Lock Down - 10 Wochen - Oscar Liebermann - E-Book

Lock Down - 10 Wochen E-Book

Oscar Liebermann

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Beschreibung

Der Strom kam nicht wieder. Während die einen immer noch verzweifelt auf die Wiederherstellung der alten Zustände hoffen, fangen andere an, sich unter der neuen Anarchie einzurichten.

Denn ohne Strom gibt es keine Kommunikation. Ohne Kommunikation funktioniert kein Saat, keine Feuerwehr, ja nicht einmal eine Polizeiwache. Ohne Polizei kein Schutz.

Die Nahrungsmittel sind schnell vergriffen oder in den Händen der stärksten gelandet. Wer bisher nicht an Trinkwasser kam... nun drei Tage ohne Wasser überlebt keiner. Während die Frankfurter Hochhäuser unbeeindruckt weiter in den Himmel ragen, verändert sich das Leben zu ihren Füßen unaufhaltsam. Im schwäbischen Riedkirchen wurde die erste Katastrophe mit viel Zusammenhalt etwas abgefedert, aber wie soll es jetzt weitergehen? Der Druck von außen wächst genauso wie die Gewaltbereitschaft derer, die nichts mehr haben.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

 

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1 – Tag 11

Kapitel 2 – Tag 12

Kapitel 3 – Tag 14

Kapitel 4 – Tag 15

Kapitel 5 – Tag 15

Kapitel 6 – Tag 18

Kapitel 7 – Tag 20

Kapitel 8 – Tag 21

Kapitel 9 – Tag 21

Kapitel 10 – Tag 21

Kapitel 11 – Tag 21

Kapitel 12 – Tag 22

Kapitel 13 – Tag 22

Kapitel 14 – Tag 22

Kapitel 15 – Tag 22

Kapitel 16 – Tag 23

Kapitel 17 – Tag 23

Kapitel 18 – Tag 23

Kapitel 19 – Tag 25

Kapitel 20 – Tag 31

Kapitel 21 – Tag 32

Kapitel 22 – Tag 33

Kapitel 23 – Tag 40

Kapitel 24 – Tag 42

Kapitel 25 – Tag 42

Kapitel 26 – Tag 43

Kapitel 27 – Tag 50

Kapitel 28 – Tag 55

Kapitel 29 – Tag 62

Kapitel 30 – Tag 70

Kapitel 31 – Tag 70 – später Nachmittag

Epilog

Lock Down

10 Wochen

 

 

 

 

 

 

Oscar Liebermann

 

Impressum

 

Lock Down – 10 Wochen © 2022 Oscar Liebermann

 

Kontakt:

Oscar Liebermann / Skubis Verlag

c/o Block Services

Stuttgarter Strasse 106

70736 Fellbach

 

Lektorat: Joana Dörfler // www.redigieren.org

 

Coverdesign & Layout:

Daniela Rohr // www.skriptur-design.de

Verwendete Stockfotos von:

de.depositphotos.com / pixabay.com

 

ISBN: 978-3-9822839-4-4

Prolog

 

Der Kurier aus Riedkirchen kam mit seinem Fahrrad am späten Vormittag in Gäutal an. 20 km Strecke waren kein Pappenstiel – vor allem nicht, wenn man hungrig war und die Strecke bergig verlief. Dafür waren natürlich keine Autos unterwegs gewesen – ein deutlicher Vorteil! Seine einfache Arbeitshose war nass vom Schweiß und klebte unangenehm an den Beinen. Sein Hemd hatte er kurzerhand ausgezogen. Ihn ekelte schon davor, den nassen Lappen wieder anzuziehen. Modeschauen waren etwas für zivilisierte Zeiten, in denen man noch Strom und fließendes Wasser hatte. Aber trotzdem wollte er nicht wie der letzte Heuler aussehen, wenn er als Repräsentant Riedkirchens auftauchte. Erschöpft blieb er kurz auf dem letzten Hügel vor dem Ortsrand stehen und stellte sein Rad ab. Er wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und zog langsam das klamme Hemd über. Hier hatte er einen guten Überblick über den Ort.

Er kannte Gäutal. Früher war er öfter hier gewesen. Daran war eine blonde Mittdreißigerin mit aufregenden Kurven und kecken Sommersprossen um die Nase nicht ganz unbeteiligt. Er hatte sie beim Maibockfest des Lämmerbräu getroffen, und sie hatten es eine Zeit lang miteinander probiert. Das war jetzt aber auch schon wieder einige Jahre her.

Wie es ihr wohl jetzt geht? Was gäbe ich jetzt für ein Maibockfest mit fetten Bratwürsten und kühlem Bier!

Er ließ den Blick langsam über den Ort schweifen. Still ist es geworden seit dem Stromausfall vor 11 Tagen, dachte er. Still und unnatürlich ruhig!

Tatsächlich wirkte der Ort im sommerlichen Licht friedlich – fast wie ausgestorben. Wenn man genauer hinsah, dann bemerkte man schon Anzeichen von Vernachlässigung. Die Vorgärten sahen nicht mehr aus wie aus dem Ei gepellt, und an den Straßenkanten sammelten sich langsam abgestorbene Pflanzen und Müll. Auf den sauber eingeparkten Autos bildete sich schon eine feine Staubschicht. Aber das Auffallendste war die komplette Abwesenheit von Menschen auf der Straße. Jetzt war ja so ein Vorort nie das Zentrum des Lebens – aber gar keine Leute?

 

 

Er gab sich einen Ruck und stieg wieder auf sein Fahrrad. Es kamen immer wieder Flüchtlinge aus Gäutal, und er würde jetzt im Auftrag der Bürgermeisterin feststellen, warum dem so war. Er hatte sich dafür freiwillig gemeldet. Er wusste nicht so genau, warum. Wahrscheinlich wollte er doch wissen, wie es einer ehemaligen Freundin so ging.

Die Flüchtlinge wurden jedenfalls ein Problem. Die Leute waren teils ziemlich traumatisiert und sprachen von Plünderung, Gewalt und Chaos. Davon war hier eigentlich nichts zu sehen. Er sollte, wenn möglich, den örtlichen Bürgermeister sprechen, Oder einen anderen Verantwortlichen und ein paar der Einwohner. Einfach mal die Lage sondieren!

Warum nicht gleich mit den Einwohnern anfangen? Sieht sicher genug aus, dachte er und ging auf das erste Haus zu. Er schob sein Fahrrad durch das Gartentor auf das mit Rasen und Büschen bedeckte Grundstück und lehnte es an einen knorrigen Obstbaum. Dann klopfte er.

Nichts. Kein Laut kam aus dem Haus! Er klopfte noch einmal und rief ins Haus hinein, um auf sich aufmerksam zu machen. Seine Stimme schallte unnatürlich laut in der Stille des Vorortes. Man musste ihn doch gehört haben! Jetzt glaubte er, beim Nachbarhaus eine Bewegung am Fenster wahrzunehmen. Aber als er hinsah, konnte er nichts mehr erkennen. Er rief noch einmal und probierte den Türknauf. Auf dem Land ließ man schließlich öfters noch die Türen unverschlossen. Und tatsächlich: Auch diese Tür ging auf. Also dann – gehen wir halt mal rein! Er schob sich durch die Tür und rief wieder ins Haus. »Irgendjemand da? Ich komme aus Riedkirchen!«

Uhh, hier im Haus riecht die Luft aber ganz anders als draußen. Die sollten hier vielleicht mal lüften. Der Kurier zog sich das T-Shirt vor die Nase und ging weiter. Geradeaus war das Wohnzimmer. Die Küche schloss sich dem nahtlos an. Hm, nichts! Ich geh lieber wieder. Ich werde mit Sicherheit nicht in deren Schlafzimmer eindringen! Er wandte sich um und ging wieder zur Haustür. Vielleicht das nächste Haus, in dem ich die Bewegung gesehen habe.

Er trat aus der Tür in das grelle Sonnenlicht und zog genussvoll und tief Luft ein. Ah, wieder gute Luft!

Dann hielt er erschrocken wieder die Luft an – denn als sich seine Augen an das Sonnenlicht angepasst hatten, bemerkte er die vier Gestalten, die offensichtlich auf ihn gewartet hatten. Es waren drei Männer und eine Frau, die im lockeren Halbkreis um den Ausgang herumstanden. Keiner sagte etwas. Alle steckten sie in robusten Arbeitsklamotten, die mal wieder eine Wäsche vertragen hätten. Aber Wasser war hier wohl genauso Mangelware wie in Riedkirchen. Man trank es lieber, als damit irgendetwas zu säubern. Dann fiel ihm auf, dass alle etwas in der Hand hielten, was sie wie eine Waffe trugen. Da ein Spaten, hier ein Knüppel – und die Frau hielt eine handliche Axt vor ihren Körper. Von den Leuten ging eine fast greifbare Welle des Misstrauens aus. Oder war es Wut?

