Lock Down - 10 Monate - Oscar Liebermann - E-Book

Lock Down - 10 Monate E-Book

Oscar Liebermann

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Beschreibung

Ein Rest der Bundeswehr fand seinen Weg ins schwäbische Riedkirchen. Die Hoffnung, die sie mitbrachten, droht aber wieder zu kippen. Denn die Massen an immer mehr hungrigen Menschen sind auch mit den schwindenden Ressourcen der Soldaten kaum aufzuhalten.

Noch schwieriger gestaltet sich die Lage im Frankfurter Stadtteil Rödelheim. Denn wer nichts mehr zu verlieren hat, den beeindrucken auch Waffen nicht mehr.

Und es droht eine neue Gefahr durch die Atomkraftwerke. Ohne Strom keine Kühlung der Brennelemente. Ohne Kühlung kommt der GAU. Nicht, dass sich darüber irgendwer groß Gedanken machen könnte. Denn die unmittelbare Sorge betrifft den bevorstehenden Winter. Keine nachwachsende Nahrung, keine Heizung und keine Möglichkeit Winterkleidung zu beziehen dünnt die Bevölkerung weiter aus.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Lock Down

10 Monate

 

 

 

 

 

 

Oscar Liebermann

Impressum

 

Lock Down – 10 Monate © 2022 Oscar Liebermann

 

Kontakt:

Oscar Liebermann / Skubis Verlag

c/o Block Services

Stuttgarter Strasse 106

70736 Fellbach

 

Lektorat: Schreib- und Korrekturservice Heinen /

www.sks-heinen.de

 

Coverdesign & Layout:

Daniela Rohr // www.skriptur-design.de

Verwendete Fotos von depositphotos.com

 

ISBN: 978-3-9822839-6-8 Taschenbuch

978-3-9822839-7-5 E-Book

978-3-9822839-8-2 Hardcover

 

Prolog

 

Sören Kreplin tobte vor Wut. Seine strohblonden Haare klebten ihm am Kopf und bildeten einen interessanten Kontrast zu dem zunehmend röter werdenden Gesicht. Sein Bundeswehrhemd war fast bis zum Bauchnabel offen. Ruckhaft drehte er sich zu Ritchie um, seinem Kumpel in der Bundeswehr, der zusammen mit ihm desertierte.

Aggressiv deutete er über die Schulter auf den imposanten Schützenpanzer, der unbeeindruckt von seinem Toben vor der Gemeindeverwaltung Emmerdingens stand.

»Ernsthaft?! Ihr habt dieses Ding da mitgehen lassen?«

Janik, der neben Ritchie stand, räusperte sich verlegen. Als Sören mit seinen ganzen Soldatenkumpels hier aufgetaucht war und mal so richtig Ordnung im Ort eingeführt hatte, erkannte er sofort seine Chance und hatte sich angeschlossen. Zumal die neue Ordnung klarmachte, dass die Lebensmittel nicht für alle reichen würden. Früher hatten ihn alle gemieden. Vierunddreißig Jahre und Sozialhilfeempfänger? Im Schwabenländle, wo es doch weiß Gott genug Arbeit gab? Tja. Inzwischen war Emmerdingen geisterhaft leer, weil die meisten entweder verreckt oder geflohen waren. Er schätzte, von den ehemals 12.000 Einwohnern waren vielleicht noch 2.000 in den Häusern versteckt und verhungerten langsam. Und? Wo seid ihr jetzt alle mit euren arrogant hochgezogenen Nasen? Mit euren Einfamilienhäuschen, den sauber getrimmten Vorgärten und fetten Autos? Ich bin satt und habe so viel Spaß wie noch nie, während ihr eure eingefallenen Bäuche haltet! Ein selbstzufriedenes Grinsen umspielte seine Lippen bei dem Gedanken.

»Was ist daran so lustig, hä?!«, schrie Sören, jetzt ernsthaft wütend. Was er überhaupt nicht verkraftete, war der Gedanke, irgendwer könnte ihn nicht ernst nehmen. Er riss seine P30 aus dem Halfter und hielt sie Janik unter die Nase.

Mit blutunterlaufenen Augen starrte er ihn an und drückte die Pistole an seine Wange. »Will mir vielleicht irgendwer von euch Memmen mal antworten? Was soll ich mit einem Marder-Schützenpanzer auf meinem Parkplatz hier? Soll ich damit ein Wellnesswochenende mit meiner Freundin im Schwarzwald verbringen, oder was? Oder habt ihr mir auch gleich einen Tanklastzug mitgebracht?«

Janik schielte entsetzt und paralysiert auf den Lauf der Waffe. »Äh Boss … wir wollten doch nur … Ich wollte doch nicht …«

»Sören!« Ritchie hatte sich gefangen. »Boss! Du hast doch gesagt, wir sollen die Kaserne auskundschaften. Da stand der einfach auf dem Hof rum. Voll aufgerüstet! Mit echter Munition! Nicht mit diesem Übungsscheiß! Und ich hatte doch mal ein paar Übungsstunden als Fahrer auf so einem Teil. Ich dachte, das hilft uns hier. Der macht doch viel mehr her als unsere Lkws.«

Die Pistole immer noch an die Wange Janiks gedrückt, drehte er langsam den Kopf, um das Stahlmonster mit neuen Augen zu betrachten. »Mit echter Munition bewaffnet, sagst du?«

»Ja, wir haben die Gespräche der Soldaten mitbekommen. Die haben einem Zivilisten aus Riedkirchen damit ein bisschen rumballern lassen. Aber nicht viel! Ist noch fast alles da!«Nicht bereit, sofort von seiner Wut abzulassen, machte Sören ein paar schnelle Schritte auf den Panzer zu und trat demonstrativ gegen die Kette. Er bereute es sofort, als sein großer Zeh mit fast hörbarem Knacken nachgab. Der Schmerz trieb ihm gleich das Wasser in die Augen.

Mit gepresster Stimme und neuer Wut fuhr er gefährlich leise fort: »Ich habe Auskundschaften gesagt. Versteht einer von euch Knalltüten diesen Begriff? Auskundschaften heißt, sich unentdeckt ein Bild der Lage zu machen. Unentdeckt, Schwachstellen zu finden, damit man maximale Wirkung erzielt. Und maximale Wirkung heißt in unserem Fall maximale Beute. Es heißt nur zugucken, nix machen, capito? Wie, bitte schön, habt ihr den Marder vom Hof der Kaserne gebracht?«

»Äh … da ist doch hinten zum Feld raus die Abgrenzungsmauer. Die ist zwar hoch, aber doch nur aus Ziegel. Also, ich glaube, wir sind da einfach durchgefahren.«

Verlegen hielt Ritchie seine Bundeswehrmütze in den Händen und knetete sie kräftig. Er war so stolz gewesen, seinem Chef einen ausgewachsenen Panzer organisiert zu haben, aber offensichtlich war der gar nicht begeistert. Und wenn Sören nicht begeistert war, dann hielt man besser den Kopf unten. So war es schon immer gewesen, auch als sie noch als Feldjäger in der Gegend rumbretterten. Er konnte sehen, dass seinem Boss die letzte Antwort auch nicht besser gefiel, und er zog unbewusst den Kopf ein.

»Das war dann auch sehr unauffällig, richtig?« Insgeheim bewunderte er die Kreativität Ritchies. Hätte er ihm gar nicht zugetraut. Aber er würde den Teufel tun und es ihm zeigen. Stattdessen sah er wieder wütend in die Runde.

Inzwischen scharten sich immer mehr der Ex-Soldaten um die erregte Gruppe und wollten wissen, was da eigentlich los war. Auch immer mehr der restlichen Stadtbewohner fanden sich neugierig auf dem Platz vor der Gemeindeverwaltung ein. Es war ein abgemergelter, zerlumpter Haufen, der sich hier langsam ansammelte. Zehn Wochen ohne Strom hatten sie alle ins Mittelalter zurückversetzt und die meisten kamen damit nicht zurecht. Wie sollten sie auch? Wer nicht an Wasser kam, war schon lange tot oder geflohen. Der Hunger war nun der größte Feind und nagte wie eine wütende Raubkatze in den Gedärmen der Leute. Immer mehr hohle Gesichter starrten voll Wut auf die gut genährten Anhänger um Sören, die sich alle Lebensmittel unter den Nagel gerissen hatten. Hasserfüllte Blicke tasteten die ausgefüllten Wangen und teilweise noch sichtbaren Bäuche der Männer ab.

Sören bekam davon nichts mit. Er war zu sehr mit seiner Ansprache beschäftigt.

»Warum war unauffällig wohl so wichtig? Was würde euer eingeschrumpeltes Gehirn dazu sagen, hä?«

Alle wussten, dass hier nicht wirklich ihre Meinung gefragt war, und hielten den Mund.

»Was, denkt ihr wohl, wird unser steifärschiger Major jetzt machen, mit so einem dekorativen Loch in seiner heiligen Mauer? Ich meine, nachdem ihr so zuvorkommend wart und ihn darauf hingewiesen habt, dass er hier eine Sicherheitslücke hat? Ihr kennt ihn doch, richtig? Wenn er könnte, würde er euch allen ein paar Blumen schicken, etwas Schokolade dazu packen und eine herzliche Dankeskarte reinstecken. UND DANN DAFÜR SORGEN, DASS SO ETWAS IN ZUKUNFT NICHT MEHR MÖGLICH IST! KAPIERT?? Verflucht!! Die Option, uns in der Kaserne zu bedienen, habt ihr ein für alle Mal geschlossen!«

Bei dem Wort Schokolade kam ein leises Gemurmel von der Menge ausgehungerter Stadtbewohner. Sören bemerkte es nicht, war zu sehr mit den neuen Komplikationen beschäftigt, die der gestohlene Panzer mit sich brachte. Mit schmerzendem Zeh humpelte er erregt vor seinen Leuten auf und ab.

