Logbuch meines Herzens - Rebekka Posern - E-Book

Logbuch meines Herzens E-Book

Rebekka Posern

0,0

Beschreibung

Nach einer gescheiterten Beziehung und allein mit ihrem wenige Monate alten Kind, ist Rebekka am Ende ihrer Kräfte. Ihr wird klar, dass es so nicht weitergehen kann, also beschließt sie auszubrechen. Sie möchte heilen und Klarheit über ihre Gefühle gewinnen, und vor allem möchte sie ihr neues Leben als alleinerziehende Mutter meistern. Und so geht sie auf eine Reise, die sie an zahlreiche Orte dieser Welt führen wird, aber auch zu neuen Menschen und Erkenntnissen, die sie in einem Tagebuch festhält, dem Logbuch ihres Herzens. Ein mutiges Buch über eine verlorene Liebe und was danach kam, über eine Reise zu sich selbst und über einen Neuanfang, der Mut macht und zeigt, wie wichtig Erinnerungen sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 363

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meine Kinder, die mich zu einer besseren Version meiner selbst machen und die mir jeden Tag zeigen, was pures Glück bedeutet

Egal, auf welcher Reise ihr euch in eurem Leben befindet, ich bin immer an eurer Seite. Ich liebe euch mehr als alles auf der Welt, meine großen Lieben, meine Kinder

– Eure Mama

Inhaltsverzeichnis

Aufbruch nach La Gomera

Sehnsuchtsort Irland

Ein überraschender Gast

Bei Rosie in England

Eine magische Kirche in York

In Edinburgh und am Portobello Beach

Mein schottischer Geburtstag

Auf nach Chicago

Bei den Amish in Michigan

Rückkehr nach Deutschland

Danksagung

Nachwort – zwei Jahre später

Fotos

Aufbruch ins Unbekannte

Lange Zeit habe ich mich gefragt: Wo fängt man an, wenn man unendlich viele Gedanken im Kopf hat, die man gerne aufs Papier bringen möchte, um sie mit anderen zu teilen? Wo fängt man an, wenn man von seinem Leben und seinen Reisen erzählen möchte?

Ich bin Rebekka, Flugbegleiterin und gelernte Europasekretärin, dreißig Jahre alt und Mutter einer bezaubernden, zweijährigen Tochter. In wenigen Wochen werde ich meine zweite wundervolle Tochter auf die Welt bringen.

Ich bin ein lebenslustiger und fröhlicher Mensch und ich reise sehr gern. Zwischenzeitlich war diese Lebenslust sehr getrübt und von diesen Momenten möchte ich in diesem Buch erzählen.

Es begann damit, dass mein Bruder mir das Buch „Der Wind nimmt uns mit“ von Katharina Herzog schenkte. Ich lebte zu dem Zeitpunkt allein mit meiner neun Monate alten Tochter in einer kleinen, gemütlichen Altbauwohnung mit hohen Decken und einer Terrasse in Frankfurt-Bornheim.

Jeden Abend ging ich mit meiner Tochter ins Bett, wir hatten eine große, kuschelige Hochebene, die wir bei unserem Einzug den Vormietern abgekauft hatten. Sie war mit vielen kleinen Lichterketten geschmückt und abends, wenn die Kleine auf meinem Bauch schlief, begann meine Zeit für mich. Ich verbrachte sie am liebsten mit Lesen, meistens schlief ich das Buch über ihrem Köpfchen haltend selbst dabei sein.

„Der Wind nimmt uns mit“ spielt auf La Gomera, einer Insel der Kanarengruppe. Ich las darüber, dass es ein guter Ort zum Heilen sei, wie magisch diese Insel sei und dass sie mit ihrer positiven Energie gegen akuten Kummer helfen solle.

Mir ging es nicht gut. Das war einer der Hauptgründe für diese Reise. Ich hatte ein Kind bekommen, aber der Vater meines Kindes verbrachte seine Zeit mit Feiern und Ausgehen statt mit seiner Familie. Er war auch mental nicht an meiner Seite und insgesamt passten wir hinten und vorne nicht zusammen. Unsere Vorstellungen von einer Beziehung, besonders mit Kind, waren zu gegensätzlich, um eine glückliche, kleine Familie aufzubauen. Mir ging es in der Beziehung immer schlechter, bis ich schließlich so sehr darunter litt, dass ich auszog. Meine Tochter war da fünf Monate alt und seitdem wohnte ich allein.

Ich googelte viel über La Gomera und schnell war der Entschluss gefasst, dort hinzureisen. Als ich dann ein gutes Angebot für einen Zwischenmieter für meine Wohnung bekam, wuchs der Wunsch, noch weiter zu reisen. Das war Anfang Juni, der erste Geburtstag meiner Tochter stand kurz bevor.

Der Vater meiner Tochter hatte sich in der Zwischenzeit eine neue Freundin gesucht. Ich hatte es trotzdem weiter versucht, aber er ging lieber übers Wochenende mit ihr kitesurfen, statt seine Tochter zu sehen. Wenn er doch kam, brach ich meist zusammen, weil ich es nicht aushielt, ihn zu sehen. Ich aß nicht mehr, bei 1,78 Metern magerte ich auf 62 Kilogramm ab.

Ich wusste, ich musste etwas tun. Ich muss diese Demütigungen loswerden und ich brauchte einen Tapetenwechsel.

Ich hatte schon länger geplant, Ende September in Schottland meinen dreißigsten Geburtstag zu feiern, aber was ich bis dahin machen sollte und vor allem wie lange ich auf La Gomera bleiben sollte, davon handelt dieses Buch. Denn am Ende wurde es eine viel größere Reise, als ich anfangs vorgehabt hatte.

Der Vater meiner Tochter stimmte ihrer Abreise einfach zu, er spürte offenbar, dass ich es brauchte. Gleichzeitig realisierte er aber auch, dass wir bald weg sein würden und dass ich, wenn ich zurückkäme, über ihn hinweg sein würde – zumindest hoffte ich das. Beim Abschied war er uns so nah wie seit einem Jahr nicht mehr. Er hatte Tränen in den Augen und umarmte uns so lange und fest, dass ich fast keine Luft bekam.

Und dann begann meine große Reise ins Unbekannte, meine Reise der Heilung.

Willkommen, du einzigartiger Mensch, der du dieses Buch in den Händen hältst und die Inspiration und Lust hast, es zu lesen, für dich habe ich es geschrieben. Möge es dir Freude und Kurzweile bereiten, dich inspirieren und ermutigen!

Aufbruch nach La Gomera

TAG 1

Um 7:20 meldete sich mein zuverlässiger Weckdienst, meine kleine Tochter Lilly. Nun ging es also los, der Tag der Abreise war gekommen.

