Loslassen und fliegen - Henri J. M. Nouwen - E-Book

Loslassen und fliegen E-Book

Henri J. M. Nouwen

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  • Herausgeber: Neufeld Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Im unvollendeten, letzten Buchmanuskript von Henri Nouwen geht es um seine inspirierende Begegnung mit den Flying Rodleighs – renommierten Trapez-Artisten, die er in Freiburg im Zirkus Barum erstmals erlebte. War es die tiefe Sehnsucht, vollkommen frei und vollkommen sicher zu sein, die diese Künstler in Henri Nouwen anrührten? Er begleitete die fünf im Wohnmobil auf ihren Auftritten durch Deutschland. Und er arbeitete an einem Buch, das er für sein wichtigstes hielt, jedoch nicht vollendete ... Henri Nouwens Freundin und Kollegin Carolyn Whitney-Brown präsentiert nun erstmals seine unveröffentlichten Trapez-Schriften, eingerahmt von der wahren Geschichte, wie Nouwen während eines Herzinfarkts von Rettungssanitätern und der Feuerwehr durch ein Hotelfenster geborgen wurde. "Die folgenden zehn Minuten schenkten mir einen Einblick in eine Welt, die mir bisher verschlossen gewesen war – in eine Welt der Disziplin und Freiheit, der Unterschiedlichkeit und Harmonie, des Risikos und der Sicherheit, der Individualität und Gemeinschaft, und vor allem des Fliegens und Fangens." Henri Nouwen "Keine Frage, dass Fliegen, Fallen und Fangen ungewöhnliche Lehrer für Henri Nouwen waren, dessen klare Vorlieben Sicherheit, Stabilität und Gehaltenwerden waren! Ich hoffe und vertraue darauf, dass Sie als Leserinnen und Leser Henri erlauben, Sie auf Ihrer eigenen Reise durch das Risiko in die Freiheit zu begleiten!" Sr. Sue Mosteller, CSJ, Henri Nouwens literarische Nachlassverwalterin

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Seitenzahl: 339

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Henri J. M. Nouwen & Carolyn Whitney-Brown

Loslassen und fliegen

Henri Nouwens ungewöhnliche Freundschaft mit Zirkus-Artisten

Aus dem Englischen übersetzt von Eva Weyandt

Aus dem Englischen übersetzt von Eva Weyandt, Berlin

Copyright © 2022 by The Henri Nouwen Legacy Trust, Toronto, Ontario/Kanada, and Carolyn Whitney-Brown

Die englische Originalausgabe dieses Buches erschien 2022 unter dem Titel Flying, Falling, Catching: An Unlikely Story of Finding Freedom bei HarperOne, einem Imprint von HarperCollins Publishers, New York/USA

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-791-1

Dieses Buch in gedruckter Form: ISBN 978-3-86256-180-3

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Lektorat: Dr. Thomas Baumann

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson

Umschlagabbildungen: Andrey Burmakin/Shutterstock.com; Ron P. van den Bosch

Abbildung innen: Gwoeii/Shutterstock.com

Satz: Neufeld Verlag

© 2023 Neufeld Verlag, Sauerbruchstraße 16, 27478 Cuxhaven

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

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INHALT

Prolog

September 1996

Teil I

Der Anruf

Teil II

Fallen

Teil III

Zusammenarbeit

Teil IV

Vertrau dem Fänger

Teil V

Fliegen

Dank

Über die Autoren

Anmerkungen

Für Geoffrey Whitney-Brown,weil niemand allein fliegen kann

Als ich die Flying Rodleighs zum allerersten Mal erleben durfte, bekam ich einen Eindruck von dem, was wichtig ist im Leben. Ich sah es als Ganzes in einem Akt.

Henri Nouwen

Die folgenden zehn Minuten schenkten mir einen Einblick in eine Welt, die mir bisher verschlossen gewesen war, in eine Welt der Disziplin und Freiheit, der Unterschiedlichkeit und Harmonie, des Risikos und der Sicherheit, der Individualität und Gemeinschaft, und vor allem des Fliegens und Fangens.

Henri Nouwen

PROLOG

September 1996

Als die fünf Mitglieder der Flying-Rodleighs-Trapeztruppe telefonisch von Henris Tod erfuhren, waren sie fassungslos. Bevor sie bei ihrem nächsten Auftritt ihre silbernen Umhänge ablegten, atmete Rodleigh Stevens tief durch und erzählte in einer kurzen Ansprache von ihrem Freund Henri Nouwen, und wie viel er ihnen bedeutet hätte.

Am Tag von Henris Beisetzung ließen sich Rodleigh und seine Frau Jennie Stevens nicht von der Fahrt von fast 250 Kilometern zur Sint-Catharinakathedraal, in Utrecht abschrecken. Die riesige Kathedrale mit ihren gotischen Säulen war gut gefüllt. Dass so viele Menschen gekommen waren, verblüffte sie.