Der Kurier wurde plötzlich sehr nervös. Seine Kehle war mit einem Mal ziemlich trocken. Er schluckte krampfhaft und wich einen halben Schritt zurück ins Haus.

»Ähhh, Leute, das sieht jetzt vielleicht komisch aus, aber ich wollte hier nicht einbrechen … Tatsächlich komme ich aus Riedkirchen …«

Er verstummte unter dem Blick des Mannes vor ihm. Er war älter und hielt eine Mistgabel in der Hand. Er starrte ihn schweigend und mit zusammengekniffenen Augen an. Dann rammte er dem Kurier die Mistgabel wortlos und mit voller Wucht in die Brust. Drei Zacken bohrten sich fast lautlos in sein Fleisch, fanden den Weg an den Rippen vorbei in seine Lungen. Vor Schock und Schmerz brachte der Kurier außer einem erschrockenen Aufstöhnen kaum einen Laut über seine Lippen. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die Vordertreppe der Haustür. Das Atmen fiel ihm schon schwer, weil sich die Lungen bereits mit Blut füllten.

»Warum …?«

Der ältere Mann zog die Mistgabel aus seiner Brust, beugte sich zu ihm herunter und flüsterte rau in sein Ohr: »Wir wollen keine Plünderer hier. Und wir dulden auch keine mehr. Lasst uns jetzt in Frieden!«

Damit wandte er sich um. Zu seinen Begleitern sagte: »Schleift ihn vor die Gartentür! Er soll hier als Warnung für die anderen liegen bleiben!«

Und dort ließen sie den Kurier liegen, der mit einem verständnislosen Blick gen Himmel gerichtet langsam an seinem eigenen Blut erstickte.

Kapitel 1

Tag 11

Riedkirchen

 

In Riedkirchen herrschte Alarmstimmung. Seitdem sich gestern die Bundeswehr als Fälschung herausgestellt hatte, sank die erste hochfliegende Hoffnung schnell wieder ab und machte einer allgemeinen Depression Platz. Da hatte dieser Unteroffizier doch tatsächlich den Lehrer erschossen! Empörung und Wut vermischte sich mit Hilflosigkeit. Was sollte man schon gegen bewaffnete Soldaten ausrichten? Denn die Bundeswehr als Institution mochte sich als Fälschung herausgestellt haben, die Soldaten aber waren genauso echt wie deren Waffen.

Nach dem Tod des Lehrers rief Hermine Schneider, die Bürgermeisterin von Riedkirchen, am nächsten Tag zur Krisensitzung. Alle Ratsmitglieder fanden sich ein.

»Meine Herren«, Hermine gebrauchte immer noch gerne diese Redewendung, obwohl sich alle schon duzten. »Wir alle trauern um Wilfried Bold, unseren Lehrer für Geschichte am Gymnasium und außerdem Ratsmitglied. Brutal und völlig unnötig erschossen von diesem Sören Kreplin aus dem Nachbarort Emmerdingen – einfach um ein Zeichen zu setzen. Und leider haben wir keine Zeit, zu trauern, denn die Bedrohung durch diesen ehemaligen Unteroffizier der Bundeswehr ist sehr real. Und unmittelbar. Wir müssen unbedingt einen Weg finden, damit umzugehen!«

Hermine sah in die Runde der betretenen und deprimierten Gesichter. »Ihr habt es alle gehört. Er wird wiederkommen und seinen Tribut festlegen. In unserer jetzigen Position kann er alles verlangen.«

»So frustrierend«, ließ sich Egon Sattler vernehmen, der Apotheker am Ort. »Jetzt haben wir mit viel Mühe so etwas wie eine beginnende Struktur aufgebaut, haben echte Aussichten, eigene Nahrung zu produzieren. Dem Betrieb von Lukas werden wir eine waschechte Schmiede verpassen – und kaum ist das in den Startlöchern, kommt einer, der es uns wieder wegnehmen will.«

»Ich fürchte, es geht sogar noch etwas weiter.« Finn hatte sein Kinn nachdenklich auf seine Handfläche gestützt. Seine dunklen Haare waren ungekämmt und seine sonst stechend blauen Augen etwas verschleiert. Er sah übernächtigt und müde aus, was er auch war. »Dieser Sören wird unsere bescheidene Infrastruktur nicht kaputtmachen wollen. Er wird sie freudig nutzen wollen, und wir sollen fleißig darin arbeiten, um ihm die Früchte zu geben. Er wird die Kuh, die er zu melken gedenkt, nicht schlachten. Und unsere Spritvorräte bei den Tankstellen wird er wohl auch bald für seine Militärfahrzeuge in Anspruch nehmen.«

»Bist ja ein echter Aufmunterungsbolzen, Finn!«, merkte Jonas Wagner, der Polizeihauptkommissar, mürrisch an.

»Oh, ich war noch nicht fertig! Neben den Ressourcen, die wir im Depot haben und demnächst herstellen, haben wir noch andere Dinge, die sich solche Typen gerne nehmen. Das sind hübsche, junge Frauen.«

Finn wurde es ganz schlecht von seinen eigenen Worten. Er runzelte die Stirn und dachte an Conny, die Tochter des Nachbarn. Blonde, lange Haare, tolle Figur und ein umwerfend sonniges Lächeln, Anfang 20. Ja, sie würde als Archetypus jener Frau gelten, auf die es gesetzlose Warlords gerne abgesehen haben.

Conny und er hatten sich seit der Krise zart und vorsichtig angenähert. Finn fühlte den Tod seiner Frau vor ein paar Jahren immer noch wie eine offene Wunde in sich. Trotzdem hatte ihm Conny unabsichtlich geholfen, aus seiner grummeligen Isolierung herauszukommen und wieder etwas Leben zu schnuppern. Finn achtete und respektierte sie, und es wäre gelogen, wenn ihm ihre weiblichen Reize entgangen wären. Ein gutes Zeichen eigentlich; ich sollte mich nicht so dagegen wehren. Auch wenn sie natürlich nichts von einem Typen wie mir will, aber darum geht es ja gar nicht. Es musste wohl erst eine richtige Krise kommen, damit ich wieder so etwas wie Leben verspüre. Was sagt das eigentlich über mich aus? Egal jetzt, es geht gerade um Wichtigeres als um meine psychologischen Verirrungen. Er versuchte seine Aufmerksamkeit wieder der Ratssitzung zuzuwenden.

Lukas Weidelener, der Unternehmer, in dessen Fabrikhalle sie jetzt die Schmiede einbauen – oder besser gesagt die vorhandenen Einrichtungen erweitern würden – plusterte sich gerade auf. Er glotzte Finn ungläubig an.

»Sag mal, was hast du eigentlich für Fantasien? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

Der örtliche Polizeihauptkommissar, Jonas, sprang ein. »Ich fürchte, Finn hat hier durchaus recht. Wenn einmal der Damm gebrochen ist, was soll sie dann aufhalten, alles zu nehmen, was die Umgebung so hergibt? Seine eiskalte Skrupellosigkeit hat dieser Sören gestern unter Beweis gestellt, indem er Wilfried erschossen hat. Einfach nur, um zu zeigen, dass er es ernst meint! Der Typ ist ein Psychopath! Ein Psycho mit Waffen, wohlgemerkt. Und er ist nicht alleine, wie wir alle gesehen haben. Stellen wir uns lieber auf das Schlimmste ein und hoffen, dass wir uns irren.«

»Ok, meine Herren«, griff die Bürgermeisterin wieder ein. »Es ist also schlimm, das haben wir alle kapiert. Was tun wir dagegen?«

Es verstrich eine Minute, in der jeder seinen Gedanken nachhing. Lukas räusperte sich schließlich. »Wir müssen uns mit dem wehren, was wir haben. Barrikaden bauen, dahinter Bürger aufstellen, diese bewaffnen …«

»Mit was denn?«, unterbrach ihn Jonas. »Ich habe eine Handvoll Pistolen in der Polizeiwache und etwas Munition. Das ist alles! Und damit umgehen können wahrscheinlich eh nur ich und mein Kollege im Ort.«

»Notfalls mit Knüppeln, Heugabeln, Steinen, was weiß ich!«, erregte sich jetzt der eher zurückhaltende Apotheker Egon. »Auf jeden Fall können wir unsere Frauen und Töchter nicht diesen Verbrechern ausliefern!«

»Wir haben ja auch noch unseren Schützenverein. Ein paar einfache Waffen könnten wir auftreiben.«, sinnierte Hermine. »Sollen wir also eher kämpfen und das Leben unserer Bürger aufs Spiel setzen – oder erst einmal die Forderungen erfüllen, um Zeit zu gewinnen?«

»Du würdest dem wirklich unsere jungen Frauen ausliefern?« Ungläubiges Erstaunen von Egon. Dass er Finn vorhin noch bei diesem Gedanken als Fantasten abgetan hatte, schien er nicht zu bemerken. Aber auch die anderen Ratsmitglieder sahen ihre Bürgermeisterin teils schockiert, teils ungläubig an.