Ich zog mich und die Kleine an, packte die letzten Kleinigkeiten und verstaute alles ins Auto. Ich brachte den Schlüssel zu den Nachbarn, für die Übergabe an die Zwischenmieter, trank in Windeseile meinen Kaffee und startete dann in Richtung meiner Freundin Cindy. Sie und ihr Freund Sascha fuhren uns mit meinem Auto zum Flughafen. Sie würden es für die Reisedauer zu sich nehmen. Noch ein schnelles Foto mit Baby vorne und Backpack hinten, ein paar Tränen, dann ging es los. Abenteuer, wir kommen! First stop: Teneriffa!

Am Check-in machte sich dann schon die erste Überforderung bemerkbar. Mein Backpack war unglaublich schwer und den kleinen Rucksack mit dem Spielzeug, den Wickelsachen, Reisedokumenten und kleinen Snacks hatte ich so vollgepackt, dass er nicht mehr zuging. Im Flughafen war es heiß und stickig. Die Puppe Susi fiel alle drei Sekunden auf den Boden und meistens hob sie einer der anderen Passagiere wieder auf. Ich spürte die irritierten Blicke meiner Mitreisenden: Reist die etwa allein mit dem kleinen Kind? Mit dem riesigen Rucksack?

Die Blicke nervten, ich hatte das Gefühl, jeder starre uns an. Ich reiste zum ersten Mal seit langem nicht als Flugbegleiterin, sondern als ganz normale Touristin mit einem kleinen Kind. Das war ein komplett anderes Reisen.

Ich hatte schon als Kind Flugbegleiterin werden wollen. Aber mein Weg führte mich erst mal woanders hin. Nach einem abgebrochenen Studium wurde ich Europasekretärin und arbeitete ab 2015 in Luxemburg in einer Treuhandgesellschaft. Anfangs mochte ich die Arbeit dort und so pendelte ich jeden Tag von Trier, weil sich die teuren Mieten in Luxemburg keiner leisten konnte. Außerdem hatte ich eine WG mit Sophie und Sarah, die wie ich eine Vorliebe für Wein und Sekt hatten. Es war eine lustige Zeit.

Irgendwann hielt es mich aber nicht mehr dort, die langen Autofahrten, die vielen Überstunden, ich wurde jeden Tag ein kleines bisschen unglücklicher. Und so beschloss ich, dass mein lange gehegter Traum Flugbegleiterin zu werden, noch einen Versuch wert wäre.

Und wie so oft im Leben, wenn man den richtigen Moment trifft, klappte es sofort. Das Bewerbungsgespräch lief wie von allein und ich bekam am selben Tag noch eine Zusage. Ich zog nach Frankfurt am Main und im Lehrgang lernte ich Tanja und Cindy kennen. Wir waren seitdem unzertrennlich und zeigten uns regelmäßig gegenseitig, was für uns echte Freundschaft bedeutete. Nach dem Lehrgang jetteten wir um die Welt, New York, Johannesburg, dann Tokyo. Es war wie im Märchen.

Und nun stand ich hier im Flughafen, das Gepäck war abgegeben und die Sicherheitskontrolle passiert. Ich beschloss, mir vor dem Boarding noch einen Prosecco zu gönnen. Mit der Kleinen vorne in der Trage setzte ich mich an die Theke. Ich dachte mir: Diesen Prosecco trinke ich jetzt aufs Leben und genieße ihn in vollen Zügen.

Es war laut um uns herum. Viele Menschen liefen auf ihrem Weg durchs Terminal an der Bar vorbei. Ich sah auf mein Handy und entdeckte eine Nachricht von Kai, dem Vater meiner Tochter.

Genieß deine Reise erst mal, ich hoffe, du kommst gut durch. Ich sehe inzwischen viele Dinge anders, ich wünschte, ich hätte alles anders gemacht. In Bezug auf uns. Und ja, ich bereue einige Dinge.

Erst vorgestern hatten wir gemeinsam den ersten Geburtstag unserer Tochter gefeiert, mit meinen und seinen Eltern und mit Freunden, es war wundervoll. Die Kleine war mit Geschenken überhäuft und glücklich von einem Arm zum anderen weitergereicht worden.

Den Tag nach Lillys Geburtstag hatte Kai dann mit der Kleinen verbracht, während ich in Akkordzeit einen Trekkingrucksack für zwei gepackt hatte (inklusive Kleidung für alle Wetterlagen, Reiseapotheke, Badezimmerutensilien und Spielzeug), zum Zahnarzt gegangen war, weil mir kurz vorher noch eine Füllung rausgefallen war, und die Wohnung aus- und umgeräumt hatte.

Ich musste meinen Kleiderschrank ausräumen und persönliche Gegenstände auf unserer zwei mal drei Meter großen Hochebene verstauen und die Wohnung für die Untermieter beziehbar machen. Zweieinhalb Monate lang würde sie nun untervermietet sein.

Als alles vollbracht war, fiel ich kurz vor Mitternacht fix und fertig zu der Kleinen ins Gästebett. Trotz völliger Erschöpfung rollte ich mich die halbe Nacht hin und her. Ich kannte das schon aus unzähligen Nächten zuvor, dass ich trotz körperlicher Müdigkeit nicht in den Schlaf fand. Ich ging in Gedanken alles noch mal durch, die ganze Reise und den geplanten Ablauf des nächsten Tages.

Aber der Hauptgrund für dieses Gedankenwirrwarr war das Never-Ending-Herz-Kopf-Chaos um Kai. Denn am Abend, als er mit der Kleinen zurückgekommen war, war es ihm nicht leichtgefallen, sich von ihr zu verabschieden. Ebenfalls hatten er und ich ein unerwartet emotionales Abschiedsgespräch geführt. Und da war es auch wieder gewesen, dieses Gefühl von Reue, dass er mich hat gehen lassen.

Und nun wieder. Immer wenn ich das Gefühl hatte, es ging mir ein klitzekleines bisschen besser, kam er mir näher, mit einer Entschuldigung oder kleinen Brocken, die mich wieder beschäftigen, meinem kaputten Ego Hoffnung auf Änderung gaben. Dabei wollte ich doch einfach nur heilen und neu anfangen, vielleicht irgendwann mit einem neuen Mann an meiner Seite.

Parallel kam eine Nachricht von meiner Mama, dass ich mich jetzt endlich auf mich konzentrieren solle, alles in Frankfurt lassen und in ein neues Leben abheben solle.

Kurz danach ging es mit dem Boarding dann auch schon los. Wir reihten uns ein, in die Schlange der aufgeregten Urlauber, und freuten uns auf unseren Mittelsitz. Als wir an der Reihe waren, wollte die Dame am Gate die Pässe noch einmal sehen, was ich als Vielflieger tatsächlich nicht eingeplant hatte. Und so kramte ich wenig später nervös in meinem überfüllten Rucksack.

