Lock Down - 10 Tage - Oscar Liebermann - E-Book

Lock Down - 10 Tage E-Book

Oscar Liebermann

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Beschreibung

Das Coronavirus hält die Welt im Würgegriff. Wer jetzt denkt Corona wäre schlimm, der liegt falsch, denn damit fangen die Probleme erst an. Als in Folge der Auswirkungen des Virus der Strom ausfällt, ändert sich schlagartig das Leben in Deutschland. Ohne Strom, kein Wasser. Ohne Wasser, kein Leben. Während man im schwäbischen Riedkirchen noch irgendwie zurechtkommt, eskalieren in Großstädten wie Frankfurt schnell die Zustände. Und die Welt, wie wir sie kennen, versinkt im Chaos.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Kapitel 1 – Tag 0

Kapitel 2 – Tag 1

Kapitel 3 – Tag 1

Kapitel 4 – Tag 2

Kapitel 5 – Tag 3

Kapitel 6 – Tag 3

Kapitel 7 – Tag 3

Kapitel 8 – Tag 3

Kapitel 9 – Tag 4

Kapitel 10 – Tag 3 & 4

Kapitel 11 – Tag 4

Kapitel 12 – Tag 5

Kapitel 13 – Tag 5

Kapitel 14 – Tag 6

Kapitel 15 – Tag 6

Kapitel 16 – Tag 7

Kapitel 17 – Tag 7

Kapitel 18 – Tag 8

Kapitel 19 – Tag 8

Kapitel 20 - Tag 9

Kapitel 21 – Tag 9

Kapitel 22 – Tag 9

Kapitel 23 – Tag 9

Kapitel 24 –Tag 10

Kapitel 25 – Tag 9 bis 10

Kapitel 26 – Tag 10

Kapitel 27 – Tag 10

Kapitel 28 – Tag 10

Epilog

Lock Down

10 Tage

 

 

 

 

 

 

Oscar Liebermann

 

Impressum

 

Lock Down - 10 Tage © 2021 Oscar Liebermann

 

Kontakt:

Oscar Liebermann

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

 

Coverdesign & Layout:

Daniela Rohr / www.skriptur-design.de

Verwendete Stockfotos von:

de.depositphotos.com / pixabay.com

 

ISBN: 978-3-9822839-1-3

ISBN der Printausgabe: 978-3-9822839-0-6

Kapitel 1

Tag 0

Riedkirchen

Finn Wolff fluchte lautlos vor sich hin. Dieser gottverdammte Coronavirus! Er schloss wütend sein Laptop. Das war schon der 6. Kunde, der seinen Termin mit ihm abgesagt hatte! Machte sich denn jetzt die komplette Welt wegen eines verschärften Grippevirus verrückt? Ohne Kundentermin kein Geld. Das war es, was es für ihn bedeutete. Als selbstständiger Unternehmensberater war man irgendwie immer der Idiot: Man versucht, Firmen zu helfen, wie sie Dinge verbessern können, nur um von einer feindseligen Belegschaft daran gehindert zu werden, seinen Job zu machen. Und stellt man dann seine Rechnung, versuchen missgünstige Geschäftsführer deren Höhe infrage zu stellen. Wahrscheinlich vergleichen sie einen mit dem Stundenlohn ihrer Hilfsarbeiter, dachte Finn missmutig und überhaupt kotzt mich die schwäbische Sparermentalität in Firmen an!

Finn ließ seinen Blick vom Homeoffice aus den Hang hinuntergleiten zu der Silhouette des Kernstädtchens von Riedkirchen. Ein schöner Anblick eigentlich, mit Weite und der Idylle, die ein 8.000-Seelen-Städtchen mit einer kleinen Altstadt so mit sich brachte. Riedkirchen lag am Oberlauf eines Flüsschens mit dem Namen Ried und war stolz auf 1000 Jahre nachgewiesene Geschichte. Finn fühlte sich eigentlich sehr wohl hier. Die schwäbische Obstwiesenlandschaft und die Leute, die traditionsverhaftet ihr Handwerk liebten und einen guten Most. Er liebte es auch, in Ruhe gelassen zu werden.

Heute allerdings sah er wenig von der Landschaft. Er hatte Geldsorgen. Das Haus war noch nicht abbezahlt, und das Geschäft lief schleppend. Dem Wunsch seiner Frau folgend waren sie hierhergezogen, aber seit dem Tod seiner Frau war er Alleinverdiener. Auch wenn es schon ein paar Jahre her war – er hatte sich immer noch nicht ganz von dem physischen und psychischen Trauma erholt, das es eben mit sich brachte, wenn man einen geliebten Menschen jahrelang an Krebs leiden sieht. Und dann sterben sieht. Live, schonungslos und direkt.

Und dann legten jetzt wegen Corona alle Kunden ihre Projekte mit ihm auf Eis!

Rolf Heimerdinger, sein Nachbar, der hatte nur Neid für ihn übrig. Zumindest war das die bisherige Basis ihrer zugegeben oberflächlichen Beziehung. Finn war kein Einheimischer. Sein Haus war ihm zu groß, das Auto soundso, das Einkommen als Unternehmensberater sicherlich astronomisch (wenn der wüsste …) und Leute, die im Homeoffice saßen, drehten den ganzen Tag Däumchen. Da könnte er doch mal seinem Garten mehr Aufmerksamkeit schenken? Der hätte es jedenfalls mal nötig! Und überhaupt sollte Finn mal wieder unter Leute gehen. Er war doch jetzt wieder ungebunden und mit Anfang 40 noch in der Blüte des Lebens! Wie wäre es zum Beispiel mit dem örtlichen Wanderverein? Kirche? So wie Finn aussah und finanziell abgesichert war (haha), hätte er bald wieder eine nette Frau an seiner Seite! Tatsächlich hatte Finn etwas an sich, das viele als attraktiv empfinden würden. Keine Schönheit im klassischen Sinne, eher etwas kantiges, markantes, authentisches. Ein eher dunkler Typ, aber mit stahlblauen Augen. Der Kontrast wirkte auf einige. ‚Kanoniersaugen‘ hatte es mal eine Verehrerin genannt, vielleicht, weil sie sich von ihm anvisiert fühlte. Tatsächlich war ihm dies aber wenig bewusst und nie seine Intention. Ihm war aufgefallen, dass es manchmal bei Verhandlungen und Vorträgen half, sein Gegenüber direkt anzusehen, um seinen Standpunkt klar zu machen. Sicherlich half es auch, dass er seit seiner Zeit als Berufssoldat auf seine Fitness achtete. Einfach weil es ihm dann besser ging nach einem Tag im Auto oder Bürostuhl.