»Nein, natürlich nicht!«, beschwichtigte Hermine gereizt. »Hört mich doch erst mal an, bevor ihr mir hier die schlimmsten Sachen unterstellt. Ich meinte eher, wir sollten uns zuerst die Forderungen anhören, die Emmerdingen stellen wird. Parallel könnten wir uns irgendwie hochrüsten. Keine Ahnung. Waffen erfassen, die Leute, die damit umgehen können, herausausdeuten und prüfen, wie wir effektive Barrikaden bauen können. Die werden doch wohl aus ihrer Kaserne keinen Panzer geklaut haben, oder?«

»Unwahrscheinlich!«, warf Finn dazwischen. »Das sind einfach zu große Spritfresser. Damit wären sie nicht weit gekommen.«

»Gut, immerhin. Aber wir müssen uns bald entscheiden. Kämpfen oder nachgeben?« Hermine blickte in die Runde. Unsicherheit war in jedes Gesicht der Ratsmitglieder geschrieben. Niemand wollte eine Entscheidung treffen, die den Tod von Mitbürgern bedeuten konnte – oder ihren eigenen Tod. Die Warnung von Sören bedurfte keiner weiteren Erläuterung. Der eine oder andere Blick huschte unwillkürlich zu der Stelle, an der gestern noch die Leiche des Lehrers gelegen hatte.

Auch Hermine starrte auf den Fleck. Das Blut ist nicht ganz rausgegangen. Wenn wir das nicht abschleifen, wird es jetzt ewig in den Holzdielen bleiben. Als Erinnerung – und als Mahnung.

In die unbehagliche Stille hinein sagte sie schließlich: »Denn immerhin haben wir als Option durchaus Verhandlungspotenzial. Wie Finn vorhin so treffend bemerkt hat, wird kein vernünftiger Mensch die Kuh schlachten wollen, die er melkt.«

»Vernünftig, ist das Schlüsselwort«, brummte Finn in seinen Wochenbart. Er wurde trotzdem von allen gehört. »Mir fällt es schwer, auf die Vernunft eines selbst ernannten Warlords zu setzen, oder – was das angeht – seinem Wort zu vertrauen. Warum soll er sich an Regeln halten, wenn ihn keiner bestraft, falls er sie bricht?«

»Ja, wir müssten zumindest in der Lage sein, ihm Konsequenzen aufzuzeigen, sonst können wir uns gleich mit Sklaverei abfinden.« Missmutig stützte Jonas sein Doppelkinn in seine verschränkten Hände.

»Aber dafür leben?« Lukas hatte die Frage nur leise gestellt – fast nur sich selbst, aber auch hier hatte sie jeder im Raum vernommen. Wieder kehrte Stille im Saal ein, nur unterbrochen durch einige Laute von Aktivitäten vom Marktplatz vor dem Rathaus.

Die Bürgermeisterin sah vom Fenster aus nachdenklich auf das seltsam entschleunigte und friedliche Treiben der Einwohner ihrer Stadt. Hier überquerte gerade ein älterer Mann in blauer Arbeitskleidung den Platz. Er hatte einen Wasserkanister in der Hand – zweifellos, um eine der Mietwohnungen zu versorgen. Der Fluss lieferte Gott sei Dank genügend frisches Wasser, aber die Schlepperei war nicht zu unterschätzen, wenn man etwas davon in der Wohnung haben wollte. Trotzdem hatte der Mann keine Eile. Er lächelte einer Frau in auffallend sauberer Kleidung zu, die einen Wäschekorb unter dem Arm geklemmt hatte. Er setzte den Eimer ab und blieb stehen, um sich zu unterhalten. Wir kämpfen ums Überleben, aber die Hektik ist weg. Die Arbeit ist schwer geworden, aber zumindest die beiden da unten sehen nicht unglücklicher aus als zuvor. Wie lange wird sie wohl noch genügend Waschmittel für ihre Kleider haben? Irgendwer in diesem kleinen Städtchen wird doch wissen, wie die Leute im Mittelalter Seife hergestellt haben, oder?

Zögerlich riss sie sich von dem friedlichen Bild los und drehte sich wieder zu den Ratsmitgliedern im Saal um.

»Ich habe heute Morgen einen Kurier nach Gäutal geschickt. Wer weiß, vielleicht können wir uns ja irgendwie mit ihnen zusammenschließen. Aber wir müssen für uns selbst in dieser Runde entscheiden. Es wird schwierig genug werden, unsere Bürger zu motivieren mitzumachen – egal, was wir beschließen. Es wird immer Unzufriedene geben. Nein falsch. Ein Teil wird richtig wütend sein mit dieser Art Wut im Bauch, die Gewalt hervorbringt – weil so viel auf dem Spiel steht. Deshalb müssen wir uns wenigstens einig sein, eine geschlossene Front nach draußen vertreten. Sonst sehe ich unser fragiles Gebilde in Riedkirchen einstürzen, bevor es sich richtig aufbauen konnte!«

Mit blassem Gesicht sah sie in die Runde. Jeden Einzelnen sah sie an.

»Versteht ihr die Brisanz? Also denkt nach und lasst uns bald darüber beraten! Am besten schon morgen!«

 

 

Finn radelte nach der Sitzung in gedrückter Stimmung heim. Er fand, dass sie bisher einen ganz guten Job gemacht hatten, das Chaos im Zaum zu halten. Und jetzt schien es sie doch einzuholen. Er fühlte sich hilflos und völlig ausgeliefert. Konnten ein paar skrupellose Leute mit Waffen wirklich einfach alles holen, was sie wollten? Ihm wurde wieder schlecht bei dem Gedanken an Conny. Wie können wir sie und ihresgleichen nur vor Missbrauch und Vergewaltigung schützen? Müssen wir also quasi mit Knüppeln gegen Profis kämpfen, die automatische Waffen haben? Ihr einziger Vorteil lag in der schieren Überzahl der Leute. Der Vorteil griff aber nur, wenn sie bereit wären eine Reihe von Toten in Kauf zu nehmen. Und wer ist wohl bereit in der ersten Reihe zu stehen, wenn es hart auf hart kommt?

Als er sein Haus erreichte, wehte ihm schon ein verlockender Duft um die Nase. Er ging gar nicht erst ins Haus hinein, sondern gleich in den Gartenbereich hinter dem Haus, in dem sie zusammen auch den Brunnen gegraben hatten. Clemens und Rolf, seine Nachbarn, hatten ihr gemeinsames Projekt »zusammen Essen, um Ressourcen zu sparen« kräftig vorangetrieben. Scheinbar war die Feuerstelle nun fertig und wurde gerade eingeweiht. Es half sicherlich, dass Clemens eine kleine Baufirma betrieb oder bis dato betrieben hatte. Es lief einfach viel glatter, wenn einer vom Fach war.

»Hey, schön, dass du auch noch rechtzeitig kommst!«, rief Clemens freudestrahlend und nicht ohne Stolz. Er deutet auf die gemauerte Feuerstelle. »Was sagst du zu unserem zukünftigen sozialen Treffpunkt – mitten in deinem Garten?«

Mit einem halben Lächeln bewunderte er ihr Werk. »Da wart ihr ja ganz schön fleißig in meiner Abwesenheit!«

»Ja, manche Leute arbeiten auch was, während du dir den Arsch im Rathaus breitsitzt!« Klar, dass Rolf wieder seinen Kommentar abgeben musste. Insgeheim sah er sich als den besseren Vertreter im Rat an als Finn.

Clemens rettete Finn vor einer bissigen Erwiderung, indem er auf seine Frau deutete. »Helena hat unser Gemäuer schon eingeweiht und ist gerade mit dem Essen fertig geworden, nicht wahr, mein Schatz?«

Er sah liebevoll zu seiner Frau hinüber, die scheinbar eine Kombination aus Dauerwürsten und Dosengemüse grillte.

Was die Vorräte halt noch so hergeben! Da wird man doch gleich kreativ, dachte Finn belustigt. Seine düstere Stimmung hob sich etwas, wie er seine beiden Nachbarn mit kompletter Familie um die fertige Feuerstelle sitzen sah. Früher hätten ihn so viele Leute auf seinem Grundstück – seinem Privatbereich – gestört. Jetzt empfand er es tröstend, Leute um sich herum zu haben, denen er inzwischen vertraute.

»Mensch Leute! Sieht doch toll aus, unsere neue Freiluftküche!«, grinste er in die Runde. Sogar Manuel, der Sohn von Clemens, war etwas lockerer drauf als sonst. »Oh, was ist denn in dieser Schüssel?«

»Teiglinge!« Conny warf die Haare keck nach hinten und strahlte ihn an. »Wir backen nachher Brötchen – oder eher Brotfladen am Grill. Mehl haben wir noch da, Wasser jetzt auch genügend, ein bisschen Sauerteig ansetzen, Salz rein – und schon haben wir leckeres Brot!«

»Toll, frisches Brot! Das ist doch mal eine gute Nachricht!« Finns Laune war jetzt eindeutig besser, und er lächelte Conny an.