Ich fand sie einfach nicht. Ich spürte die genervten Blicke der Supertouristen hinter mir und der inzwischen nicht mehr ganz so freundlichen Dame vor mir und verfiel in leichte Panik. Ich leerte die Hälfte meines Rucksacks auf dem Desk aus. Als Erstes kam das Buch „Stark und alleinerziehend“ zum Vorschein, ein Geschenk meiner Mutter.

Die Dame hob eine Augenbraue.

Die Leute hinter mir murrten. Da waren sie! Endlich! Als wir kurz darauf im Flugzeug und an unserer Sitzreihe ankamen, bot mir eine sehr freundliche Dame Anfang vierzig ihren Gangplatz an. Ihr Name war Tamara und sie reiste mit ihrem Mann Scott und den beiden Kindern nach Teneriffa, zwei Wochen Urlaub.

Tamara war hübsch und schlank, hatte mittellange, dunkelblonde Haare und eine kleine Stupsnase. Sie trug lockere Jeans und ein ACDC-T-Shirt. Ihr Mann, ein Australier, war etwas übergewichtig, mit Vollbart und Rockeroutfit. Er saß mit den beiden Kindern auf der anderen Seite des Ganges. Scott war übrigens auch ein großer Gin-Tonic-Fan. Sie kamen aus Karlsruhe und in den vier Stunden Flugzeit tauschten wir unsere Lebensgeschichten aus.

Es war ein sehr entspannter Flug und die Kleine fühlte sich bei Tamara auf dem Schoß gleich wohl, so dass ich kurz aufs WC konnte. Während ich in der Flugzeugtoilette meine Hände wusch, kam kurz Panik auf. War es verantwortungslos, meine Kleine bei fremden Leuten zu lassen und einfach auf die Toilette zu verschwinden? Ich beeilte mich, schnell wieder zurückzukehren. Lilly saß auf dem Schoß von Tamara und lachte.

Ich atmete durch. Man musste auch manchmal auf seinen Instinkt vertrauen und der Welt ein bisschen mehr Vertrauen schenken. Kurz nach der Landung auf Teneriffa tauschten wir Nummern aus und am Gepäckband verabschiedeten wir uns wie alte Freunde.

Es war mittlerweile 16.30, ich nahm mir ein Taxi zum Hafen von Los Christianos, von wo aus ich mit der Fähre nach San Sebastian de la Gomera weiterfahren wollte. Von dort wollte ich dann mit dem Bus ins Valle Gran Rey, dem Tal des großen Königs, wo ich eine Ferienwohnung gemietet hatte.

Am Hafen angekommen, kaufte ich uns ein Ticket und wir setzten uns bis zur Abfahrt in ein Café direkt am Hafen, mit Blick auf das Meer und die ankommenden Schiffe. Ich schickte eine kurze Nachricht an meine Mama, dass wir es fast geschafft hatten. Auch wenn sie es vermutlich nicht zugegeben hätte, aber ich wusste, dass sie nach jedem Flug über eine kurze Nachricht von mir sehr froh war. Als Flugbegleiterin hatte ich schon viele Flüge hinter mir, dennoch war meine Mama jedes Mal froh, wenn ich mich meldete.

Auf der Terrasse des Cafés saßen zwei Deutsche, Harry und Sylvia. Sie hatten schon ein paar Stunden zusammen dort gesessen und eine Cerveza Grande nach der anderen getrunken. Harry war schon bei ungefähr zwei Promille angekommen, seine Augen waren rot unterlaufen, er schwankte, seine Sprache war verwaschen und seine Reaktionen kamen ziemlich verzögert.

„Hör mal, junge Dame! Mit der süßen Kleenen da, haste nicht ein wenig Kleingeld für einen obdachlosen Landsmann?“, schrie er mir entgegen.

Wie ein Obdachloser sah Harry allerdings gar nicht aus: Er war groß, braun gebrannt, trug ein schwarzes Poloshirt und eine Jeans, hatte einen frischen Haarschnitt und neue Nike-Turnschuhe. Nur sein Gesicht wirkte von Alkohol und Tabak gezeichnet. Er hatte dicke Tränensäcke und tiefe Falten. Er sah ausgelaugt aus und auch älter, als er vermutlich war. Allerdings waren seine Zähne gerade und einigermaßen weiß, und sauber war er auch.

Trotzdem beharrte er darauf, Obdachloser zu sein. „Ich komme gern mit dir nach La Gomera, wenn du keinen Mann hast und Hilfe brauchst!“, bot er mir an.

Ich log und behauptete, auf La Gomera würde mich mein Mann in Empfang nehmen.

Sylvia, die Harrys Getränke bezahlte, war ungefähr sechzig Jahre, hatte lange, rotblonde Haare, die sie mit einer großen schwarzen Holzspange hochgesteckt hatte. Sie trug ein langes, blaugelb gebatiktes Kleid und viele silberne, rote und grüne Armreifen sowie eine lange bunte Kette um den Hals. Ihre Haut hatte tiefe Falten und war tief braun, ihre Stimme war rau und heiser. Sylvia erzählte mir, dass sie auf La Palma lebe und gleich auch dieselbe Fähre nehmen würde, nur, um noch eine Insel weiterzufahren.

Auch sie näherte sich den zwei Promille und erklärte: „Ich trage seit einigen Jahren keine Schuhe mehr, du solltest das auch mal ausprobieren. Einfach keine Schuhe mehr tragen und dein Leben verändert sich schlagartig.“

„Inwiefern, abgesehen von mehr Hornhaut?“, fragte ich lächelnd.

„Du wirst schon sehen!“, sagte sie mit leicht verwaschenem Grinsen und streichelte mir über den Oberarm. Als Harry zur Toilette ging, fragte ich sie: „Ist er wirklich obdachlos?“

„Sicher weiß ich das nicht, aber ich treffe ihn jedes Mal, wenn ich aus Deutschland anreise. Er sitzt hier jeden Tag und nimmt die ‚Stammdeutschen‘ in Empfang, in der Hoffnung, sie hätten etwas Geld für ihn.“

Ein wenig später trudelte dann tatsächlich die größte Fähre ein, die ich bis dahin gesehen hatte. Mittlerweile war es 18:00. Ich gab unseren Backpack auf und suchte uns auf der Fähre ein schönes Plätzchen auf dem Außendeck. Das Abendbrot im Bordcafé bestand aus einem Sandwich und Mineralwasser. Außer mir waren auch zahlreiche andere Deutsche mit an Bord.