„Damit hätten wir eigentlich rechnen müssen“, flüsterte Rodleigh Jennie zu. Sie wussten ja, dass Henri durch seine Bücher in Millionenauflage, in Dutzende Sprachen übersetzt, sehr bekannt war. Sie wussten auch, dass Henri Priester der römisch-katholischen Kirche aus den Niederlanden war und an den Universitäten Yale und Harvard gelehrt hatte. Zehn Jahre zuvor hatte er seine akademische Laufbahn aufgegeben, um in Kanada mit Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen zu leben.

Sie kannten Henri seit mehr als fünf Jahren, aber sie waren schockiert, als einer der Redner Henri als „gepeinigt“ und „verletzt“ schilderte. Unruhig rutschte Rodleigh auf der harten Holzbank herum, um nicht nach vorne zu stürmen und den Redner zu korrigieren. In seinem Kopf waren Bilder und Erinnerungen an einen ganz anderen Henri, den er durch Besuche, Briefe und gemeinsame Reisen mit dem Zirkus Barum durch Deutschland und die Niederlande kennengelernt hatte.

VIELE VON HENRIS FREUNDEN, DIE um seine Sehnsucht und seinen inneren Schmerz wussten, und viele, die über Jahre hinweg seine sehr persönlichen Bücher über geistliches Leben gelesen haben, wären vermutlich gleichermaßen überrascht, zu erfahren, dass Henri glaubte, sein wichtigstes Buch würde ein kreatives Sachbuch über seine Erlebnisse mit den Flying Rodleighs werden. Durch seinen plötzlichen Tod im September 1996 blieb dieses Buch jedoch unvollendet.

* * *

DIE GESCHICHTE, DIE SIE HIER lesen, ist wahr. Jedes Ereignis ist tatsächlich passiert, auch Henris Rettung durch ein Hotelfenster. Die kursiv gesetzten eingerückten Texte sind Henris eigene Worte aus seinen veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften, aus Gesprächen oder Interviews.

Obwohl Henris Bücher über geistliche Themen ihm Beifall und Erfolg eintrugen, ließen die Flying Rodleighs in ihm den Wunsch wachsen, ein ganz anderes Buch zu schreiben. Bei seinem plötzlichen Tod im Jahr 1996 hinterließ er viele Notizen zu seinem neuen Projekt: die Abschrift eines Diktats unmittelbar nach seiner ersten Begegnung mit diesen Trapezartisten im Jahr 1991; zwei Kapitel, die später entstanden; ein Tagebuch, das er während seiner Reise mit den Flying Rodleighs führte, und andere Anmerkungen, Gedanken und Tagebucheinträge.

Im Jahr 2017 kam das Verlagsgremium des Henri Nouwen Legacy Trust mit der Bitte auf mich zu, „etwas Kreatives“ mit Henris unveröffentlichten Trapezschriften zu machen. Ich kannte Henri gut. Nachdem ich an der Brown University in englischer Literatur promoviert und eine Ausbildung als geistliche Begleiterin in Großbritannien und Kanada absolviert hatte, lebte ich von 1990 bis 1997 zusammen mit meinem Mann und unseren Kindern in der Arche-Gemeinschaft Daybreak, zu der auch Henri gehörte. Kurz nach Henris Tod hatte ich die Einführung zu einer Neuauflage seines Buches The Road to Daybreak geschrieben, ebenso zu mehreren Veröffentlichungen über ihn. Trotzdem, ich war mir nicht sicher, ob ich Henris unvollendetes Projekt weiterführen sollte. Ich erinnerte mich an viele Gespräche mit ihm über das Verfassen von Büchern und die Flying Rodleighs, aber die Symbolhaftigkeit des Trapez war mir bisher nie in den Sinn gekommen. Große Höhen sind mir verhasst.

Trotzdem vertiefte ich mich in Henris Material, und zwei Fragen ließen mich nicht los. Erstens, warum hinterließen die Auftritte und das Leben der Flying Rodleighs zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben einen so tiefen Eindruck bei Henri? Zweitens, warum gibt es nur diese wenigen Fragmente seines Trapezbuches? Zwischen 1991 und 1996 schrieb er eine Reihe von Büchern, und immerzu redete er über seinen Wunsch, dieses eine zu schreiben. Was war passiert?

Doch dann wurde mir klar, dass es nicht meine Aufgabe war, ein Buch zu schreiben, das Henri geschrieben hätte, sondern die Geschichte von Henri und den Flying Rodleighs zu erzählen.

Bei der Vertiefung in Henris Notizen und Entwürfe zum Trapezbuch sowie in Henris andere veröffentlichte und unveröffentlichte Texte bekam ich ein Gespür für die übergreifende Prägung seiner letzten Lebensjahre. Vier Arten der Erfahrung fielen ins Auge: Da waren Henris Reflexionen über künstlerisches Schaffen und Schönheit; es gab Zeiten, in denen seine körperliche Reaktion ihm half, geistliche Geschichte, die der Körper erzählt, in Worte zu kleiden; seine transformative Vertiefung in bestimmte Gemeinschaften; und schließlich waren da auch Augenblicke der Leichtigkeit, des Humors, der Entspannung und Freude.