Jetzt ließ sich auch Rolf vernehmen. »Ich habe mal in der Glotze gesehen, wie sie im Iran Brot backen: Flacher Teig, dann schlagen sie diesen an Wände in einem gemauerten Loch im Boden, das sie vorher mit Holz gut erhitzt haben. Deckel drauf und warten. Nach 20 Minuten sind es schöne Brotlaibe – so wie das türkische Fladenbrot. Vielleicht können wir auch so ein Loch mauern?«

»Oder gleich einen kleinen Backofen?«, schlug jetzt Herta, seine Frau vor. »Den kann man genauso nutzen wie dein Loch im Boden, aber zusätzlich noch alles andere darin backen.«

»Hmm, auch nicht schlecht, wir müssten es nur gut isolieren, damit wir die Hitze nicht nach außen hin verlieren …«

Finn setzte sich auf eine der neu gemauerten Sitzbänke und hörte entspannt zu. Die Diskussion der weiteren Maßnahmen, um ihr Leben einfacher zu machen, war wie ein beruhigendes Plätschern im Hintergrund. Kürzlich hatten sie mit Hilfe des Treckers und den zwei Anhängern von ihrem hiesigen Bauern, Max Almedinger, beim Steinbruch Splitsteine organisiert. Diese lagen jetzt auf einem Haufen zwischen dem Grundstück von Rolf und Finn. Zudem hatte sich Finn an den Zeitpunkt erinnert, als der Strom wegblieb – daran, dass urplötzlich die Baumaschinen der Baustelle eine Straße weiter still wurden. Diese Baustelle war gut bestückt mit Zementsäcken, die sie sich mit nur klein wenig schlechtem Gewissen gesichert und in Finns ebenerdigen Keller eingesperrt hatten. Zement! Das war Gold wert, und so konnten sie ihre kleinen Bauvorhaben problemlos umsetzen – nicht für Feuerplatz und Sitzbänke natürlich. Dafür war die plötzlich knappe Ressource Zement zu schade.

Das nächste Projekt würde eine Zisterne ein, in die sie mit Rolfs Tauchpumpe das Brunnenwasser fördern würden, angetrieben durch Solarzellen. Dafür würden sie Zement benötigen. Dann hatten sie wieder eine einfache Form fließendes Trinkwasser, vor allem aber verfügbares Wasser, ohne dass man einen Eimer in den Brunnen hinablassen musste, oder schlimmer: jedes Mal zum Fluss runterlaufen musste.

Conny setzte sich eng neben ihn, sodass sich ihre Arme berührten. Er sah auf und begegnete ihren graublauen Augen, die ihn forschend ansahen. »War es hart heute in der Sitzung?«

Sein Blick wurde abwesend, ernst und etwas bitter.

Sein Gesicht ist hager geworden die letzten Tage, dachte Conny bei sich. Irgendwie wirkt er müde und abgekämpft. Aber sein Blick hat immer noch eine Intensität, die mir weiche Knie beschert. Diese hellen, tiefblauen Augen! Gut, dass ich sitze. Und ja, es war wohl eine harte Sitzung heute.

Conny nickte bei sich und fragte dann laut: »Etwas, was wir Normalos auch wissen dürfen?«

Finns Blick änderte sich etwas. Er sah immer noch Conny an, aber jetzt waren darin auch Sorge und Kummer wahrzunehmen. Er seufzte leicht und ließ seine Augen nun über das Städtchen gleiten, das man wegen der Hanglage seines Grundstücks gut überblicken konnte.

»Nicht nur wissen dürfen, wissen müssen«, erwiderte er. »Wie läuft denn das Käsereiprojekt bei unserem Bauern Max an?«

Conny knuffte ihn leicht. »Willst du jetzt ablenken?«

»Nein, das eine hängt wahrscheinlich mit dem anderen zusammen. Ich adressiere gleich alle hier – aber erst dein Feedback.« Sein leichtes Lächeln steckte nun voller Wärme. Ganz plötzlich spielte ihr Bauch verrückt. Verdammt, würden sie jetzt alleine hier sitzen, dann hätte sie eine harte Zeit, sich zurückzuhalten, um ihn nicht zu küssen. Sie wendete ihrerseits den Blick ab, um sich etwas zu sammeln.

»Also! Das Projekt ist nichts anderes als der Hammer! Max hat das Wissen, und ich darf bei der Umsetzung helfen. Natürlich sind wir ganz am Anfang – auch baulich, aber allein schon die Pläne auszuarbeiten macht riesig Spaß. Der Reiferaum steht eigentlich schon, er muss nur noch errichtet werden. Außerdem liebe ich Käse!« Mit jugendlicher Begeisterung wandte sie sich ihm wieder zu. »Du musst dir meine Entwürfe ansehen!«

»Gerne!« Alles, was diese wertvolle Begeisterung aufrecht erhält, dachte Finn noch bei sich.

Helena kam jetzt mit ihrer Version eines Mittagessens herüber. »Hier für euch zwei Teenies! Riecht leider besser, als es schmeckt, aber mehr haben unsere Vorräte für heute nicht hergegeben. Wartet, bis unser Brot fertig ist! Wir holen uns dazu frische Butter von Max, und dann haben wir heute Abend ein wirkliches Festessen!«

Die drei Familien genossen einen Moment der Zufriedenheit und Ruhe, während sie ihre Mahlzeit zu sich nahmen.

»Mach dich doch nicht immer so schlecht, Helena.« Clemens hatte den Mund voll und war kaum zu verstehen. »Das ist hervorragend!«

Die anderen stimmten murmelnd bei. Auch Finn war durchaus zufrieden. Seufzend stellte er den Teller zur Seite und sammelte sich.

»Leute, ich würde euch gerne über die neuesten Entwicklungen informieren.«

Gespannt sahen jetzt alle auf. Niemandem war entgangen, dass gestern ein Ratsmitglied ermordet worden war. Natürlich war es in aller Munde – und natürlich gab das Anlass zu Spekulationen und zur Sorge. Trotzdem wollte niemand Finn bedrängen. Er würde sie rechtzeitig informieren. Und bis dahin ging man mit einem gewissen Fatalismus seinen unmittelbaren Aufgaben nach. Davon gab es immer genug – was nicht hieß, dass sie nicht neugierig waren. Also hatte Finn sofort alle Aufmerksamkeit.

Finn gab im Groben das wieder, was sie vorher im Rat besprochen hatten. Er schloss mit den Worten: »Diese Deserteure der Bundeswehr haben nicht nur die Waffen, sondern setzen sie scheinbar auch gerne ein. Vor allem aber sind sie offensichtlich skrupellos und gewaltbereit. Und zumindest ihr Anführer, dieser Sören Kreplin, ist ein Psychopath.«

Stille folgte nach seinen Ausführungen. Rolf, der Vater von Conny, rührte sich zuerst.

»Das heißt, sie können sich alles nehmen – auch unsere Frauen und Töchter.« Schwer fiel sein Blick auf seine Tochter, die immer noch eng neben Finn auf der Bank saß. Sie war bleich und spiegelte damit mehr oder minder das Aussehen aller wider.

»Ja, die Gefahr ist sehr reell. Sie haben nichts dergleichen gesagt, keine Drohungen ausgestoßen oder so. Das mussten sie aber auch nicht. Er hat einfach unseren Lehrer abgeknallt und dann gesagt: ›Ich denke, jetzt verstehen wir einander‹. Und dann ist er abgerauscht. Ja, ich denke, das tun wir nun tatsächlich.«

Finns Blick fiel wieder auf seine Sitznachbarin. »Conny, deine Arbeit bei Max draußen macht dich exponiert. Sein Bauernhof liegt am Ende unserer Siedlung Richtung Emmerdingen. Wenn die dich einmal zu Gesicht bekommen …«

»Aber was tun wir denn dagegen? Gibt es denn keine Möglichkeit der Gegenwehr?«

Herta suchte automatisch den Schutz bei ihrem Mann, Rolf. Die Verzweiflung brach jetzt doch langsam Bahn, als ihr die ganzen unausgesprochenen Ungeheuerlichkeiten dieses Mordes klar wurde. »Wir fangen gerade an, etwas aufzubauen – und die nehmen es uns einfach weg?«

»Sie versuchen es, oder wollen zumindest irgendwie daran teilhaben. Wie genau, wissen wir noch nicht. Wir können getrost davon ausgehen, dass die Forderungen immer unverschämter werden. Wir sollten deshalb die Zeit nutzen, um uns vorzubereiten – Schutzräume für unsere Frauen und wertvolle Dinge zum Beispiel. Oder vielleicht noch besser: Die Flucht in den Wald? Keine Ahnung. Schutzräume kann man finden, dann sind sie eine Todesfalle, aber den Wald werden sie nicht einfach absuchen, und außerdem kann man hier großräumig ausweichen.«

Warum ist mir das nicht in der Sitzung eingefallen? Finn machte sich Vorwürfe. Das müssen wir unbedingt organisieren! Aber jetzt fangen wir hier schon mal damit an. Unser Vorteil ist natürlich, dass wir nahe am Wald wohnen.