Lilly war ganz aufgeregt, auf einem Schiff zu sein, und schaute fasziniert aufs Wasser. Es tat uns beiden einfach nur gut, das Meer und die frische Luft, nach so einem anstrengenden Tag. Wie sagt man: Alles wird besser, wenn man am Meer ist. Die guten Gefühle verstärken sich und die schlechten lassen nach.

Der Atlantik allerdings war an dem Tag recht rau. Die Wellen klatschten gegen das große Passagierschiff, nach ungefähr einer halben Stunde Fahrt wurde es auf einmal so windig, dass wir hineingehen mussten. Eine weitere halbe Stunde später hockte ich mit einer Kotztüte in der Hand im Sessel. Mir ist selten so übel gewesen und ich fragte mich, warum mir so schlecht wurde, auf einem so großen Schiff?

Mein Handy klingelte. Es war Wolfgang, mein Airbnb-Host. „Ihr habt es jetzt ja bald geschafft! Du musst nur noch eine Stunde warten und dann kommt schon die nächste Fähre, die um die Insel herum zum Valle Gran Rey fährt. Ist aber nur eine kleine Fähre, da wird dir sicher nicht schlecht.“

Okay, ich brauchte kurz, um das sacken zu lassen. „Noch eine Fähre? Und noch eine Stunde warten? Wir sind bereits seit zehn Stunden unterwegs!“ Lilly war mittlerweile in der Trage eingeschlafen.

Puh, noch mal eine Stunde warten und dann noch eine Stunde und zehn Minuten Fähre fahren. „Was kostet denn ein Taxi über die Insel, direkt von San Sebastian nach Valle Gran Rey?“, wollte ich wissen.

„Wie kommst du denn auf so eine Idee? Das kann doch kein Mensch bezahlen!“, rief Wolfgang durchs Telefon. Er sprach sehr schnell und lispelte dabei. Wenn Menschen lispeln, sind sie mir automatisch sympathisch, weil ich das absolut niedlich finde.

Ich versprach Wolfgang, mich zu melden und wir legten auf. Ich ärgerte mich, dass ich so schlecht recherchiert hatte. Ich hatte irgendwas von einem regemäßigen Shuttlebus ins Valle Gran Rey gelesen und mir gedacht, da wird sich schon entspannt was finden.

Endlich am Hafen angelegt, steuerte ich auf das erste Taxi zu, um mit meinem eingerosteten Spanisch zu fragen, wie lange die Fahrt ins Valle Gran Rey dauern und was es kosten würde.

Die Antwort war: „Sesenta Euros por sesenta minutos.“ Also 60 Euro für sechzig Minuten Fahrt. Nehme ich! Hauptsache kein Schiff mehr und nicht noch einmal eine Stunde warten. Die nächste Fähre hätte am Abendschalter auch 40 Euro gekostet, also würde mich das Taxi finanziell jetzt nicht völlig ruinieren.

Die Fahrt ging herrliche Serpentinen entlang quer über La Gomera. Ich konnte die Aussicht aber nicht so recht genießen, denn mein Magen überschlug sich und wusste nicht, was er schlimmer fand, Auto oder Schiff. Dennoch sah ich einen wunderschönen Sonnenuntergang über der Steilküste. Die Kleine schlief friedlich die ganze Fahrt über.

Endlich kamen wir am Ferienhaus Camino el Entullo an. Es war mittlerweile fast 22.00 Uhr.

Wolfgang empfing mich mit den Worten: „Hallo, ihr beiden! Was eine Tour, was? Jetzt seid ihr im Paradies!“

Dann schob er mit einer Schubkarre meinen Backpack den Weg zur Finca hinauf. Gott sei Dank, nicht mehr tragen!

Und oben zeigte uns Wolfgang ein wunderschönes, kleines Steinhäuschen unter Mango- und Orangenbäumen mit Blick aufs Meer. Das Meer konnte ich allerdings nicht sehen, da es schon dunkel war. Aber ich konnte es hören. Und ich konnte es riechen und die salzige Luft schmecken. Und trotz der Dunkelheit konnte ich auch den wilden Garten um mich herum bis zum nächsten Häuschen erahnen. Außerdem hörte ich spanische Musik aus der Ferne.

Meine Seele entspannte sich und ich fühlte mich schlagartig gut, trotz aller Müdigkeit.

„Ich habe noch etwas zu essen für dich gekocht, wenn du soweit bist, komm einfach gerade nach nebenan zu meiner Hütte“, sagte Wolfgang und ließ mich allein.

Meine Tochter schlief weiterhin selig in der Trage. Ich machte mich etwas frisch und lief dann einen kleinen, beleuchteten Steinweg hoch und sah das Licht von Wolfgangs Hütte. Überall flitzten kleine Geckos herum.

Diese Hütte war ebenfalls ein Traum: etwas alternativ dekoriert, viele bunte Tücher über dem Sofa und an den Wänden. Die Möbel bestanden aus hellem Holz, auf dem Boden lagen bunte Teppiche und in den Regalen standen viele große Edelsteine.

Wir setzten uns nach draußen auf die Terrasse und Wolfgang servierte mir grüne Spätzle mit Mangos. Das hatte ich in der Kombination noch nie gegessen, aber es war sehr lecker!

Während ich aß, erzählte Wolfgang von sich: „Ich bin 64 Jahre alt und meine Frau Anita, mit der ich das hier zusammen mache, ist gerade in Deutschland, die lernst du aber bald noch kennen. Wir sind getrennt, aber noch Freunde und Teampartner. Ich hoffe allerdings drauf, dass das Ganze mit uns noch mal was werden wird. Drei Jahre waren wir nun getrennt und nach fünf Jahren werde ich es noch mal bei ihr versuchen. Momentan habe ich aber auch noch eine jüngere Freundin auf Gran Canaria. Aber du, Liebe ist das nicht, aber man(n) muss sehen, wo man bleibt, nech?“

Männer, dachte ich. Alle gleich. Trotzdem mochte ich seine Art sehr und fand ihn auf Anhieb lustig und sympathisch.

Zurück in unserer Hütte, legte ich die Kleine in unser Bett auf der Wandseite. Ich räumte schnell den Inhalt des Backpacks in den Schrank und beschloss, weil die Kleine ruhig schlief, noch schnell eine kurze Dusche zu nehmen. Das tat so gut nach der langen Reise.

Die Dusche war wunderschön, gefliest mit unregelmäßigen schwarzen und brauen Steinen. Es wirkte, als wären die Steine alle selbst gesammelt und eigenhändig im Badezimmer angebracht worden.

Draußen war es mittlerweile sehr laut. Es war Fiesta im Valle und die schrille Livemusik schallte bis zu mir hoch auf die Finca.