»Wie oft soll ich euch noch sagen, dass ihr mir das Denken überlassen sollt, verdammt noch mal?« Er fuchtelte mit seiner P30 in der Luft herum, die er ganz vergessen hatte. Ihn ließ der Gedanke nicht los, wie der ranghöchste Offizier der Kaserne reagieren könnte, Major Maurer, hinter seinem Rücken gerne »der Alte« genannt, oder einfach nur mit der Abkürzung »MM« in nicht näher definierter Anspielung auf die Schokolinsen mit dem gleichen Namen.

»Nicht nur, dass wir hier nichts mehr holen können. Was, denkt ihr, wird MM tun, nachdem er euch die Blumen und Dankeskarten geschickt hat, hä? Er sitzt immer noch auf einem Arsch voll Waffen. Außerdem hat er noch mehr von diesen Spielzeugen hier!« Er wollte gerade nochmals an den Marder treten, hielt sich aber diesmal zurück.

»Und nein, er hat nicht nur einen veralteten Schützenpanzer wie den Marder! Er könnte auch mit ein paar süßen Leopard-2-Kampfpanzern aufkreuzen oder einigen nagelneuen Puma-Schützenpanzern! Was, denkt ihr, macht das mit unserer kleinen Eroberung hier?«

Er blieb stehen und starrte Ritchie, seinem wichtigsten Mann, in die Augen. Es wurde Zeit für ein paar versöhnliche Worte. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Dabei bemerkte er die Pistole in seinen Händen und steckte sie zurück ins Halfter.

»Schau, ich weiß, dass du nur an unsere Sache gedacht hast. Und ja, so ein Teil mit echter Muni steigert natürlich unsere Kampfkraft ungemein. Aber bisher hat MM uns zufriedengelassen, weil er genug mit seinen neuen Schützlingen in Riedkirchen zu tun hat. Und du weißt selbst, dass wir keine Chance hätten, würde er beschließen, uns anzugreifen. Wir bauen bisher darauf, dass er alles ablehnt, was damit zu tun hat, auf Landsleute zu schießen. Kann gut sein, dass ihr mit eurer Aktion das gerade geändert habt.«

Er hob den Blick, um zu sehen, ob das auch seine anderen Leute kapiert hatten. Dabei bemerkte er, dass sie ihn teilweise gar nicht mehr ansahen, sondern auf etwas in seinem Rücken starrten. Schon wieder kochte die Wut in ihm hoch. Er war der Chef! Ihn ignorierte man nicht! Er warf einen Blick über die Schulter und erstarrte. Die Menge der zerlumpten Einwohner hatte sich vermehrt. Außerdem waren sie Schritt für Schritt nach vorne gerückt, fast bis zum Panzer, der in seinem Rücken stand. Ruckhaft, den verstauchten Zeh schonend, drehte er sich vollends um.

Er starrte in ausgehungerte, verhärmte Gesichter. Die Männer mit wilden Bärten, alle in abgetragener, ungewaschener Kleidung. Keiner hielt Augenkontakt. Trotzdem ging eine massive unterschwellige Bedrohung von dem Haufen aus. Es mussten inzwischen zwei- oder dreihundert Gestalten sein, die sich langsam näher schoben. Sie bildeten schon einen leichten Halbkreis um die Deserteure. Eine unheimliche Stille hing über dem Platz, nur unterbrochen vom gelegentlichen Scharren der Füße. Unbewusst kroch die Hand Sörens wieder zum Halfter. Schmerzlich wurden ihm die schlichten fünfzehn 9-mm-Patronen Munition in seiner P30 bewusst. Die Wut war völlig verraucht und machte langsam ansteigender Panik Platz. Er hatte plötzlich Angst. Angst, was dieser Mob mit ihm anstellen könnte. Angst, dass er den Terror, den er über Emmerdingen gebracht hatte, nun selbst zu spüren bekommen würde. Sein Magen fühlte sich mit einem Mal wie ein Stein an. Die Blase wollte sich unbedingt entleeren. Sein Blick kroch zu dem Marder und der offenen Luke neben dem MG.

»Ritchie.« Er flüsterte es unbewusst und doch trug seine Stimme in der Stille weit. Sogar die Vögel schienen verstummt zu sein. »Steig in den Fahrersitz des Marders. Die Luke oben ist offen. Ich folge dir. Alle anderen ins Haus. Holt eure verfickten Waffen und kommt wieder. Ein paar sollen unser Lager schützen. Und langsam. Wir wollen nichts provozieren.«

»Los Mann!«

Ritchie schluckte, bewegte sich aber auf den Panzer und damit auf die Meute zu. Sören folgte dicht hinter ihm. Janik war der Erste, der es nicht mehr aushielt. Er drehte sich um und rannte panisch auf das Rathaus Emmerdingens zu, das ihr HQ war. Dann ein zweiter Mann. Ein Ruck ging durch die Menge. Heisere, unartikulierte Laute wurden hörbar. Dazwischen auch deutlichere Rufe.

»Schweine! Wir wollen auch etwas zu essen! Verbrecher! Banditen! Gebt uns was ab! Arschlöcher!«

Wie ein Damm, der brach, flossen plötzlich verlotterte Menschen über den Platz, um zum Rathaus zu gelangen. Hier gab es die Verheißung auf Erleichterung! Hier war die Aussicht auf Rettung vor dem wütenden Schmerz, der Hunger hieß! Nichts hielt die Meute mehr zurück, auf ihr Ziel zuzustürmen. Nichts anderes hatte mehr Platz in ihrem Kopf.

Der Panzer war die Rettung für Ritchie und Sören. Wie ein Fels in der Brandung teilte er die Menge und beide schafften es, hoch- und hineinzuklettern. Hektisch schlossen sie die Luke. Andere hatten weniger Glück. Sie wurden einfach überrannt. Nicht einmal angegriffen, einfach nur umgerannt. Irgendwer hatte seine MP mit hinausgenommen, oder einer der spärlichen Wachen schoss ein paar Salven ab, die fast im Lärm unterging. Sie hatte keine Wirkung. Schnell verstummte die Waffe wieder.

Krachend schmiss Janik die Tür des Rathauses ins Schloss. Zum Teufel mit denen, die noch draußen waren! Er suchte nach einem Schlüssel. Es gab keinen. Sein Blick zuckte nach einer Möglichkeit zum Verbarrikadieren durch den Raum. Einige Männer kamen die Treppe heruntergestürzt, ein paar mit Waffen in den Händen. Auch Sandra war dabei, die blonde, blutjunge Freundin Sörens.

»Janik, was ist da los?«

Hoch und schrill klang ihre Stimme und sie packte ihn am Arm. Er schüttelte sie ab. Die Tür hier würde niemanden aufhalten. Er musste hier weg, am besten einen der Unimogs nehmen. Wo waren denn die verdammten Autoschlüssel? Oder nee, blieben die nicht stecken und nur die Batteriehauptschalter wurden abgezogen? Ach verdammt, dann halt doch lieber einen Wolf Geländewagen. Er wollte schon zur Treppe rennen, um den Raum mit ihren Fahrzeugschlüsseln zu suchen, als er sich besann. Lieber Sandra mitnehmen! Falls Sören das überlebt, wird er mir dankbar sein. Außerdem weiß sie sicher, wo die Schlüssel alle hängen. Er drehte sich um, lief auf die verdatterte Sandra zu und packte sie seinerseits am Arm. Fest, um ihre Aufmerksamkeit zu haben.

»Schau mich an!« Ihr Blick wandte sich von der noch geschlossenen Tür zu ihm. Von draußen war Geschrei zu hören. Etwas krachte gegen die Tür. Verängstigt sah sie ihn an.

»Was …«

»Keine Zeit! Wir müssen hier weg! Komm mit!« Er zog sie ein paar Schritte zur Treppe. »Wo sind die Schlüssel für die Autos? Schnell!«

Verwirrt sah sie ihn an. »Bei Sören. Da hat er die Hand drauf. Warum?«

Er packte sie grob an beiden Oberarmen. »Weil das da draußen ein Mob ist, der uns umbringen will!«

Er warf einen flüchtigen Blick zu den paar Männern, die unschlüssig mit ihrer MP im Foyer standen. Einer ging zögernd auf die Tür zu. Auch Sandra sah zu ihnen.

»Sie werden sie nicht aufhalten können.«, flüsterte er eindringlich. »Komm mit, lass uns zuerst die Biege machen und dann sehen, was wir tun können!«

»Sören …«

Echt jetzt? Die denkt an ihren Macker? Der verschwendet gerade mit Sicherheit keinen Gedanken ans sie. Laut sagte er: »… ist in Sicherheit. Hat sich im Panzer eingeschlossen. KOMM JETZT ENDLICH!«

Die Tür wurde gewaltsam aufgestoßen und schlug dem Soldaten dahinter schmerzhaft ins Gesicht. Ungefiltert drangen jetzt Geschrei und ein unmenschliches gieriges Stöhnen ins Haus. Die entsetzten Schreie der übrigen Männer gingen dabei fast unter. Fast gleichzeitig eröffneten drei, vier MPs das Feuer. Die ersten Eindringlinge wurden mit zerfetzten Gesichtern und Oberkörpern zurückgeworfen, nur um gleich darauf wieder von der Meute nach vorne gedrückt zu werden. Leblose Bündel, die weitere in Panik abgefeuerte Kugeln einfingen und blutige, glitschige Schlieren auf dem Boden hinterließen. Die Männer wichen zurück, weiter nutzlose Geschosse in bereits tote Körper pumpend, bis viel zu schnell die Magazine trocken liefen. Sandra bedurfte keiner weiteren Aufforderung, sondern stürzte zitternd die Treppe hinauf, um sich die Schlüssel zu organisieren.