Rolf ist ein Arschloch, wenn er denkt, man könne eine glückliche Beziehung einfach so wegstecken und weitermachen, als ob nichts gewesen wäre, dachte Finn verbittert.

Der Nachbar rechts von ihm war ihm schon viel lieber. Clemens, ein religiöser Typ von irgendeiner christlichen Sekte, aber menschlich so, wie man es sich vorstellt. Hilfsbereit, freundlich und scheinbar viel toleranter als der typische Katholik. Nun, religiös waren sie hier alle mehr oder weniger. Das lag einfach in der Natur der schwäbischen Landbevölkerung. Und egal, wie stolz sie hier auf ihr kleines Städtchen waren – für Finn war es Landgebiet. Er selbst war in Hamburg geboren und aufgewachsen, also ein echtes Stadtkind. Als Hamburg immer „krasser“ wurde, so empfanden es seine Frau und er, zogen sie hierher nach Riedkirchen. Sie hatten es nie bereut. Und dann war sie einfach gestorben.

Auch wenn Finn keinen Sinn für Religion hatte, so erkannte er doch den moralischen Halt, den Religion vermitteln konnte. Irgendwie galten hier Werte wie Ehrlichkeit, Fleiß und Treue noch mehr als in Hamburg. Ja, und der Neid. Der hatte hier ebenfalls einen hohen Stellenwert.

So gut es ihm hier auch gefiel – wenn das mit dem Coronavirus noch anhielt, dann musste er sich Gedanken über seine berufliche Zukunft machen. Mann, Mann.

Heute erreichte er hier nichts mehr. Ein bisschen frische Luft schnappen, dachte Finn. Vielleicht was einkaufen für heute Abend. Er stand auf und machte sich auf den Weg zum Supermarkt. Es war ein schöner Weg, vorbei an großzügigen Grundstücken mit gepflegten Vorgärten, immer in der Nähe von Feldern, Obst- und Pferdewiesen sowie Waldfleckchen.

Kaum war er aus dem Haus, wurde er von einer jungen weiblichen Stimme aus seinen Gedanken gerissen.

»Hey Finn, wie geht’s denn?« Cornelia, die blonde Tochter seines Nachbarn Rolf und viel sympathischer. Und hübscher auch, dachte Finn bei sich.

»Hey Conny, heute keine Arbeit in der Picassoabteilung?« Finn wich bewusst der Antwort auf die Frage aus. Conny arbeitete seit ein paar Jahren als technische Zeichnerin bei einem der Maschinenbauer in der Umgebung. Sie muss jetzt auch schon Anfang bis Mitte 20 sein, dachte Finn. Wie die Zeit vergeht!

»Doch«, kicherte sie, »aber sie haben uns heute allesamt heimgeschickt! Du weißt schon, wegen dem Corona.«

»Ach so, deswegen deine gute Laune. Ja, das haben sie mit mir quasi auch gemacht. Nur umgekehrt. Daheim gelassen. Alle Termine abgesagt. Keiner möchte mich sehen.«

»Kann gar nicht sein. Jeder möchte dich sehen«, sagte sie strahlend. »Wo gehst du hin?«

»Nur die Straße runter zum Supermarkt. Was zum Essen holen.«

»Ich komm‘ mit!«

Ohne seine Antwort abzuwarten, hing sie sich unter und begann gut gelaunten Small Talk. Das Coronavirus war natürlich das Hauptthema. Finn hatte zwar auch flüchtig die Nachrichten gesehen, war sich aber noch gar nicht bewusst gewesen, wie stark sich die Epidemie bereits auf das Alltagsleben auswirkte. Er sollte mal öfter raus und mit den Leuten reden! Eine ganze Firma dichtmachen? Und andere Firmen machten das auch? Kein Wunder, dass ihm die Termine abgesagt wurden! Was das wohl die Wirtschaft kosten würde! Wer bezahlte denn das? Und was passierte mit dem engmaschigen Netz der Lieferketten? Wie lange würden sie hier eigentlich noch im Supermarkt einkaufen können? Finn lief es plötzlich eiskalt den Rücken herunter. Er musste wirklich mal raus aus seinem Schneckenhäuschen mit dem Namen ‚Trauer um meine Frau‘. Die Welt da draußen drehte sich schließlich weiter.

»Hey Finn, hörst du mir überhaupt zu? Ich habe dich was gefragt!«

»Sorry, ich war gerade weggetreten. Ich habe daran gedacht, was so eine Freistellung wohl für deine Firma bedeuten mag«, sagte Finn mit einem schiefen Lächeln. »Was sagtest du noch mal?«

Conny prustete verächtlich, als sie an ihre Firma dachte. »Unser Inhaber tut nur, was er gezwungen ist zu tun, glaub mir das mal. Wie ich gehört habe, hat sein Hauptkunde gedroht, die Geschäftsbeziehung zu beenden, wenn er nicht dafür sorgt, dass er die notwendigen Hygienevorschriften einhält.«

»So weit geht das schon?«

»Sag mal, auf welchem Planeten lebst du eigentlich? Die Nachrichten sind doch voll davon! Die wissen nicht, wie weit sich der Virus noch verbreiten wird. Nicht einmal, was es genau bewirkt, nur, dass es ungewöhnlich ansteckend ist. Das Robert-Koch-Institut hat gesagt, das Wichtigste wäre jetzt, Zeit zu gewinnen. Deshalb so wenig menschlicher Kontakt wie möglich. Eigentlich sind wir auch schon zu eng.«

Sie schaute ihn lächelnd und völlig ohne schlechtes Gewissen an, immer noch untergehakt. Ihre ursprüngliche Frage hatte sie vergessen.