Nach der Dusche schlief ich gegen Mitternacht erschöpft neben der Kleinen ein. Um zwei Uhr nachts wachte sie mit einer dicken Schnupfennase wieder auf. Bis wir beide wieder eingeschlafen waren, war es halb vier Uhr morgens. Und die Fiesta war immer noch in vollem Gange.

TAG 2

Wir wachten gegen 8:00 Uhr am nächsten Morgen auf. Die Kleine schien etwas irritiert zu sein, wo wir auf einmal waren. Also zeigte ich ihr erst mal alles, unsere Unterkunft, den Blick aufs Meer und das Frühstück. Sie war ganz aufgeregt, weil es so viel Neues zu erkunden gab. Sie war fröhlich wie immer, schien aber eine Erkältung bekommen zu haben. Ihre Nase lief und ihre Äuglein tränten etwas.

Wolfgang hatte mir zwei Scheiben frisches Brot, Butter und Marmelade in den Kühlschrank gelegt. Wir hatten zwar Marmelade den ganzen Weg hierher mitgeschleppt, Omas Marmelade war einfach die beste und die Maus liebte sie, aber die Fürsorge des Wirtes rührte mich.

Wolfgang gab uns auch Spielzeug für den Strand, einen Eimer, eine Schaufel, eine Harke und verschiedene kleine Förmchen, die von Familien stammten, die hier gewesen waren und die Sachen nicht mit zurückgenommen hatten. Lilly freute sich sehr drüber. Einen Sonnenschirm bekamen wir auch.

Danach machten wir uns auf zum Strand. Der freie Blick aufs Wasser löste ein Gefühl der Freiheit in mir aus. Der Strand war schmal und lag zwischen Meer und einer langen Steinmauer. Dahinter führte eine Straße bis zum Hafen vom Valle Gran Rey. Ich musste den Hauptstrand verfehlt haben, denn dort, wo wir uns niederließen, waren nur noch wenige Leute und es gab keine Liegestühle oder Schirme, die man hätte anmieten können. Die Leute lagen auf Handtüchern, Klappstühlen oder in Strandmuscheln, wenn sie Schutz vor der Sonne brauchten. Es war immer noch schön und sehr ruhig, aber ich hatte gehofft, dass es für die Kleine etwas zum Angucken geben würde.

Lilly fand den Strand allerdings einfach super. Der Sand war schwarzer, pudrig feiner Vulkansand, der tatsächlich in jede Ritze unserer Körper eindrang.

Irgendwann wurde sie müde und ich versuchte sie in das Minizelt zu legen, dass wir von meiner Freundin Rosie geliehen hatten. Ich kannte sie aus einem Yogacamp für Schwangere und würde hoffentlich im Laufe dieser Reise noch mal bei ihr vorbeischauen. Das Minizelt sah ein wenig aus wie eine Strandmuschel und man warf es einfach hin und schon stand es von allein.

Doch immer, wenn die Kleine in meinem Arm eingeschlafen war und ich sie in das Zelt legte, in der Hoffnung, ich könnte dann mal eine Runde schwimmen gehen, wachte sie auf und schrie. Zweimal versuchte ich es, aber beide Male war sie sofort wieder wach und fing bitterlich an zu weinen.

Sie schlief ein drittes Mal auf mir ein, wollte dann aber auch genau dort liegen bleiben. Und so dösten wir zusammen unter Wolfgangs Sonnenschirm am Strand und genossen das Meeresrauschen.

Die Mittagssonne brannte. Irgendwann konnte ich sie dann doch in den Schatten aufs Handtuch legen, um eine Runde ins Wasser zu springen. Warum auch immer, ich beschloss, den Obenohne-Trend hier auf La Gomera mitzumachen und sprang einfach so ins Wasser.

Als Lilly wieder wach war, gingen wir zusammen ins Wasser, aber die Wellen waren zu hoch und sie begann zu frieren.

Wir verbrachten einen herrlichen, entspannten Tag am Strand, backten Sandkuchen, genossen die Sonne und brachen erst am späten Nachmittag auf. Zurück in der Finca nahmen wir eine dreißig Minuten lange Dusche, um den Sand abzubekommen. Danach aßen wir zusammen fünf kleine Mangos, die Wolfgang uns gegeben hatte.

Anschließend bummelten wir gemütlich durch das Valle und stellten bald fest, dass die meisten Menschen hier Deutsche waren. Die Ladeneigentümer, die Touristen, die Einwohner, es gab viele Aussteiger, die sich hier eine neue Existenz aufgebaut hatten.

Wir liefen bis zum Ende der Hafenpromenade, auf eine lange Steinmauer zu. Dort saßen einige Leute und schauten auf das Meer. Die Mauer wurde in der Mitte von einem riesengroßen Baum mit breiten Wurzeln unterbrochen, auf dem ein paar Kinder herumkletterten. Hinter der Mauer, auf der Seite zum Meer hin, ragten große Felsen aus dem Wasser, auf denen ein paar Angler saßen und ihre Ruten ins Wasser warfen.

Es war ein herrlicher Blick. Die hüfthohe Mauer war so breit, dass sie uns förmlich einlud, uns zu setzen und den weiten Blick auf den Atlantik zu genießen.

Nachdem ich den Ausblick einige Zeit genossen hatte, beschloss ich im ansässigen Sparmarkt noch ein paar Lebensmittel für das Abendessen und mein Lebenselixier, ein paar Flaschen Sprudelwasser, zu besorgen.

Wieder auf der Finca angekommen realisierte ich, dass ich 50 Euro verloren hatte, die durch ein Loch in der Gesäßtasche gefallen sein mussten. Wir liefen also noch einmal den ganzen Weg zurück, was Lilly gar nicht gefiel, und in dem Moment, als ich ihr erklärte, warum wir nach den 50 Euro Ausschau halten mussten, sah ich das Geld unangetastet auf dem Boden liegen.

Ich konnte mein Glück kaum fassen und dankte dem lieben Gott von ganzem Herzen.

Auf dem Rückweg kam uns ein Mann entgegen. Wir hatten ihn kurz vorher im Supermarkt gesehen. Er sagte mir, dass die Sonnenmütze der Kleinen noch im Supermarkt liege. Wir liefen also noch mal zurück und tatsächlich – ich hatte nicht bemerkt, dass die Maus sich zum hundertsten Mal die kleine Mütze ausgezogen und sie einfach auf den Boden geworfen hatte.

Ich hatte den bisherigen Tag Handypause gemacht und zurück in der Finca war ich richtig stolz auf mich. Trotzdem hatte ich sehr viel an den Vater meines Kindes und an unseren Abschied gedacht. Als ich das Handy nun anschaltete, bemerkte ich, dass er sich mehrfach gemeldet hatte.