In Sörens Büro angekommen, knallte Janik die Tür zu. Diesmal steckte der Schlüssel und er drehte ihn erleichtert um. Er schnaufte ein paar Mal tief durch. Das würde ihnen einige Minuten erkaufen. Draußen verteilte sich die Horde im Haus, um etwas Essbares zu suchen. Sie würden auch einiges an Nahrungsmittel finden und sich damit vorerst beschäftigt halten.

»Sandra! Hast du die verfluchten Schlüssel gefunden?«

»Ja hier. Aber ich weiß nicht, welche ich nehmen soll.« Am ganzen Körper zitternd stand sie vor der Schublade. Tränen liefen ihr über die Wange. Sie merkte es gar nicht.

»Verdammt, nimm sie alle! Einer wird dann schon passen, oder?«

»Ja gut.« Sie versuchte, alle zu nehmen, was ihr erst nach einigen Versuchen gelang. »Werden die anderen nicht auch …?«

»Scheiß auf die anderen! Guck, wir müssen hier aus dem Fenster. Ist nur der erste Stock. Hier, lass uns möglichst einen der Unimogs nehmen. Oder auch einen Wolf. Ist nichts anderes als ein G-Modell von Mercedes. Den können wir vielleicht einfacher fahren. Ja, lieber einen Wolf. Komm jetzt!«

»Ich kann so nicht runterklettern. Außerdem ist es trotzdem ganz schön hoch!« Hilflos stand Sandra da und blickte aus dem Fenster, beide Hände voller Schlüssel. Fluchend sah sich Janik nach einer Tasche um. Er entdeckte einen Sportbeutel mit stinkenden Schuhen darin, den er auskippte.

»Hier! Tu sie hier rein!«

Er hängte sich den Beutel selber um und stieß das Fenster auf. Wenn er sich mit den Fingerspitzen ans Fensterbrett hängen würde, wäre es nicht mehr zu tief. Er drehte sich wieder um.

»Ich lass dich hier runter. Dann ist es nicht mehr weit. Komm schon.«

Sie kam zum Fenster, setzte sich auf die Fensterbank und stand wieder auf.

»Ich kann das nicht! Ich habe Angst!« Frische Tränen quollen ihr aus den Augen. »Lass uns die Treppe nehmen. Die werden uns doch nichts tun. Außerdem ist es schon ruhiger geworden.«

»Weil sie damit beschäftigt sind, sich den Bauch vollzuhauen! Wie, denkst du, sind die drauf, wenn sie mal den ersten Hunger gestillt haben und kapieren, dass wir die ganze Zeit genug zu essen hatten, hä? Uns freundlich fragen, wie wir zukünftig in netter Nachbarschaft zusammenleben können? Nachdem sie mit eigenen Augen gesehen haben, wie ihre Freunde und Kinder verreckt sind? Wem würden sie wohl die Schuld dafür geben? Mann, wach endlich auf.«

Wie zur Bekräftigung waren plötzlich wieder Schüsse zu hören. Kurz darauf pochte es laut an der Tür.

»Hey Sören, bist du da drinnen? Was sollen wir tun? Die plündern alle unsere Vorräte. Ein paar haben sich sogar Waffen geschnappt.« Pause. »Hallo?«

Kräftigeres Schlagen diesmal. »Komm, mach auf! Wir brauchen vielleicht die Schlüssel für die Wagen!«

Janik bedeutete Sandra mit dringenden Bewegungen, sich auf das Fensterbrett zu begeben.

»Janik.« Sie flüsterte unbewusst. »Ist doch gut, dass sie da sind. Zusammen sind wir viel besser dran.«

Er biss die Zähne zusammen und zwang sich zur Geduld. »Hör zu. Ich sage es jetzt einmal. Dann bin ich weg und lass dich hier sitzen. Das sind gottverdammte Deserteure. Denen kann man nicht vertrauen. Sie haben bereits ihren Arbeitgeber und ihren Treueeid verraten. Sören ist erst mal weg. Wenn die dich wirklich mitnehmen, dann nur als Rudelfick, klar? Und wenn sie deiner überdrüssig sind, dann bist du die Erste, die entsorgt wird, wie ein Stück Müll. Entweder du schnallst es jetzt, oder ich gehe hier runter und lass dich hier.«

»Hey Sören! Es tut mir leid, aber wir werden die Tür aufschießen müssen. Und zwei von uns gehen jetzt mal zu der Flotte im Hof. Bewaffnet natürlich. Nur damit uns nachher keiner der Fahrzeuge fehlt, du verstehst doch?«

»O. k., mir reichts. Geh mir aus dem Weg.« Janik schob Sandra zur Seite und setzte sich auf die Fensterbank. Er schwang die Füße über die Mauer, hielt sich am unteren Fensterrahmen fest und ließ sich die restlichen Meter zu Boden gleiten.

»Warte, hilf mir, ich komm mit!«

»Dann mach es so wie ich!«

Er ging zum nächsten Wolf und probierte die Schlüssel aus. Da! Der hier passte! Hinter sich hörte er einen dumpfen Aufschlag und einen unterdrückten Schmerzensschrei. Er schmiss den Rucksack auf die Rückbank und klemmte sich hinters Steuer. Von oben waren drei Schüsse zu hören und das Geräusch von splitterndem Holz.

»Hilf mir, Janik!« Die flehentliche Stimme Sandras drang an sein Ohr. »Ich habe mir den Knöchel verstaucht!«

Er ließ den Motor an. Der Tank war noch gut voll. Sehr gut! Ein echter Glücksfall.

»Bitte Janik! Lass mich hier nicht liegen! Ich bin doch jetzt gesprungen!«

Er holte genervt Luft. »Sandra, wenn du es in zehn Sekunden hierherschaffst, dann nehme ich dich mit. Wenn nicht, dann bleib einfach liegen.«

Er sah sich nicht einmal nach ihr um. Schaffte sie es, könnte sie ihm nützlich sein. Wäre das Bein gebrochen, dann wollte er sich nicht mit ihr belasten, Sören hin oder her. Er machte sich schnell mit dem Wagen vertraut. Alles einfach und klar an dieser Front. War vielleicht etwas Nützliches im Handschuhfach? Eine Karte! Das war doch mal was. Aber jetzt erst mal raus aus dem Kaff! Er knallte den ersten Gang rein und ließ die Kupplung kommen, als er einen Schlag an der Beifahrertür vernahm. Sandras wütendes Gesicht erschien im Fenster. Sie riss die Tür auf und schmiss sich auf den Sitz. Sie hatte ihre Füße noch nicht ganz im Innenraum, da fuhr er schon los.

In diesem Moment traten zwei Männer mit jeweils einer MP5 in der Hand vor die Tür. Unschlüssig starrten sie auf den Geländewagen, der mit aufheulendem Motor anfuhr. Ein bärtiges Gesicht mit Soldatenkäppi erschien am Bürofenster Sörens und schrie etwas, was aber in der allgemeinen Geräuschkulisse nicht zu verstehen war. Die beiden Männer hoben verständnislos die Schultern. Also gestikulierte er mit Zeigefinger und Daumen und deutet auf den entschwindenden Wolf.

Immer noch zögerlich hoben die beiden Männer die Waffen und gaben ein paar halbherzige Schüsse in Richtung des Wagens ab. Er war inzwischen schon fast am Ende der Straße. Trotzdem trafen einige der 9-mm-Patronen das hintere Blech. Dann war er um die Kurve verschwunden.

Das Geräusch der einschlagenden Kugeln unterband die Tirade, die Sandra gerade lostreten wollte. Zudem hatten sie gerade einen guten Blick auf den Vorplatz des Rathauses und Janik brachte – als sie jetzt außer Reichweite waren – den Wagen kurz zum Stehen. Überwältigt starrten sie auf das Schauspiel, das sich gerade ereignete. Irgendwie musste der Rest der Bevölkerung mitbekommen haben, dass es etwas zu holen gab. Scheinbar waren alle, die dazu noch in der Lage waren, auf den Beinen und hergekommen. Keiner kümmerte sich momentan um sie, oder was das anging, um die Hausbewohner. Noch nicht. Die Gier, etwas Nahrung zu erhaschen, trieb sie an. Dafür stiegen sie auch gerne übereinander, aufeinander oder gegeneinander. Wie viel zertrampelte Menschen lagen wohl schon rund um das Rathaus herum? Und was würde passieren, wenn sie sich derer erinnerten, die in diesem Haus wie fette Maden gelebt hatten? Janik hatte nicht vor, es herauszufinden, und legte wieder den Gang ein. Er warf noch einen letzten Blick zum Marder, der immer noch mitten in der Menge stand und sich nicht rührte. Hätte Sören den Mumm gehabt, das MG des Schützenpanzers zu benutzen, dann wäre wahrscheinlich den ersten Anfängen wirkungsvoll und blutig Einhalt geboten worden. Zu heftig war die Massenwirkung eines MGs in einer dicht gedrängten Menge, zu stark die schlichte Durchschlagskraft der Patronen, vor allem auf kurze Distanz. Aber natürlich ist Sören im Grunde seines Wesens ein erbärmlicher Feigling, wie es Choleriker immer sind. Denn, um das MG zu benutzen, hätte er die Luke wieder öffnen müssen. Er sitzt jetzt wahrscheinlich mit vollgeschissener Hose in seinem Kommandantensessel und genießt die Wärme auf dem Sitz. Janik schnaubte bei dem Gedanken halb belustigt, halb verächtlich. Nicht dass ich den Mut dazu gehabt hätte, seien wir ruhig ehrlich.