Finn sah in die Runde seiner Zuhörer. »Was haltet ihr davon? Sollten wir nicht unseren ganz privaten Fluchtplan aufstellen? Den Wald mal auskundschaften und eine Schutzhütte anlegen? Ein Frühwarnsystem wäre super! Solange wir das aber nicht haben, müssen wir einfach hoffen, dass sie nicht zuerst an unserer Straße langfahren. Hauptsache, wir fangen mit dem momentan am besten umsetzbaren Plan an. Und den verbessern wir dann laufend.«

Die Dringlichkeit der Lage war offensichtlich, und Hilflosigkeit wich verbissener Entschlossenheit. Die nächsten Stunden vergingen mit Austüfteln der Einzelheiten und in der Vorbereitung. Irgendwann beschlossen sie, den Kreis zu erweitern und ein siedlungsweites Projekt daraus zu machen. Irgendetwas musste jedenfalls passieren.

Der Nachmittag war schon fortgeschritten, und die drei Männer saßen noch allein und nachdenklich um die Glut des Feuers vom Mittagessen herum. Finn räusperte sich noch einmal und setzte zum Reden an.

»Eines müssen wir unbedingt noch bedenken: Die Emmerdinger dürfen nichts von unserem Notfallplan erfahren. Wir machen hier gerade einen Spagat. Einerseits wollen wir möglichst viel Leute einbinden, anderseits ist der Zufluchtsplan keinen Pfifferling mehr wert, wenn er öffentliches Wissen wird. Im Gegenteil. Wir würden dem Psycho das was er will noch nett zusammensuchen und dann zeigen, wo er zugreifen kann! Nee, so geht das auch nicht. Keine Ahnung, wie wir dieses Dilemma lösen sollen.«

Die beiden anderen nickten verstehend. Rolf holte tief Luft und erwiderte schließlich: »Und wenn wir es doch unter uns lassen?«

Clemens verzog unwillig das Gesicht. »Das können wir nicht machen! Unsere Mitmenschen und Nachbarn verdienen genauso maximalen Schutz wie wir!«

Rolf wurde nun ärgerlich und lehnte sich vor. »Und was wird passieren, wenn alles noch knapper wird? Was ist, wenn deine Mitmenschen und Nachbarn anfangen, unsere Obstbäume in unseren Gärten hier abzuernten? Oder unseren angepflanzten Salat rausreißen? Denkst du, die werden dich schützen, wenn hier ein Typ mit Knarre auftaucht, der wissen will, wo unsere Frauen alle abgeblieben sind? Mann, wach auf! Deine christliche Nächstenliebe ist ja schön und gut, aber hier und heute ist sie einfach zu naiv! Wenn es schwierig wird, ist sich immer noch jeder selbst der Nächste!«

Brummelnd setzte er noch hinzu: »Und im Moment ist sie auch wenig hilfreich.«

»Sie ist die allerbeste Grundlage für das Zusammenleben von Menschen, es müssten sich nur alle daran halten«, widersetzte sich Clemens defensiv.

»Eben Clemens, eben. Ich bin ja hier völlig bei dir. Aber wenn die Leute hungrig sind oder einfach nur machtgeil, dann kommen wir mit deiner Nächstenliebe nicht weiter! Zumindest bei den meisten nicht.« Rolf lehnte sich wieder zurück. »Ich bin dafür, dass wir unsere eigenen Vorkehrungen zu treffen. Was meinst du, Finn?«

»Ihr habt meines Erachtens beide recht. Schwierig …« Finn stützte sein Kinn in seine Hand. »Und wenn wir beides unter einen Hut bringen könnten? Ein Zufluchtsort für die Siedlung und ein Plan B für uns?«

Also besprachen sie einen Plan B für sich selbst, während die Glut wieder angefacht wurde, um das Brot zu backen. Bald zog köstlicher Duft durch den Abend, und dann gab man sich dem einfachen Genuss von frisch gebackenem, noch warmem Brot hin, auf dem noch die Butter von Max zerfloss.

 

 

Der Duft zog den Hang hinunter zu dem Grundstück in der Parallelstraße. Arnold Schröder saß gerade auf der Terrasse seines Hauses, das er zur Miete bewohnte. Nun ja, gerade wohnte er hier sozusagen mietfrei, was aber Ok war: Er bekam ja auch kein Gehalt mehr. Als Beamter würde er dieses sogar nachbezahlt bekommen, sobald die Elektronik das hergab – so dachte er zumindest. Wofür war man schließlich Beamter? Nicht um zu arbeiten jedenfalls. Oh, er kannte eine Menge Beamtenkollegen, die sich den Buckel krumm schufteten und Überstunden anhäuften, weil sie ihre Arbeit sonst nicht schafften. Aber das waren doch alles dumme Idioten! Wer sich als Beamter totschuftete, war wahrlich selbst schuld. Nein, er war Beamter, weil er unkündbar sein wollte, um dann eine ruhige Kugel zu schieben. Klar stieß das auf wenig Nächstenliebe bei seinen Kollegen und Vorgesetzten, aber wen juckte das schon? Sollen sie ihn halt rausschmeißen, haha!

Dumm war nur, dass er jetzt echt arbeiten musste, um etwas zum Essen zu bekommen. Seine Familie ging ihm gewaltig auf den Nerv. Seine Frau wurde auch immer dicker und ließ ihn nicht mehr ran. Aber er wollte im Gegenzug ja auch nicht wirklich. Nur jetzt, wo er doch keinen Zugang mehr zu Pornos hatte, und seine Frau anfing unfreiwillig abzunehmen, da hätte er schon mal wieder Lust gehabt …

Aber jetzt wollte die Zicke nicht mehr, faselte etwas von Romantik und dass sich eine Frau begehrt fühlen wolle. Hatte die sie eigentlich noch alle?? Sie waren doch verheiratet! Und dann gleich die Forderungen. Er solle sich doch mal um seine zwei Kinder sorgen – und um sie natürlich auch –, und was zum Beißen heimzubringen. Mit Ende dreißig sei man wohl noch nicht zu alt, um mal was anzupacken, oder? Unverschämt! 2 Kinder hatten sich in Zeiten des Kindergeldes und der Steuererleichterungen noch nach einer guten Sache angehört, zumal ihm seine Frau dauernd damit in den Ohren gelegen hatte. Aber jetzt? Jetzt nervten die Rotzlöffel nur und überhaupt. Wie sollte er unter diesen Umständen vier Leute ernähren können? Er dachte ernsthaft an Flucht – wenn er nur wüsste, wohin.

Von oben drang urplötzlich der unverschämt leckere Geruch von frisch gebackenem Brot runter. Unwillkürlich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Ja super, denen geht es natürlich gut, die feiern glatt eine Party! Und dieser Finn hält sich auch für etwas Besseres, seit er im Rat sitzt. Da war er mir früher lieber: zurückgezogen und bescheiden – jawohl. Jetzt wollte er jedem sagen, wo es langging.

 

 

Die Dämmerung brach ein, und mit ihr kamen die Mücken. Man sah den Feuerschein bei Finns Haus, aber nicht die Leute, weil da seit Kurzem eine Mauer entstanden war. Dann hörte man plötzlich das helle Lachen von Conny, der blonden Schönheit. Arnold bekam sofort einen Ständer. Durch Zufall hatte er Conny einmal am offenen Badezimmerfenster beobachten können, das sie offenbar nach der Dusche zum Auslüften aufgemacht hatte –perfekte Brüste an einem jungen athletischen Körper, nur leicht abgedeckt durch langes, blondes noch nasses Haar. Bei der Erinnerung wurde seine Latte noch härter. Inspiriert durch seine Pornos kaufte er sich glatt ein Fernrohr, um sich damit auf die Lauer zu legen. Ein paar Mal hatte er tatsächlich Glück gehabt. Auch die Frau von Rolf kam ihm mal vor die Linse. Auch nicht schlecht, aber die Tochter … Er wollte schon an seiner Hose rumfummeln, um seinen Schwanz rauszuholen, als ihm einfiel, wo er gerade saß. Frustriert ließ er es sein. Dumpf brütend haderte er weiter mit seinem Schicksal. Ich möchte was von dem frischen Brot und danach die auch sehr frische Conny.

Kapitel 2

Tag 12

Riedkirchen

 

›Das kiffende Dreiergestirn‹ traf sich wieder unter der ausladenden Eiche etwas außerhalb Riedkirchens. Sie waren etwas durch den Wind, wie man so schön sagt. Der Joint machte fleißig die Runde.

