bald nach Hause gehen, sie wäre ja sowieso schon wieder die Letzte. Und dabei hat sie gelacht.«

»Tatsächlich?«

»Ja. So als würde sie über sich selbst den Kopf schütteln, dass sie nicht längst Feierabend gemacht hat.«

»Demnach war sie keineswegs angespannt oder bekümmert.«

»Nein.«

Mara betrachtete sie aufmerksam. »Und sonst hat Alice nichts gesagt? Vielleicht Andeutungen gemacht, die erst im Nachhinein sonderbar erscheinen? Oder vielleicht war sie ja doch sogar ein wenig traurig, niedergeschlagen?«

»Nein, sie hat sich müde angehört nach dem langen Tag, aber davon abgesehen völlig normal.«

»Hatte sie eigentlich keinen Freund?«, wechselte Mara sprunghaft das Thema.

»Einen Freund? Nein.«

Alice’ Eltern hatten sich ja ähnlich geäußert, aber Mara gab sich nach außen dennoch überrascht. »Echt? So eine attraktive junge Frau.« Bewusst flapsig fügte sie an: »Nicht irgendwas am Laufen gehabt?«

»Nein, das hatte sie nicht«, erwiderte Esra Tuncel in einem Ton, der zeigte, dass sie die Frage ungehörig fand.

Doch wenn sich jemand so pikiert zeigte, wurde Mara immer sofort hellhörig, sie konnte nicht anders. »Also nichts am Laufen?«, wiederholte sie.

»Wieso betonen Sie das so?«

»Wieso stört Sie das so?«

»Mich stört es nicht, es ist nur …«

»War Alice penibel?«, wechselte Mara erneut das Thema. Einmal mehr musste sie an eines der Tatortfotos denken.

»Bitte? Also, wenn Sie korrekt meinen, dann ja. Das war sie. Korrekter als korrekt. Bei Alice musste immer alles ganz exakt sein. Erst recht im Job, sie hat sich nie verrechnet, egal wie kompliziert es wurde. Egal ob erwartete Mieteinnahmen, Gewinnspannen, drohende Verluste, sie wusste, was am Ende herauskommt.«

»War Alice sehr gepflegt?«, fragte Mara betont beiläufig.

»Bitte?« Esra schaute sie verwirrt an.

»Ist doch eine einfache Frage. War Alice eine sehr gepflegte Erscheinung?«

Ein zögerliches, immer noch irritiertes Nicken.

»Frau Tuncel, haben Sie jemals bemerkt, dass Alice’ Outfit nicht ganz so ordentlich gewesen wäre?«

Diesmal folgte ein Kopfschütteln. »Keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.«

»Mal ein blödes Beispiel«, erwiderte Mara. »Können Sie sich vorstellen, dass ihre Bluse nicht richtig zugeknöpft gewesen wäre? Etwas in der Art?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Das gilt für alle Beschäftigten hier, oder?«

»Ja, ein perfektes Erscheinungsbild gehört dazu. Bis hin zu jedem kleinen Detail.«

Mara wartete kurz, bis sie den nächsten gedanklichen Sprung vollführte. »Mit wem hatte Alice ein Verhältnis?« Die Frage kam völlig unvermittelt. Es war ein Versuch auf gut Glück – und ein Hauch Intuition.

Esra Tuncel blickte verblüfft auf. Und schwieg.

»Mit wem?«, fragte Mara erneut.

»Sie hatte kein Verhältnis. Nicht dass ich wüsste.«

»Nicht dass ich wüsste«, wiederholte Mara leise, aber doch mit wohldosierter Ironie.

In Esra Tuncels Gesicht zuckte ein Muskel. »Wollen Sie sich etwa über mich lustig machen? Meine Kollegin, meine Freundin ist gerade …«

»Ich weiß, was mit Ihrer Freundin passiert ist«, kam Mara ihr ruhig zuvor. »Genau deswegen bin ich hier. Und genau deswegen muss ich Fragen stellen. Je klarer und ehrlicher Sie antworten, desto schneller sind Sie mich wieder los.«

Sie konnte es auf einmal förmlich riechen, das Geheimnis, das hier im Raum stand. »Am besten, Sie sprechen es einfach aus«, meinte sie gelassen. »Sie wissen doch Bescheid. Unter Freundinnen, ich bitte Sie.«

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Esra Tuncel spitz und verlagerte ihr Gewicht auf dem Orville-Bürostuhl, von denen sechs Stück rund um den Konferenztisch platziert waren.