Er riss seinen Blick los, um weiterzukommen. Sein Ziel war zunächst eine Anhöhe, von der er in sicherer Entfernung das weitere Geschehen beobachten konnte.

»Du hättest mich echt zurückgelassen, oder?«

Als sie keine Antwort bekam, nickte Sandra leicht.

»Klar hättest du. Du bist ein echtes Arschloch.«

Genervt holte Janik tief Luft. »O. k., lass uns Klartext reden. Sören magst du mit deinen großen, jungen Titten beeindrucken können. Was das angeht, die kiffenden Jungs in Riedkirchen auch«, erinnerte er sich mit einem halb belustigten Lächeln an ihr gemeinsames Treffen.

»Aber mich nicht. Ich sehe das praktischer. Ja, ich hätte dich mit gebrochenem Fuß zurückgelassen. Vielleicht hast du in deinem bisherigen Kokon nicht bemerkt, dass es keine Krankenhäuser, Arztpraxen oder Apotheken mehr gibt? Jede Entzündung kann jetzt so schlimm werden, dass du qualvoll daran verreckst, weil niemand dir Penizillin oder Antibiotika mehr geben kann. Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen? Also noch mal: Ich kann mich nicht mit jemandem belasten, für den ich Krankenschwester spielen muss. Ist es jetzt deutlich?«

Sandra verschränkte dumpf brütend die Arme vor der Brust und schwieg. Schließlich tastete sie verstohlen ihren Knöchel ab. Der war doch nicht gebrochen, oder? Nur etwas verstaucht.

»Wenn wir schon gerade so ehrlich sind. Warum hast du mich dann überhaupt mitgenommen? Warum bist du nicht gleich weitergerannt, wie du es doch so gut kannst? Ach so«, beantwortete sie ihre Frage dann selbst. »Ich verstehe. Du wusstest nicht, wo die Schlüssel sind. Aber jetzt? Was machen wir jetzt?«

Janik ließ sich Zeit mit der Antwort. Ja, was würden sie jetzt machen? Schließlich antwortete er: »Wir beobachten zunächst, was passiert. Weiter weiß ich nicht. Und noch mal zu dir. Ich finde es gut, dass wir zu zweit sind. Ist besser und sicherer, als allein zu sein in diesen Zeiten.«

»Ach? Du wolltest einen Bettwärmer? Nach der Ansage von vorhin? Vergiss es.« Sie kurbelte das Fenster herunter. »Außerdem stinkst du. Alle stinken heutzutage. Ich halte das nicht mehr aus.«

Janik schaltete in den vierten Gang, als sie aus dem Ort herauskamen. Die Landstraßen waren nicht mehr so leer wie noch vor ein paar Wochen. Immer mehr Müll lag herum. Zerbrochene Leiterwagen, Hausrat, den Leute als Ballast erkannten und unterwegs zurückgelassen hatten. Leichen. Tiere, die die Leichen fraßen. Und immer noch Flüchtlinge, die nach irgendeiner Gelegenheit suchten, etwas zu essen, zu trinken oder zum Schlafen zu bekommen. Ein paar flehende Hände streckten sich ihm entgegen. Er hatte ein Auto, er hatte offensichtlich so viel Benzin, um damit herumfahren zu können, er war reich. Ergo hatte er etwas zu essen. Er bereute inzwischen, nicht den Lkw mitgenommen zu haben. Was, wenn es so viele Menschen werden, dass ich nicht einfach durchfahren kann? So wie vorhin, am Rathausplatz? Er bekam schweißnasse Hände bei dem Gedanken. Kurz entschlossen wendete er und fuhr zurück. Es gab da eine Erhebung am Ortsende, die er vorerst nutzen konnte.

Neben einem größeren, jetzt toten Mobilfunkmast aus Schleuderbeton blieb Janik schließlich stehen. Er stellte das Auto ab und lehnte sich im Sitz zurück.

»Sandra, ob es dir gefällt oder nicht, wir brauchen einander jetzt. Es sein denn, du möchtest zu Fuß da runter wandern und ein bisschen mit der Meute spielen. Du hast gesehen, was die Straßen bedeuten. Alles konzentriert sich momentan auf das Wasser, also sind wir hier relativ ungestört. Aber es reicht einer, der uns im Schlaf überrascht, einen Stein auf den Kopf klatscht und den Wagen klaut. Wir müssen uns eine Strategie überlegen, wie es weitergehen soll. Gemeinsam. Ist das o. k. für dich?«

Sandra hatte alles von ihrer anfänglichen Forschheit verloren und fühlte sich nur noch hoffnungslos und einsam. Es wurde langsam dunkel und herbstlich kühl. Bleich saß sie mit verschränkten Armen da und fror in ihrer viel zu leichten Bekleidung. Sie nickte schwach und schloss die Augen.

Kapitel 1

Tag 75

Riedkirchen

Conny und Finn standen am Waldrand des leichten Hügels, der hinter Riedkirchen aufragte und an dessen Fuß auch Finns Haus lag. Es wehte ein schwacher, aber bissiger Wind. Er machte auf seine Art deutlich, dass es langsam Herbst wurde. Vom Hügel aus hatten sie einen netten Überblick über einen Teil der Stadt. Man konnte den Bauernhof von Max Almendinger sehen, gut erkennbar an dem großflächigen Zaun aus unbearbeiteten Baumstämmen, die sein Anwesen umgab. »Zaun« traf es nicht so ganz, eher Balustrade oder Wall. Für Schönheit war momentan kein Platz und seinen Zweck erfüllte er sehr gut. Er schützte eines der wertvollsten Dinge, die Riedkirchen gerade aufweisen konnte: eine funktionierende Lebensmittelproduktion. Inzwischen gab es innerhalb und außerhalb der Balustrade einfache Blockhütten für die Vielzahl der Helfer, die benötigt wurden, um eine Landwirtschaft ohne nennenswerte Maschinen zu betreiben. Sie hatten hier anfangs einige der Flüchtlinge aus den Nachbardörfern untergebracht – etwas, was nun schon lange nicht mehr möglich war. Auch ihr Pilotprojekt, die Käserei, schmiegte sich unscheinbar an den Wall in der Nähe des Eingangs. Die Produktion von Rohmilchkäse funktionierte nach ein paar Versuchen ganz gut. Conny hatte hier unermüdlich gearbeitet und war zu Recht stolz auf das Ergebnis. Vielleicht würden sie irgendwann auch andere Käsesorten herstellen können.

Schüchtern nahm Finn die Hand Connys. Sein Herz schlug sofort schneller, als sie diese glatt ignorierte und sich gleich an ihn kuschelte. Er verstand immer noch nicht, was sie an ihm fand. Mit dem langen, glatten, blonden Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen, kornblumenblauen Augen und einer umwerfenden Figur war sie das Abbild einer klassischen Schönheit. Eine Frau, die sofort auffiel. Natürlich war ihr das bewusst. Sie akzeptierte ihre Schönheit mit einer Unbekümmertheit und einem Selbstverständnis, wie es vor allem Menschen auszeichnete, die sich nie um ihr Äußeres Sorgen machen mussten. Sie verstand auf gewissem Level, dass es ihr so manchen Weg ebnete, den andere sich erst mühsam erarbeiten mussten. Dabei war sie reif genug, um zu verstehen, dass ihr Aussehen nicht ihr Verdienst war, sondern das Produkt eines zufälligen Mix aus Genen, die bei ihren Eltern zusammengefunden hatten. Folglich war sie völlig frei von Allüren. Etwas, das Finn aufrichtig an ihr liebte.

Dass ausgerechnet er jetzt diese Frau im Arm hielt, kam ihm immer noch unwirklich vor. Zwar war seine Ehefrau jetzt schon über drei Jahre tot, aber sein Interesse an einer anderen hinterließ in ihm immer noch ein leichtes Unbehagen. So als ob er seine tote Ehefrau verraten würde. Er seufzte unwillkürlich auf, wohl wissend, dass er sich dumm benahm. Immerhin wurde es besser, seitdem er mit Conny darüber reden konnte. Sie fand das eher süß als komisch. Eine warme Dankbarkeit überflutete ihn, als er an ihr Gespräch auf dieser Bank am Waldrand zurückdachte. Er sah auf ihren blonden Scheitel herunter und lächelte leicht.

»Was ist?« Natürlich hatte sie es sofort bemerkt, ohne dass sie dafür den Blick heben musste.

»Nichts. Ich wundere mich nur, mit was ich dich verdient habe.«

»Hast du auch nicht.« Sie sah mit ernster Miene zu ihm auf, aber ihre lächelnden Augen verrieten sie. »Ich gehöre immer noch mir selbst.«

»Äh ja, selbstverständlich! Ich meinte nur …«

Ihr leises Lachen unterbrach ihn. Sie ließ den Blick wieder auf die Senke gleiten, in die sich Riedkirchen anschmiegte. »Ich kann mir schon vorstellen, was du denkst. Wahrscheinlich denkst du einfach zu viel. Grübeln kann einem jede Freude vermiesen, stimmt’s?«

Etwas gelöster lachte jetzt auch Finn auf. »Hast ja recht! Trotzdem. Ich freu mich, dass du jetzt hier bei mir bist. Und dass ausnahmsweise mal sonst keiner um uns herumschwirrt.«

Jetzt war es an Conny, leise zu seufzen. »Wie könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen? Immer ist irgendetwas los. Ich freu mich jeden Tag auf unser gemeinsames Abendessen an unserem Feuerplatz, weil ich dich wenigstens dann mal kurz sehen kann. Die allabendliche Zusammenkunft der drei Familien.« Sie lächelte bei dem Gedanken.