Es war wirklich so, wie ich kurz zuvor bei einem Blogger gelesen hatte: Du kannst alles haben, was du willst, wenn du es nicht willst. So ohne Handy und Menschen, die ich kannte, stellte ich fest, dass ich mit meinen Gedanken ganz schön allein war.

Auf einmal hörte ich jemanden singen. Neugierig sah ich mich um. Und da war sie, eine mittelalte Frau mit einem Wäschekorb in den Händen.

„Hallo“, sagte sie freundlich und kam auf mich zu. „Ich bin Evelyne. Deine Nachbarin. Ich vertrete Wolfgang und Anita, wenn sie beide in Deutschland sind.“

Evelyne war mir auf Anhieb sympathisch. Sie hatte ein offenes Lächeln, lange blonde Haare, war braun gebrannt und trug ein bunt gebatiktes Tuch, unter den Achseln zusammengeknotet. Darunter trug sie einen Bikini.

„Freut mich sehr, dich kennenzulernen! Das ist meine Tochter Lilly und ich bin Rebekka“, stellte ich mich vor.

„Herzlich willkommen! Wenn ihr irgendwas braucht, sprich mich gerne jederzeit an. Einen frischen Kaffee bekommst du bei mir auch immer.“

Wahnsinn, wie lieb hier alle waren, dachte ich mir.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit meiner Tochter, weiterhin ohne Mobiltelefon. Immer und immer wieder sah ich sie an. Sie war so unglaublich süß und einfach das wundervollste Geschöpf auf der Welt. Ich liebte alles an ihr, ihre kleinen Hände, die goldigen kleinen Füßchen, das liebe kleine Gesicht, und auch die zarten dunkelblonden Kringellöckchen. Sie hatte meine blaugrauen Augen geerbt. Ich dankte Gott wirklich jeden Tag dafür, dass er sie mir geschenkt hatte.

Ich war fix und fertig, wegen der Hitze und weil ich den ganzen Tag meine Tochter herumgetragen hatte. Es war Abend, aber die Kleine wollte nicht schlafen und schrie wie am Spieß. Ich packte sie also wieder in die Trage und lief in der Finca auf und ab. Nach gefühlten zehn Kilometern Laufen schlief sie endlich ein.

Erneut fragte ich mich, ob die Reise das Richtige gewesen war. Ich fühlte mich gemein, weil ich so ungeduldig war. Ich war immer noch fertig von der Herreise und ratlos, was ich hier eigentlich wollte.

Ich beschloss, mir etwas zu kochen. Ich hatte Nudeln gekauft und wollte Zucchini in Sahnesauce anbraten. Von Wolfgang hatte ich außerdem eine halbe Flasche Weißwein geschenkt bekommen. Mit einem Gläschen weißem Rioja und meinem Essen setzte ich mich gemütlich auf die Terrasse, nippte an meinem Weißwein und lauschte den Geräuschen um mich herum.

Einmal richtig schlafen würde mir sicher guttun, denn dann sähe die Welt auch schon wieder ganz anders aus. Also wusch ich ab, ging ins Schlafzimmer, putzte mir die Zähne und fiel erschöpft zur Maus ins Bett.

Ich war gerade eingeschlafen, da wurde die Kleine wieder wach. Es war 23:00 Uhr und ich war vollkommen erschöpft. Hinzu kam, es war immer noch Fiesta im Valle Gran Rey, also war es unglaublich laut, dazu heiß und schwül.

Trotzdem packte ich sie wieder in die Trage und lief in der Finca umher. Nach einer Weile fing ich an, wie ein Schlosshund zu heulen. Ich wurde innerlich sogar sehr aggressiv. Ich fragte Gott, was ich hier machte und ob das alles in seinem Sinne war, warum die Kleine einfach nicht schlafen wollte und warum ich gedacht hatte, dass es eine gute Idee war, mit einem Baby allein durch die Gegend zu reisen.

Meine Antwort sollte ich schnell bekommen. Ich sah hinauf zum Himmel. Die Tränen liefen mir nur so über die Wangen und plötzlich sah ich einige Sternschnuppen. Ich wünschte mir auch ein paar schöne Dinge, aber in erster Linie merkte ich, wie ich innerlich ruhiger wurde.

Ich fühlte mich „erhört“, nicht mehr so allein. Ich sah nach unten zum Baby vor meiner Brust, und es war eingeschlafen. Sanft bettete ich Lilly in die weichen Kissen, legte mich dazu und schlief erschöpft, aber dennoch erleichtert ein.

TAG 3

Meine Tochter weckte mich gegen acht Uhr mit einer Mischung aus Quengeln, Ins-Gesicht-Kneifen, Herumwälzen und auf meinen Bauchrollen. Ich fühlte mich immer noch wie gerädert.

Wir hatten beide großen Hunger und schlangen das selbst gebackene Brot von Wolfgang gierig hinunter. Danach machten wir uns auf, neues Brot und noch ein paar andere Lebensmittel einzukaufen.

Es gab neben dem Sparmarkt nur noch eine deutsche Bäckerei im Valle. Wir bekamen aber alles, was wir benötigten. Zurück in der Finca, kam uns auch schon Wolfgang entgegen: „Ich habe da was für euch!“

Er nahm uns mit zu einer Art Garage und zog aus einem Haufen Gerümpel einen alten Kinderwagen hervor. „Dieser Wagen gehörte vor einigen Jahren mal einem jungen Paar, das ebenfalls Urlaub hier gemacht hat. Sie haben ihn aber aus irgendeinem Grund nicht wieder mit nach Hause nehmen können. Den kannst du gerne für die Zeit hier haben.“

Ich entstaubte und säuberte den Wagen, so gut ich konnte. Es gab keinen Anschnallgurt und lenken konnte man ihn auch nicht mehr richtig. Aber ich würde meinen Rücken mal ein wenig entspannen können, wenn ich die Kleine nicht die ganze Zeit durch die Sonne tragen musste.

Mit Kinderwagen, Eimer und Schäufelchen machten wir uns auf zum Strand, diesmal zum sogenannten „Babybeach“. Es war ein sehr entspanntes Baden, keine Wellen und flaches Wasser, sodass die Kleine herumkrabbeln konnte und viel Spaß hatte. Zum Glück war es an diesem Tag nicht ganz so heiß, sodass wir ein paar entspannte Stunden dort verbrachten.

Leider waren wir auch völlig allein, sodass ich, während die Kleine vor sich hin plantschte, wieder viel zum Nachdenken kam, und das obwohl ich das Handy im Flugmodus hatte.