Finn nahm sich vor, sich endlich mal intensiv mit dem Thema Corona zu beschäftigen. Er hatte den Nachrichten in letzter Zeit einfach zu wenig Beachtung geschenkt. Zu frustrierend.

»Aber jetzt mal weg von diesem nervigen Thema. Was willst du heute eigentlich zu Abend essen?«

Momentan überrumpelt von sowohl dem Themenwechsel als auch der Frage antwortete Finn zunächst nicht. Er wusste es selbst nicht so genau.

»Ich wollte eigentlich nur mal gucken, was im Supermarkt so zu finden ist …«

»Egal, ich wollte eh fragen, ob du nicht mal zu uns rüberkommst. Wir grillen heute im Garten, und wir wollten dich schon ewig lange einladen. Ich mache den Kartoffelsalat«, sagte Conny leicht errötend.

Ob Rolf mich auch einladen wollte?, dachte sich Finn.

»Ja, das wäre doch mal toll!«, entschloss sich Finn spontan. Wie war das vorhin? Mal aus dem Schneckenhaus rauskommen? Also hier ist der Anfang!

»Dann müssen wir jetzt aber immer noch den Wein für heute besorgen!«

 

 

Überraschenderweise freute sich Rolf durchaus, als Finn zum Essen rüberkam. Das Wetter war gut, im Garten war immer Platz, und der Wein aus der Region, also so und so über jede Kritik erhaben. Und man kann sagen, was man will: Der Schwabe schafft sich einfach seine Idylle und weiß neben seiner gewissenhaften Arbeit durchaus auch das eine oder andere Stückchen Leben zu genießen.

Thema war wieder das Virus. Inzwischen hatte sich Finn etwas eingelesen, und was er an Informationen bekommen konnte, machte ihn vielleicht nicht gleich ängstlich, so doch zumindest vorsichtig. Wenn man mal den ganzen hysterischen Quatsch von Beschuldigung, Anschuldigung und Verschwörungstheorien wegließ, dann blieb einfach der Fakt, dass man es hier mit einem hochansteckenden und vor allem unbekannten, weil neuartigen Virus zu tun hatte, das die Welt scheinbar kalt erwischt hatte. Lock-Downs in China, schon jetzt überfüllte Krankenhäuser und ein Mangel an Intensivbetten, sogar hier in Deutschland. Andere Länder schafften wohl teilweise schon ihre Leichen mit den Lastwägen weg. Warum war hier in Riedkirchen so wenig davon zu spüren?

Jetzt, hier im Garten sitzend, den Duft vom Grillfleisch in der Nase und einen guten Wein in der Hand, klang das alles so surreal, so weit weg. Er kannte nicht einmal direkt erkrankte Leute, was aber nichts heißen musste, denn er war einfach nicht der gesellige Typ. Weniger wohlwollende Leute würden auch „mürrisch“ dazu sagen.

»Rolf«, fragte Finn, «habt ihr eigentlich auch schon Kurzarbeit bei euch, oder kommt ihr zurecht?«

Rolf schaute kurz vom Grill auf. »Hey, Herta, oder Conny, kann einer von euch schon mal den Kartoffelsalat bringen? Die Würste sind bald fertig«, rief er seiner Frau zu.

»Ja, Finn, wir werden wohl auch ab nächster Woche mit Kurzarbeit anfangen. Wir hätten noch zu tun. Die Aufträge sind eigentlich da, aber wir bekommen einfach keinen Stahl mehr. Und ohne Rohstoffe laufen die Dreh- und Fräsmaschinen nun einmal nicht. Der Stahlhändler sagt, der kommt normalerweise aus China. Eine Schande ist das!«, schimpfte Rolf. »Wer hat nach dem Krieg den besten Stahl gekocht? Deutschland! Krupp-Stahl, das war eine weltweite Marke, die alle haben wollten! Und jetzt? Jetzt machen es die Chinesen billiger, und Krupp verkauft komplette Stahlkochanlagen für ein Butterbrot nach China, nur damit die uns den Stahl wieder zurückimportieren! Es lebe die Globalisierung! Und was haben wir jetzt davon? Unsere Auftragsbücher sind voll, und wir können trotzdem nicht produzieren, und ich muss ab nächste Woche in Kurzarbeit. Ich hoffe, nicht zu lange, das Haus hier ist noch nicht abbezahlt.«

Wem sagt er das, dachte sich Finn, gab ihm aber im Stillen recht. Die globalen Abhängigkeiten machten das Wirtschaftssystem so störungsanfällig wie noch nie.

»Und weißt du, was das Beste ist?«, fuhr Rolf fort. »Unserem Kreiskrankenhaus gehen die Medikamente und medizinischen Artikel aus! Und rate mal, warum? Weil sie aus China und Indien geliefert werden!«

»Ja, das ist echt nicht mehr lustig!«, schallte es von hinten. Clemens kam gerade um die Häuserecke gebogen mit einer Schüssel unterm Arm. Er und seine Frau Helena waren offensichtlich auch zum Grillen eingeladen worden. »Hallo Rolf, Hallo Finn! Wo sind die Frauen?«

»Neben deiner? Alle drinnen! Helena, wenn du reingehst, sag doch Conny, sie soll uns ein paar Bier mit rausbringen. Aber nur die kalten!«

»Was meinst du mit „nicht mehr lustig“, Clemens?«, fragte Finn.