»Einer deiner besten Vorschläge damals, dass wir uns den Aufwand teilen und uns zusammenlegen. Immerhin hast du auch deinen Garten zur Verfügung gestellt. Aber nicht einmal hier sehen wir uns regelmäßig mehr. Und schon gar nicht alleine.«

Finn wurde etwas rot, als er die Andeutung verstand, die Conny mit »alleine« implizierte. Er begehrte sie natürlich. Welcher gesunde Mann mit zwei gesunden Augen würde das nicht? Aber für ihn war ihre immer noch zarte Beziehung viel mehr. Etwas Wertvolles und Zerbrechliches in einer Welt, in der gerade so viel kaputt ging. Er wollte das nicht mit schnödem Gerammel entwerten. Es musste passen. Ein Ausdruck der Liebe, des Vertrauens und der Verbundenheit sein. Ihm war bewusst, dass er hier eventuell altmodisch dachte, und es war ihm völlig egal. Von Conny kam überhaupt kein Druck. Sie spürte wahrscheinlich, dass er noch im Prozess war, sich von seiner verstorbenen Frau zu lösen. Sie waren glücklich gewesen und fast zwanzig Jahre Ehe konnten in so einem Fall schon ziemlich krass zusammenschweißen.

Finn lenkte das Gespräch in ungefährlichere Gewässer, indem er auf seinen Garten einging: »Nicht nur den! Meinen ebenerdigen Keller habe ich quasi dabei auch aufgegeben.«

»Dann nennt man es Souterrain. Dafür hast du jetzt als einziger eine warme Dusche und bald werden wir das um einen mit Holz beheizten Badezuber ergänzen. Das ist mehr, als die meisten hier haben.«

Gerne ging er auf ihren neckischen Ton ein. »Du implizierst, dass ich im Besitz dieses zugegeben wertvollen Assets wäre. Tatsächlich schleichen sich aber zu jeder Zeit allerlei Gestalten aus den Häusern rechts und links in meine frühere Sauna und verbrauchen dieses warme Wasser zu sinnlosen Zwecken wie ›Duschen‹ oder ›Geschirrspülen‹. Ich selbst komme eher selten in den Genuss dieser Luxuseinrichtung.«

»Stimmt. Zu selten, viel zu selten …«

Er versuchte, sie zu knuffen, was sich aber als schwierig herausstellte, denn sie dachte gar nicht daran, sich aus seiner Umarmung zu lösen.

»Aber ernsthaft, Finn. So schön ich unser regelmäßiges gemeinsames Abendessen an deiner Feuerstelle finde …«

»… unserer Feuerstelle, Conny. Wir haben sie alle zusammen gebaut und zumindest unsere drei Häuser teilen alles«, warf Finn leise ein.

»O. k., stimmt. Was ich sagen wollte, ist, dass wir einfach nie alleine sind. Und wir sind alle immer so müde! Wir gehen doch alle gleich ins Bett! Dunkel wird es auch immer früher und was soll man ohne Lampen schon machen? Es sollte alles im Haus erledigt sein, solange es noch hell ist. Einfach keine Freizeit.«

Sie dachte kurz nach und korrigierte sich. »Versteh mich nicht falsch. Ich beschwere mich nicht. Ich liebe es, die Käserei zu betreiben. Ich brauche kaum noch Hilfe. Und du bist auch immer öfter mit dem Major weg. Soldat spielen. Manchmal tagelang. Aber ich würde einfach gerne mehr Zeit mit dir verbringen. Denkst du, wir bekommen das irgendwie hin?«

Finn wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Etwas hilflos erwiderte er: »Ich auch, Conny. Jürgen fordert mich momentan ganz schön. Er möchte, dass ich mich wieder an den Marder gewöhne. Er meint, dass dreizehn Jahre Dienst doch nicht einfach weg sein können.«

Er lachte glucksend auf, als er sich an das Gespräch erinnerte. »Es stimmt wohl. Ich komme noch ganz gut zurecht.«

»Der Marder ist ein Schützenpanzer, richtig?«

»Genau! Du passt ja doch auf, wenn wir uns unterhalten«, grinste Finn. »Ich habs damals bis zum Oberleutnant gebracht und so ein Teil kommandiert. Scheinbar denkt unser lieber Herr Jürgen Mauerer immer noch, er hat zu wenig Soldaten in seiner Kaserne und will mich rekrutieren.«

Er holte gequält Luft. »Und wahrscheinlich hat er recht damit. Die Sicherheitslage wird immer kritischer. Sieh nur mal dort unten! Schon wieder eine Kolonne von Flüchtlingen. Was sollen wir nur machen?«

Sie folgte seinem ausgestreckten Arm und kniff die Augen zusammen, um die Bundesstraße besser erkennen zu können. Erschrocken zog sie die Luft ein, als sie den grauen Haufen ausmachte, der auf die Barrikade zuwankte, die sie erst kürzlich dort errichtet hatten.

»Wie viele sind das wohl? Fünfzig? Einhundert?«

»Ich schätze eher fünfzig – sie schleppen noch Sachen mit. Schwer zu sehen aus der Ferne.«

»Wer hat denn heute Dienst an unserem neuen Checkpoint? Die Soldaten oder unsere Miliz?«

»Ich fürchte unsere Miliz.« Besorgt sah er auf die kleine Gruppe Männer, die sich an der Barrikade bereit machten, den Flüchtlingen entgegenzutreten. »Ich hoffe, sie sind dem gewachsen.«

»Wie meinst du das? Trainieren die nicht fleißig mit dem, was bei uns neuerdings als Schwerter durchgeht?«

»Das ist genau meine Sorge. Junge Hitzköpfe, die denken, sie sind jetzt begnadete Kämpfer. Wo kann man die Theorie besser ausprobieren als an wehrlosen, halb verhungerten Flüchtigen?«

»Denkst du wirklich, dass die so was machen würden?«

Resigniert zuckte Finn die Schultern. »Ich weiß es einfach nicht. Ich trau diesem Ausbilder nicht, den unser Rat in seiner Weisheit beschlossen hat, über eine Anzahl unreifer Männer zu setzen, die plötzlich tödliche Waffen in der Hand halten dürfen. Denn egal wie krude die Teile aussehen, die Egon in seiner aufgemotzten Schmiede produziert: tödlich sind sie. Gehärtetes Eisen, das spitz zuläuft, hat eben diese Eigenschaft. Ein Soldat muss nicht nur den Umgang damit lernen, sondern auch die damit verbundene Verantwortung kennen. Warum nur haben sie die Ausbildung nicht in die Hände der Profis gelegt? Wir haben doch jetzt echte Soldaten, auf die wir zugreifen können. Jürgen hätte bestimmt mitgemacht.«

»Sind für so was nicht die Offiziere da? Ich meine, um dem Soldaten zu sagen, was er tun soll?«

»Früher schon. O. k., heute auch noch. Aber moderne Armeen haben einen weitreichenderen Ansatz. Wir haben in unserer eigenen Geschichte gesehen, wozu ein Kadavergehorsam führen kann, richtig? Also versuchen wir auch, dem einzelnen Soldaten einen Teil der Verantwortung mitzugeben. Zumal es im Ernstfall schnell Situationen geben kann – oder lass das ›Kann‹ weg, es wird sie geben –, in denen kein Offizier zur Hand ist, den man fragen könnte. Oder keine Zeit dafür ist, weil zum Beispiel eine Waffe auf einen gerichtet wird. Ich sehe unseren Arnold nicht in der Lage, das alles unseren jungen Männern zu vermitteln. Erst recht nicht den Leuten, die er als seine Offiziere auserkoren hat. Woher soll er es auch können, müsste man fairerweise noch hinzufügen. Scheinbar ist einfach der gesetzte Standard an unsere Miliz denkbar niedrig. Oder man nimmt deren Bedeutung nicht ernst genug.«

Sie schnaubte verächtlich. »Arnold bildet die aus? Der Spanner aus der Parallelstraße? Der ist creepy. Ich bin nur froh, den aus meinen Haaren zu haben. Der wollte unbedingt mit mir zusammenarbeiten. Aber Max hat ihn zum Glück anderweitig beschäftigen können. Hat gesagt, er brauche noch Erntehelfer, und wollte ihn mit der Sense vertraut machen. Und der bildet jetzt unsere so viel gelobte Miliz aus? Mann, dann sehe ich auch schwarz. Hat der auch Frauen unter sich?«

Finn zuckte noch einmal mit den Schultern. »Ich habe einfach keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Weder er noch der Rat möchte sich hier in die Karten schauen lassen. Dein Vater meinte doch neulich, dass unsere geliebte Bürgermeisterin den Major als Machtfaktor sehen könnte, der sie bedroht. Und mich, weil ich so gute Beziehungen zu ihm und der Kaserne unterhalte. So ein Blödsinn. Aber es würde erklären, dass sie unsere Miliz als ihre Chefsache ansieht und die echten Soldaten raushaben will.«

Er deutete vage auf die entfernte Barrikade, die mit sechs oder sieben Männern besetzt war. »An Zulauf scheint es jedenfalls nicht zu fehlen. Hat wahrscheinlich doch seinen Charme, Soldat zu spielen, wenn die Alternative Feldarbeit ist.«

»Apropos Soldat. Stimmt es, dass die Terroristen aus Emmerdingen euch einen Panzer geklaut haben?«

»Ja. Einen Marder. Voll aufgerüstet mit Livemunition. Dass er echte Munition geladen hatte, ist meine Schuld. Zumindest teilweise.«

Überrascht sah Conny ihm in die Augen. »Wie das denn?«

»Na ja, ich durfte ihn einen Tag testen. Ich sag ja: Ich bin nicht ganz draußen. Benjamin und ich haben ein bisschen im Wald rumgeballert. Um wieder ein Gefühl zu bekommen, verstehst du?« Etwas schief und schuldbewusst sah er sie an. »Hat sogar Spaß gemacht. Sie wollten ihn am Morgen wieder abrüsten, aber die Emmerdinger haben ihn tatsächlich noch am Abend geklaut. Die müssen schon in der Kaserne gewesen sein.«

Conny schüttelte den Kopf und murmelte etwas über erwachsene Männer und ihre überdimensionierten Spielzeuge.

