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*Litersum Das Universum aller Buchwelten ist nur eine Tür weit entfernt *Für Riley Bell ist das Litersum Mittel zum Zweck. Um in London über die Runden zu kommen, führt sie Leser und Blogger gegen Bezahlung in echte Buchwelten ohne ihre Kunden über die Magie des Litersums in Kenntnis zu setzen. Als eine Bloggerin bei einem dieser Besuche spurlos verschwindet, gerät Riley ins Visier von Noah Carver, der für die polizeiähnliche Task Force META arbeitet, die im Litersum für Recht und Ordnung sorgen soll. Um ihre Unschuld zu beweisen, hilft sie ihm bei der Suche nach der Vermissten, ohne zu ahnen, dass diese Entscheidung ihr ganzes Leben verändern wird. Vor allem, weil Noah ihr näherkommt, als sie es jemals bei einem anderen Menschen zugelassen hat. Doch wie geht man damit um, wenn man Vertrauen für einen Fluch hält?____Musenfluch ist ein in sich abgeschlossenes Spin-off aus der Welt des Litersums.
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Seitenzahl: 456
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Copyright © 2020 by
Lektorat: Natalie Röllig, Lektorat Bücherseele
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout: Michelle N. Weber
Umschlagdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
Charakterillustrationen: Judith Kowalczuk
ISBN 978-3-95991-921-0
Alle Rechte vorbehalten
Für meine Omas
Uda, Marianne und Gerti.
Dank euch weiß ich,
dass man für Fantastik nie zu alt ist.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Nachwort
Danksagung
Die letzten Augenblicke vor dem Betreten einer Buchwelt waren immer die schönsten.
Sobald ich mich von der Gruppe der Buchblogger und Leser löste, die sich auf dem Bürgersteig vor dem Buchladen Books by Bea versammelt hatten, und auf die Tür zuging, verstummten alle und richteten die Blicke auf mich. Nahezu greifbare Aufregung lag in der Luft. Ich drehte mich noch einmal zu ihnen um, die Klinke schon in der Hand. Sie machten einen vorsichtigen Schritt auf mich zu, die Augen glitzernd vor Vorfreude. Meine Mundwinkel zuckten, die Begeisterung war ansteckend. Doch ich musste die Kontrolle behalten. Ich atmete einmal tief durch.
»Denkt an die Regeln«, sagte ich. »Ihr habt genau eine Stunde, um euch umzusehen, dann treffen wir uns am Ausgangspunkt wieder. Ihr könnt mit den Charakteren reden und alles, was nicht anders ausgeschildert ist, anfassen. Aber es ist verboten, irgendwas aus den Kulissen, die ihr gleich betreten werdet, mitzunehmen oder etwas von euch dort liegen zu lassen.« Eine junge Frau aus der Gruppe hob die Hand. Ich wusste genau, was sie fragen wollte. »Nein, es gibt keinen Souvenirshop. Ihr dürft aber so viele Fotos schießen, wie ihr möchtet.« Mit enttäuschtem Ausdruck senkte sie den Arm. Ja, es war verschenktes Potenzial, keine Andenken zu verkaufen, aber das ließ sich nicht ändern.
Ich sah die dreizehn Anwesenden nacheinander an, doch es gab keine Fragen mehr. Mit einem Nicken drehte ich mich um. Gut. Sie waren eine ruhige Gruppe und würden hoffentlich keinen Ärger anrichten. Ich straffte die Schultern, dachte an die Buchwelt, in die ich wollte, und öffnete die Tür zum Buchladen. Nicht der Verkaufsraum des Ladens wartete dahinter auf uns, sondern die Bibliothek eines Schlosses aus einer anderen Welt. Der leicht muffige, aber unverwechselbare Duft von vergilbtem Papier strömte uns entgegen und vermischte sich mit der Londoner Stadtluft.
Hinter mir keuchte die Gruppe auf. Ich lächelte.
»Folgt mir.« Die Dielen knarzten unter mir, als ich einen Fuß auf den alten Bodenbelag setzte. Ich hielt die Tür auf und die Gruppe strömte an mir vorbei in die heiligen Hallen des Gemäuers. Noch vor einem halben Jahr hatte man uns weismachen wollen, dass Körperkontakt nötig war, um Menschen in das Litersum zu führen. Aber das war, wie vieles andere, eine Lüge gewesen.
Meine »Kunden« wagten sich zunächst nur zögerlich vor, dann wich ihre Scheu der Neugierde und ihre Bewegungen wurden selbstsicherer. Sie rissen die Augen auf, schauten sich in der Bibliothek um, die sie nur aus dem Buch The Last Dragonheart kannten, das gerade so angesagt war. Ausrufe des Staunens, teilweise auch des Unglaubens, hallten durch den Saal. Vergessen waren die Fotos und Stories, die sie hatten machen wollen. Sie genossen den Moment und ich schmunzelte darüber, als ich die Tür hinter uns schloss.
Jemand trat neben mich.
»Wie ist das möglich?«, fragte eine der Bloggerinnen, deren Account in den sozialen Netzwerken Heather Reads hieß. Der Name prangte in großen Lettern auf ihrem Shirt. »Von draußen wirkte das Haus so klein, wie kann es hier drinnen so riesig sein?«
Ich blickte hinauf zu der Decke der Bibliothek, die unerreichbar schien. Sie hing noch höher als die der ZwiBi und dort war der Anblick schon atemberaubend. Aber das hier …
»Magie«, antwortete ich und zwinkerte der jungen Frau zu.
Sie grinste und nickte. »Ich sehe schon, Zauberer verraten nie ihre Tricks.« Mit großen blauen Augen gesellte sie sich zu den anderen zurück, die durch die Gänge zwischen den Regalen streiften und sich gegenseitig versicherten, dass sie wirklich hier waren und auch dasselbe sahen.
Dabei wussten sie nicht einmal, wo »hier« war. Sie dachten, sie wären in einer unfassbar gut gemachten Pop-up-Buchwelt gelandet, die sich auf die Räumlichkeiten aus einem aktuellen Bestseller spezialisiert hatte. Doch in Wirklichkeit waren sie im Litersum – und mitten in der Geschichte, die sie so liebten. Ein Raunen ging durch die Gruppe, als sich die vermeintlichen Schauspieler zeigten. Dabei waren es die echten Charaktere aus dem Buch. Nun, so echt man als Fiktion eben sein konnte. Die Mädchen kreischten begeistert und auch die Jungen, die heute hergekommen waren, betrachteten die Charaktere staunend. Nun wurden doch die Handys gezückt und Selfies geschossen. Interessanterweise war es bei diesen wie bei den Buchcharakteren selbst – sowohl in »echt« als auch auf den Fotos sahen sie unterschiedlich aus. Je nachdem, wie sich der Betrachter einen gewissen Charakter vorstellte. Diese Tatsache war mir zumindest zum Teil schon durch meine Gespräche mit anderen Anti-Musen wie mir bekannt gewesen. Dass es sich auch auf die Fotos auswirkte, hatte ich später in den Foren erfahren, über die ich die Termine für die nächste Pop-up-Buchwelt verkündete. Dort gab es hitzige Diskussionen über das Aussehen der »Schauspieler«. Fast so ausschweifend wie vor ewigen Zeiten bei einem gewissen Kleid, das für manche weiß-gold und für andere blau-schwarz war. Zum Glück bohrten meine Kunden bei mir nicht tiefer nach und akzeptierten darüber hinaus ein paar Dinge, die unerklärlich waren, um sich selbst die Illusion nicht zu zerstören. Wie zum Beispiel, warum man den Innenraum des Ladens erspähte, wenn man kurz vor dem Besuch der Pop-up-Welt durch das Fenster nach drinnen blickte, und nicht das, was einen dann hinter der Tür erwartete. Oder wieso es ebenjener Buchladen war, der nur fünf Minuten nach den Besuchen wieder durch die Tür betreten werden konnte, während von der anderen Welt nichts mehr zu sehen war.