»Naja, Helena sagt, unserer Apotheke gehen inzwischen die Medikamente aus, und sie muss es ja wissen, sie hilft doch dort aus. Gerade die Mittel für Diabetiker und die Psychopharmaka sind Mangelware. Die kommen alle aus China und Indien, und selbst der Großhändler hat nur noch Notbestände. Helena hat echte Schwierigkeiten, die Kunden zu versorgen. Und ins Krankenhaus kannst du sie auch nicht schicken. Die wissen jetzt schon nicht mehr, wohin mit den Patienten.«

»Wow, dann geht es langsam wirklich ans Eingemachte!«, sagte Finn etwas überrascht. Darüber lesen ist eine Sache. Da waren sie dann, die Auswirkungen direkt vor Ort. Man musste nur hinsehen.

»Was heißt hier langsam? Guck dir doch mal die Welt an! Die ist im Chaos! Vor allem die westliche Welt. Die ist so etwas nicht gewohnt und weiß nicht mehr, wohin mit ihren Toten! Sag mal, liest du keine Zeitung?«

»Nicht so gerne in letzter Zeit«, erwiderte Finn etwas betreten.

»Und das will ein Unternehmensberater sein«, schnaubte Rolf vom Grill her verächtlich. »Du musst schon auch anderes im Kopf haben als nur deinen Fachbereich!«

Finn musste ihm im Stillen beipflichten. Conny erlöste ihn von einer Antwort, indem sie mit ein paar kühlen Bierflaschen rauskam. Sie verteilte diese gut gelaunt, nahm sich auch ein Bier und setzte sich neben Finn auf die Bank.

Clemens setzte sich auf einen Stuhl gegenüber und schaute Finn an. In der Zeit, als Finns Frau gegen den Krebs gekämpft hatte, war er ihnen eine echte Stütze gewesen. Auch danach noch, und es hatte sich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt, basierend auf gegenseitigem Respekt. Jetzt lag ihm etwas auf dem Herzen, und er wollte Finns Meinung hören.

»Finn, sicherlich hast du mitbekommen, wie unsere Bundesregierung den Lock-Down diskutiert, ähnlich wie es in China gerade abläuft. Jeder erzählt was anderes. Du bist doch in ganz Deutschland unterwegs. Du bist direkt in den Firmen. Was denkst du, was würde das mit unserer Wirtschaft machen?«

Clemens machte sich Sorgen um seine kleine Baufirma mit seinen 8 Angestellten und den paar freien Mitarbeitern. Eigentlich konnte er sich nicht über Aufträge beschweren. Gute Handwerker waren Mangelware, selbst hier im ‚Ländle‘.

»Puh, medizinisch weißt du mehr wie ich. Wirtschaftlich… Ein genereller Lock-Down… Kommt sehr darauf an, für wie lange. Wir sind alle so verzahnt, weltweit… Wenn bei uns die großen Autobauer husten, ist das produzierende Gewerbe erkältet. Siehe Rolf, bei ihm haben sie jetzt trotz voller Auftragsbücher bald Kurzarbeit. Ich fürchte aber vor allem um die kleinen Betriebe, die schon jetzt nur knapp über die Runden kommen. Gaststätten, Hotels, Veranstalter. Da sprechen wir über wochenlange Ausfälle, und die Kosten laufen ja weiter. Das könnte für viele das Aus bedeuten.« Dann setzte Finn nur halb scherzhaft hinzu: »Und natürlich das ganze Heer armer Solo-Selbstständiger wie ich zum Beispiel, denen jetzt schon die Aufträge ausbleiben, keine Sicherheit eines Gehalts haben und die dann noch länger kaltgestellt wären.«

»Deswegen sitzt du ja bei mir im Garten, und ich füttere dich durch! Ich könnte es ja nicht verantworten, dass du verhungerst!«, dröhnte Rolf los und hob sein Bier.

Warum nahm ihn nur keiner ernst. Finn lächelte etwas säuerlich und hob ebenfalls sein Bier, um einen guten Schluck zu nehmen. Wow, das ist mal guter Stoff!

»Mein Dank wird unendlich sein – vor allem bei so gutem Bier! Wo hast du denn das her?«

»Nachbarort, das Rössle. Kleine Brauerei, aber fein! Würdest du auch wissen, wenn du mal öfter in deiner Umgebung ausgehen würdest, als immer in ganz Deutschland rumzufahren. Hier, nimm mal Conny mit, die beklagt sich immer, dass bei uns nix los wäre!«

Conny wurde leicht rot, überdeckte das aber mit einem strahlenden Lächeln.

Sie knuffte Finn in den Arm. »Ja genau, lass uns mal in den Biergarten vom Rössle gehen! Offenbar hast du doch jetzt Zeit! Und ich bin ja jetzt auch nur daheim. Also, wie sieht aus?«

»Vor allem solange das noch geht«, meldete sich Clemens wieder zu Wort. »Wenn der Lock-Down kommen sollte, dann sind die Gaststätten die ersten, die sie zumachen.«

Und so kam Finn zu seiner ersten Verabredung mit einer jungen Frau seit ziemlich vielen Jahren und stellte erstaunt fest, dass er sich richtig darauf freute. Er sollte allerdings nie die Gelegenheit haben, sie einzulösen.

Kapitel 2

Tag 1

Riedkirchen

Der Lock-Down kam schon am nächsten Tag, allerdings ganz anders als erwartet. Es war ein strahlender Sonnentag, bei kräftigem Wind, der die Temperaturen angenehm machte und die Besitzer von Fotovoltaikanlagen und Windrädern glücklich.

Finn stand gerade in seinem Garten und überlegte, ob er seine übrige Zeit in ein bisschen mehr Pflege investieren sollte. Hier, die 3 Obstbäume blühten immer so herrlich, aber sie könnten sicherlich mal wieder etwas Beschneidung vertragen! Aber nicht jetzt im Sommer, eher im späteren Herbst. Oder vielleicht einfach mal den Rasen mähen? Hmm… aber so kurz vor Mittag, da würde er mit dem lauten Motormäher nicht bis zur Mittagsruhe fertig werden, und die war hier heilig!