In mir entstanden Ideen, wie ich Henris Erfahrungen zu Papier bringen könnte, doch dann las ich Rodleigh Stevens’ unveröffentlichte Erinnerungen an seine Freundschaft mit Henri unter dem Titel „What a Friend We Had in Henri“. Darin fand ich Anregungen für ein Buch, das sich fesselnd als erdachte Geschichte lesen würde, aber auf wahren Begebenheiten basierte. Rodleighs Erinnerungen halfen mir auch, Klarheit zu bekommen über etwas, das mich nachhaltig beschäftigte. Henri war zwar häufig niedergedrückt und fordernd, aber er war auch leutselig. Beim Lesen von Rodleighs Erinnerungen musste ich an manchen Stellen laut lachen bei der Erinnerung an unseren eifrigen, etwas ungeschickten und einfühlsamen Freund. Es hat schon seinen Grund, dass seine Freunde ihn nach so vielen Jahren immer noch vermissen.

Henri wollte diese Geschichte als „kreatives Sachbuch“ schreiben. Natürlich hat er durchgängig kreativ geschrieben. Sein künstlerisches Geschick zeigt sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern auch in der Art, wie Henri sich selbst in eine Figur in seiner Erzählung verwebt und genau auswählt, was er preisgeben möchte.

Auch wenn ich Henris Wunsch, eine „kreative“ Geschichte zu erzählen, berücksichtigte, musste ich nachvollziehen können, was an dem Tag von Henris erstem Herzinfarkt tatsächlich geschehen war. Wie wird ein Patient in einer medizinischen Notfallsituation durch ein Fenster gebracht? Dennie Wulterkens, ein Spezialist, der in den 1990er-Jahren Rettungssanitäter auf genau solch eine Rettung vorbereitete, war so freundlich, mir den Vorgang ganz genau zu erklären. Da es uns nicht möglich war, den Rettungssanitäter, der Henri in seinem Hotelzimmer versorgte, ausfindig zu machen, habe ich ihn kurzerhand „Dennie“ genannt. Selbst in einer medizinischen Notlage wäre es Henri wichtig gewesen, den Namen der Person zu erfahren, die ihn versorgte.

Bis auf „Dennie“ sind alle Personen real und namentlich genannt. Mein wichtigstes künstlerisches Zugeständnis ist, dass Henris Reflexionen über sein Leben während seines Herzinfarkts frei erfunden sind. Dieses Buch ist außerdem keine Biografie. Viele wichtige Menschen und Erlebnisse in Henris Leben finden keine Berücksichtigung.

Ich wünsche mir, dass Sie Henris Stimme möglichst direkt hören, darum sind die eingerückten Worte aus seiner eigenen Feder kursiv gesetzt und nicht bearbeitet. Hin und wieder habe ich sie ein wenig gekürzt oder sachlich korrigiert. Quellen mit ausführlichen Anmerkungen sind am Ende des Buches zu finden.

„Ich hatte nicht vor, am Beispiel der Rodleighs eindrucksvolle geistliche Wahrheiten zu erklären, sondern wollte einfach eine gute Geschichte schreiben“, erklärte Henri seinem deutschen Lektor. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies eine sehr gute Geschichte ist, wie Henri es sich erhofft hatte. Und beim Lesen könnten Ihnen einige unerwartete Erkenntnisse begegnen. Bei mir war das auf jeden Fall so.

Doch tauchen Sie zuerst ein und freuen Sie sich an der Geschichte!

Carolyn Whitney-Brown

Cowichan Bay, British Columbia, Kanada

16. September 2021

TEIL I

Der Anruf

KAPITEL 1

Zwei Rettungssanitäter in weißer Kluft stürmen in Henris Hotelzimmer. Sie sprechen Niederländisch, Henris Muttersprache. Henri, der in seiner Reisekleidung auf dem Hotelbett liegt, freut sich, sie zu sehen.

Einer von ihnen stellt sich als Dennie vor und reicht Henri die Hand. Henris Augen hinter seinen Brillengläsern sind klar, doch Dennie beobachtet, dass sein Handschlag unsicher und seine Haut kühl ist. Dennie erklärt Henri, er sei ausgebildeter Rettungssanitäter beim Broeder-de-Vries-Rettungsdienst.

Der andere stellt sich als der Fahrer des Rettungswagens vor, ebenfalls ausgebildeter Rettungssanitäter. Schnell lässt er seinen Blick durch das hübsche Zimmer wandern, um einzuschätzen, welches Gepäck Henri hat – für den Fall, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Henris Koffer sind noch gar nicht ausgepackt.