Vor den Terminen sorgte Lauren, die Inhaberin, dafür, dass der Eingang abgeschlossen war und sich keiner vorab in den Laden verirrte und noch verwirrter war, wenn er anschließend direkt in die Pop-up-Welt eintauchte. Eigentlich war es schade, dass die Menschen ihren Glauben an Magie selbst dann nicht zuließen, wenn sie direkt von ihr umgeben waren. Ich stieß sie mit der Nase darauf, und trotzdem suchten sie in allem die Logik oder speisten sich selbst mit fadenscheinigen Erklärungen ab. Hauptsache, nichts gefährdete ihre Realität. Dafür zogen sie sich dann doch lieber in Bücher und Geschichten zurück. Vielleicht behalf sich das Litersum aber auch mit einem kleinen Trick und pflanzte diese Zweifel an der Existenz von Magie selbst in den Köpfen der menschlichen Besucher ein, um sich zu schützen. Wer wusste schon, was geschehen würde, wenn die Menschen tatsächlich erkannten, dass es Magie wirklich gab? Nein, es war vermutlich besser so, wenn meine Kunden mit diesen schönen Lügen leben konnten.
Während sich die Buchverrückten mit den Charakteren unterhielten, die diese Besuche dank der sich bietenden Abwechslung guthießen, zog ich mich in eine Regalreihe zurück und zückte meine Geldbörse. Ich steckte die losen Scheine aus meiner Jackentasche hinein und zählte dabei sicherheitshalber noch mal nach. Doch es war alles da, jeder der heute Anwesenden hatte seine zwanzig Pfund bezahlt. Damit würde ich über die nächsten Wochen kommen.
Ich gähnte. Vielleicht sollte ich mir mal wieder eine richtige Cola gönnen, um die Müdigkeit zu vertreiben, die sich seit Wochen an mich klammerte wie eine nervende Klette. Der Konkurrenzdrink, den ich während meiner Schichten im Heartbreak Hotel zu mir nahm, war einfach nicht damit zu vergleichen. Ich überschlug kurz die noch anstehenden Kosten für die Woche und lächelte zufrieden, als mein Budget einer guten Cola zustimmte.
»Hallo, Riley«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Ich drehte mich um. River Heart, einer der Helden des Romans, in dessen Welt wir uns befanden, war wie aus dem Nichts aufgetaucht und lehnte neben mir an einem der Regale. Die Arme vor der Brust verschränkt, schaute er freundlich zu mir herab. Seine hellblonden, fast schon weißen Haare glänzten im Sonnenlicht. Kein Wunder, dass so viele der Leserinnen und Leser ihm verfallen waren. Ich kannte das Buch nicht, aus dem er stammte, hatte kein eigenes Bild von ihm, daher erschien er mir so, wie sich die Autorin ihn erdacht hatte. Bereits bei unserer ersten Begegnung waren mir seine schönen blauen Augen aufgefallen. Darauf achtete ich bei jedem, den ich traf, als Erstes. Sie enthüllten die wahre Natur einer Person. Ob Mensch oder Buchcharakter. Denn so gut Charaktere auch von ihren Schöpfern ausgearbeitet worden waren, ihren Augen fehlte doch dieses gewisse Etwas. Bei den Bureal-Kindern, die eine Mischung aus beiden darstellten, war das nicht der Fall.
»Hi«, grüßte ich zurück. »Hast du schon genug von deinen Verehrerinnen?« Ich beugte mich vor und schaute an ihm vorbei. In ein paar Meter Abstand warteten einige der Mädchen mit gezückten Handys darauf, dass er sein Gespräch mit mir beendete. Ob ihnen auffiel, dass sie hier keinerlei Empfang hatten?
»Habe ich nie«, gab River säuselnd zurück. »Ich wollte nur fragen, ob du gedenkst, deinen Teil der Abmachung einzuhalten.« Er streckte die Hand aus.
»Wie konnte ich das nur vergessen?« Ich wühlte im Chaos meiner Tasche herum, bis ich fand, was er verlangte. Er grinste, als ich ihm den Schokoriegel überreichte. Genauso wie es verboten war, Dinge aus dem Litersum in die echte Welt zu bringen, war es untersagt, Dinge aus der echten Welt in einer Buchwelt zu hinterlassen. Von einigen Ausnahmen mal abgesehen. Aber hey, es war ebenfalls verboten, Scharen an Buchverrückten in das Litersum zu führen, also machte ein Schokoriegel mehr oder weniger auch keinen Unterschied. River hatte seine Vorliebe für das süße Zeug bei seinem letzten Besuch in der echten Welt entdeckt, hatte ohne Geld und sonstige Bekannte dort aber Schwierigkeiten, ranzukommen. Deswegen hatten wir einen Deal ausgehandelt. Sein Schweigen über meine Aktivitäten in seiner Buchwelt im Gegenzug für ein paar Schokoriegel. War nur fair. Und wesentlich leichter zu erfüllen als die teilweise wahnwitzigen Forderungen anderer Charaktere aus Buchwelten, bei denen ich die Besuche dann leider nicht umsetzen konnte.
Denn auch nach den Vorkommnissen vor einem halben Jahr, bei denen eine Anti-Muse eine Buchwelt gerettet und damit unseren Ruf aufpoliert hatte, waren die Vorbehalte gegenüber den Bureal-Kindern wie mir noch immer da. Nicht jeder wollte sich mit uns abgeben, und noch weniger würden meine halb-legalen Besuche im Litersum toleriert werden, die ich seitdem aufgenommen hatte. Wobei der legale Teil daran lediglich meine Anwesenheit war. Dass ich Menschen dafür Geld abknöpfte … Es war besser, niemand erfuhr davon. Vor allem jetzt, da Mnemosyne, ich nannte sie die Herrscherin über das Litersum, und Mrs Patton von der Musenagentur eine Einheit aufbauten, die wie eine Art Polizei das Geschehen im und um das Litersum beobachtete und im schlimmsten Fall auch sanktionierte. Die dazu gegründete und im Knotenpunkt angesiedelte Taskforce META, die unter der Schirmherrschaft von Emma Holmes und Thia Watson stand, steckte noch in den Kinderschuhen, pflegte aber bereits jetzt Kontakte zur Polizei der echten Welt, um für die Zukunft gut aufgestellt zu sein. Zudem wurde sie aktuell von Bureal-Kindern und Buchcharakteren unterstützt, die Seite an Seite arbeiteten, um welten- und universenübergreifende Angelegenheiten, quasi auf der Metaebene, zu regeln. Für das Litersum hatte diese Entwicklung nur Vorteile, für jemanden wie mich eher nicht.
»Ich danke dir«, sagte River, ohne den Blick von dem Schokoriegel zu lösen. Er steckte ihn in die Tasche seiner Leinenhose, tippte sich kurz an den Kopf und zog von dannen. Seine Bewunderinnen erwarteten ihn schon. Die Mädchen wechselten sich damit ab, gemeinsam Fotos mit ihm zu schießen.
Genau eine Stunde ließ ich den Buchliebhabern, dann trommelte ich alle zum Aufbruch zusammen. Traurig, aber mit einem begeisterten Glitzern in den Augen fanden sie sich wieder vor der Tür ein, durch die wir gekommen waren. Ich zählte sie kurz durch, kam auf dreizehn und scheuchte sie zurück in die echte Welt. Sie unterhielten sich aufgeregt, zeigten sich ihre Fotos und kamen aus dem Schwärmen über die Schauspieler, die voll in ihren Rollen aufgegangen waren, gar nicht mehr heraus. Wenn sie wüssten …
»Wann gibt es wieder freie Termine?«, fragte ein Blogger, als ich die Tür hinter mir zuzog und die Verbindung zur Buchwelt kappte. Sofort verstummten alle und richteten die Blicke auf mich. Sie gingen davon aus, dass ich heute noch weitere, bereits ausgebuchte Gruppen in die Pop-up-Buchwelt führte, weshalb man nicht noch einmal spontan einsteigen konnte. Und davon, dass es pro Besuch nur dreizehn Teilnehmer sein durften, die nur eine Stunde Zeit hatten, bevor der nächste Termin anstand. Doch das waren Lügen, Vorwände, um die Besichtigungen einzugrenzen. Mein Alltag ließ einfach nicht mehr zu, die Dreizehn war meine Lieblingszahl und zu viele Besichtigungen an einem Tag erhöhten möglicherweise die Gefahr, entdeckt zu werden. Und davon hätte niemand etwas.
In Gedanken ging ich meinen Terminplan durch.
»Vielleicht in zehn Tagen«, antwortete ich. »Ihr werdet es im Forum erfahren. Ich hoffe, ihr hattet Spaß?« Erneut versanken sie in Schwärmerei und Vorfreude auf das nächste Mal. Sehr gut. So würde die Kasse weiter klingeln. Ich sah ihnen hinterher, als sie sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Ein paar von ihnen wollten noch etwas zusammen essen gehen.