Ich hatte Kai kurz nach meinem ersten Flug als Flugbegleiterin – es ging nach Rio de Janeiro – kennengelernt: den Mann, der mein Leben komplett auf den Kopf stellen sollte. Tanja eingefleischte Frankfurterin und meine neue Freundin, entführte mich ins kulinarische Leben der Stadt, mit der Aussicht auf anschließendes Barhopping. Da Tanja halb Frankfurt kannte, war es nie langweilig in eine Bar zu kommen. Ich lernte an diesem Abend viele Leute kennen.

Unter ihnen war auch Kai. Er war nicht wirklich interessiert an mir als Frau, aber auch nicht unfreundlich. Er fragte Tanja und mich, was wir gerade so lebenstechnisch machten, und wir erzählten von unserem frisch beendeten Lehrgang zur Flugbegleiterin.

Er verdrehte die Augen, faselte irgendwas vom Wetterdienst und wandte sich anderen Dingen zu.

Kurz danach erzählte mir sein Freund Tobi, dass Kai bei derselben Fluggesellschaft arbeitete wie Tanja und ich. Was für ein Zufall aber auch! Von dem Moment an war die Stimmung zwischen uns verändert, irgendwie noch distanzierter. Trotzdem war ich neugierig auf diesen verschlossenen Menschen. Er strahlte etwas aus, das mich anzog wie die Motte das Licht. Wir zogen weiter in eine andere Bar, irgendwann brachen alle auf, nur wir zwei blieben übrig.

Wir schlenderten ziellos durch die Gegend. Ich kaufte uns am Nachtkiosk ein Bier und wir setzten uns auf eine kleine Bank. Ich saß auf seinem Schoß. Er fragte mich, was ich vom Leben wollte. Es wurde sehr philosophisch und ich sah ihn an, um uns herum Rasen und Park, irgendwo lief der Rasensprenger, und ich sagte: „Auf jeden Fall möchte ich irgendwann mal so richtig leidenschaftlich, filmmäßig lieben und genauso endlos zurückgeliebt werden. So bedingungslos, mit allem Drum und Dran.“

Ich dachte, bestimmt hält er mich für eine romantische, naive, möchtegernphilosophische Stewardess, die null Ahnung von der Welt hat.

Doch er reagierte vollkommen unerwartet. Er stand auf, ließ mich vorsichtig zu Boden gleiten, schwang mich über seine Schulter und lief los in Richtung Rasensprenger. Er setzte mich davor ab, nahm meinen Kopf in die Hände und küsste mich. Das war, glaube ich, mit Abstand der schönste Kuss, den ich je erlebt habe.

Lilly kreischte und ich war wieder auf La Gomera. Und mit mir der Herzschmerz.

Ich wollte doch Urlaub machen, ich wollte mich doch so wenig wie möglich mit all dem auseinandersetzen und lieber erst mal alles ausblenden! Alles vergessen, was mich an zu Hause erinnerte.

Also machten wir uns zur Mittagszeit auf, um etwas zu essen und ein Nickerchen zu machen. Danach hatte ich Lust auf ein Eis, also bummelten wir ein wenig durchs Valle Gran Rey. Auf der Promenade gab es ein paar Restaurants mit Blick auf den Strand und kleine Geschäfte, die Schmuck, Kleider und Strandutensilien verkauften. Überall standen Palmen, der Boden war mit großen, roten Steinen gefliest und die Sonne brannte vom Himmel. Ich schleckte mein Eis, die Kleine unterhielt die Menschen auf der Promenade und lief viele, viele Schritte allein. Sie brachte alle zum Strahlen und so viele liebe Menschen wollten sie am liebsten knuddeln und hochheben.

Im letzten Restaurant trafen wir schließlich auf meine Nachbarin Evelyne und ihre Freundin Almuth. Die beiden Frauen tranken gerade einen Prosecco und wirkten zufrieden. „Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?“, fragte Evelyne.

Es fühlte sich gut an, und so setzte ich mich mit der Maus auf dem Schoß an den Tisch.

Evelyne stellte uns gegenseitig vor. Almuth war eine sehr sympathische, extrovertierte Frau, die ich auf Mitte fünfzig geschätzt hätte. Sie hatte eine kräftige Figur, nicht dick, aber auch nicht schlank, sondern eher kurvig. Und sie wirkte sehr gesund, sie strahlte etwas Glückliches aus. Sie hatte lange blonde Haare, ein braun gebranntes Gesicht mit vielen Sommersprossen und trug ein Batikkleid in grün, gelb und orange. Ihre Nase war recht groß, aber das Lächeln so groß und herzlich, dass ich mich ihr direkt anvertrauen und von ihren Lebenserfahrungen profitieren wollte.

Und sie fragte mich dann auch direkt, wie es mir ginge. „Wann seid ihr denn auf der magischen Insel angekommen und was sagt ihr?“

Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, irgendwie fühlte ich mich schlapp und unwohl. Also versuchte ich genau das zu beschreiben. Außerdem erzählte ich eine Kurzversion meiner Geschichte mit Kai und Lilly.

Ich musste etwas depressiv gewirkt haben, denn Almuth lehnte sich zurück und breitete die Arme aus.

„Bekki, darf ich Bekki sagen, diese Insel hat eine ganz besondere Energie. Warum stresst du dich denn selbst so? Hast du gedacht, du kommst an und hast eine Lösung? Chill mal. Die meisten Menschen, die hier ankommen, werden erst mal krank. Also meistens eine Erkältung, trotz des warmen Klimas, weil die Insel hat eine heilende Energie, die erst mal alles Schlechte aus dir rauszieht.“

Almuth war in ihren frühen Zwanzigern ebenfalls Flugbegleiterin gewesen, bei derselben Airline wie ich. Sie hatte in dieser Zeit eine Tochter mit einem Amerikaner bekommen, den sie auf ihren Reisen kennengelernt hatte. Sie waren lange befreundet, bevor dann körperlich etwas passierte. Sie war von Anfang an allein mit ihrer Tochter, denn außer Freundschaft hielt die beiden nichts beieinander. Als ihre Tochter neun Wochen alt war, ging Almuth für eine längere Zeit nach Hawaii. Dort lernte sie einen Brasilianer kennen und bekam noch eine Tochter. Aber auch diese Beziehung hielt nicht und sie war mit beiden Kindern auf sich gestellt.

Inzwischen lebten die Töchter, beide verheiratet, in Kalifornien, und wie Almuth sagte, waren alle drei noch immer eng miteinander verbunden und organisierten regelmäßig Tanzfestivals auf Bali und in vielen anderen Ländern. Außerdem gehörte allen drei ein Tanzcamp an der Ostsee.

Diese beiden Frauen, Evelyne und Almuth, inspirierten mich. „Du musst loslassen“, sagte Evelyne. Ich erzählte viel von mir und es war wirklich eine sehr schöne Begegnung, die mir Kraft gab. Trotz der Kleinen, die meine Lieblingsgesellschaft war, hatte ich mich in den letzten beiden Tagen ein wenig einsam gefühlt. Ich war mit meinen Gedanken so allein gewesen.