Dennie leuchtet mit der Taschenlampe in Henris Augen und überprüft seine Pupillen, misst Henris Puls und legt eine Blutdruckmessmanschette um seinen Arm. Während er schnell und effektiv arbeitet, stellt er Henri Fragen: „Wie heißen Sie? Woher kommen Sie?“

Henri ist müde und ein wenig benommen, aber er antwortet so deutlich, wie er kann: Er ist Pater Henri J. M. Nouwen, heute morgen am Flughafen Schiphol in Amsterdam angekommen mit dem Nachtflug aus Toronto. Nach seiner Ankunft ist er ins Hotel gefahren, um auszuruhen.

„Wissen Sie, welches Datum heute ist und wo Sie sich gerade befinden?“

„Ja“, erwidert Henri. Es ist Montag, der 16. September 1996, und er befindet sich in Hilversum, im Hotel Lapershoek. Seine Zimmernummer fällt ihm nicht ein, aber er weiß, dass es in einem der oberen Stockwerke liegt.

„Welche Beschwerden quälen Sie besonders? Und haben Sie sonst noch Schmerzen?“

„Ich habe Schmerzen in der Brust. Mein Arm tut weh, und mir ist abwechselnd heiß und kalt.“

„Wann hat das angefangen? Hatten Sie so etwas schon einmal?“

„Nein“, erwidert Henri. „Gestern habe ich mich ein wenig unwohl gefühlt, aber ich habe das nicht so ernst genommen, und ich konnte ja gleich nach meiner Ankunft ausruhen. Doch seit ich vor gut einer Stunde im Hotel eingecheckt habe, ist es schlimmer geworden.“

Dennie wertet Henris Blutdruck aus. Henri ist froh, dass er keine Fragen mehr beantworten muss. Durch seine Gedanken wirbeln Worte und Bilder, aber das Sprechen strengt ihn sehr an.

Dies ist, so denkt Henri mit gemischten Gefühlen bei sich, eine Unterbrechung. In seinem Leben hat es viele Einschnitte gegeben. Einige von ihnen waren gut für ihn.

* * *

FÜNF JAHRE ZUVOR HIELT SICH Henri in Freiburg auf und arbeitete an einem Buch. Bei dieser Gelegenheit konnte er den Trapezakt der Flying Rodleighs bewundern. Mit angehaltenem Atem verfolgte er ihre Darbietung, und beinahe schossen ihm Tränen in die Augen. Ganz plötzlich erfasste ihn eine jugendliche Schwärmerei. Er war neunundfünfzig Jahre alt, als er zusammen mit seinem Vater den Zirkus besuchte, und ganz bestimmt hatte er nicht damit gerechnet, dass dieser Auftritt ihn so tief anrühren würde. Anfangs wertete er sein Gefühl als Beklommenheit, weil die Darbietung so gefährlich wirkte. Erst später erkannte er seine körperliche Erregung. Seine Reaktion war so heftig, dass er wiederholt Mühe hatte, sie in Worte zu kleiden. Anfangs hatte er versucht, seine Gedanken auf ein Tonband zu sprechen. Connie, seine Sekretärin in Kanada, sollte das dann später abschreiben. Ihm war bewusst, dass er nur stammelte, aber er konnte nicht anders.

Was mich wirklich packte, was mich vollkommen faszinierte, waren die Trapezkünstler, und das ist der Grund, warum mich der Zirkus so in seinen Bann zog, und als ich sie ganz zu Anfang sah, konnte ich den Blick nicht abwenden. Zu dieser Truppe gehören fünf Trapezkünstler, vier aus Südafrika und ein Amerikaner. Ich war so beeindruckt von dieser Truppe, dass ich sie nicht aus meinen Gedanken verbannen konnte. Sie taten unglaubliche Dinge in der Luft, und irgendwie war das immer der Grund, warum ich in den Zirkus gegangen bin, und es war wichtig, dass mir das klarwurde. Es war nie wegen der Tiere und nie wirklich wegen der Clowns. Ich habe immer auf die Trapezartisten gewartet. Sie waren es, die mich wirklich in ihren Bann zogen.

Und diese Jungs waren einfach unglaublich. Eigentlich waren nicht nur Männer dabei. Die Truppe setzte sich zusammen aus drei Männern und zwei Frauen, und ich war gebannt von der Art, wie sie sich frei in der Luft bewegten und diese unglaublichen Sprünge vollführten, sich gegenseitig auffingen, und ich war einfach nur beeindruckt von ihrem körperlichen Können.

Aber genauso begeisterte mich die Gruppe als Team, die Art ihrer Zusammenarbeit, denn mir wurde klar, dass bei diesen Leuten eine große Vertrautheit herrschen musste, wenn alles so stark von Kooperation abhängig ist, wo alles so sehr auf gegenseitigem Vertrauen und genauem Timing aufgebaut ist.

Von Anfang an spürte ich den Zusammenhalt in der Gruppe, und ich beobachtete, dass sie ihre Darbietung genossen, dass sie wirklich Spaß dabei hatten, und in ihnen war eine Art von Erregung zu spüren, die sehr ansteckend auf mich wirkte.