Apropos essen … Das Heartbreak Hotel wartete auf mich. Trotz der Aussicht auf noch mehr Arbeit schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Der alte Diner mit dem Rockabilly-Charme war einer meiner liebsten Orte in London. Die pastellfarbenen Bänke und Metalltische, die alten Radios und die Jukebox, die nur noch diesen einen Song von Elvis spielen konnte – sie strahlten Vertrautheit aus. Seit Jahren war die Atmosphäre gleich, hieß mich willkommen, egal, wie sehr ich mich verändert hatte. Oder die Welt um mich herum.
Meine Schürze lag schon hinter dem Tresen bereit, als ich im Diner ankam. Sophia, die an diesem Abend mit mir die Schicht übernahm, hatte sie mir rausgelegt. Sie grüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. Es war mir ein Rätsel, wie sie es nach einem langen Tag an der Uni noch auf die Reihe brachte, zu arbeiten und fröhlich auszusehen. Mich kostete es alle Anstrengung, die Gäste mit der vorgeschriebenen Freundlichkeit zu empfangen. Denn auch wenn ich den Diner liebte, lag mir das dauernde Reden mit den Gästen nicht. Das Aufnehmen der Bestellungen, die kurzen Small Talks und die Verabschiedungen gepaart mit dem Dauerlächeln schlauchten mich. Meine kurzen Unterredungen mit den Bloggern, die sich die meiste Zeit um sich selbst kümmerten, glichen im Vergleich dazu einer Erholung. Die Müdigkeit ließ meine Muskeln jetzt schon aufstöhnen und ich hatte noch acht Stunden Arbeit vor mir, in denen die grelle Neonröhrenbeleuchtung mir in den Augen brennen würde. Ab und zu zwang ich mich hinter dem Tresen zu einem Moment der Ruhe, trank einen Schluck der Cola-Konkurrenz und atmete tief durch. In einem dieser Augenblicke gesellte sich Sophia zu mir. Sie stellte einen Stapel dreckiges Geschirr vor die Durchreiche zur Küche, wo es von den Aushilfen in Empfang genommen wurde. Mit schnellen Griffen zapfte sie sich ein Wasser aus dem Hahn und lehnte sich neben mich an die Schränke. Ich bewunderte ihre dunkelblaue Jeans, die an manchen Stellen große Löcher hatte. Es gab nicht viele, denen das stand, aber Sophia war eine von ihnen. Gepaart mit dem am Bauch zusammengeknoteten karierten Hemd passte sie ganz hervorragend zum Flair des Diners, weshalb unser Chef ihr diesen Stil durchgehen ließ. Andere Restaurantbesitzer wären an die Decke gegangen. Auch bei mir, weil ich mit einem grauen Strickpullover, schwarzen Hosen und lavendelfarbenen Chucks nicht wirklich wie eine Kellnerin aussah. Aber zum Heartbreak Hotel passte es.
Sophia deutete mit dem Kopf auf den Innenraum. »Ganz schön viel los heute.«
Ich nickte. »Man könnte meinen, wir wären die Einzigen, die heute offen haben. Als gäbe es im Rest der Stadt nichts mehr zu essen.«
»Das sind die Apfel-Pancakes. Die locken alle hierhin«, sagte Sophia und lachte. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. Mein Magen knurrte wie aufs Stichwort. »Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, erkundigte sie sich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Keine Ahnung. Mir reicht erst mal die Cola.«
Sophia schüttelte den Kopf. »Natürlich. Ich frage Joey mal, ob er ein paar Reste für uns übrig hat. Vielleicht sind wieder ein paar Pfannkuchen missglückt.«
Tatsächlich kam sie wenig später mit einem Teller voller Pancakes samt karamellisierten Apfelstücken zurück.
»Die sehen aber nicht angekokelt aus«, stellte ich fest, als ich einen ersten Bissen nahm. Sophia steckte sich schmunzelnd ein Stück Obst in den Mund. Ihre grünen Augen blitzten wissend auf. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Joey hatte die Pancakes extra für uns gemacht. Von wegen Reste … Ich holte Luft, doch Sophia ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Ich gehe heute Abend mit ein paar Freunden noch etwas trinken. Hast du Lust, mitzukommen?«
Meine To-do-Liste blinkte vor meinem inneren Auge auf. Die Grafikaufträge warteten … Ganz zu schweigen von den Kosten für einen Drink in London. »Sorry, aber heute ist es echt schlecht.«
Sophia verzog den Mund zu einer missmutigen Schnute. »Das ist es immer.«
»Ich wünschte wirklich, es wäre nicht so. Entschuldige.« Ein Paar in einer Sitzecke winkte mir zu. Ich schluckte den letzten Bissen hinunter, legte die Gabel neben den Teller und wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Die Pflicht ruft.«
Am Ende meiner Schicht taten mir die Füße weh und ich sehnte mich nach meinem Bett. Doch der Tag beziehungsweise die Nacht war noch lang. Ich legte meine Schürze in den Schrank im Hinterzimmer, bedankte mich bei Joey für das Essen und machte mich auf den Weg nach Hause. Vor der Tür zog ich meine Jacke fester um mich. Es wurde immer kälter, und schneller, als mir lieb war, würde der Winter kommen, und mit ihm die dunklen Tage, die nie zu enden schienen.
Zurück bei der Buchhandlung, durch deren Tür ich am Mittag die Buchverrückten geführt hatte, stellte ich erstaunt fest, dass im Verkaufsraum noch Licht brannte. War Lauren etwa noch immer hier? Statt zur Haustür zu gehen, die in meine Wohnung über der Buchhandlung führte, klopfte ich an die Tür von Books by Bea. Ich wollte nur kurz schauen, ob alles in Ordnung war. Vielleicht war Lauren auch wieder in einer Geschichte abgetaucht und hatte die Zeit vergessen.
Es dauerte nicht lange, bis sie nach vorne kam und mir öffnete. Ihre dunkelbraunen Haare thronten in einem losen Knoten auf ihrem Kopf. Lauren war nur ein paar Jahre älter als ich, Mitte zwanzig, und führte die Buchhandlung nun schon seit drei Jahren. Ihr Vater war überraschenderweise sehr krank geworden und er und ihre Mutter Bea, nach der der Laden benannt war, hatten die Arbeit dort aufgeben müssen. Er aus gesundheitlichen Gründen, sie, weil sie ihn pflegte. Wenn Not am Mann war, half Bea aus, ansonsten aber war Lauren mit ihren drei Mitarbeiterinnen auf sich allein gestellt ‒ und handhabte es wunderbar. Sogar jetzt, nach einem langen Tag, hatte sie noch ein Lächeln für mich übrig, als sie mir die Tür aufhielt.
»Was machst du denn noch hier?« Sie ließ mich rein und schloss hinter uns ab.
»Dasselbe könnte ich dich fragen. Du hast doch schon seit Stunden Feierabend.«
Laurens Augen glänzten und sie rieb sich die Hände. »Die neuen Bücher für diesen Monat sind gekommen, ich dekoriere gerade den Tisch, damit der Verkauf direkt morgen starten kann. Hast du Lust, zu helfen?«
Die To-do-Liste … Doch Lauren überließ mir die möblierte Wohnung über dem Laden zu einer Miete, die weit unter dem Niveau vom Rest der Stadt lag. Sie verlangte nie etwas als Gegenleistung, doch ich war ihr etwas schuldig. Ab und an auszuhelfen, musste drin sein.
»Klar«, sagte ich und zog meine Jacke aus. Im Laden war es angenehm warm und das Schleppen von Büchern dadurch schweißtreibender, als man meinte. Lauren trug nur ein blassrosa kurzärmeliges Shirt über der dunklen Jeans. Sie winkte mich mit sich in den hinteren Teil des Ladens in die Jugendbuch-Ecke. Auf einem Rollwagen lagen die Novitäten und warteten darauf, auf einem runden Tisch in der Mitte platziert zu werden. Lauren deutete darauf.