Doch nun ging es mir besser, und abends schien meine Tochter meine entspannte Stimmung direkt zu merken, denn sie schlief happy in der Trage ein.

TAG 4

Morgens wachten wir trotz der Hitze entspannt auf. Wir kuschelten uns gegenseitig hellwach und lachten uns an. Nichts machte mich glücklicher, als morgens von meiner kleinen Maus angestrahlt zu werden.

Ich zog erst mich, dann die Kleine an, und wir brachen direkt zu einem kleinen Morgenspaziergang Richtung Promenade auf, um einen Cappuccino und ein Brot zu kaufen.

Danach frühstückten wir entspannt in der Finca, allerdings bekam ich eine kurze Panikattacke, weil ich wieder gedanklich beim Vater meiner Tochter war.

Von Anfang an war es mit uns auf und ab gegangen. Kai war ein Mann, der absolut nicht wusste, was er wollte, in den ich aber trotzdem bis über beide Ohren verliebt war.

Nur ein paar Monate nach dem ersten Kuss kamen wir zusammen, aber es stellte sich schnell heraus, dass er sich immer noch nicht ganz klar darüber war, was er wollte, mit wem alles und ob er nicht trotzdem noch die Augen aufhalten sollte, was es sonst noch so auf der Welt gab. Ich beendete die Beziehung schließlich und fing an, mich wieder ins Partyleben rund um die Welt zu stürzen. Mein Herz hing trotzdem weiterhin an ihm.

Ich starrte in die Ferne aufs Meer. Ich wollte nicht wieder nach Hause fliegen, ohne dass sich etwas geändert hatte. Ich wollte nicht wieder jedes Mal hoffen, dass er etwas Liebes zu mir sagte, wenn er die Kleine abholte oder brachte.

Es war so anstrengend für mich, dass ich immer noch so unter der Trennung litt und mich schwach und armselig fühlte, während er mich innerhalb kürzester Zeit gegen eine neue Freundin ausgetauscht hatte und nun sein „Happy-Life“ lebte.

Mit der Kleinen war ich doch auch happy. Ich wollte einfach damit „durch“ sein und vom Liebeskummer geheilt in mein Leben zurückkehren.

Um mich abzulenken, überlegte ich, was wir heute Schönes anstellen könnten. Ich ging die ausliegenden Prospekte durch. Warum eigentlich keine Whale-Watching-Tour? Das Wetter war herrlich und ich hatte Lust, diese wunderschönen Tiere zu sehen.

Ich rief kurz bei einer Gesellschaft an und fragte, ob es noch Plätze für eine Erwachsene und ein Baby gäbe. Eine sehr freundliche Frau sagte mir, dass es noch einen Platz auf einer Tour in zehn Minuten gäbe, ansonsten erst wieder morgen. Doch ich wohnte direkt im Valle und brauchte zu Fuß bestimmt zwanzig Minuten bis zum Hafen.

„Das ist kein Problem, dann warten wir gerne auf euch.“

Diese Freundlichkeit überall auf der Insel war wunderbar. Ich versprach, mich sofort auf den Weg zu machen, packte schnell unseren Rucksack und ein paar Minuten später liefen wir eilig Richtung Hafen.

Die Whale-Watching-Tour kostete 40 Euro und wurde mit einem sehr schönen Glasbodenboot durchgeführt, das mit unterschiedlichen Ebenen ausgestattet war. Der Bug war natürlich vollgestopft mit meist deutschen Touristen, die alle in freudiger Erwartung ihre Handys über den Ozean hielten. Hier würde ich gar nichts sehen können, also versuchte ich mein Glück auf dem oberen Deck. Dort hörte ich ebenfalls fast nur deutsche Touristen, aber es gab noch einen freien Platz, auf den ich mich setzen konnte.

Eine der Touristinnen sprach mich an. Sie hätte nicht neugieriger sein können, und als es dann hieß „Ja, und dein Partner? Bist du ganz alleine oder gibt es keinen Papa dazu?“, log ich das Blaue vom Himmel herunter. Es war, als würde sie mich röntgen und irgendwie hatte ich das Gefühl, von den vielen Menschen angestarrt zu werden, so allein mit einem einjährigen Kind vor der Brust.

Die Tour war fast vorbei, aber bisher war kein Wal oder Delfin zu sehen gewesen. Die Maus wurde langsam müde. Sie wirkte sehr ruhig, dennoch wollte sie aus der Trage heraus. Ich hatte sie gerade auf den Arm genommen, als jemand schrie: „Seaturtle!“ Und so schnell sie an die Oberfläche geschwommen war, so schnell war sie auch schon wieder weg.

Auf einmal wurde es warm in meinem Dekolletee. Die Kleine hatte mich, sich selbst und die Trage komplett vollgebrochen. Selbst meine Haare hatte sie erwischt. Das arme Kind vertrug offenbar die schaukelnden Wellen gar nicht.

Ich setzte mich an die Seite, um uns mit Hilfe von Papiertüchern, die mir einer der Bootsführer reichte, sauber zu machen. Ich war in großer Sorge. Und genau in diesem Moment tauchten aus dem Nichts zwanzig Delfine auf und tanzten und sprangen durchs Wasser.

Im ersten Moment hatte ich gar keinen Kopf dafür, weil ich wirklich etwas Angst hatte. Es war so heiß und die Kleine hatte bisher noch nie gespuckt, außer während des Stillens. Und jetzt gleich wie eine Erwachsene.

Doch als alles raus war, lachte sie mich wieder an. Ich war erleichtert. Als wir wieder einigermaßen trocken waren und ich meine nach Erbrochenem riechenden Haare hochgebunden hatte, sahen wir sogar noch ein paar der gepunkteten Delfine. Die Maus hatte ihre große Freude daran.

Danach zogen wir uns in den hinteren Teil des Bootes zurück, damit sich der Magen der Kleinen etwas beruhigen konnte.

Wenig später hielten wir für einen Badestopp an und ich hatte der Kleinen schon ihren Lycraanzug angezogen, doch es war zu kalt und zu tief. Da bot die Tourleiterin mir an, die Kleine zu halten, damit ich mich kurz erfrischen konnte.

Ich sprang also kurz allein rein und setzte mich danach mit Lilly zum Mittagessen. Es gab einen sehr leckeren Salat mit frischem, in Knoblauch gebratenem Thunfisch. Mit der einen Hand aß ich, mit der anderen hielt ich die Maus, die auf meinem Schoß stand und mit viel Appetit eine Pellkartoffel verspeiste.