»Es gab da jemanden, oder?«, beharrte Mara.

Keine Antwort.

»Ganz offen: ich kann es Ihnen an der Nasenspitze ansehen.«

Nur widerstrebend ließ sich die Frau zu einem Nicken hinreißen.

»Was können Sie mir darüber mitteilen, Frau Tuncel?«

Sie räusperte sich. »Alice hat ziemlich geheimnisvoll getan, nur ein paar Andeutungen, das war’s. Sie hat mir nie gesagt, wer von Atlantique es war.«

»Aber Sie wussten es natürlich trotzdem. Tag für Tag in derselben Firma, mal eine Pause in der Kaffeeküche, mal ein Treffen nach Feierabend, Andeutungen, Schmunzeln. So ist das doch.«

Esra Tuncel wich Maras Blick aus.

»Wer ist der Mann?«, bohrte Mara weiter.

Keine Antwort.

»Wer ist der Mann?«

Leise nannte Esra Tuncel den Namen.

»Sieh mal einer an«, meinte Mara nur.

»Es ging nicht allzu lange und …« Die junge Frau verstummte.

»Ja?«

»Er hat sich wohl nicht nett verhalten.«

»Nicht nett?«

Wieder das Räuspern. »Er hat Alice einfach fallen lassen. Ich hatte ihr gesagt, es würde so kommen. Es hat sie …« Sie verstummte abermals abrupt.

»Es hat sie sehr getroffen, wenn ich Sie richtig verstehe. Wann war das?«

»Vor Kurzem.« Erst jetzt schaute Esra Tuncel Mara wieder an. »Das heißt nicht, dass er die Schuld dafür trägt. Also, dafür dass Alice sich …«

»Nein, das heißt es nicht«, stimmte Mara zu.

»Wie gesagt, Alice hat nicht depressiv gewirkt. Ich finde, dass man ihn deshalb …« Esra war sichtlich durcheinander. »Ähm, so genau kenne ich ja nicht alle Details. Ich denke nur, es gehört sich nicht, dass Sie mich dazu gebracht haben, darüber zu …«

»Kam es zum Streit zwischen den beiden?«, fragte Mara ungerührt weiter.

Esra seufzte. »Nun ja, friedlich lief das am Schluss nicht ab. Aber ich weiß nicht genug, um dazu etwas zu äußern oder um ihn zu beschuldigen an Alice’ … Ähm, jedenfalls …« Sie geriet ins Stottern.

»Aber Sie wissen genug, um ihn zu verachten.«

Wieder zuckte es in Esra Tuncels Gesicht, diesmal sichtlich zornig. »Kann ich jetzt endlich gehen?«, fragte sie mit jäher Schärfe in der Stimme. »Ich habe noch einen wichtigen Außerhaustermin.«

»Klar, Sie können gehen.« Mara nickte ihr zu. »Wie es aussieht, muss allerdings ich noch ein wenig hierbleiben.«

 

7

Es war ein merkwürdiges Gefühl.

So vertraut war Kommissar Jan Rosen dieser Stuhl, so oft hatte er hier gesessen. Doch jetzt fühlte sich alles fremd an, als wäre er ein Eindringling. Die erfahrenen Ermittler Schleyer und Patzke hatten ihn nur mit einem kurzen, ausdruckslosen Nicken gegrüßt, als er an ihren Schreibtischen am anderen Ende des Großraumbüros vorbeigeschlichen war. Sie hatten ohnehin nie viel mit ihm anfangen können, und ansonsten war er wohl niemandem in der Abteilung aufgefallen.

Still saß er da und ließ den Blick kreisen. Sein Platz war natürlich ordentlich aufgeräumt, Billinskys Platz natürlich ein Chaos aus Notizen, Ausdrucken, Kaffeebechern und zerknüllten Zetteln.