»Die High-Fantasy-Titel kommen auf diesen Tisch, die anderen dort drüben hin, damit bin ich aber schon fast fertig. Du kannst die übrigen Bücher stapeln und den Rest ins Regal stellen …«
»Alphabetisch sortiert nach dem Nachnamen der Autorinnen und Autoren, ich weiß.«
Sie grinste. »Sehr gut, du hast es dir gemerkt. Dann lasse ich dich kurz allein und hole die Deko. Ich habe ganz tolle Sachen auf Etsy gefunden.«
Sie verschwand im Nebenraum und ich machte mich an die Arbeit. Ob ich wollte oder nicht, ich blieb immer wieder an den Klappentexten jener Bücher hängen, deren Cover mir gefielen. Einige der Geschichten klangen sehr vielversprechend. Aber der Preis und die Zeit zum Lesen, die man nicht mit dazukaufen konnte, schreckten mich ab. Vielleicht irgendwann mal …
»So.« Lauren war zurückgekehrt, in den Händen hielt sie eine große braune Pappschachtel. Darin funkelte und blitzte es. Dolche aus Plastik, goldbesprühte Federn, glitzernde Kristalle … Sie hatte keine Kosten und Mühen gespart. Einige der Dekorationen waren bereits älter und öfter verwendet worden, andere jedoch nigelnagelneu. Die Auslage würde am Ende ein Hingucker sein. Lauren hatte immer hervorragende Ideen, um Bücher in Szene zu setzen. Sie erläuterte mir bereits ihre Pläne, während wir die Bücher vom Rollwagen auf dem Tisch platzierten. Das schmückende Beiwerk stellte sie drum herum. Ja, es sah wirklich toll aus. Dann aber hievte sie den Stapel eines Titels auf den Tisch, der keineswegs neu war. Das Cover, auf dem eine Pik-Bube-Spielkarte mit zwei identisch aussehenden Kerlen aufgedruckt war, kannte ich mittlerweile schon gut. Es ging dabei um zwei junge Zwillingsbrüder aus einer High-Fantasy-Welt, der eine ein böser Magier, der andere ein guter König.
»Lauren.«
»Ja?«, fragte sie zuckersüß und verriet damit, dass sie genau wusste, worauf ich anspielte.
»Das ist keine Neuerscheinung.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber das Buch ist noch immer zu unbekannt. Alle sollen es lesen! Das ist die Gelegenheit, um den Verkauf noch mal anzukurbeln. Es passt wunderbar zu den Neuheiten.« Sie nahm eines der Hardcover vom Stapel und strich über den Einband. »Du weigerst dich ja auch beharrlich, obwohl wir die Buchwelt schon besucht haben und sie dir gefallen hat.«
Ja, ich hatte Lauren einen Einblick in die Welt ermöglicht, die sie so verehrte. Zugegeben, auch ich war beeindruckt gewesen, aber die Zeit … Lauren hielt mir das Buch unter die Nase. »Lies es. Bitte. Ich schenke es dir. Probier es wenigstens mal.«
Zähneknirschend nahm ich ihr das Buch ab. Ich wollte keine Geschenke. Doch Laurens flehender Blick brachte mich ins Wanken. Als wir damals in der Welt von The Silver Throne gewesen waren, hatte sie mit Informationen um sich geschmissen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ihr fehlte jemand zum Austausch. Jemand, mit dem sie von diesem komischen Magier schwärmen konnte, der eigentlich der Bösewicht war, aber irgendwie auch nicht … Sie nannte ihn einen Loki-Verschnitt. Getroffen hatten wir ihn nicht, was vermutlich besser war, sonst wäre Lauren bestimmt in Ohnmacht gefallen. Wie bei dem anderen Typ aus Shadow & Fire. Oder dem aus Kingdom of Hell and Fury. Alle waren von demselben Kaliber, demselben Klischee. Bad Boys und dunkle Prinzen waren gerade in. Ein bisschen konnte ich es sogar verstehen, ich war Lucifer aus der gleichnamigen Serie verfallen … Aber bei seinem Anblick hysterisch kreischen? Nein … Vielleicht sollte ich Lauren beim nächsten Mal ein paar der Blogger und Bloggerinnen vorstellen. Unter ihnen befand sich sicherlich der eine oder andere Fan ihres Lieblingsbuchs.
»Danke«, presste ich hervor und legte den Titel beiseite. Ich freute mich wirklich. Ein neues Buch hatte ich das letzte Mal gekauft vor … Ewigkeiten. Ich nahm mir fest vor, es zu lesen, es zumindest anzufangen, sollten sich ein paar Minuten dazu finden.
Lauren klatschte in die Hände. »Lass dir nicht allzu lange Zeit, bis du anfängst. Es warten ja noch zwei weitere Bände auf dich.«
Ich schnaubte. Na super, dann würde ich vielleicht in drei Jahren mit der Trilogie durch sein …
Wir platzierten die restlichen Bücher auf dem Tisch, bis Lauren mit der Anordnung zufrieden war. Meine Arme schmerzten, meine Füße spürte ich mittlerweile gar nicht mehr.
»Wie lief es heute mit den Bloggern? Ich habe einen kurzen Blick auf sie erhascht, als ihr zurückgekommen seid. Sie sahen sehr glücklich aus.« Lauren platzierte einen Stein mit glatten Kanten und roségolden besprühte Mosaiksteinchen auf dem Tisch neben ihrem Lieblingsbuch.
»Sie haben sich artig verhalten und die Charaktere nicht angeleckt«, sagte ich und grinste. Und ja, es hatte einmal einen Vorfall in dieser Richtung gegeben. Seitdem hatte ich dort Buchwelten-Hausverbot. Lauren wusste von meinem Dasein als Anti-Muse, was eigentlich auch gegen die Regeln verstieß. Doch der Tag, an dem ich mir die Wohnung über dem Laden angesehen hatte, war kein guter gewesen. Meine Laune stand damals auf einem Tiefpunkt, ich hatte gerade einen Kuss-Auftrag versemmelt und meine Schwester … Jedenfalls rutschte es mir heraus, als Lauren mich mit mitfühlendem Blick fragte, ob es mir gut gehe. Schluchzend erzählte ich ihr alles und sie hörte mir zu. Und dann vermietete sie mir die Wohnung über dem Laden. So viel Glück hatte ich noch nie gehabt. Aber sie war so ein Mensch ‒ viel zu gut für jemanden wie mich. Oder ich ihrer nicht würdig genug, je nachdem, wie man es betrachtete. Denn ich hatte ihr nicht viel zurückzugeben. Wäre es nur nach ihr gegangen, hätte ich trotz fehlendem Abschluss und nicht vorhandener Ausbildung einen Job in Books by Bea bekommen. Ihre Mutter hatte allerdings ihr Veto eingelegt und das verhindert. Dass sie mir die Räumlichkeiten über dem Laden vermieteten, war wohl auch nur Lauren zu verdanken, ebenso meine heutige Einnahmequelle. Nach unserem ersten gemeinsamen Ausflug ins Litersum, mit dem ich mich direkt nach meinem Einzug bei ihr bedankt hatte, waren wir auf die Idee mit den Pop-up-Buchwelten gekommen und sie hatte mir ihre Buchhandlung bereitwillig als Treffpunkt und die Tür für den Übergang in das Litersum zur Verfügung gestellt. Seither kamen auch mehr Kunden her, die von den Pop-up-Welten gehört hatten und hofften, abseits der offiziellen Termine einen Blick darauf erhaschen zu können, was für Lauren gut war, weil diese Leute dann in ihrer Buchhandlung strandeten und mir ein bisschen meiner Schuld ihr gegenüber abnahmen. Redete ich mir zumindest ein.
Ich schnappte mir meine Jacke, und Lauren begleitete mich in den vorderen Verkaufsraum.
»Willst du noch einen Tee?«, fragte sie. »Oder einen Kaffee für eine Nachtschicht? Du hast ja immer was zu tun. Du könntest mir auch noch etwas über den heutigen Besuch erzählen.«
Ich lächelte matt. »Danke, aber ich brauche nichts mehr. Vermutlich gehe ich gleich ins Bett.«
»Das wäre das Beste. Du siehst echt müde aus. Dann vielleicht morgen Abend?«
»Vielleicht«, antwortete ich.