Apropos Ruhe: Warum war es eigentlich so verdächtig still? Er sah auf die Uhr: 11:33 Uhr. Er hörte ein paar Autos fahren, die üblichen Vögel zwitschern, aber irgendetwas fehlte plötzlich. Ja, die ganzen Geräte der Baustelle eine Straße weiter waren plötzlich stumm. Machten die schon Mittag? Egal, er hatte beschlossen jetzt kein Projekt mehr anzufangen und sich stattdessen ein wenig in die Sonne zu setzen. Er lief in die Küche, um sich etwas zu trinken und zum Lesen zu holen, nur um festzustellen, dass der Kühlschrank ausgefallen war. Stromausfall! Kommt vor, dachte Finn und machte sein Vorhaben trotzdem wahr.

»Hey, bei dir auch kein Strom?«, rief Clemens rüber, der auch gerade im Garten saß. »Wollte gerade meine Frau anrufen«, fuhr er fort und deutete auf sein Handy. »Kein Empfang hier, und das Festnetztelefon ist auch tot. Echt nervig!«

»Ich hoffe nur, dass der Herd bald wieder läuft, sonst wird es ein kalter Mittag«, brummelte Clemens vor sich hin und verschwand wieder im Haus.

 

 

Der Strom war auch am Nachmittag noch nicht wieder da, und langsam machte sich Finn Sorgen. Er hatte den Rasen gemäht und wollte wieder etwas arbeiten. Der Laptop funktionierte noch. Er lief auf Batterie, aber das Internet war von seinem Router an der Wand abhängig und lief ohne Strom nicht. Er hatte alle relevanten Daten in der Cloud – so wie es eben der moderne und effiziente Business Man macht. Sicherlich hatten alle Datencenter eine USV, aber was half ihm dies, wenn sein Internetrouter stromlos an der Wand hing? Was, wenn der Stromausfall weiterging und größere Regionen betraf? Was, wenn der Ausfall länger dauerte? Was, wenn dem örtlichen Krankenhaus der Generator trockenlief?

Die fehlende Möglichkeit, sich zu informieren, machte Finn ganz nervös. Der Fernseher war genauso tot wie das Radio. So ein Stromausfall schneidet einen urplötzlich von der ganzen Welt ab! Er sah aus dem Fenster, weil er Stimmen von draußen hörte. Da liefen inzwischen immer mehr Leute auf die Straße, um lautstark den Stromausfall zu diskutieren und sich über die Behörden aufzuregen. Er überlegte kurz, selbst raus zu gehen, vielleicht wusste irgendjemand etwas. Er ließ es dann aber sein. Unwahrscheinlich!

Falls der Strom länger wegbleiben sollte, wollte er ein paar Vorbereitungen treffen. Er ließ vorsichtshalber einmal die Wanne mit Wasser volllaufen. Paranoia, ich weiß. Aber ich habe keine Ahnung, wie lange unser Wasserhochbehälter noch Wasser führt, und es braucht elektrische Pumpen, um ihn wieder zu befüllen.

Dann sah er sich im Keller nach Grillmaterialien um, denn kalte Küche war nicht so sein Ding. Ok, hier hatte er noch Nachholbedarf: Er hatte seine Grillutensilien schon länger nicht mehr benutzt. Also dann: Auf, zum Supermarkt! Er hatte soundso einen größeren Einkauf vor, das gestern mit Conny war ja eher ein kleiner Ausflug gewesen. Also setzte er sich ins Auto. Als er allerdings beim örtlichen REWE ankam, stellte er fest, dass hier nichts mehr ging. Die elektronischen Kassen waren aus, und die automatischen Türen hatte man von Hand aufkurbeln müssen, um die eingeschlossenen Kunden raus zu lassen. Generell konnte man nicht für die gekühlte Ware garantieren, da nun schon mehrere Stunden lang die Kühlung ausgefallen war. Also hatte der Marktleiter notgedrungen den Laden geschlossen. Ganz langsam sickerte Finn ein, dass dies alle Läden betreffen würde und er Schwierigkeiten haben würde, sein Abendessen zu organisieren. Natürlich, in den Märkten geht gar nichts ohne Strom, daran hätte ich ja denken können! Mal schauen, wie es bei den kleinen Läden aussieht. Er fuhr noch zum kleinen Tante-Emma-Laden in der Nähe, aber mit genau dem gleichen Ergebnis, nur dass hier die mechanische Tür abgeschlossen war. OK, dann halt nicht! Wie er zum Auto zurückging, lief ihm der Metzger über den Weg.

»Ich war gerade beim Wurstmachen! Jetzt kann ich alles wegschmeißen! Super! Und die Auslegware auch gleich mit! Nur die Dauerwürste habe ich noch! Mann, wie soll da ein kleines Unternehmen wie ich vernünftig arbeiten!«

»Moment, aber von den Dauerwürsten würden Sie mir was verkaufen?«

»Ja, klar, wenn Sie unbedingt wollen. Kommen Sie mit.«

Finn deckte sich nicht nur mit haltbarer Wurst ein; er nahm auch einiges von den Koteletts und Steaks aus der Auslage mit, die der Metzger schon entsorgen wollte. Der machte große Augen bei der Menge, die Finn hier einpackte, sagte aber nichts dazu.

»Keine Angst, die kommen heute Abend noch auf den Grill und werden gut durchgebraten«, beruhigte er den Metzger.