»Jedenfalls wollte Jürgen gleich in Emmerdingen einmarschieren, um ihn von Sören zurückzuholen. Ich kann dir sagen, er war bereit, ihm den notfalls unterm Arsch wegzuschießen, so sauer war er. Alles besser als so eine Vernichtungsmaschine in der Hand von Psychos! Aber dann haben wir bei der Planung geschnallt, dass es wahrscheinlich nicht ohne zivile Opfer gehen würde. Weil sich Terroristen eben immer gerne hinter Zivilisten verstecken und sie als Schutzschild benutzen. Die Feiglinge. Das hat unser Mütchen abgekühlt. Tja, und dann hat uns immer mehr das Handling der Flüchtlinge in Anspruch genommen und wir haben es irgendwie nicht geschafft, etwas für Emmerdingen abzuzweigen. Vielleicht wollten wir auch nicht mehr. Ist jetzt schon wieder über eine Woche her und wird irgendwie immer unwichtiger. Aber wir haben ihn noch auf dem Schirm.«

Conny sah wieder zur Schlange auf der Bundesstraße. Sie nickte zögerlich. »Unser bekanntes Dilemma.«

»Ja, das meinte ich hauptsächlich mit ›prekärer Sicherheitslage‹. Wir haben alle Hände voll damit zu tun, vor Hunger verrückte Menschen davon abzuhalten, über unsere Häuser herzufallen. Ein Schattenkrieg, der moralisch unglaublich belastend ist, vor allem für unsere Soldaten. Niemand hat sie darauf vorbereitet, gegen ihre Landsleute vorzugehen. Sie mit Waffengewalt zu vertreiben. Es gab schon Tote, weil die armen Bastarde natürlich verzweifelt ohne Ende sind. Es ist ein Krieg, den wir dabei sind zu verlieren, denn genug Menschen, die ihrerseits nichts mehr zu verlieren haben, sind durch nichts aufzuhalten.«

Finn löste seinen Blick von Conny und sah wieder nachdenklich zur Straße runter. Die Flüchtlinge fingen an, sich vor der Barrikade zu stauen. »Gemäß allem, was man so sieht und hört, hat unsere Miliz weniger Skrupel, Gewalt einzusetzen. Vielleicht sogar verständlich, denn sie schützen ihr Eigentum, ihre Familien. Wir können unmöglich auf sie verzichten. Ich nehme an, das ist unseren Milizionären durchaus bewusst. Und sie wissen alle sehr genau, dass wir selbst kaum etwas zu essen haben und wir selbst ums Überleben kämpfen. Entsprechend aggressiv verteidigen sie es. Haben wir wirklich keinen Raum mehr für Mitgefühl? Für Menschlichkeit? Können wir uns das wirklich nicht mehr leisten, wie wir alle glauben?«

Finn erwartete keine Antwort auf seine Fragen. Sie schwirrten seit vielen Wochen in den Köpfen umher und sie wurden sehr kontrovers in der Gemeinde diskutiert. Letztendlich war der überwiegenden Mehrheit klar, dass keinerlei Ressourcen vorhanden waren, die Flüchtlinge alle aufzunehmen. Aber vielleicht wenigstens einige? Vielleicht konnte man auch in einigen anderen Gemeinden wieder eine Ordnung herstellen, die es den Bewohnern ermöglichte, irgendwie zu überleben?

Finn fürchtete, dass es hierfür vielerorts bereits zu spät war.

Plötzlich versteifte Conny sich spürbar. »Finn, was passiert da unten?«

Er sah wieder auf die Bundesstraße und sog erschrocken die Luft ein. Die Lage an der Barrikade schien zu eskalieren, und zwar schnell. Einige der Flüchtlinge diskutierten erregt mit den Bewachern, die ihrerseits bereits ihre Schwerter gezogen hatten. Währenddessen umgingen andere ganz einfach die ineinandergeschobenen Autos und gelangten so in den Rücken der Männer, die sich plötzlich umzingelt sahen.

Die Wahl des Ortes für den Checkpoint war wohl strategisch nicht sehr klug gewählt worden. Aber dann waren halt auch einfach rechts und links der Straße nur offene Felder und wer rechnete schon ernsthaft mit Gewalt? Nun, die Gewalt hatte Riedkirchen offensichtlich schon lange eingeholt und jetzt rächte es sich, dass man dem nicht Rechnung getragen hatte. Als der Erste von der Miliz sein Schwert hob, um sich einer zudringlichen, zerlumpten Person zu erwehren, war der Damm gebrochen. Es ging ein Schrei durch den Haufen, der bis zur Anhöhe zu hören war, auf dem Conny und Finn standen. Mit Grauen sahen sie, wie die Miliz einfach überrannt wurde. Vielleicht zwei, drei der Männer wehrten sich überhaupt. Der Rest beließ es bei hilflosen Drohgebärden und zögerte zu lange. Als der Mob auf Tuchfühlung heranrückte, wurden die Schwerter nutzlos. Zu dem Geschrei der Empörung mischten sich die Schreie der Verletzten, als das eine oder andere Schwert sein Ziel doch noch fand. Und dann die entsetzten Laute der Miliz, als ihnen die Waffen aus den Händen gerissen wurden und sich die ganze verzweifelte Wut der Menschen auf sie entlud. In animalischer Raserei wurden die Körper der Männer mit ihren eigenen Waffen in Stücke gehackt. Dann setzte sich der Mob – ausgemergelt, aber aufgepeitscht und nun bewaffnet – Richtung Riedkirchen in Bewegung. Wer Schwerter herstellen konnte, hatte auch was zu essen und sie gedachten, es sich zu holen.

Finn erwachte aus seiner Erstarrung und zog Conny hektisch den Hang hinunter. »Komm schnell! Wir müssen die Anwohner warnen!«

»Und was wollen die machen, wenn dieser Pöbel sie erreicht?« Keuchend lief sie hinter ihm her. »Wenn selbst unsere Milz nichts ausrichten konnte?«

Sie war noch schockiert und realisierte erst langsam, dass sie gerade dem Tod von einigen Menschen aus ihrem Ort zugesehen hatte. War da vielleicht sogar Manuel, der Sohn von Clemens, dabei gewesen? Ihr Nachbar, mit dem sie zusammen am abendlichen Feuer saßen? Unbewusst blieb sie stehen.

»Weiter Conny!« Auch er keuchte bereits vor Anstrengung.

Sie starrte ihn nur an. »Meinst du, da war Manuel dabei?«

»Manuel? Wahrscheinlich nicht, der ist doch jetzt einer der sogenannten Offiziere.« Seinerseits nachdenklich geworden, war er auch unbewusst stehen geblieben und holte tief Atem. »Die armen Trottel da unten waren für so etwas überhaupt nicht ausgebildet. Die wussten gar nicht, was sie tun sollten. Mann, Mann, die konnten sich nicht mal wehren!«

Wütend trat er gegen einen Ast, der auf dem Weg lag. »Das passiert, wenn man die Ausbildung inkompetenten Idioten überlässt, die früher in der Zulassung Autoschilder ausgeteilt haben!«

Er holte noch einmal tief Luft, um sich zu beruhigen. »O. k., lass uns fair sein … Wahrscheinlich haben wir alle den Ernst der Lage unterschätzt. So was habe ich zumindest noch nicht erlebt.«

Erschüttert sah er Conny an, die seinen Blick genauso ungläubig erwiderte. Der Tod hatte sie schon seit geraumer Zeit umgeben, aber es mit eigenen Augen zu sehen, selbst aus der Ferne, war ein ganz anderes Kaliber.

Alarmiert sah Finn sich um, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass sich hinter ihnen im Wald genauso gut ein weiterer Mob verstecken konnte. Er zog Conny am Arm. »Wir müssen weiter! Und zukünftig vielleicht nicht mehr allein rumspazieren!«

Widerwillig verfielen sie wieder in einen leichten Trab, der sie schließlich an den Rand Riedkirchens trug. Die Bundesstraße war noch ein gutes Stück weg und der Pöbel traf auf das erste Haus. Er war nicht unbemerkt geblieben und mit Grauen sahen die beiden, wie Türen und verbarrikadierte Fenster einfach eingetreten wurden. Die Bewohner flohen panisch und alarmierten dadurch die Nachbarn. Langsam, viel zu langsam, breitete sich die Erkenntnis aus, angegriffen zu werden. Die Flüchtlinge teilten sich jetzt automatisch auf, denn jeder wollte etwas zu essen ergattern. Hausbewohner wehrten sich mit Schaufeln, Hacken oder den bloßen Händen. Verlotterte Gestalten versuchten, sie von den Eingängen zu wegzerren, um ins Haus zu kommen. Conny sah, wie einer der erbeuteten Schwerter tief in den Bauch eines Familienvaters gerammt wurde. Er hatte gar keine Zeit mehr, zusammenzubrechen, weil er sofort durch den Hauseingang gestoßen und dann niedergetrampelt wurde.