Ihren Augen sah ich an, dass sie mir das nicht abkaufte. »Oh, Moment«, sagte sie und verschwand nach hinten. Kurze Zeit später kam sie mit The Silver Throne zurück und drückte es mir in die Hand. »So leicht kommst du mir nicht davon.«
Ich nahm es ihr ab. »Das war keine Absicht.«
»Sicher.« Sie zwinkerte mir zu. »Doch an Elian kommst du nicht vorbei. Und auch Kaden und Darren warten noch auf dich! Es gibt so viele tolle Reihen zu entdecken! Und jetzt ab ins Bett mit dir.«
Ich rollte mit den Augen, verabschiedete mich und ging in meine Wohnung über dem Laden. Wobei Wohnung übertrieben war. Das winzige Einzimmerapartment war verwinkelt und voller Schrägen, aber das Einzige, was ich mir in dieser Gegend Londons leisten konnte. Und das auch nur dank Laurens Großzügigkeit. Ich legte das Buch auf das Tischchen neben dem Sofa, das auch gleichzeitig mein Bett war. Das Kissen und die Decke lagen noch genauso zerknüllt da, wie ich sie am Morgen zurückgelassen hatte. Und dennoch wirkten sie so einladend wie nie zuvor. Meine Tasche stellte ich auf den kleinen Esstisch, den ich vor allem als Ablagefläche nutzte, streifte Jacke und Schuhe ab und warf beides neben die Wohnungstür. Ich streckte mich und meine Muskeln protestierten. Doch es waren meine Füße, die mich anflehten, mich hinzulegen. Ich sah auf die Uhr. Verdammt, schon so spät. In ein paar Stunden musste ich wieder aufstehen. Mein Blick fiel auf den Boden vor der Wohnungstür. In der Unordnung hatte ich gar nicht bemerkt, dass Post gekommen war. Der Postbote hatte sie durch den Schlitz an der Tür geworfen. Ich hob einen braunen Umschlag sowie einen Brief auf.
Auf dem Umschlag stand lediglich mein Vorname in der mir bekannten Handschrift von Alexandra. Meine Mentorin aus der Musenagentur hatte mir Unterlagen für einen Auftrag vorbeigebracht. Seit den Vorfällen vor einem halben Jahr durften auch die Anti-Musen die Agentur betreten und die Akten selbst entgegennehmen, doch es war auch möglich, den alten Ablauf mit einer Mentorin als Vermittlerin beizubehalten. Da ich kaum Zeit hatte, nutzte ich diesen Service. Ich sah dann zu, dass ich den Kuss-Auftrag ausführte, wenn ich Zeit hatte, und meldete mich bei ihr, sobald sie die Unterlagen wieder abholen konnte. So vergeudete ich keine Sekunde für Botengänge durch das Litersum. Darüber hinaus hatte ich mit Alexandra kaum Kontakt, wir lagen nicht unbedingt auf einer Wellenlänge.
Eine Woche hatte ich nun Zeit, den angehenden Autor oder die Autorin zu küssen und eine Idee auszulöschen. Hoffentlich wohnte er oder sie nicht so weit weg oder in der Nähe einer Buchhandlung und ich bekam es ohne Probleme in meinem Terminplan unter.
Der zweite Brief steckte in einem Umschlag aus dickem cremeweißen Papier. Meine Adresse war in dicken Lettern aufgedruckt, oben rechts prangte ein weiß-goldenes Logo, das mir nichts sagte. Keine Briefmarke, kein Absender. Merkwürdig. Ich riss den Umschlag auf und zog den gefalteten Bogen heraus.
Es war eine Einladung für die an die Musenagentur gekoppelte Akademie, die im Sommersemester des nächsten Jahres für alle Bureal-Kinder ihre Pforten öffnen würde. Bisher waren nur die Erfinder und die Musen dort ausgebildet worden, in Zukunft sollten auch alle anderen dort aufgenommen werden. Man würde uns nicht nur bei den Aufträgen unterstützen, sondern uns auch die Geschichte des Litersums lehren sowie Inhalte, die uns in der echten Welt voranbrachten. So zumindest hieß es in dem Schreiben. Um uns einen Eindruck von den Angeboten zu verschaffen, würden wir bereits im bevorstehenden Wintersemester Schnupper- und Orientierungskurse belegen können, bevor wir uns dann für unseren weiteren Weg entschieden. Neben der Akademie oder der Rückkehr zu seinem »alten« Leben gab es auch noch andere Optionen.
Die Bureal-Kinder nutzten ihre Gaben, bis sie dreißig wurden, dann verebbte die Magie, nur die Fähigkeit zum Wandeln durch die Welten blieb bestehen. Die meisten von ihnen nahmen bereits davor oder danach normale Jobs an und suchten das Litersum später nur noch privat auf. Durch das so entstandene Netzwerk der älteren Bureal-Kinder konnten die neuen Generationen quasi überall auf der Welt einen Job finden, auch schon weit vor der dreißig. Egal in welcher Branche. Vorausgesetzt, man eignete sich dafür und besaß die entsprechenden Kompetenzen. Fürs Faulenzen wurde man nicht belohnt. Auch ich hätte möglicherweise von diesen Kontakten profitieren können, doch das stand für mich außer Frage. Ich wollte mich nicht auf andere verlassen. Ich wollte mit meinen eigenen Fähigkeiten, meinen eigenen Qualitäten – so karg sie auch sein mochten – überzeugen und mich aus eigener Kraft um mich kümmern. Und bei einem Job, den ich schlussendlich nur über das berühmte Vitamin B bekommen hätte, wäre das nicht der Fall. Damit würde ich mich nicht gut fühlen und das war es mir nicht wert. Zumal ich bezweifelte, dass mein Werdegang für irgendetwas ausgereicht hätte.
Ich las mir das Schreiben zwei Mal durch. Dort stand, dass der Besuch der Akademie angeblich nichts kostete, aber nichts darüber, wie lange eine Ausbildung dauerte. Es wurde auf eine Infoveranstaltung verwiesen, die in einem Monat stattfinden sollte. Dort werde man alle weiteren Fragen beantworten und genauer auf die Pläne für die Zukunft eingehen. Man freue sich auf uns und werde sich um uns kümmern.
Ich faltete den Brief zusammen und ging zur Küchenzeile. Die Post legte ich auf dem Tisch ab. Aus dem Kühlschrank holte ich mir eine Dose Cola, öffnete sie und trank einen Schluck. An die schmale Theke gelehnt betrachtete ich die Einladung.
Es waren viele Versprechungen, die sie machten. Große. Ob sie sie einhalten würden … zweifelhaft. Versprechen glitten schnell über die Lippen, bauten Erwartungen auf. Und wenn sie gebrochen wurden und die Hoffnung verpuffte, rissen sie mehr als das mit sich. Ein Stück Herz. Ein Stück Vertrauen.
Ich trank die Cola leer und ließ den Brief links liegen.
Unter meiner Bettdecke fand ich meinen Laptop, der beim Hochfahren aus dem letzten Loch pfiff.
»Lass mich nicht im Stich, Thor.« Das alte Gerät sprühte ab und an ein paar Funken, wenn ich das Ladekabel anschloss, daher der Name. Er hatte sich schon so verhalten, als ich ihn im Secondhandladen kaufte.
Doch der Gott des Donners fuhr ohne Murren hoch. Ich checkte meine Mails und fand zwei neue Grafikaufträge vor: ein Flyer für eine Party sowie eine Save-the-Date-Karte für ein junges Paar. Die Party war bereits in einer Woche, das Design brauchte der Käufer idealerweise bis zum nächsten Tag. Für die besonders eiligen Sachen bekam ich mehr Geld und ich grinste. Dann schaute ich auf die Uhr und stöhnte. Die Mail war von gestern.
Er benötigte den Flyerentwurf heute. Ich startete das Designprogramm, das ewig zum Laden brauchte, und holte mir in der Zwischenzeit noch eine weitere Cola. Es würde noch eine lange Nacht werden. Auf meinem Rückweg zum Sofa kam ich an dem Beistelltisch vorbei, auf dem das Buch lag.
»Irgendwann klappt es noch mit uns beiden. Oder damit, etwas trinken zu gehen. Oder mit dem belanglosen Geplauder bei einer Tea Time. Irgendwann.« In einer anderen Zeit. Einem anderen Leben. Ich nahm einen Schluck aus der Dose und machte mich an die Arbeit.
Du verarschst mich doch.«
Mein Wecker und ich führten eine sehr innige Beziehung, in der man offen und ehrlich miteinander reden konnte. Ich schaltete den Alarm aus und fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Draußen war es noch dunkel, ich hatte gerade einmal drei Stunden Schlaf hinter mir. Gefühlt war es noch mitten in der Nacht. Doch die Zeitungen trugen sich nun mal nicht von selbst aus. Auch heute nicht.