Es war eine Art von Wow!-Effekt, verstehen Sie, und ich muss gestehen, dass die Truppe mir, als ich sie das erste Mal sah, beinahe wie Götter vorkam, so sehr, dass mir sogar der Mut fehlte, mich in ihre Nähe zu wagen. In mir spürte ich eine starke emotionale Reaktion. Ich hatte das Gefühl, dass diese Leute mit ihrem Talent und ihren Fähigkeiten unendlich weit über mir standen. Sie sind so herausragende Artisten, und ich bin nur ein kleiner unbedeutender Mensch, der so gern ihre Bekanntschaft machen würde. Eine persönliche Begegnung mit ihnen erschien mir unmöglich. Dieses Gefühl war sehr stark, beinahe schon große Ehrfurcht, und da war etwas in mir, das mehr war als nur das Gefühl eines Bewunderers, der einen Musiker oder Künstler anhimmelt. Es war, als würden diese Leute tatsächlich im Himmel leben; sie leben in der Luft, und ich lebe auf der Erde, und deshalb ist es mir nicht gestattet, mit ihnen zu reden, da die Distanz zwischen uns so groß ist.

Ich war so verblüfft über meine emotionale Reaktion auf diese Künstler, dass ich nicht den Mut hatte, sie nach der Vorstellung anzusprechen. Noch lange, nachdem die Vorstellung vorbei war, geisterten sie in meiner Fantasie herum.

Und so besuchte ich eine weitere Vorstellung, und ich begann, verstehen Sie, mir alle anderen Attraktionen anzusehen, doch sobald diese Flying Rodleighs an der Reihe waren, wurde ich wieder ganz aufgeregt. Die Art, wie sie in die Manege spazierten und bis zur Spitze des Zirkuszeltes hochkletterten und dann diese unglaublichen Sprünge machten und die Musik und ihr Stil, wie sie einander anlächelten und welchen Spaß sie miteinander hatten, und ihr Timing, einfach die ganze Nummer. Ich konnte nicht glauben, dass sie das taten. Beim zweiten Mal war ich noch mehr fasziniert als beim ersten Mal. Es war einfach unglaublich, und ich wurde sehr nervös, weil ich dachte, dass ich nach der Vorstellung auf diese Artisten zugehen würde. Es ist, als würde ich mit Menschen von einem anderen Planeten reden.

Henri war tief beeindruckt von diesem Erlebnis. Vielleicht war diese höchst ungewöhnliche Begegnung mit einer Truppe von Trapezartisten keine Zäsur in seiner schriftstellerischen Tätigkeit, sondern die Anregung zu einem wichtigen neuen Buch. Ganz bestimmt würde er einen Weg finden, dieses Erlebnis zu beschreiben. Er konnte das Erlebte nicht für sich behalten. Es war sehr belebend für ihn.

* * *

DOCH JETZT IST DAS JAHR 1996, und er liegt auf einem Hotelbett in einer Stadt in der Nähe von Amsterdam. Zwei Rettungssanitäter versorgen ihn. Fünf Jahre sind vergangen seit diesem Ausflug zum Zirkus zusammen mit seinem Vater. Die Erinnerung hängt noch nach, allerdings hat er es nur fragmentarisch festgehalten in einem Tagebuch, das er über mehrere Wochen hinweg führte. Außerdem hat er sich viele Ideen notiert. Doch bisher ist es ihm nicht gelungen, sein Buch über die Flying Rodleighs zu schreiben.

Wie es wohl wäre, loszulassen, fragt er sich jetzt, während er zusieht, wie Dennie seine medizinische Ausrüstung auspackt.

Ich habe dieses Buch nie geschrieben, flüstert es leise in ihm. Es fällt ihm schwer, sich das einzugestehen, als wäre es eine Tatsache, die nicht mehr zu ändern ist, als hätte er es tun können und nicht getan. Eine beiläufige Bemerkung, Smalltalk. Es sei denn natürlich, ein aufmerksamer Zuhörer würde fragen: „Warum nicht?“

Darauf, so wird ihm klar, hat er keine Antwort.

KAPITEL 2

Dennie knöpft Henris Hemd auf und schiebt sein Unterhemd hoch, um sein Herz abzuhorchen. In dem Zimmer ist es nicht besonders kalt, aber für Henri ist es ungewohnt, seine Brust zu entblößen, erst recht vor anderen Menschen. Er zittert.

* * *

EINIGE MONATE NACH SEINER BEGEGNUNG mit den Flying Rodleighs las Henri den abgetippten Text seiner diktierten Worte über die Trapeztruppe noch einmal durch und lächelte bei der Erinnerung an diese Tage, über denen ein ungewöhnlicher Zauber lag. Mit den Fingern strich er durch seine dünner werdenden Haare und dachte über den Text nach, der noch nicht so richtig erfasste, was er sagen wollte. Oder besser, das war nicht so, wie er es gern ausgedrückt hätte. Sein Ziel war nicht, seine eigene Begeisterung zu beschreiben, vielmehr sollte der Leser dasselbe empfinden wie er. Frustriert seufzte er auf. Er wollte eine Geschichte erzählen von seiner Schwärmerei für die Flying Rodleighs und von seiner Zuneigung zu dieser Truppe. Zwar war er ein erfolgreicher Schriftsteller, doch bisher hatte er es nie mit einer Geschichte versucht.