Daheim wollte er im Affekt alles in die Gefriertruhe werfen, als ihm klar wurde, dass auch hier einiges bald verderben würde. Er ließ sie erst einmal zu. Bis morgen würde die Isolierung schon durchhalten. Dann warf er wirklich den Grill an und machte sich trübsinnig an die Arbeit, das ganze Fleisch schön durchzubraten. Wo sollte er das alles eigentlich ohne Kühlung aufbewahren? Übertrieb er vielleicht? Zu viel Paranoia? Wahrscheinlich, aber nicht in der Lage zu sein, einfach mal sein Abendessen zu organisieren, hatte ihn tief erschüttert. Wie unglaublich abhängig unsere ach so tolle Zivilisation doch vom Strom ist! Darauf hat uns nichts vorbereitet.

Kapitel 3

Tag 1

Frankfurt - Bahnhofsviertel

Ganz ähnliche Gedanken machte sich gerade Umut Durmaz. Er schäumte vor Wut. Konnte dieses scheiß Deutschland nicht einmal dafür sorgen, dass man Strom hatte? Jetzt saß er hier im Dämmerlicht seiner Bar im Rotlichtbezirk Frankfurts, ganz in der Nähe vom Bahnhof. Normalerweise brummte es jetzt hier schon vor Aktivität. Die fein gekleideten Kunden aus dem benachbarten Bankenviertel waren in der Regel die ersten Besucher seines Etablissements. Hier fingen sie an, sich mit den ersten Drinks aufzuwärmen und über ihre erfolgreichen Deals zu prahlen. Hier die Gewinnmitnahmen über einen manipulierten Aktienkurs, dort neues Kapital für ihren Hedgefonds gewonnen. Und überhaupt ›We are the masters of the universe!‹ Je mehr Drinks, desto großkotziger. Wen wollten die eigentlich beeindrucken? Die Nutten, mit denen sie nachher verschwanden? Sie sprachen ja nicht einmal vernünftig Deutsch! Nein, wahrscheinlich nur sich selber, bzw. ihre Kumpels. Umut war es egal. Sie spülten das meiste Geld in die Kasse, und zwar in seine Kasse, um genau zu sein, denn das war sein Etablissement! Sein ganzer Stolz hing an der Bar, denn die hatte er sich wahrhaft mühsam und mit nicht gerade zimperlichen Mitteln aufgebaut. Und für was? Damit ich jetzt hier an meiner eigenen Bar sitze und mich alle meine Nutten schmollend angaffen, als ob ich etwas dafür könnte, dass sie nichts zu tun haben? Die Hälfte der Kunden bleibt eh wegen dem verdammten Coronavirus zu Hause oder im Bett. Und jeden Tag kann das Gesundheitsamt meinen Laden wegen potenzieller Ansteckungsgefahr dichtmachen. Soll ich meine Nutten vielleicht in ein Ganzkörperkondom stecken? Und jetzt auch noch Stromausfall? Wie soll man denn hier noch vernünftig Geschäfte machen?

»Ayaz, gib mir noch mal einen Cognac, aber vom Guten und nicht der Plörre, die wir unseren Gästen ausschenken«, rief er seinem Barkeeper zu.

Ayaz beeilte sich, dem Wunsch seines Bosses nachzukommen, um ihn nicht noch mehr zu verärgern.

Umut war irgendwo im türkischen Anatolien geboren worden und natürlich Moslem. Obwohl in Frankfurt aufgewachsen und der türkischen Sprache kaum mächtig, fühlte er sich doch seinem Heimatland viel mehr verbunden: Nicht, dass er in Anatolien hätte leben wollen. Teufel, nein, da hätte er schon beim ersten Glas Alkohol Schwierigkeiten bekommen. Es war nur so, dass er mit seinen Landsleuten viel besser zurechtkam. Ayaz zum Beispiel. Der kam auch aus Anatolien und war eine treue Seele. Er war auch Moslem, das war ihm sogar wichtig, aber trotzdem konnte er gut zwischen Geschäft und privat unterscheiden. Äußerlich sah er schon fast deutsch aus mit seiner hellen Haut, und mit Drinks kannte er sich auch überraschend gut aus. Zudem hatte er ein gutes Händchen mit den Nutten. War ja auch kein Problem: Sie kamen ja alle aus Osteuropa oder Asien, waren also alle Ungläubige, Kafira. Und damit soundso unrein. Das heißt, er konnte sie ohne Gewissensbisse einteilen, managen oder selbst benutzen, was er auch gerne und wiederholt tat. Nie würde er natürlich seine moslemische Frau betrügen, indem er mit einer anderen moslemischen Frau schlief! Aber Kafira waren ja auch keine richtigen Menschen, also Freiwild. Und außerdem war seine Frau weit weg in Anatolien und damit beschäftigt, seine beiden Kinder großzuziehen. Sie konnte froh sein, dass er hier das Geld ranschaffte.

Umut kippte seinen zweiten Drink und schnaubte verächtlich. Jeder sollte es machen, wie er es für richtig hält! So hielten es doch die Frankfurter und waren sehr stolz auf ihre Toleranz. Und Umut schloss sich dem gerne an, solange es nicht seine eigenen Interessen berührte. Dann hörte Toleranz natürlich schnell auf.

Verdammt, jetzt hätte er gerne ein kühles Bier gehabt. Die Hitze wollte einfach nicht aus den Häuserschluchten weichen. Aber kühl, das ging gerade nicht. Nicht einmal das Telefon ging, damit er sich irgendwo beschweren konnte! Wofür bezahlte man eigentlich seine Steuern? Nicht, dass er jemals schon nennenswert Steuern gezahlt hätte, aber immerhin lebten hier einige Leute von seinem Geschäft, und das war ja wohl auch etwas wert!

»Was glotzt ihr mich denn alle so an? Habt ihr nichts Besseres zu tun?«

»Ich habe Hunger.« Kleinlaut meldete sich einer seiner Damen. Sie kam irgendwo aus Osteuropa, oder Russland, Lenka war ihr Name.

Fassungslos sah Umut sie an. »Und? Dann hol‘ dir was, verdammt! Oder soll ich dir vielleicht was kochen? Ein kleines Filetsteak mit einem guten Glas Rotwein vielleicht? Ein paar Kerzen dazu?«

Noch kleinlauter: »Wir können ohne Strom nichts machen, und die Imbissläden hier auch nicht.«.