Stöhnend schlug ich die Decke beiseite und rollte mich vom Sofa. Mein Rücken schmerzte, Strecken machte es nicht gerade besser. Augenreibend tapste ich in das kleine Bad, warf alle Klamotten von mir und stieg unter die Dusche. Das Wasser erwachte blubbernd zum Leben und fegte lautstark durch die alten Rohre. Es klang, als würde eine riesige Welle anrauschen, aus der Brause prasselte dann allerdings nur ein Rinnsal.
Anschließend schlang ich mir ein Handtuch um und wischte mit der Hand das Kondenswasser von einer Ecke des Spiegels. Meine Augen waren gerötet, die Haut darunter dunkel. Das Grau meiner Iriden wirkte dadurch noch blasser. Fast so hell wie meine blonden Haare. Hoffentlich würde Fred, mein Chef bei der Zeitung, mir nicht wieder unterstellen, dass ich Drogen nahm, um wach zu bleiben. Das tat er jedes Mal, wenn ich so aussah. Dabei lag es nur an den Nachtschichten und dem Auf-den-Bildschirm-Starren.
Ich schlüpfte in die bereitgelegten Klamotten, föhnte meine Haare und schob sie unter eine Mütze. Zu dieser Uhrzeit war es draußen bereits winterlich kalt und eine Erkältung konnte ich mir nicht leisten. Ich stopfte auch die dünnen Handschuhe in meine Tasche, schwang mir diese um und machte mich auf den Weg.
Meine Glieder waren träge, mein Mund trocken und mein Magen knurrte. Doch sobald ich aus der Haustür trat, traf mich die Kälte wie ein Schlag und rüttelte mich wach. Alles andere war für den Moment vergessen.
Beim Verlagshaus holte ich einen kleinen Rollwagen ab, der randvoll mit der heutigen Ausgabe der London Locally gefüllt war, ohne mir einen doofen Kommentar seitens Fred einzubrocken. Zwei Stunden benötigte ich für meine Route durch London. Normale Menschen brauchten für diese Strecke länger, ich konnte es dank meiner Gabe und den magischen Türen von Buchläden ein wenig abkürzen. Trotzdem war ich müde und meine Muskeln schmerzten, als ich mich auf den Rückweg machte. Ich brachte den leeren Wagen zurück, steckte den Scheck von Fred ein und ging wieder nach Hause. Es dämmerte schon. Ich hatte noch gut zwei Stunden, ehe ich zur Schicht ins Heartbreak Hotel aufbrechen musste. Konnte ich mir noch ein wenig Schlaf gönnen? Nur ein paar Minuten, bevor ich noch andere Aufgaben erledigte? Meine Augen waren ganz trocken und ich musste ständig blinzeln. Das würde mich den Rest des Tages wahnsinnig machen.
Am Haus angekommen wurde mir die Entscheidung abgenommen. Lauren schleppte ein paar Kisten aus einem Transporter in den Laden, der erst in zwei Stunden öffnen würde. Ich schnappte mir auch eine und folgte ihr. Dem Gewicht nach zu urteilen, waren es keine Bücher, dafür waren sie zu leicht. Lauren eilte mir auf halbem Weg zurück entgegen.
»Riley! Du kommst wie gerufen! Stell den Karton einfach im Lager zu den anderen. Danke!«
Sie huschte an mir vorbei, zurück zur Straße. Gemeinsam schleppten wir noch vier Boxen in das Hinterzimmer, ehe Lauren den Laden abschloss. Wir legten unsere Jacken an die Kasse, dann ging es ans Auspacken.
»Was ist denn da drin?« Ich deutete auf einen der Pappkartons.
Lauren zückte ein Teppichmesser und schnitt durch das Klebeband. Sie klappte den Deckel beiseite. »Kleine Geschenke. Das Straßenfest steht an und die hier will ich an die Kunden weitergeben.« Sie zog etwas aus dem Karton. Es war ein Teebeutel, auf dessen Verpackung das Logo des Ladens prangte.
»Die sind echt hübsch.«
»Ich habe noch Lesezeichen und werde Kekse backen. Kam das letzte Mal echt gut an.«
»Planst du auch wieder ein kleines Event?«
»Ja. Darum muss ich mich noch kümmern. Du könntest nicht zufällig ein paar echte Buchcharaktere für den Abend organisieren?« Ihre Augen blitzten hoffnungsvoll auf.
Ich hob eine Augenbraue. »Du weißt, dass sie es nicht länger als ein paar Stunden in unserer Welt aushalten, bevor sie wortwörtlich und ohne Vorankündigung ins Litersum zurückgezogen werden. Erkläre das mal deinen Kunden, wenn sie auf einmal mitten in der Veranstaltung verpuffen. Außerdem ist es für sie momentan superschwer, eine Genehmigung für einen Ausflug in unsere Welt zu bekommen. Und ich werde niemanden ohne eine solche herbringen, das ist noch illegaler, als Menschen ins Litersum mitzunehmen … glaube ich zumindest. Ich weiß nicht mal, ob das überhaupt geht.«
»Hm. Schade. Aber hättest du nicht Lust, einen Charakter zu spielen? Ich gebe dir, wenn möglich, auch eine Rolle, in der du nichts anderes tun musst, als dazustehen und die Leute böse anzufunkeln. Plus etwas Hübsches zum Anziehen.«
»Das könnte mir gefallen«, sagte ich und grinste.
Lauren tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf. »Das dachte ich mir. Also bist du dabei? Es ist nächsten Mittwoch, von nachmittags bis spätabends. Essen und Trinken geht natürlich auf mich. Und du darfst dir fünf Bücher aussuchen, die ich dir schenke.«
Mit anderen Worten: ein unbezahlter Tag voll Arbeit. Dafür aber Verpflegung. Und Bücher, die ich nicht würde lesen können. Laurens Blick war flehend. Ich schluckte.
»Kommt drauf an, wie ich im Heartbreak Hotel eingeteilt bin. Ich gebe dir schnellstmöglich Bescheid, ja?«
»Supi. Das Kostüm müssten wir dann noch anpassen, aber …«
Die Klingel über der Eingangstür des Ladens läutete – was unmöglich war, da sie verschlossen war. Lauren blinzelte. »Habe ich vergessen abzuschließen?«
»Nein. Ich stand neben dir.«
Wir sahen uns einen Herzschlag lang an. Ich warf den Teebeutel zurück in die Kiste und ging zur Tür des Lagers. Von hier konnte man nicht in den vorderen Verkaufsraum sehen, aber eventuell etwas hören. Tatsächlich. Schritte und Gemurmel. Jemand war in den Laden eingebrochen! Und wir hatten die Jacken samt Handys vorne liegen lassen. Verdammt.
Lautlos deutete ich Lauren mit dem Kopf an, mir zu folgen. Sie hatte noch immer das Teppichmesser in der Hand. Wir huschten in den hinteren Verkaufsraum. Mein Blick fiel auf den Tisch, den wir gestern Abend zusammen bestückt hatten. Ich schnappte mir den Dolch aus Plastik und den roségolden besprühten Stein. Er war schön schwer und würde sicherlich wehtun, wenn er auf einen Schädel traf. Der Dolch würde mir im schlimmsten Fall nicht helfen, aber zur Abschreckung sollte er reichen. Lauren musterte meine Auswahl kritisch, vor allem den Stein. Vermutlich hatte er einiges gekostet, so schön, wie er aussah. Aber Sicherheit war mir gerade wichtiger.
Schritt für Schritt gingen wir zum Hauptraum, meine Hände wurden feucht und ich drückte meine Finger fester zusammen. Wir schlichen um die Ecke in den vorderen Teil des Ladens.
Zwei Männer standen dort und sahen sich um, als wäre es das Normalste der Welt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Lauren mit zitternder Stimme, bevor ich sie davon abhalten konnte. Ich blieb dicht neben ihr, ließ die Eindringlinge nicht aus den Augen. Meine Muskeln brannten vor Anspannung und mein Herz raste.
Die Männer drehten sich zu uns um, seelenruhig. Ich war überrascht darüber, wie jung sie wirkten, höchstens Anfang zwanzig, genau wie ich. Sie trugen schwarze Lederjacken über dunkelgrauen Shirts sowie schwarze Hosen ‒ wie eine halbe Boyband mit Dresscode. Jung, gut gebaut und der identische Klamottenstil machte sie auf den ersten Blick nicht unterscheidbar. Unerklärlicherweise richtete sich meine Aufmerksamkeit auf den Rechten der beiden. Irgendwas an seiner Ausstrahlung zog mich an. Seine dunklen Haare und der leichte Bartschatten standen in starkem Kontrast zu seinen strahlenden Augen – die mich interessiert musterten.