Gestern hatten sie sich das zweite Mal mit Janik aus Emmerdingen getroffen – so wie verabredet. Sie wollten Geschäftliches besprechen. Wie die Hanfproduktion anlief, wie viel sie absetzen wollten und vor allem was als Gegenleistung heraussprang. Überraschenderweise war Janik aber nicht alleine gekommen. Er hatte ein reizendes blondes junges Ding namens Sandra dabeigehabt. Es war wieder ein typischer heißer Sommertag gewesen, aber selbst dafür war sie ziemlich knapp angezogen gewesen.

Georg, Fachmann für den Hanfanbau und Fabrikantensohn, verzog selig das Gesicht, als er sich ihren Anblick wieder in Erinnerung rief. Bei der Oberweite und der knappen Bluse, die sie anhatte, drohten die ansehnlichen Möpse immer wieder rauszuspringen. Tatsächlich warteten die Jungs die ganze Zeit auf diesen Moment und waren kaum zu etwas Vernünftigem zu gebrauchen. Schließlich wollte keiner den Moment verpassen. Nur Malik, der geschäftstüchtige Deutschrusse, wollte so etwas wie eine Verhandlung mit Janik führen. Aber auch ihm fielen die Augen aus dem Kopf, als sich Sandra mal vornüberbeugte und ihre Arschbacken deutlich aus den Hotpants rauslugten. Spätestens als Janik dann die Whiskeyflasche aus seinem Rucksack zauberte und etwas von einer Anzahlung auf ein zukünftig gutes Leben faselte, war es vorbei.

Geschickterweise hatte Sandra eine Decke dabei. Diese legte man gut vor Blicken geschützt ins hohe Gras des Feldes. Wie sich herausstellte, hätten sich die Jungs keine Sorgen machen müssen, etwas zu verpassen. Sandra war mehr als willig, ihre Oberweite zu präsentieren. Sie murmelte etwas von ›viel zu beengend‹ und zog die Bluse einfach aus. Georg erinnerte sich noch neiderfüllt an die Beiläufigkeit, mit der Janik auch ihren BH entfernte, und dann gafften die Jungs einfach auf das prachtvolle Paar junger Brüste. Sandra war es kein bisschen peinlich. Sie stützte sich lasziv nach hinten auf die Ellenbogen und lächelte in die Runde. Prompt bekam Georg bei der Erinnerung einen Ständer. Schon wieder.

Er schluckte mühsam. Irgendwie war seine Kehle plötzlich viel zu eng. Jetzt im Nachhinein sah es ja schon so aus, als ob sie es darauf angelegt hätte. Denn dann stellte sich heraus, dass es keineswegs bei den Blicken bleiben sollte. Plötzlich war sogar etwas zu essen da. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was es war – unwichtig. Hunger hatte ausnahmsweise mal keiner. Der Alkohol machte die Runde und Sandra auch. Sie kuschelte sich mal bei ihm an, dann beim Nächsten, knutschte etwas, Anfassen inklusive. Nur ihre Hose blieb an, aber auch die konnte noch fallen, wie es aussah. »Das nächste Mal vielleicht«, deutete Sandra mit verheißungsvollem Zwinkern an. Verdammt, war er geil! Wie es wohl für Manuel mit seinen 15 Jahren gewesen war? Er reichte seinen Joint zu ihm rüber und sah ihn an.

Manuel war seit gestern in einer anderen Welt. Er hatte das erste Mal richtige Titten in der Hand gehabt, und zwar nicht zu knapp! Einmal legte er sogar seine Hand ungeschickt auf den Hintern von Sandra, die ihn daraufhin anlächelte und wissend kurz über den sehr angespannten Stoff seiner Hose strich. Das jagte elektrische Pulse durch seine ganze Genitalregion. Wow! Da verblassten sogar seine Fantasien von Conny. Wenn dies das Leben war, dass ihr eher unschuldiger Anbau von Hanf ermöglichte, dann her damit! Kurz tauchte das missbilligende Gesicht seines Vaters vor seinen Augen auf, das er aber hastig beiseiteschob. Der musste aber auch alles Schöne verderben!

So hing jeder seinen Gedanken nach. Malik ergriff schließlich das Wort. Seine Stimme war vom Joint und den Gedanken an gestern Abend schläfrig. »Jungs, ich glaube, wir haben gestern einen Vorgeschmack auf unser zukünftiges Leben bekommen. Was haltet ihr davon?«

Bedächtig nickte Manuel. »Wenn das der Vorgeschmack war, dann mag ich mir gar nicht richtig vorstellen, wie das tatsächliche Leben aussehen wird!« Er fand, er hatte hier ein echt kluges Statement abgegeben.

Auch Georg stimmte dem durch ein knappes Nicken zu, was seine momentane Gefühlswelt nicht verriet.

Super, dann sind wir endgültig auf einer Linie, jubelte Malik innerlich. Gut gemacht, Janik! Dass es genau Janiks Absicht war, die drei Jungs in diese Richtung zu manipulieren, entging Malik. Aber selbst, wenn er es gewusst hätte, hätte es seine uneingeschränkte Zustimmung gefunden. Er wollte mit aller Gewalt raus aus der postapokalyptischen Schufterei und etwas erreichen.

»Ist euch aufgefallen, dass wir gar nicht groß über das Geschäft geredet haben?«, fragte Georg nach einer Weile.

»Na ja, war ja auch nicht so viel zu berichten, außer dass du den Freiluftanbau gut hinbekommen hast.«

»Dass wir sogar dabei sind, Gewächshäuser zu bauen, hat ihn seltsam wenig berührt. Dabei ist gerade das doch im Sinne der Nachhaltigkeit besonders wichtig.«

»Mensch Georg, jetzt bist du wieder der Fabrikantensohn! Genieß doch einfach mal unsere Fortschritte. Und dass wir gestern die ersten Früchte genießen durften.«

»Ja, obwohl wir noch gar nix geliefert haben. Seltsam, aber natürlich nicht unwillkommen!«, grinste Georg jetzt. Er knufft Malik in den Arm. »Du musst nicht immer gleich denken, ich springe ab, wenn ich versuche, Dinge zu verstehen.«

»Außerdem kannst du mir nicht erzählen, dass du nur an deine Hanfpflanzen dachtest, so wie du auf die Titten von Sandra geglotzt hast!«

»Nicht nur geglotzt, nicht nur geglotzt …!« Jetzt lachten beide anlässlich der Erinnerung, und Manuel stimmte ein.

Das Leben hatte doch tatsächlich mehr zu bieten, als sich für das Überleben krumm zu schuften. Man musste nur klüger sein wie die anderen, und in diesem Moment fühlten sie sich ihren schuftenden Eltern haushoch überlegen.

Kapitel 3

Tag 14

Frankfurt Rödelheim

 

Umut stand mit Amir, Ayaz und dem vierschrötigen Kirill, seinem engsten Vertrauten, unter dem Dach der freien Tankstelle auf dem Gelände der Metro in Rödelheim. Der Tag versprach wieder mal, heiß zu werden. Für ihren Stützpunkt hatten sie einen großen Pool aus einem der umliegenden Vorgärten konfisziert und mit Wasser aus dem Fluss befüllt: Eigentlich dazu gedacht, endlich mal wieder etwas Körperhygiene in die Truppe zu bringen, wurde er nun auch gerne als Abkühlung benutzt. Da half es sicherlich, dass er durch das darüberliegende Bürogebäude, das jetzt ihre Basis war, überdacht wurde. Umut war es recht – Hauptsache weniger Gestank.

Ihre Raubzüge gegenüber der Infrastruktur aus Läden, Supermärkten, Apotheken und Baumärkten verliefen bisher so erfolgreich, dass sie in ihrer geräumigen Tiefgarage langsam keinen Platz mehr fanden. Und dann stand hier noch eine riesige Niederlassung der Metro mit Unmengen an Plündergut. Umut wusste schlicht nicht, wohin damit, konnte diese Ressourcen aber auch schlecht anderen überlassen. Und das schloss die Benzinvorräte dieser Tankstelle mit ein. Nur, dass sie da gerade nicht gefahrlos rankamen. Er würde die Metro bewachen lassen müssen, denn inzwischen waren die Menschen so verzweifelt, dass sie keine Skrupel mehr hatten, fremdes Eigentum zu beschädigen. Vielleicht konnten sie die Räume der Tankstelle als Außenposten nutzen. Diese lagen zudem günstig, um die Grenzen zu sichern. Denn irgendwann würden hungrige oder vertriebene Leute von außerhalb auch an dieser Ecke auftauchen. Ja, das musste gehen!

Der ganze Erfolg von Umut Durmaz bestand eigentlich darin, dass er früher und entschlossener seine Skrupel abgelegt hatte. Ok, das Waffenarsenal, das er mitgebracht hatte, half natürlich auch, seinen Standpunkt klarzumachen. Es war sogar entscheidend gewesen, um genau zu sein. So war er der erste gewesen, der hier zugegriffen hatte und jetzt war alles sein Eigentum.