Immer neugierig, immer bereit, zu lernen, kaufte er zwei Bücher übers Schreiben. Einige Passagen in Theodore Cheneys Buch Writing Creative Nonfiction schienen genau das zu beschreiben, was er gern umsetzen würde. Verwende konkrete Details, vermerkte er am Rand. „Entwickeln Sie die Geschichte nacheinander, eine Szene nach der anderen“, unterstrich er.

Er versuchte es erneut, entwarf eine genau durchdachte Szene in Europa, in der er selbst Verfasser geistlicher Schriften war und an einem Buch über Liebe und innere Freiheit schrieb.

Der Besuch in der süddeutschen Stadt Freiburg ist immer ein großes Vergnügen für mich. Die friedlichsten und angenehmsten Erinnerungen der letzten Jahrzehnte sind mit dieser Stadt verbunden, die so wunderschön zwischen dem Rhein und den Ausläufern des Schwarzwalds gelegen ist.

Im April 1991 war ich wieder für einen Monat dort zu Besuch, um zu schreiben. Die Arche-Gemeinschaft Daybreak in Toronto, bei der ich seit 1986 ein Heim gefunden habe, gibt mir die Freiheit, mindestens zwei Monate im Jahr Abstand zu gewinnen von dem sehr intensiven und hektischen Zusammenleben mit geistig behinderten Menschen und mich frei von Schuldgefühlen „zu verwöhnen“, indem ich Gedanken, Ideen und Geschichten sammele, um neue Visionen zu Papier zu bringen darüber, wie Gottes Geist seine heilende Gegenwart unter uns offenbar werden lässt.

Ich liebe Daybreak: Die Menschen, die Arbeit, die Feste, aber mir wird auch zunehmend bewusst, dass diese Menschen meine Zeit und Energie so vollständig in Anspruch nehmen, dass es praktisch unmöglich ist, die Frage aufkommen zu lassen: „Worum geht es hier überhaupt?“.

Ich verbrachte den größten Teil meines Tages im Gästezimmer im zweiten Stock eines kleinen Hauses der Franziskaner und schrieb über „das Leben der Geliebten“. In den vergangenen Jahren haben die Bewohner von Daybreak mir geholfen, die einfache, aber tiefe Wahrheit wiederzuentdecken, dass alle Menschen, behindert oder nicht, die geliebten Töchter und Söhne Gottes sind, und dass sie wahre innere Freiheit finden können, wenn sie diese Wahrheit für sich in Anspruch nehmen.

Diese geistliche Erkenntnis berührte mich so tief, dass ich einen ganzen Monat lang darüber nachdenken und schreiben wollte in der Hoffnung, dass ich in der Lage sein würde, mir selbst und anderen zu helfen, die tiefsitzende Gefahr der Selbstzurückweisung zu überwinden.

„Verfasser von Sachbüchern begrenzen sich darauf, uns zu zeigen, wie sie die Dinge in der Welt sehen, und sie überlassen es dem Leser, zu interpretieren, was das alles bedeutet.“ Henri unterstrich diesen Satz, und dieses Mal erzählte er die Geschichte ohne Interpretation.

Diese Zeit in Freiburg sollte jedoch einzigartig werden. Sie bescherte mir ein unvorstellbares Geschenk, das für mich vollkommen überraschend kam: das Geschenk eines ganz neuen Bildes davon, dass die Menschheit geliebt ist – ein Bild, das mich über viele Jahre hinweg beschäftigen würde. Es war so unerwartet, so erfrischend und so aufschlussreich, dass es mich auf eine ganz neue Reise führte, auf eine Reise, die ich mir so nie hätte vorstellen können, nicht einmal in meinen kühnsten Träumen.

Ich will Ihnen erzählen, wie es dazu kam. Alles begann mit meinem Vater, der in den Niederlanden lebt und mich gern in Freiburg besuchen wollte.

Während der einen Woche seines Besuchs ließ ich meine schriftstellerische Arbeit ruhen; wir verbrachten unsere Zeit damit, „bestimmte Orte zu besuchen“. Wegen der Herzschwäche meines Vaters konnten wir zwar keine langen Spaziergänge unternehmen, und da die Besichtigung von Museen und Kirchen zu anstrengend für ihn gewesen wäre, suchte ich als Unterhaltung für uns Konzerte und Filme heraus. Ich durchforstete die Zeitung und erkundigte mich nach interessanten Veranstaltungen. Jemand meinte scherzend: „Nun, der Zirkus ist in der Stadt!“ Der Zirkus, der Zirkus! Schon lange hatte ich keinen Zirkus mehr besucht – seit meinem Besuch im Ringling-Barnum and Bailey Circus in New Haven in Connecticut war mir das nicht einmal mehr in den Sinn gekommen. Ich fragte also meinen Vater: „Hättest du Lust, mit mir in den Zirkus zu gehen?“ Ich spürte ein kleines Zögern, doch dann antwortete er: „Ich würde gern mitkommen. Lass uns hingehen.“