Die meisten taten aber das einzig Vernünftige und flohen. Langsam sammelte sich weiter unten die Straße ein Pulk von Männern und Frauen, die so etwas wie nervöse Gegenwehr aufzubauen versuchten. Angst lag zum Greifen in der Luft. Aber auch Wut und Trotz von Leuten, denen gerade ihr Hab und Gut weggenommen wurde.

Der Lärm wurde lauter und musste nun in der ganzen Stadt zu hören sein.

Finn spürte Connys Griff um seinen Oberarm fester werden. Immer noch etwas oberhalb der Stadt stehend sah er sich hektisch um. Wo bleibt denn nur das verdammte Militär? Jürgen hatte ein permanentes Kontingent der Soldaten in Riedkirchen gelassen und sie hatten bis dato gut für Ordnung und Ruhe gesorgt. Sie wurde verpflegt, was die schwindenden Ressourcen der Fürstenbergkaserne schonte. Aber sie waren zu Fuß unterwegs, weil sie – trotzdem sie nun an die Tanks der Tankstellen kamen – dringend ihre Benzinvorräte schonen mussten. Die Transporte zur Fürstenbergkaserne und zurück nach Riedkirchen verschlangen schon genug Sprit.

Aber dann haben wir am Sportplatz doch die mobile Eingreiftruppe stationiert! Hören die das denn nicht? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, etwas Diesel zu verfeuern! Verdammt, ich würde sogar den Puma anschmeißen, den der Major dagelassen hat! Finn setzte sich wieder in Bewegung. Dann muss ich eben mal zum Sportplatz laufen! Schlafen die denn alle?

Sein Gedanke war noch nicht zu Ende, als er Motorengeräusche vernahm, die sogar das Chaos am Stadtrand übertönten. Wenn er sich nicht täuschte, war sogar das Geklirre von Ketten zu vernehmen. Also hat doch wer unseren Panzer in Bewegung gesetzt? Sehr gut! Kurzerhand änderte er seine Richtung zu dem Pulk von Bürgern, der sich unsicher ungefähr 500 Meter vom Mob entfernt gebildet hatte. Er nahm den Umweg über Seitenstraßen und Hinterhöfe, um aus der Gefahrenzone zu bleiben.

»Conny, willst du nicht zu uns nach Hause laufen? Rolf und Clemens sollten wissen, was hier abgeht.«

Sie zögerte kurz. »Mir wäre lieber, ich bleibe hier. Wenn das jetzt wirklich die Zukunft ist, dann möchte ich wissen, auf was wir uns hier einstellen müssen. Stell dir nur vor, die hätten den Bauernhof von Max so überrannt. Und meine Käserei gleich mit!«

In Finn stritten seine Sorge und das Verständnis um ihre Logik um die Oberhand. Schließlich nickte er kurz. »Bleib dann bitte bei mir.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er sich wieder auf den Weg. Er hatte das Gefühl, die Zeit drängte. Die Fahrgeräusche des Panzers wurden lauter, gemischt mit den leiseren Motoren einiger Wolf Geländewagen. Sein Verstand blendete nach und nach alles Unnötige aus und fixierte sich auf seine Aufgabe, die er sich unbewusst auferlegt hatte. »Seine« Panzergrenadiere im Kampf zu steuern, so wie er es gelernt hatte, und den Mob von den Bürgern fernzuhalten.

Er passte den Puma kurz vor den versammelten Bürgern ab. Diese begannen sich bereits erleichtert zu teilen und etwas zurückzuziehen. Nur zu gerne überließen sie der Bundeswehr das Feld hier! Er hob die Hand und die kleine Kolonne aus Militärfahrzeugen kam prompt zum Stehen. Wahrscheinlich, weil ganz einfach der Panzer stoppte und damit alle anderen zwang, anzuhalten. Die Luke wurde aufgestoßen und das angespannte Gesicht von Benjamin Maier erschien, kaum zu erkennen unter seinem Helm und dem wulstigen Kinnschutz. Finn war erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Er kam sich mit einem Mal ziemlich dumm vor, hier … ja was eigentlich? Das Kommando zu übernehmen? So wie früher? Besser hier nicht reinpfuschen. Zumal er Benjamin schon kennengelernt hatte und große Stücke auf ihn hielt. Er trat verlegen zurück, um die Straße wieder frei zu machen.

»Gottverdammt bin ich froh, endlich einen echten Kommandanten der Grenadiere zu sehen!«

Dabei verschwieg Benjamin geflissentlich, dass die aktive Zeit Finns schon lange vorbei war und das Reservistentraining auch sehr dünn ausgefallen war. Aber die anderen Soldaten fixierten sich sofort auf ihn. Einer der Offiziere? Der konnte bestimmt sagen, was hier zu tun war!

Finn, der schon wieder zum Straßenrand zurückgewichen war, hielt inne. Wie bitte? Will er, dass ich hier das Kommando übernehme? Nach den paar Auffrischungen, die wir gemeinsam durchhaben? Ihm fiel ungebeten ein Satz ein, der sich während seiner Offiziersausbildung eingebläut hatte: »Es ist zweitrangig, ob Ihre Entscheidung richtig oder falsch war. Das Wichtigste in angespannten Situationen ist, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Untätigkeit kann im Kampf schnell den Tod bedeuten.«

Ohne groß weiter nachzudenken, fand er den Griff am Panzer und schwang sich mit einer fließenden Bewegung auf den Puma. Er kauerte an der Luke. »Was ist der Status, Oberfeldwebel?«

»Als wir den Lärm und die Schreie hörten, dachten wir, wir gehen auf Nummer sicher und fahren das ganze Geschütz auf. Zu Fuß hätten wir zu lange gebraucht und wir wissen nicht genau, wo sich unsere Patrouille befindet. Sie sehen hier die ganze Bereitschaft, Kommandant.«

Privat duzten sie sich schon lange, aber jetzt ging es um Befehlskette und Außenwirkung.

»Wie viele einsatzbereite Soldaten?«

»Sechzehn, Sir!«

Seit wann haben englische Bezeichnungen Einzug in die Bundeswehr erhalten?, schoss es kurz durch Finns Schädel, nur um den Gedanken gleich wieder als unwichtig zu verwerfen. Der konzentrierte Blick seiner hellblauen Augen war stattdessen auf den Mob gerichtet, der sich größtenteils in den Häusern verteilt hatte.

Das machte die Sachlage schwieriger.

»Sehr gut reagiert! Teilen Sie vier Dreier-Gruppen ein und lassen Sie uns das hier säubern! Zwei durchkämmen die Häuser und zwei verhindern, dass sich welche von dem Mob davonschleichen. Kein Risiko eingehen! Waffengewalt ist ausdrücklich erlaubt! Der Rest kommt mit mir Richtung Ortsausgang. Ich bleibe hier auf dem Puma und rücke mit vor.«

»Aber Herr Oberleutnant! Wir sollen auf Zivilisten schießen?«

Woher wissen die meinen letzten Rang? Ich trage doch keine Uniform? Auch diesen irrationalen Gedanken unterdrückte Finn sofort als unwichtig. Er sah sich zu den Soldaten um, die teilweise aus dem Wagen gestiegen waren und ihn anstarrten. Er richtete sich auf, sodass er aufrecht auf dem Panzer stand. Durch die Fußsohlen spürte er das leichte Vibrieren des kräftigen Motors, der sich im Leerlauf befand. Er wandte seinen Rücken zu dem immer noch wütenden Menschenhaufen ein paar Hundert Meter die Straße hinauf, um die Mischung aus verunsicherten Bürgern und Soldaten anzusehen, die sich hinter dem Panzer versammelt hatten. So viel Zeit musste jetzt sein. Er hob seine Stimme an, damit ihn jeder verstand.

»Diese sogenannten Zivilisten«, er deutete mit dem Daumen hinter sich, »haben unsere komplette Miliz am Checkpoint abgeschlachtet und in Stücke gehauen. Sieben Bürger Riedkirchens! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und dann haben sie deren Schwerter genommen und mit dem Morden hier weitergemacht! Ich zitiere euren Major, Herr Jürgen Maurer, der vor euch stand und sagte: ›Wir schützen die Bürger. Aber wer denkt, sich außerhalb des Gesetzes stellen zu können, dessen Schutz ist verwirkt und er muss die Konsequenzen seines Handelns tragen.‹ Dieser Mob ist schon lange außerhalb dessen, was wir hier schützen. Jetzt geht es um uns. Jetzt geht es um das, was wir hier aufbauen. Und wir lassen es uns nicht wegnehmen. Weder von diesen Leuten noch von denen, die nach ihnen kommen werden!«

»Jawoll! Bringt die Schweine um!« Ein Ruf aus der Menge, wahrscheinlich von einem Hausbesitzer, dessen Haus gerade verwüstet worden war. Finn beachtete ihn nicht, sondern fixierte die Soldaten mit dem stechenden Blick seiner blauen Augen. Er spürte, dass er sie überzeugt hatte, wenn auch noch nicht völlig. Immerhin war er in den Augen der meisten Zivilist, Vergangenheit oder Reservist hin oder her. Die Autorität, die er momentan hatte, kam von Benjamin, der ihn einfach als ihm vorgesetzten Oberleutnant ansah.