»Dann geh‘ raus und hol‘ dir ein paar Kekse beim Kiosk um die Ecke, Mann! Aber lass‘ mich doch damit in Ruhe!« Umut brüllt jetzt fast.

Im Stillen musste er ihr Recht geben. Wenn der Stromausfall noch anhielt, dann würde er bald größere Probleme haben als ausbleibende Kunden.

»Ayaz, stell ein paar Kerzen auf und halte die Tür offen. Vielleicht kommen ja noch ein paar Leute und haben Lust auf was Romantisches bei Kerzenschein. Ich bin mal oben im Büro. Und gib mir mal gleich die ganze Flasche mit, ich muss nachdenken!«

 

 

Oben im Büro grübelte Umut über die Situation nach. Schon seit Vormittag kein Strom mehr. Er konnte sich an keinen so langen Stromausfall erinnern. Wenn bis morgen kein Strom da ist, dann muss ich mal die anderen Kumpels vom Clan besuchen gehen. Ich habe heute Nachmittag noch keine Polizeistreife gesehen. Wenn die weiter ausbleiben, dann könnten manche von der Konkurrenz übergriffig werden. Wir müssen Vorbereitungen treffen.Die Russen warten schon lange darauf, mir mein Geschäft wegzunehmen. Die Vietnamesen sind auch nicht zimperlich, haben aber eher das Drogengeschäft im Blick. Also vorerst keine Gefahr… hmm…

Umut starrte auf seine noch volle Flasche. Seine Gedanken verselbstständigten sich und malten sich ein Szenario nach dem anderen aus. Lebensmittel sind wichtig. Wir brauchen ein paar Waffen. Nur zur Vorbeugung. Das stand eh schon lange auf der Liste und dient nur der Sicherheit. Vor allem müssen wir bereit sein – personell und mental. Übertreibe ich grade etwas? Ach was soll’s, lieber jetzt gleich mal meine Kumpels besuchen und sehen, wie es bei ihnen läuft.

Er stand auf, zog sich eine abgegriffene Lederjacke über seinen nicht unerheblichen Bauch und ging raus in die Frankfurter Nacht. Bin gespannt, was die Kumpels vom Clan so sagen.

Kapitel 4

Tag 2

Riedkirchen

Am nächsten Morgen rannte ein junger Kerl durch die Siedlung in Riedkirchen.

»Bekanntmachung vom Bürgermeister! Kommt alle heute Abend raus zum Sportplatz! Der Bürgermeister will was zur aktuellen Lage sagen! Heute Abend um 19:00 Uhr!«

Das ging ja schnell! Trotzdem gut, endlich mehr Infos, dachte Finn. Er hatte nicht besonders gut geschlafen. Der Rauch seiner gestrigen Grillorgie hing immer noch im Zimmer, weil er vergessen hatte, die Fenster zuzumachen. Und dann hatte das Duschen mit lauwarmen Wasser gezeigt, dass auch die Heizung, obwohl ölbefeuert, natürlich Strom zum Funktionieren benötigte. Lauwarmes Wasser war zwar noch erträglich gewesen, aber irgendwie hatte er sich immer gefragt, wie lange wohl überhaupt noch Wasser aus der Dusche kommen würde. Naja, wenigstens war seine Wanne mal gefüllt.

Gut, dass man sich mal endlich von öffentlicher Stelle kümmert, hoffentlich gute Nachrichten.

Gedankenlos drückte er die Toilettenspülung. Was war denn jetzt wieder los? Warum floss denn kein Wasser nach? Sein noch etwas umnebeltes Gehirn brauchte etwas, um die Tragweite zu begreifen. Kein Wasser mehr?? Er riss den Deckel des Spülkastens ab und sah, dass lediglich ein dünnes Rinnsal den Spülkasten befüllte. Mist! Er drehte den Hahn am Waschbecken auf. Das Gleiche! Dann ist es also soweit! Das Trinkwasser geht aus. Kein Wasser! Jetzt wird es ernst. Der Verbrauch war wohl in den heißen Tagen in letzter Zeit auch besonders hoch gewesen. Ich muss mich mal mit meinen Nachbarn besprechen.

Finn ging erst zu Rolf, weil hier schon ein paar Leute zusammenstanden.

»Morgen, Leute! Habt ihr auch kein Wasser?«

»Morgen Finn, nee bei mir ist alles gut, warum?«

»Ich habe das Gefühl, dass sich langsam unser Wasserhochbehälter leert, und ohne Strom wird der vorerst mal leer bleiben. Bei mir ist kaum noch Druck auf der Leitung.«

Das erntete hauptsächlich verständnislose Blicke. Bis es den meisten dämmerte, was das für Konsequenzen haben könnte. Ein paar rannten sofort los, um zu testen, ob ihr Haus auch betroffen war.

»Rolf, willst du mal schauen, wie es bei dir aussieht? Unsere Häuser haben etwa die gleiche Höhe.«

»Ok, wart mal kurz!«

Eine verschlafene Cornelia sah aus dem Fenster, ihr langes blondes Haar wirr um den Kopf drapiert. Sie sah umwerfend süß aus. Ob ihr das wohl bewusst ist?

»Paps, was ist denn los?«

»Sag ich dir gleich, mach‘ dich erst mal fertig und hol Mutti!«

Clemens kam auch rübergeschlendert. »Und, gibt’s was Neues?«

»Außer, dass der Bürgermeister uns heute Abend am Sportplatz sehen will? Kommt drauf an. Hast du Wasser?«

»Hä?«

»Ich meine, läuft bei dir das Wasser, denn wenn nicht oder nur schwach, wäre jetzt vielleicht die Zeit, einen Trinkwasservorrat anzulegen. Wer weiß, wann unser Hochbehälter wieder gefüllt wird.«

Clemens stand einen Moment verdutzt da, machte dann aber auf dem Absatz kehrt, um nach seiner Frau zu rufen. Plötzlich stand Finn ziemlich alleine auf der Straße. Er wollte gerade gehen, als eine noch immer ziemlich verschlafe Conny rauskam und sich zu ihm gesellte.