Und so besuchten Franz Johna, seine Frau Reny, ihr Sohn Robert, mein Vater und ich den Zirkus. Es war der Zirkus Simoneit-Barum, der gerade erst in die Stadt gekommen war. Was mich erwartete, wusste ich nicht. Ich wollte nur, dass mein Vater seinen Spaß hatte und wir alle einen guten Abend verleben würden: Fröhliches Lachen, große Überraschungen, angenehme Gespräche und anschließend ein gutes Essen. Auf keinen Fall war ich auf eine Erfahrung vorbereitet, die großen Einfluss haben würde auf mein künftiges Denken, Lesen und Schreiben.

Das Programm war wie zu erwarten: Pferde, Tiger, Löwen, Zebras, Elefanten und sogar eine Giraffe und ein Rhinozeros – eine angenehme Unterhaltung, aber wenn da nicht die „Flying Rodleighs“ gewesen wären, hätte ich den Abend bereits nach kurzer Zeit vergessen und wäre zu meinem Buch „The Life of the Beloved“ zurückgekehrt, ohne einen weiteren Gedanken an den Zirkus zu verschwenden.

Als letzte Darbietung vor der Pause betraten fünf Trapezartisten, zwei Frauen und drei Männer, in majestätischer Haltung die Manege. Nachdem sie sich zur Begrüßung einmal um die eigene Achse gedreht hatten und ihre weiten, silbernen Umhänge um sich herumwirbeln ließen, nahmen sie die Umhänge ab, reichten sie ihren Assistenten, schwangen sich in das große Netz und begannen mit dem Aufstieg über die Strickleitern zu ihren Podesten ganz oben im Zelt. Von dem Augenblick ihres Erscheinens an verfolgte ich wie gebannt jede ihrer Bewegungen. Die selbstbewusste und fröhliche Art, in der sie die Manege betraten, lächelnd das Publikum begrüßten und dann zum Trapezaufbau hochkletterten, sagte mir, dass ich etwas zu sehen bekommen würde, nein, besser, etwas erleben würde, das diesen Abend zu einem ganz besonderen Erlebnis machen würde.

„Eine Szene bildet die Bewegung des Lebens ab; Leben ist Bewegung, Aktion.“ Das gefiel ihm. Mit dem, was er über das Trapez schrieb, wollte er Bewegung und Aktion vermitteln. Seine früheren Bücher enthielten eine Botschaft, die er weitergeben wollte, doch dieses Buch war anders. Die Bedeutung seines Erlebnisses konnte er nicht genau benennen. Aber es war so mächtig und körperlich, dass er es mitteilen wollte.

Die folgenden zehn Minuten schenkten mir einen Einblick in eine Welt, die mir bisher verschlossen gewesen war, in eine Welt der Disziplin und Freiheit, der Unterschiedlichkeit und Harmonie, des Risikos und der Sicherheit, der Individualität und Gemeinschaft, und vor allem des Fliegens und Fangens.

Ja, das ist es, dachte Henri, als er im Schreiben inne hielt. Fliegen und Fangen. Das ist es, was ich mir immer gewünscht habe.

Ich weiß immer noch nicht genau, was an jenem Abend geschehen ist. War es die Anwesenheit meines achtundachtzigjährigen Vaters, die mich in einer Trapezdarbietung, die für viele einfach nur eine von vielen unterhaltsamen Darbietungen in einem zweistündigen Zirkusprogramm ist, einen Hauch der Ewigkeit erkennen ließ? (Bestimmt hatte er etwas damit zu tun, da in seinem Besuch die wundervolle Eigenschaft der gegenseitigen Freiheit und gegenseitigen Bindung zum Ausdruck kam, die entstehen kann, wenn Vater und Sohn älter geworden sind.) Oder lag es daran, dass ich mich so stark darauf konzentrierte, mein eigenes Geliebtsein als ein ewiges Geschenk und die Aufforderung zu verstehen, dieses Geliebtsein auch anderen bedingungslos kund zu tun?

Es besteht wenig Zweifel daran, dass mein Herz und Geist darauf vorbereitet waren, neue Visionen zu sehen und neue Geräusche wahrzunehmen. Und warum sollten die Engel Gottes nicht in der menschlichen Gestalt von fünf Trapezartisten zu mir kommen? Vielleicht lag es auch daran, dass ich so weit weg war von meinen alltäglichen Pflichten und Aufgaben in meiner Gemeinschaft, und vielleicht schenkte mir diese ungewöhnliche Gelegenheit, Zeit und Raum auf so unvorhergesehene Weise zu nutzen, eine neue, innere Erkenntnis.