Schritte näherten sich, und er wusste sofort, um wen es sich handelte. Sekunden darauf tauchte sein Chef auf.

»Sie sind’s ja tatsächlich, Rosen. Hab ich also doch richtig gesehen«, brummte Hauptkommissar Klimmt. Es war später Nachmittag, und Rosen wurde bewusst, dass er insgeheim gehofft hatte, weitaus mehr Kollegen hätten die derzeitige relative Ruhe genutzt, um sich in den Feierabend zu verabschieden. Er hätte wohl noch später kommen sollen.

»Ich möchte noch ein paar private Dinge aus dem Schreibtisch holen«, hörte er sich sagen, wie immer mit einer gewissen Befangenheit in Klimmts Gegenwart, selbst jetzt noch.

Der Hauptkommissar erwiderte nichts.

»Wo steckt eigentlich Billinsky?«, meinte Rosen bemüht leichthin, um der entstandenen Stille ein Ende zu setzen.

»Schon den ganzen Tag unterwegs. Da fragt man sich automatisch, was sie wohl wieder anstellt.«

Rosen schmunzelte pflichtschuldig. Etwas war ungewohnt daran, wie Klimmt die Silben hervorbrachte: vorsichtig, abwägend. Das entsprach nicht seiner Art.

Es war nie leicht für Rosen gewesen, mit seinem Chef klarzukommen, diesem knurrigen alten Bullen. Aber bei welchem Vorgesetzten hätte er es schon einfach gehabt, ein Typ wie er, der ständig mit sich rang. Wäre Billinsky nicht urplötzlich in diese Abteilung geplatzt, wäre er wohl untergangen. Durch sie hatte er gelernt zu kämpfen – und sich unbequemen Wahrheiten zu stellen. Auch der Tatsache, dass man konsequent sein und Schluss machen musste, wenn man auf dem Holzweg war. Schluss machen mit dieser Art von Leben, das irgendwie nie sein Leben gewesen war.

Klimmt taxierte ihn, wiederum erstaunlich verhalten.

»Kann ich was für Sie tun, Chef?«

»Sie kennen mich, Rosen, ich konnte noch nie was durch die Blume sagen. Ich weiß nicht, wie Sie zum Rest Ihrer Familie stehen, ich hab nie danach gefragt, weil ich so was nie fragen würde.«

»Worum geht es?« Rosen spürte, was kommen würde, und gab selbst die Antwort: »Es ist wegen Niko.«

»Ich habe keine guten Nachrichten für Sie, Rosen.«

 

8

Mara Billinsky ging wortlos an dem Schreibtisch von Wilmersdorfs Assistentin vorbei, die ihr verblüfft hinterhersah. Der Managing Director war ähnlich überrascht, als sie nach einem kurzen Anklopfen sofort die Tür öffnete und in sein Büro spähte.

»Ach? Sie sind ja immer noch da«, entfuhr es ihm in einem Ton, als wäre sie eine unfähige Praktikantin, die ständig im Weg herumstand.

»Stimmt genau. Und ich muss Sie noch mal stören.«

Er klappte seinen Laptop zu und stand auf. »Sehr ungünstig. Ich habe ein wichtiges Meeting. Aber meine Assistentin wird Ihnen …«

»Es könnte gleich noch ungünstiger werden«, meinte sie ruhig. »Vor allem für Sie.« Sie betrat den Raum und machte die Tür hinter sich zu.

»Ich muss sagen, Ihre Art gefällt mir nicht.«

»Und ich muss sagen, ich habe hier einen merkwürdigen Todesfall zu untersuchen. Da ist nun mal keine Zeit, die Samthandschuhe anzuziehen.«

»Merkwürdig?«, wiederholte er spitz. »Wieso? So erschütternd diese Geschichte auch ist, muss ich Sie doch ernsthaft bitten, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Das gebührt allein der Anstand. Es geht um einen entsetzlichen Freitod und …«

»Selbst wenn es ein Selbstmord war, wäre es doch wichtig, etwas über die Gründe dafür zu wissen. Auch das gebührt der Anstand, finden Sie nicht? Was war also der Auslöser für den Todesfall, was denken Sie? Liebeskummer?« Sie musterte ihn in dem Bewusstsein, dass der Blick aus ihren dunklen Augen, noch verstärkt durch Kajal, nicht als angenehm empfunden wurde.