Es fröstelte mich, als mir dämmerte, dass wir sie niemals überwältigen könnten, da sie uns kräftemäßig weit überlegen waren. Ich schluckte schwer und packte meine provisorischen Waffen fester. Mein Blick huschte umher und blieb an dem Gesicht des linken Mannes mit den dunkelblonden Haaren hängen. Irgendetwas stimmte daran nicht. Er riss die Augen auf, trat einen Schritt zurück und hob die Hände.
»Entschuldigung, dass wir einfach so hereinplatzen. Wir wollten euch nicht erschrecken.«
Lauren schnaubte. »Wie seid ihr hier reingekommen?«
»Durch die Tür«, erwiderte der Mann ruhig. Unwillkürlich machte ich einen Schritt auf ihn zu. Er legte den Kopf schief, als ich sein Gesicht musterte. Die Augen. Hellbraun, funkelnd – aber einen Tick zu leblos. Ich entspannte mich und ließ die Hände sinken.
»Du bist ein Buchcharakter.« Meine Stimme war kratzig und ich räusperte mich.
Er lächelte mich an. »Richtig. Und ich – wir – sind in einem offiziellen Auftrag hier.« Langsam senkte er einen Arm und griff sich in die linke Jackentasche. Lauren und ich wichen gleichzeitig einen Schritt zurück. Er zog eine Marke ähnlich der eines Detectives aus der Tasche. Auf dem goldenen Material war ein mir bekanntes Logo eingraviert. Lauren warf mir einen unsicheren Blick zu. Ich nickte nur kurz und auch sie entspannte sich.
»Ihr seid von der Taskforce.«
»Richtig. Wir sind hier, weil wir ein paar Fragen an Riley Bell haben. Ich nehme an, das bist du?« Er steckte die Marke wieder ein und deutete mit dem Kinn auf mich. Ich nickte. Mein Puls wurde schneller. Jetzt hatten sie mich also erwischt.
»Möchte jemand einen Tee?«, fragte Lauren plötzlich und legte mir eine Hand auf den Arm. Ich entspannte mich etwas, aber ein ungutes Grummeln in meinem Magen blieb.
»Sehr gern«, antwortete der Mann.
»Gib mir die Deko, Riley. Bin gleich wieder da.«
Ich presste die Lippen aufeinander und händigte Lauren den Dolch und den Stein aus. Der Schweiß in meinen Händen hatte die Farbe des Steins angegriffen, sie klebte nun zum Teil an meinen Fingern und die blanken silbrigen Mosaiksteinchen kamen darunter zum Vorschein. Lauren zog missmutig die Brauen zusammen, sagte aber nichts. Ohne die provisorischen Waffen fühlte ich mich schutzlos. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Verratet ihr mir auch eure Namen?«, presste ich schließlich hervor.
Der Buchcharakter lächelte. »Mein Name ist George Farley, das hier ist mein Kollege Noah Carver.« Ich sah dem jungen Mann ins Gesicht, der die ganze Zeit still neben seinem Kollegen gestanden hatte. Seine grün-braunen Augen waren die eines Menschen. Und wunderschön. Voller Leben und heller Sprenkel, die im Licht schimmerten. Ich konnte nicht wegsehen, war wie gebannt davon. Sie passten nicht so recht zu seinem leicht gequälten Gesichtsausdruck. Er war attraktiv, nur leider erkannte man in dem Moment nicht viel davon, weil er so verkniffen dreinblickte.
»Kennen wir uns?«, fragte er mit tiefer Stimme und holte mich damit aus meiner Trance. Ups.
»Nicht dass ich wüsste.« An diese Augen würde ich mich erinnern. Ganz bestimmt. »Was bist du?«
»Erfinder«, antwortete er. So also sah einer von ihnen aus. Ein Bureal-Kind mit der Gabe, Ideen zu erschaffen und sie an die guten Musen weiterzugeben, die sie dann wiederum mit einem Kuss an Autoren verschenkten. Ich hatte sie mir anders vorgestellt. Irgendwie verschroben … Dieser Noah wirkte … ganz normal. Bis auf den Gesichtsausdruck, der den Anschein erweckte, als hätte er Schmerzen. Die dunkelbraunen Haare hingen ihm leicht zerzaust in die Stirn, der einzige Punkt, in dem er mit meinem Bild eines Erfinders übereinstimmte.
Gut, dass du keine Vorurteile hast, Riley, meldete sich mein Sarkasmus. Er ist genauso normal wie du auch.
»Wenn du einen Moment Zeit hättest«, setzte George Farley mit einem kurzen Blick zu Noah hinzu, »würden wir uns gern mit dir unterhalten, Riley.«
»Schießt los.« Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein aufs andere. Meine Muskeln schrien: Lauf weg! Und doch bewegte ich mich keinen Zentimeter.
Noah griff in seine Jackentasche. Er zog einen Frischhaltebeutel heraus und hielt ihn mir hin. »Die gehört zu dir, oder?«
Zögernd streckte ich meine Finger nach dem Beutel aus und nahm ihn entgegen. Schöne Hände, schoss es mir durch den Kopf, als wir uns kurz berührten.
Es war kein Frischhaltebeutel, sondern eine Beweismitteltüte. Darin steckte eine beschriftete weiße Karteikarte. Ich strich das Plastik glatt, um die Wörter entziffern zu können. Hitze stieg mir ins Gesicht, als die Buchstaben vor meinen Augen sichtbar wurden. Mein Vorname. Mein Pseudonym im Internet. Ein Hinweis auf die Pop-up-Buchwelten und die Adresse von Books by Bea. Schwarz auf weiß, mit Kugelschreiber in einer schönen Handschrift. Mit Bleistift war daneben in einer anderen Schrift ein Datum gekritzelt, es handelte sich um den Termin eines vergangenen Besuches im Litersum.
»Woher habt ihr die?«
»Kommt sie nicht von dir?«, fragte Noah.
»Nein. Ich habe diese Karte noch nie gesehen.«
Die beiden Männer warfen sich einen vielsagenden Blick zu.
»Ich schwöre, dass sie nicht von mir kommt, auch wenn mein Name darauf steht.« Das entsprach der Wahrheit. Aber natürlich verstand ich, wieso das schwer zu glauben war.
»Die Angaben sind korrekt, oder?«
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Lügen war zwecklos. »Ja.«
Erneut griff Noah in seine Jackentasche. Was hatte er da noch alles drin? Dieses Mal kam ein Foto zum Vorschein. Nein, zwei.
»Kennst du diese jungen Frauen?« Ich gab ihm den Beweismittelbeutel im Austausch für die Bilder und er steckte ihn wieder ein. Die beiden jungen Frauen waren ungefähr in meinem Alter. Sie lächelten mit jeder Menge Bücher in den Armen, die sie in die Kamera hielten. Mein Magen zog sich zusammen und ich presste die Lippen aufeinander. Die Gesichter kamen mir vage bekannt vor und ihre T-Shirts mit den Logos und die Nicknamen bestätigten meinen Verdacht, dass ich den beiden schon begegnet war. Ich schluckte schwer. Noah versteifte sich, seine Stimme war rau, als er sagte: »Ich werte das als ein Ja.«
»Ich habe sie schon mal getroffen.«
Wieder wechselten die Männer einen Blick. Die Rettung erreichte mich in Gestalt von Lauren, die Tee und Kekse brachte. Sie setzte ein Tablett auf einem Stapel Bücher neben uns ab und schenkte ein paar Tassen ein. George nahm eine davon, Noah lehnte ab. Auch ich wollte nichts, meine Hände zitterten zu sehr. Lauren schnappte sich selbst einen Becher und stellte sich ganz entspannt neben uns. Sie griff nach einem ihrer selbst gemachten Schokokekse, für die ich normalerweise alles stehen und liegen ließ, aber gerade wurde mir allein von dem Geruch schlecht.
»Worum geht es denn?«, erkundigte sich Lauren.
Noah warf mir einen fragenden Blick zu.
»Sie weiß Bescheid. Redet ruhig weiter«, erklärte ich.