»Finn, mir macht das langsam alles Angst.«

Erst jetzt?, dachte Finn. Laut sagte er: »Hast du Lust, ein paar Schritte mit mir zu gehen?« Eine Straße weiter fingen schon die Felder und Obstwiesen an, und ein bisschen Bewegung würde ihm jetzt guttun.

»Klar, ich muss mich nur noch fertigmachen. Waschen und so.«

»Geht schon so, wie es ist«, sagte Finn lächelnd.

»Nein, nein, ich fühle mich nicht wohl ohne Dusche. Warte hier, ich brauch nicht lang!«

»Warte mal, Conny… Dein Vater versucht gerade, ein bisschen Trinkwasser zu retten. Ich glaube, dass Duschen gerade nicht möglich ist. Komm, lass uns einfach ein paar Schritte gehen.«

Cornelia folgte Finn zögerlich.

»Finn, was meinst du damit: Mein Vater versucht gerade, Trinkwasser zu retten?«

Finn setzte zu einer längeren Erklärung an. »Eines der vielen Probleme bei einem längeren Stromausfall ist unsere Wasserversorgung. Damit wir so schön gleichmäßig Wasser aus dem Hahn laufen lassen können, wird unser Trinkwasser meistens in Hochbehälter gepumpt, und durch die Schwerkraft läuft es dann mit gleichmäßigem Druck aus unserem Wasserhahn. Bei Hochhäusern oder in schwieriger Lage benötigt es oft noch Unterstützung durch eine Druckerhöhungsanlage, aber bei uns funktioniert das auch gut ohne. Wenn der Strom fehlt, dann können die Pumpen kein Wasser nachliefern, und der Behälter läuft leer. Das passiert offensichtlich gerade bei uns. Trinkwasser ist momentan unser wertvollstes Gut und, tut mir leid, da müssen wohl die Dusche oder andere Waschvorgänge hintenanstehen.«

»Oh mein Gott…« Conny hielt sich erschrocken die Hände vor den Mund, als ihr die vielfältigen Konsequenzen dämmerten. »Aber das geht doch nicht, wir stecken doch noch mitten in der Corona-Pandemie, und dann kein Strom und Wasser, die können uns doch nicht so alleine lassen!«

Ihr sonniges Gemüt war verschwunden und machte echtem Erschrecken Platz. Finn versuchte, sie zu beruhigen, wusste aber nicht recht, wie er es anstellen sollte, ohne irgendwelche kindischen Versprechungen abzugeben, die er eh nicht halten konnte.

»Vielleicht haben wir in einer Stunde oder morgen wieder Strom und können uns wieder ganz dem Corona widmen, aber lass uns lieber versuchen, auf alles vorbereitet zu sein, ok? Der Strom ist jetzt schon fast einen ganzen Tag weg, das ist echt seltsam. Teamplay ist ja nicht eine meiner Stärken – sagen mir die Leute zumindest immer wieder – aber wir müssen als Nachbarn jetzt zusammenhalten. Ich spreche nachher mal mit deinem Vater und Clemens, wie wir uns wappnen könnten. Und ich bin sehr gespannt, was unsere Bürgermeisterin heute Abend zu sagen hat!«

 

 

Die abendliche Versammlung fand nicht umsonst am Sportplatz statt. Das Coronavirus hatte zwar auch im Städtchen schon seinen Tribut gefordert. Von den 8.000 Einwohnern waren trotzdem ca. 2.000 Leute anwesend; so ziemlich jede Familie hatte mindestens einen Vertreter geschickt. Mindestabstandsregeln und Mundschutz war noch nicht richtig etabliert und schnell vergessen. Man hatte dem Bürgermeister ein einfaches Podest gebaut, und eine Beschallungsanlage lief über einen Generator.

Sorge und Verunsicherung lagen wie eine dicke Wolke in der Luft, und hier und da bahnten sich Angst und auch Aggression einen Weg. Als Hermine Schneider, die Bürgermeisterin, zu sprechen anfing, wurde es trotzdem totenstill.

»Liebe Mitbürger, wir sind in einer Situation, wie sie noch nie einer von uns erleben musste. Seit der spanischen Grippe mussten wir keine weltweite Virus-Pandemie mehr erleben, und durch die seither fortgeschrittene Globalisierung und unsere dadurch geschaffenen Abhängigkeiten trifft uns das mit voller Wucht. Wir können sehr, sehr dankbar sein, dass das Coronavirus nicht einmal besonders aggressiv ist, und trotzdem wirft es unser bisheriges Leben gehörig durcheinander. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir das in Deutschland sogar noch relativ gut im Griff. Dank unserer schnellen Reaktionen im Gesundheitswesen, auch hier in Riedkirchen…«

Wann kommt die endlich zum Punkt und sagt uns, was mit dem Strom los ist, das wäre jetzt interessanter als Selbstbeweihräucherung, dachte Finn. Er musste sich allerdings noch ein paar Minuten gedulden. Als auch die Menge immer unruhiger wurde, kam Hermine Schneider zum aktuellen Problem.

»…und dann haben wir im Moment offensichtlich ein massives Problem mit der Strom- und Wasserversorgung.« Kurze Pause von der Bürgermeisterin und Totenstille.

Na super, dachte Finn, dann hat also unsere Behörde auch keine Ahnung.

»Leider kann ich Ihnen im Moment nicht sagen, warum wir keinen Strom und kein Wasser haben! Bitte… bleiben Sie ruhig… bitte… Ich habe natürlich mit unserem lokalen Versorger, den städtischen Wasserwerken, gesprochen. Das Problem bei der Wasserversorgung liegt hauptsächlich am fehlenden Strom.«