Er hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Liegt es etwa daran, dass ich Sie nicht mit dem nötigen Respekt empfangen habe? Falls dieser Eindruck …«

»Es geht um Respekt gegenüber Alice Klinger«, wandte Mara rasch ein. »Und darum, mehr über die Gründe zu erfahren, die zu ihrem Tod führten.«

»Über Alice als Mitarbeiterin habe ich mich bereits geäußert. Und über ihr Privatleben kann ich leider wenig sagen.«

»Also auch nicht über Alice’ Liebesleben.«

Er schnaufte verärgert auf. »Darüber ganz gewiss nicht.«

»Ganz gewiss?«, wiederholte sie nun seine Worte und taxierte ihn weiterhin direkt.

Er konnte es nicht verhindern, rot anzulaufen. Eine Ader pochte an seiner Schläfe. »Noch einmal, Kommissarin, Ihre Art …«

»Wie sieht es mit Ihrer Art aus? Gerade bei einer jungen attraktiven Angestellten?«

»Ich verbitte mir Anspielungen …«

»Ich halte mich nie mit Anspielungen auf, glauben Sie’s mir. Ich will hier auch niemandem auf die Nerven gehen. Aber eine junge Frau ist gestorben, und ich muss wissen, was es damit auf sich hat. Mir geht es in erster Linie um eine Aussage, die Sie in direkte Verbindung mit Ihrer Mitarbeiterin Alice Klinger bringt.«

Sein Mund klappte auf, doch gleich wieder zu. Er wurde noch roter.

»Sie sind verheiratet, nicht wahr?«

»Ich wüsste nicht, was mein Familienstand zur Sache tut, und erinnere Sie noch einmal daran, gewisse Grenzen und vor allem Ihre Kompetenzen nicht zu überschreiten.«

»Ich frage Sie ganz konkret: Hatten Sie ein Verhältnis mit Alice Klinger?«

Hinter ihm befand sich die Wand aus Glas, die die Sicht auf den noch grauer gewordenen Himmel eröffnete. Einige verlorene Regentropfen fielen, der Abend rückte näher.

»Beantworten Sie bitte meine Frage, Herr Wilmersdorf.«

»Erstens geht Sie das nichts an, und zweitens ist es völlig absurd.«

»Warum sollte es absurd sein? So was kommt doch in vielen Firmen mal vor.«

Er erwiderte nichts.

»Ich bin bereit, das absolut vertraulich zu behandeln, und je schneller wir das Thema abgehandelt haben, desto schneller bin ich weg. Also, es gibt eine Aussage, die keine Zweifel daran lässt, dass …«

»Ein Verhältnis kann man das wirklich nicht nennen«, platzte es aus ihm heraus.

»Wie dann? Sex?«

Entrüstet starrte er sie an, die Ader pochte immer stärker. Er wirkte völlig überrumpelt, offenkundig hätte er nie mit einer solchen Situation gerechnet. »Mein Gott, ein Flirt war es vielleicht, mehr nicht«, presste er kaum hörbar hervor.

»Für wen war es nicht mehr?«, fragte Mara gelassen. »Für Sie oder für Alice?«

Er schnaufte schon wieder. »Hören Sie, ich habe gleich an anderer Stelle im Hause eine Videokonferenz mit Vertretern der übrigen Niederlassungen und werde jetzt keine Fragen mehr beantworten.«

Sie beäugten sich gegenseitig.

»Übrigens«, fügte er an. »Wie heißt Ihr Vorgesetzter?«

»Hauptkommissar Klimmt. Grüßen Sie ihn von mir.«

Sie drehte sich um und verließ das Büro.

 

9

Ringsum leerten sich in dem Großraumbüro die Arbeitsplätze. Esra Tuncel blieb jedoch an ihrem Schreibtisch sitzen und tat so, als wäre sie noch mit dem Investment Memorandum beschäftigt, das als PDF den Bildschirm füllte. Dabei hatte sie schon seit gut einer Stunde nichts mehr daran korrigiert.