Seine Miene war ausdruckslos, als er fortfuhr, doch der missbilligende Unterton in seiner Stimme entging mir nicht. »Das sind Isabel Rubens und Emily White. Sie sind ganz normale Menschen aus der echten Welt. Die beiden waren für jeweils knapp vierundzwanzig Stunden verschwunden, ehe sie in der Londoner ZwiBi gefunden wurden. Isabel vor drei Wochen, Emily vor drei Tagen. Beide waren verwirrt und erinnerten sich nicht daran, wer sie sind oder wie sie in das Litersum kamen. Geschweige denn, dass sie überhaupt wussten, was das Litersum ist. Bei Emily haben wir gestern diese Visitenkarte gefunden. Du hast die beiden – und andere – in das Litersum geführt, oder?«
»Dreizehn gehen rein, dreizehn wieder raus«, sagte ich.
»Wie bitte?«, mischte sich George ein.
»Es stimmt. Ich habe die beiden und andere Menschen in das Litersum mitgenommen. Aber ich habe ihnen und auch mir klare Regeln und Grenzen gesetzt. Eine davon lautet: Ich achte darauf, dass alle, die mit reingekommen sind, auch wieder mit rausgehen. Keiner mehr und keiner weniger. Es sind immer dreizehn Leute, die ich mitnehme. Und bisher habe ich auch immer alle wieder mit herausgenommen. Wenn diese beiden also im Litersum gestrandet sind, dann nicht meinetwegen.«
»Du gibst also zu, dass du mit diesen angeblichen Pop-up-Welten diverse Regeln gebrochen hast.« George legte den Kopf schief.
Ich straffte die Schultern und antwortete: »Ja.« Noahs Blick huschte zu Lauren. »Sie hatte keine Ahnung«, warf ich ein. »Ja, sie weiß, dass ich eine Anti-Muse bin und was ihr seid. Aber sie hat nichts mit den Übertritten in das Litersum zu tun.« Den letzten Satz sagte ich direkt an Lauren gewandt. Sie sollte ja nicht auf die Idee kommen, etwas anderes zu behaupten. Ich würde sie nicht in meinen Mist hineinziehen. Sie presste die Lippen zusammen und sah mich entschuldigend an.
»Das Einweihen von Menschen in die Belange des Litersums ist verboten«, erwiderte George und trank genüsslich einen Schluck Tee. Seine Augen blitzten herausfordernd auf.
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«
Seelenruhig setzte er die Tasse wieder auf dem kleinen Tellerchen ab. Noah wartete still, seine Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt. Gab es zwischen den beiden eine Hierarchie? Angespannte Stille breitete sich aus. Ich konnte mein Blut in den Ohren rauschen hören.
»Keks?«, fragte Lauren und hielt den Teller mit dem Gebäck hoch. Die Männer lehnten ab und George räusperte sich.
»Die jungen Frauen sind erst ein paar Tage nach den offiziell von dir durchgeführten Übertritten verschwunden und im Litersum aufgefunden worden. Was glaubst du, wie sie nach deinen Terminen dort gelandet sind? Gab es noch weitere Besuche, von denen wir nichts wissen? Hast du sie noch einmal in die Welt geführt und dort vergessen?«
»Ich hätte sie unter keinen Umständen zurückgelassen. Das schwöre ich. Ich kann mir nicht erklären, wie die beiden danach ins Litersum gekommen sind, es gab keine weiteren Besuche, bei denen sie dabei waren«, sagte ich mit leicht zitternder Stimme. »Wie geht es ihnen jetzt?«
Noah hob den Kopf. »Interessiert dich das wirklich?«
Ich biss mir auf die Lippe. Lauren griff nach meinem Arm und ich entspannte mich wieder. »Natürlich tut es das«, gab ich zwischen zusammengepressten Zähnen zurück. »Ist das so schwer zu glauben?«
»Bei einer Anti-Muse? Ja, das ist es.« Noah reckte das Kinn und schaute mich mit altbekannter Arroganz an. So sahen die meisten Buchcharaktere auf mich herab. So sahen die Musen auf uns herab. All jene, die glaubten, sie wären besser als wir, nur weil sie in einer schicken Akademie lebten, zu der wir anderen noch keinen Zugang hatten. Dabei hatten wir an unserer Gabe genauso wenig Anteil wie sie. Wir erfüllten auch nur unsere von der Agentur übertragenen Aufgaben. Dass bei den Anti-Musen mehr dahintersteckte als nur das Auslöschen von Ideen, wusste ich selbst erst seit Kurzem. Wir konnten Ideen mithilfe der Wandler verändern, sogar verbessern und zurückgeben, doch das schien noch nicht überall angekommen zu sein. Es würde noch dauern, bis die Vorurteile abgebaut wurden und wir vielleicht wieder mit den Wandlern zusammenarbeiteten … Falls es überhaupt so weit kam. In den letzten Monaten hatte es mehrere Treffen mit Anti-Musen aus England gegeben, eine Art Stammtisch, bei dem wir uns austauschten. Dort hatten wir unsere Erfahrungen geteilt und sie waren in der Hinsicht nahezu identisch. Wir waren uns auch einig, dass sich das ändern musste. Dazu brauchte es allerdings auch Geduld von unserer Seite.
»Wie geht es ihnen?«, wiederholte ich mit Nachdruck.
Noah erwiderte meinen Blick mit unverhohlenem Missfallen. Seine Augen, die vor wenigen Momenten noch Wärme ausgestrahlt hatten, wirkten kalt. Leider waren sie trotzdem wunderschön.
»Den Umständen entsprechend. Sie erinnern sich noch immer an nichts. Aber das könnte sich ändern«, sagte er und es klang wie eine Drohung.
Ich schluckte meine Wut herunter, die mich nicht weiterbringen würde. Das tat nur die Arbeit. Ich sah zu George.
»Dreizehn gingen rein, dreizehn kamen wieder raus. Ich habe niemanden im Litersum zurückgelassen, und wenn sie später auf andere Weise dort hingelangt sind, kann ich nichts dafür.«
Noah schnaubte. »Natürlich nicht. Weil Anti-Musen ja nie etwas zum Verschwinden bringen.«
George schien irritiert von Noahs Reaktion und sah zu Lauren, als wollte er sehen, was sie dazu sagte. Die starrte Noah böse an.
Ich biss mir auf die Zunge. Es kostete mich alle Mühe, seinen Kommentar zu ignorieren und ihn nicht anzubrüllen.
»Wir ermitteln in alle Richtungen«, warf George ein. »Trotzdem wäre es gut, wenn du mir sagen könntest, wo du an den Tagen zwischen dem Verschwinden der jungen Frauen und ihrem Auftauchen im Litersum warst.« Er zückte einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche. Damit er die Hände zum Schreiben frei hatte, nahm Lauren ihm die leere Tasse ab und stellte sie zurück auf das Tablett. George beobachtete jede ihrer Bewegungen ganz genau. Erst als sie fertig war, nannte er mir die Daten, und ich rasselte meinen Tagesablauf herunter, soweit ich mich erinnern konnte. Ich war in den entsprechenden Zeiträumen nicht im Litersum gewesen. Denn außer zu den Besuchen mit den Bloggern betrat ich es so gut wie nie.
George nickte, als ich fertig war. »Wir werden dich heute mit einer Mahnung davonkommen lassen, Riley. Aber sollte uns noch einmal zu Ohren kommen, dass du Gruppen von Menschen in das Litersum führst, wird das ernste Konsequenzen haben. Falls dir nicht vorher schon Strafen wegen dieser Sache drohen, wenn Mrs Patton von alldem erfährt und entscheidet, in dieser Angelegenheit selbst etwas zu unternehmen. Sollte dir noch etwas einfallen, kannst du in unsere Zentrale im Knotenpunkt kommen. Gleich neben der Agentur.«
Noah kniff die Augen zusammen und musterte George skeptisch. Oh ja, ihm passte es gar nicht, dass sein Kollege mich laufen ließ. Mein Herz hingegen klopfte schnell. Kam ich wirklich so davon? Dann traf mich die Erkenntnis wie eine eiskalte Dusche. Ich war gerade dabei, eine meiner besten Einnahmequellen zu verlieren. Mehrere Hundert Pfund würden mir in Zukunft durch die Lappen gehen. Die Miete … Meine Knie wurden weich. Laurens Hand legte sich auf meinen Rücken und stützte mich.
»Danke«, sagte sie an meiner Stelle. »Ihr wisst ja, wo ihr uns finden könnt, falls nötig.«