Ja, und natürlich zahlt sich jetzt auch meine Weitsicht aus, sagte er sich nicht ohne Selbstgefälligkeit. Er hatte sich einfach schon früh ausmalen können, was so ein Stromausfall in einer Stadt wie Frankfurt bewirken würde. Und wie recht ich doch damit hatte! In der Innenstadt wären wir doch jetzt alle schon verdurstet! Wer hätte das gedacht.

Obwohl er gar kein Frankfurter war, sondern ein türkisches Landei. Er fühlte sich auch als Türke, obwohl er sich kaum an seine Kindheit in Anatolien erinnern konnte. Zur Schule gegangen war er dann hier und deshalb betrachteten ihn seine Landsleute auch nicht immer als ihresgleichen – nur hinter seinem Rücken natürlich. Es war ihm schnell klar geworden, dass er sein lieb gewonnenes Bordell im Bahnhofsviertel aufgeben musste, einfach weil es hier zu viel kompetente Konkurrenz um zu wenig Ressourcen gab. Diesen Kampf konnte er trotz seiner noch schnell angeschafften Waffen nicht gewinnen. Aber hier in Rödelheim, waren die Menschen einfach zu weich und gutgläubig. Die hatte er mit seiner Machtübernahme völlig überrascht. Er kratzte sich an seinem wuchernden Bart.

»Kirill, wir sollten hier bei der Tanke einen Außenposten einrichten, der die Metro und das Benzin absichert und zudem als Grenzposten taugt. Vielleicht finden unsere Leute endlich mal eine Möglichkeit, gefahrlos an die Tanks ranzukommen. Kümmere dich darum und richte uns in dem Häuschen dort drüben entsprechend mit Betten und stabilen Barrikaden ein. Hier kommen ab und zu Leute vorbei, die andere gerne ausrauben und dann Umbringen, wie wir an den Leichen im Gewerbegebiet gesehen haben.«

»Jawohl mein Herzog!« Krill neigte den Kopf mit einem leicht spöttischen Grinsen.

Ja, das habe ich mir selbst eingebrockt, dachte Umut. Sie werden mich jetzt immer mit dem ›Herzogtum Rödelheim‹ aufziehen. Ich wollte es nie, aber es hat sich einfach so ergeben. Es ist praktisch und dem Gefasel von Sklaverei musste ein Ende gesetzt werden. Jetzt kennt jeder seinen Platz, und alle sind glücklich. Ok, »glücklich« ist vielleicht übertrieben, wäre ich als Leibeigener wahrscheinlich auch nicht, aber wir haben jetzt eine »Working Relationship«, wie man so schön sagt. Und die Leute haben momentan was zum Essen, das ist doch auch was, oder? Zumindest diejenigen, die mit uns kooperieren – und zum Teufel mit den anderen.

Er nahm wieder den Stadtplan von Frankfurt in die Hand und breitete ihn vor sich aus. »Also seht her! Noch einmal zur Erinnerung: Wir sind jetzt ungefähr hier bei der Metro.« Er deutete auf die Guerickestraße. »Ich stelle mir vor, dass wir uns hier bis an die Autobahnen ausdehnen, das sind perfekte natürliche Grenzen. Im Norden die A66, im Westen die A5 und im Süden der Messezubringer, die A648. Im Süden haben wir die Kleingärten bis zur Nidda ganz gut im Griff, denke ich, auch die Parks, aber was ist mit dem da?« Er deutete auf eine Grünfläche mit dem Namen »Kleingartenverein Fuchstanz e.V.«

Kollektives Schulterzucken. Akim schlug schließlich vor: »Frag doch mal Markus. Der organisiert doch das Grünzeug. Und er kennt sich besser aus als wir.«

Umut nickte. »Ok, du machst das. Wir brauchen mehr Fläche zum Bebauen. Den Gartencenter Dehner, den ich hier sehe, haben wir doch ausgeräumt, oder?«

»Fast. Die haben auch größeres Gerät, das wir nicht in unsere Tiefgarage bringen wollen. Die wird langsam voll. Aber wir können es doch hier einlagern.« Ayaz deutete vage auf die Hallen der Metro. Als ehemaliger Barmann Umuts war er seinem Boss nach Rödelheim gefolgt und managte jetzt mehr oder minder das Bürohaus, in dem sie ihre Basis eingerichtet hatten. Er war noch jung, im Gegensatz zu Umut fehlte ihm der Bauchansatz und ihm stand auch der Bart ganz gut. Er war bei den meisten beliebt, vor allem bei dem ganzen Personal, das sie inzwischen von den Rödelheimern gegen Nahrung eingestellt hatten.

Umut nickte anerkennend und fuhr fort: »Und seht mal, wenn wir hier die Westerbacher Straße nehmen, haben wir direkt aus Rödelheim eine Brücke über die Autobahn, die uns wieder in ein nettes Grüngebiet führt, schön eingerahmt von der A648 und im Süden ein bisschen von der Nidda. Das sollten wir unbedingt konfiszieren! Dahinter kommt Frankfurt Sossenheim, und die möchten wir hier nicht haben! Alles Ausländer! Akim, mach das auch mit Markus klar! Schick notfalls ein paar Leute mit Waffen mit! Diesen REWE hier haben wir schon leergekauft, oder?« Er deutete auf ein Gebäude nördlich der Westerbachstraße.

»Ähm …«

»Mann, dann prüft es! Unser Lager mag jetzt aus allen Nähten platzen, aber das bleibt nicht lange so. Wir müssen ja auch was abgeben. Die Metro sollte ja wohl auch dafür noch genug Platz haben. Oder nehmt das kleine Einkaufszentrum neben unserem Büro. Da ist doch noch massig Platz in den Läden, oder? Und wenn ihr schon hier seid, dann geht gleich die Straße hoch zum Sinn.«

Er sah in verständnislose Gesichter und seufzte gequält. »Sinn Uhren? Klingelt nichts? Mann, Frankfurter Kultur ist nicht nur Äpplewein, Zeil und Großbanken! Sinn produziert feine Uhren – gut bekannt bei den Kennern. Außerdem sind sie mechanisch, und so was brauchen wir jetzt. Verstanden soweit? Also besorgt so viele es geht und verteilt sie unter den Chefs! Aber nicht gleich alle, und lasst mir die erste Wahl. Ich wollte schon immer so eine Uhr haben.«

Er wischte sich erschöpft mit dem Ärmel über die Stirn. »Ok, gut vorerst. Wir gehen ins HQ zurück, wird langsam heiß hier. Außerdem juckt meine Narbe, wenn der Schweiß reinläuft. Der Bart hilft auch nicht. Vielleicht rasiere ich ihn doch wieder, solange wir noch Klingen haben. Ich brauche kühles Wasser.«

»Vielleicht solltest du dann auch mal wieder den Verband wechseln oder durch ein großes Pflaster austauschen. Kann ja Sarah machen!«, fügte Ayaz noch mit süffisantem Grinsen hinzu.

Sarah, die, als die Bahn ausfiel, als Rechtsanwaltsgehilfin in Rödelheim gestrandet war, war die erste gewesen, die sich dem Trupp Umuts angeschlossen hatte. Sie war bisher sehr hilfreich in allerlei organisatorischen Dingen gewesen, und außerdem konnte sie überraschend feinfühlig Verbände wechseln. Dass sie ziemlich gut aussah, war auch kein Nachteil.

»Ja, wahrscheinlich«, murmelte Umut. Dann wechselte er das Thema. »Sag mal, die Türken, die du in Rödelheim aufgegabelt hast: Was für Leute sind das? Sie sind natürlich eine echte und vor allem wichtige Aufstockung unserer Truppe – und zudem ziemlich viele. Wie viele? 30 Leute zusätzlich?«

»Ja so in etwa. Es könnten noch ein paar mehr dazukommen, wenn wir wollen.«, erwiderte Ayaz stolz. »Die haben hier einen ziemlich coolen Obermufti, der sich als spirituelles Zentrum sieht. Wusstest du, dass es hier in Rödelheim ein islamisches Zentrum gibt? Die meisten hören auf ihn, und ich verstehe es. Er hat was! Ich bin froh, dass er auf unserer Seite steht.«

»Können wir dadurch die Marokkaner in Schach halten? Gut möglich, dass die noch Schwierigkeiten machen? Die sind bisher nur unter sich.«

Akim, der dunkelhäutige Cousin Umuts antwortet an Ayaz Stelle: »Ja, denke schon. Aber unsere Artillerie wird jetzt dünner gestreckt. Wir müssen auch auf andere Waffen ausweichen. Können wir denn nicht in einer der Werkstätten hier mal was herstellen? Schwerter, Sperre und so? Etwas, was keine Munition benötigt und besser als ein Küchenmesser ist? Dann bleiben die guten Waffen bei uns, und wir können trotzdem eine Miliz ausbilden.«

»Sprich mal mit unserem Waffenfreak, dem wir die Aufgabe gegeben haben, die lokalen Werkshallen zu inspizieren. Dem fällt schon was ein!«

Umut wandte sich wieder Ayaz zu. »Noch mal zu unserer neu erworbenen Truppenaufstockung. Können wir ihnen trauen?«

Ayaz ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. »Gut, wir haben extra nur unter den Türken geworben – das hilft sicherlich. Und jetzt mal ohne Scheiß: Sie verehren dich, Umut. Nicht wegen dem Zeug von wegen »Herzogtum Rödelheim«. Die meisten wissen gar nicht, was das ist oder darstellen soll. Nein, einfach, weil du hier allen mal gezeigt hast, wo es lang geht. Als Türke! Du bist hier der Obermacker. Sie nennen dich inzwischen »Sübasi«. Das heißt so viel wie Armee- oder Truppenführer, falls du es nicht weißt. Macht respektieren sie einfach. Ist wohl auch so eine moslemische Eigenart.«, setzte Ayaz schief grinsend hinzu.