Dieser gab schließlich auch den Ausschlag. »Also los Jungs! Ihr habt den Leutnant gehört! In Dreiergruppen und kein Risiko! Gebt es ihnen!«

Wie eine gut geölte Maschine bildeten sich die Trupps und teilten sich auf, um die ersten Häuser anzusteuern. Finn wollte gerade in die offene Luke einsteigen und das Kommando zum Vorrücken geben, als er eine verloren und etwas schockiert wirkende Conny neben dem Panzer stehen sah. Sie fasste sich aber schnell, lächelte leicht und winkte ihm zu. Erleichtert winkte er zurück und gab den Befehl, das Vorrücken der Soldaten zu decken. Finn schlüpfte halb in die Luke, die Benjamin freigeräumt hatte, und beäugte den Mob. Der hatte inzwischen gemerkt, dass sich etwas verändert hatte. Teilweise kamen sie wieder aus den Häusern. Es war deutlich leiser geworden, sodass die Ketten des Panzers nun laut klirrten. Die Bürger scharten sich hinter dem Puma zusammen und folgten mit Mordlust in den Augen.

»Benjamin!« Finn beugte sich in den Innenraum und sah zum ersten Mal den Panzerfahrer. »Wo war noch mal die verdammte Sicherung vom MG?«

Der Oberfeldwebel deutete auf einen seitlichen Schlitten. »Wir können es aber auch von innen abfeuern. Ist einer der Verbesserungen gegenüber dem Marder.«

»O. k., danke. Ich sehe von hier mehr. Wenn dann von hier oben.«

Er verschwieg, dass er niemand anderem die Bürde der Verantwortung auflasten wollte, den vielleicht ersten bewussten Schuss auf Mitbürger abzufeuern, der nicht in unmittelbarer Selbstverteidigung abgegeben wurde. Wobei das mit der Selbstverteidigung nicht ganz stimmte. Er verteidigte vielleicht nicht sein Leben, aber den Ort und das Leben anderer sehr wohl.

Der Panzer war ungefähr einhundert Meter vor den ersten Flüchtlingen zum Stehen gekommen. Nahe genug, dass Finn die schmutzigen Gesichter erkennen konnte. Nahe genug, um die Furchen zu erkennen, die der Hunger oder Verletzungen in die Gesichter gegraben hatte. Nahe genug, um Frauen, Kinder und Männer zu unterscheiden. Nahe genug, um einen Eindruck des Elends zu bekommen, durch das dieser zerlumpte Haufen von Menschen gegangen sein musste, die Entbehrungen, die sie hinter sich hatten. Mitleid kroch in ihm hoch. Und Bedauern. Unendliches Bedauern um die Ungerechtigkeit dieser Welt, die scheinbar durch Zufall bestimmte, wer von ihr begünstigt wurde und wer den ganzen Dreck abbekam. In sein Bedauern mischte sich etwas schuldbeladene Erleichterung, dass er im Moment nicht hungern musste. Er ließ diese Gefühle zu. Was er jetzt im Begriff war zu tun, würde ihn verdammen. Es würde ihn für immer auf die andere Seite stellen, sollte es jemals wieder einen funktionierenden Rechtsstaat geben. Es würde ihn zum Mörder machen. Er wollte verdammt sein, wenn er es nicht wenigstens in vollem Bewusstsein tun würde. Er blickte in ein Paar braune Augen, die ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen anstarrten. Zumindest bildete er es sich ein, da die Entfernung etwas zu weit war, um es wirklich mit Sicherheit sagen zu können.

Leise gab er das Kommando nach unten. »Noch fünfzig Meter nach vorne!«

Dann sah er wieder auf. Die Gestalt hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Es war eine Frau mittleren Alters, wie er jetzt erkannte. Und ja, definitiv verzweifelt. Traurig blickte er sie an, als er das Turm-MG entsicherte und den Abzug durchdrückte. Äußerlich unbewegt sah er zu, wie sich das Gesicht der Frau durch den Einschlag der Patronen in eine blutige Masse auflöste und ihr ganzer Körper gewaltsam nach hinten geschleudert wurde. Erst durch das unnatürlich laute Rattern des MGs bemerkte er, wie ruhig es geworden war. Offenbar hatte jeder gespannt auf ihn und den unfairen Showdown zwischen Panzer und Flüchtling gewartet.

Dafür brach jetzt die Hölle los. Schreie, in der Hast umgestoßene Möbel, Bitten um Gnade, Wutausbrüche und immer wieder das unmissverständliche Geräusch abgefeuerter Schüsse. Stoisch trug Finn seinen Anteil zur Geräuschkulisse bei, indem er kurze, kontrollierte Feuerstöße abgab, die meistens akkurat ihr Ziel fanden. Er zählte nicht, er dachte nicht, er begab sich in die schlichte Welt, in der es einfach nur das Ziel und das Treffen des Zieles gab. Schließlich gab es nichts mehr, auf das man hätte schießen können, außer ein paar wenige Gestalten, die über die Felder davonstolperten.

»Herr Oberleutnant!« Dieses Mal kam der Titel flüssig über die Lippen des Soldaten. Er musste ihn wohl schon mehrmals angesprochen haben. Finns Kopf ruckt herum, plötzlich wieder in Alarmstimmung.

»Was ist, Soldat?«

»Ich fragte: Sollen wie sie verfolgen?« Er deutete mit seinem Karabiner auf die flüchtenden Gestalten.

Finn entspannte sich und schüttelte den Kopf. »Vielleicht tragen sie die Kunde weiter, dass Riedkirchen kein hilfloses fettes Huhn ist, das nur geschlachtet werden muss. Dann hätte das heute wenigstens irgendetwas erreicht.«

Mit einem Male sehr müde stieg er aus dem Turm und setzte sich auf das hintere Deck des Panzers. Durch den Stahl spürte er das Vibrieren des Motors unter ihm. Er wollte jetzt nichts mehr, als sich davonschleichen und verarbeiten, was gerade passiert war. Was er initiiert hatte. Aber das ging noch nicht.

»Gab es Verluste auf unserer Seite?«

»Keine bei den Soldaten, Sir. Aber bei der Bevölkerung …«

Finn drehte den Oberkörper, um seinen Blick über die Häuser am Stadtrand schweifen zu lassen. Über die eingeschlagenen Türen, die zersplitterten Fenster und Holzabdeckungen. Die zertrampelten Vorgärten, die zu Gemüsebeeten umfunktioniert worden waren und nun keine Ernte mehr abwerfen würden. Formlose Bündel auf der Straße und den Grundstücken, die sich und ihren Untergrund rot färbten. Zweifelsfrei mehr davon in den Häusern. Eine Frau, die mit ihrem kleinen Kind im Arm aus einem der Fenster hing. Auf den ersten Blick war es unklar, ob es eine Bürgerin oder ein Flüchtling war. Benjamin kam aus dem Panzer herausgekrochen. Zuvor hatte er die Heckklappe heruntergelassen. Er nahm die Szene in sich auf. Bleich, aber gefasst.

»Soldaten! Tretet hier mal kurz an!« Er wartete, bis alle sechzehn Mann versammelt waren. »Wir sind hier noch nicht fertig. Sie alle haben gerade einen sehr wichtigen Dienst getan. Für unsere Gemeinde hier und letztendlich für Ihr Vaterland. Wir sind hier eine Bastion der Stabilität und Sicherheit. Wir alle hoffen weiß Gott, dass es noch viele solcher Bastionen in Deutschland gibt, aber mir persönlich ist bis jetzt keine bekannt. Also verteidigen Sie diese weiterhin so, wie Sie es heute getan haben. Denn es könnte – Gott behüte – die letzte sein.«

Finn sah, wie sich die Schultern so mancher Soldaten wieder strafften, als sie anfingen, das Erlebte zu verarbeiten, und einen Sinn erkannten. Es wäre seine Aufgabe als ranghöherer Offizier gewesen, so eine Ansage zu machen. Aber dann war er offiziell gar kein Offizier mehr und wenn das vom Oberfeldwebel kam, hatte das sicher mehr Gewicht. Außerdem hatte er noch mit sich selbst zu kämpfen, denn er hatte das Massaker befohlen und ganz bewusst den ersten Schuss abgegeben. Das erschien vor Kurzem das einzig Logische, das einzig Richtige zu sein, aber jetzt im Nachhinein kamen ihm Zweifel. Am liebsten wäre er hier sitzen geblieben. Die Septembersonne legte sich so schön an. Sie regte zum Entspannen an. Er riss seine halb geschlossenen Lider wieder auf, als der Oberfeldwebel weitersprach.

»Helft den Bürgern, die Leichen zu entsorgen. Schichtet sie am Ortseingang auf. Wir müssen ein Massengrab ausheben. Zwei bleiben zur Wache, die anderen legen ihre Waffen hier im Schützenpanzer ab. Los geht’s!«

Gehorsam zogen die Soldaten los. Als sie an Finn vorbeikamen, nickten ihm die meisten zu, einige legten sogar die Hand an die Mütze. Finn wurde davon überrascht, vor allem als seine eigene Hand wie von selbst ihren Weg zur nicht vorhandenen Mütze fand, um den Gruß zu erwidern.

»Herr Oberleutnant, auf ein Wort!«

Benjamin stand neben der Kette und sah zum immer noch oben sitzenden Finn hoch. Seufzend schwang er sich herunter. »Was gibst?«

Leise setzte er hinzu: »Kritik am Einsatz? Dann hättest du vorher überlegen sollen, wen du hier vor aller Mannschaft plötzlich aus der Reserve holst!«