»Brauchst einem Türken nicht erklären, wie Moslems ticken!«, knurrte Umut.

»Ja, schon klar, Boss! Meine ja nur.«

Akim sprang schnell ein: »Und du hast dich im Kampf bewährt, wie deine korrigierte Visage zeigt! Es kursieren jetzt schon Geschichten, wie du im Alleingang die Polizeistation gestürmt hast. So als ob ich gar nichts getan hätte, als du blutend am Boden gelegen bist.«

Umuts in Falten gelegte Stirn glättete sich wieder, als er seinen Cousin ansah. Der war ein echter Kämpfer. Man sah es ihm irgendwie an: seine untersetzte, breitschultrige Gestalt, sein zerfurchtes Gesicht mit der arabischen Hakennase und seine wilde, schwarze Haarmähne. Aber auch kein Wunder. Er hatte seine eigene Gang im Bahnhofsviertel angeführt, und nicht wenige seiner Männer waren Umut nach Rödelheim gefolgt. Ein kameradschaftliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

»Ich weiß es! Und ich werde es auch nicht vergessen. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft.« Dem folgte ein freundschaftlicher Knuff an die Schulter, und dann brachen sie auf.

Nach der kleinen Eisenbahnbrücke kam ihr besetztes Bürogebäude in Sicht: Es war alleinstehend, langgestreckt und hatte neben 4 Stockwerken eine coole Dachterrasse, die Umut immer öfter nutzte. Sie hatten die Terrasse mit Betonblöcken bewehrt und außerdem ihr Maschinengewehr hier stationiert. Das ganze Gebäude stand auf massiven Betonstelzen. Was früher dazu gedacht war, Parkraum unter den Büroräumen zu schaffen, diente jetzt als Kochstelle und bot ihrem Waschsalon in Form eines einfachen Pools eine geschützte, überdachte Umgebung. Außerdem war das Gebäude viel schwerer zu stürmen, wenn das Erdgeschoss quasi nicht vorhanden war. Als nicht zu verachtende Ergänzung erstreckte sich zudem unter dem gesamten Gebäude eine gut verschließbare Tiefgarage, die sie gerade fleißig mit Beute füllten – beziehungsweise überfüllten.

Zufrieden ließ Umut seinen Blick über das Gebäude gleiten. Strategisch war es tatsächlich die beste Wahl gewesen. Direkt als Nachbargebäude stand ein kleines Einkaufszentrum mit Getränkemarkt, Netto-Filiale, Backhaus, Apotheke und Parkhaus aus Stahlbeton. Sehr leicht zu bewachen! Sie betrachteten es mittlerweile als potenzielle Erweiterung ihrer Lagerräume. Da war sogar so eine Zoohandlung angesiedelt, die er erst als unbedeutend abschrieb – bis er bemerkte, wie groß die Bereitschaft der Leute war, für ihre Haustiere abzulatzen. Mehr noch als für ihre Mitbürger jedenfalls. Und so hatte er ein weiteres hervorragendes Zahlungsmittel in der Hand. Ja, die Wahl ihres neuen Stützpunktes war wirklich optimal gewesen. Nicht so gemütlich wie sein Puff im Bahnhofsviertel – aber das konnte ja noch werden!

Akim versaute seine zufriedene Stimmung gleich wieder.

»Umut, die toten Wasserleitungen bescheren uns ein neues Problem.«

Unwillig sah dieser seinen Cousin an. »Und was wäre das diesmal?«

»Die Klos, Umut. Die Leute wissen nicht, wohin sie scheißen sollen.«

»Ernsthaft?« Ungläubig blieb er stehen. »Du sagst jetzt aber nicht, dass ich mich um die Latrinen der Rödelheimer hier kümmern soll, oder? Sollen sie sich doch Wasserkannen neben das Klo stellen wie wir alle!«

»Sieht so aus, dass zu viele mit dem Wasserschleppen nicht mehr nachkommen – oder keine geeigneten Aufbewahrungsgefäße haben.« Akim hüstelte etwas. »Nicht jeder hat sich so gut ausstatten können wie wir. Sowohl was das Material angeht, als auch das Personal oder Wasserträger. Und manche haben eine ganz schöne Strecke zur Nidda.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum das mein Problem sein soll.«

»Wir haben ein paar erwischt, wie sie in die Nidda geschissen haben. Das fanden sie wohl praktisch, weil ja auch das Klopapier langsam Mangelware wird und sie sich hier gleich den Arsch abspülen konnten. Da die Nidda aber auch unser Trinkwasser stellt und sie jetzt auch nicht gerade der reißende Gebirgsbach ist …«

Umut wurde schlecht, als er den Gedanken weitersponn » …und wir auch nicht wissen, wie viele schon oberhalb des Flusslaufes …«

Plötzlich wurde er grünlich im Gesicht. Was das anging, schien auch seinen Begleitern nicht ganz wohl zu sein.

Fast fröhlich fuhr Akim fort. »Genau, Boss. Die eine oder andere Leiche schwamm auch schon vorbei, wie man so hörte. Obwohl wir die Stautore geöffnet haben, fließt sie immer noch ziemlich langsam. Wir sollten mal daran denken, ein paar Brunnen zu graben. Das wäre schon viel sauberer – und es würde zumindest die lokale Verschmutzung ausschließen.«

Nachdenklich wischte er sich über das Haar und starrte dann missmutig auf seine Hand, als sie fettig zurückkam. »Was die Klos angeht, hätte ich auch schon eine Idee: Zelte über die offenen Gullys als öffentliches Scheißhaus zum Beispiel. Wenn es dann mal regnet, wird es wenigstens fortgespült und verstopft nicht die Rohre in den Häusern. Da aber die Kläranlagen ja auch nicht mehr funktionieren, wird es dann wohl doch wieder alles in den Fluss gehen. Aber eher in den Main wie in die Nidda – also nicht unser Problem.«

Angewidert nickte Umut. »Kümmere dich darum – auch um die Brunnen. Sprich es mit Tobias und Markus ab! Fehlt mir noch, dass wir hier einen allgemeinen Ausbruch an Dünnschiss bekommen.«

Sie setzten sich in gedrückter Stimmung wieder in Bewegung, um die Abkürzung über die S-Bahn-Gleise zu nehmen. Plötzlich gab es ein scharfes PING an der Eisenschiene am Fuß Umuts – gleich gefolgt von einem dünnen Knall. Was zur Hölle …? Es benötigte einen zweiten dieses seltsam dünnen Knalls, bis es Umut dämmerte, dass auf ihn geschossen wurde.

»Runter!«

Auch den anderen dämmerte langsam, was hier gerade passierte, und sie warfen sich zwischen die Gleise.

»Verdammt, wo kommt das her?! Kirill, siehst du was?«

Kirill war Soldat der ukrainischen Armee gewesen, und er blieb erwartungsgemäß ruhig. Seine AK-47 hatte er schon lange von der Schulter genommen und suchte jetzt über deren Kimme die Umgebung ab.

»Ruhig … noch nicht.«, antwortete er mit seinem russischen Akzent. »Muss ein kleines Kaliber sein. Ein Jagdgewehr wahrscheinlich. Oder eine Sportwaffe. Außerdem ist es ein Amateur.«

»Woher willst du das wissen?« Ayaz Atmen ging stoßweise. Er hatte Angst.

»Weil du sonst schon tot wärst! Die Schussbedingungen sind ideal. Ein Profi hätte gleich beim ersten Mal getroffen.«

Ein weiteres Ping an den Gleisen, sofort gefolgt von dem dünnen Knall.

»Sehr beruhigend!« Umut spähte nervös zu dem Bürogebäude. Vielleicht noch 300 bis 400 Meter. Er versuchte, sich möglichst flach hinter die Gleise zu pressen, aber sein Bauch wollte das nicht so recht zulassen. »Und unsere Wachen auf dem Dach unseres HQ patrouillieren immer noch, als ob die Welt in Ordnung wäre! Sind die Wichser komplett taub, Mann??«

»Ahh, guter Punkt«, murmelte Kirill. »Dann muss der Schütze aus der anderen Richtung kommen.«