Dort auf meinem Platz im Zirkus wurde mir bewusst, dass ich die Freiheit hatte, zu sehen, was ich sehen wollte und musste, und dass niemand mich zwingen konnte, meinen Blick derart zu begrenzen, dass ich nur eine gut dargebotene, aber niemals perfekte Luftakrobatik sah.

Henri las diesen Abschnitt noch mal durch. Niemand konnte meinen Blick begrenzen. Warum hatte er das geschrieben? Dieser Gedanke erschien ihm ziemlich kindisch, als müsste er sich einer mit Vorurteilen behafteten äußeren Autorität widersetzen, die seine Wahrnehmungen oder Erfahrungen einschränken wollte. Aber vielleicht, dachte er, ging es genau darum, sich kindlich zu fühlen, weil die Darbietung der Flying Rodleighs ihn zurückführte zu einem sehr viel früheren Augenblick in seinem Leben.

Von dem Moment an, wo die fünf Artisten die Manege betraten, war ich von einem überzeugt: Sie führten mich dreiundvierzig Jahre zurück, als ich als sechzehnjähriger Teenager in einem holländischen Zirkus zum ersten Mal Trapezartisten gesehen hatte. An die anderen Attraktionen erinnere ich mich nicht mehr, nur das Trapez hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Trapezdarbietung ließ eine Sehnsucht in mir entstehen, die keine andere Kunstform wachrufen konnte: den Wunsch, einer Gemeinschaft der Liebe anzugehören, die die Begrenzungen der Alltäglichkeit zu durchbrechen vermochte.

Obwohl ich alles andere als sportlich bin und mich in Wettkämpfen niemals hervortun konnte, wurde das Trapez ein Traum von mir. Trapezartist zu sein, symbolisierte für mich die Sehnsucht des Menschen nach Selbsttranszendenz – danach, über sich hinauszuwachsen, in das Herz der Dinge zu schauen.

Während ich neben meinem Vater in Freiburg die Zirkusvorstellung verfolgte, stieg dieser Wunsch aus meiner Teenagerzeit mit aller Macht wieder in mir hoch. Mehr als vierzig Jahre lang hatte ich nicht mehr daran gedacht, aber wie lebendig und real war er – als wären alle diese Jahre in einer Sekunde verflogen. So viel und so wenig war zwischen 1948 und 1991 geschehen. Vielleicht war alles, was sich ereignet hatte, nur Variationen derselben Sehnsucht nach Selbsttranszendenz. Dass ich Priester wurde, Psychologie und Theologie studierte, die ganze Welt bereiste, Vorträge hielt und Bücher schrieb für die unterschiedlichsten Gruppen von Zuhörern und Lesern, dass ich mein Land verließ, an verschiedenen Universitäten lehrte und mich schließlich einer Gemeinschaft von geistig behinderten Menschen anschloss – war all das der Versuch, ein Flieger und ein Fänger zu sein?

Während ich im April 1991 in diesem Zirkus in Freiburg saß, sah ich, wie das, was für mich nur ein Wunsch gewesen war, vor meinen Augen zur Realität wurde, und mir wurde klar, dass das, was die fünf Artisten taten, genau das war, was ich immer tun wollte.

Eine Gemeinschaft der Liebe, die die Begrenzungen der Alltäglichkeit durchbrechen kann. Das, was für mich nur ein Wunsch gewesen war, wiederholte Henri.

Die Flying Rodleighs waren atemberaubend, die Frauen in einem Kostüm, das Henri an Badeanzüge erinnerte, die Männer mit nackter Brust in glitzernden, eng anliegenden Hosen aus Elasthan. Henri hatte sich schon immer zu Männern hingezogen gefühlt. Das wurde ihm bereits in jungen Jahren bewusst. Bei seinen engen Freunden bekannte sich Henri zu seiner Homosexualität, doch sein Gelübde, als Priester zölibatär zu leben, nahm er sehr ernst. Aber nicht nur die körperliche Schönheit der Rodleighs rührte ihn an. Es war auch die Freiheit, das Zusammenspiel der Truppe, die anmutige Gemeinschaft und Freude, die in ihrer Darbietung zum Ausdruck kamen.

Henri las seine Worte noch einmal durch. Variationen derselben Sehnsucht nach Selbsttranszendenz. Oder vielleicht nach Flucht? Oder Zugehörigkeit? Schon beim Schreiben über dieses Erlebnis wurden in Henri Emotionen wach, die er kaum in Worte fassen konnte, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Aber das war noch nicht alles. Er trieb sich an, weiterzuschreiben.

Ein paar Tage nach diesem beeindruckenden Abend kehrte mein Vater in die Niederlande zurück, und ich wendete mich wieder meinem Buchprojekt zu. Obwohl Franz und Reny Johna, ihrem Sohn Robert und vor allem meinem Vater der Zirkusabend sehr gefallen hatte, sprachen wir nicht mehr viel darüber. Andere Ereignisse und andere Menschen forderten unsere Aufmerksamkeit, und der Drang des Menschen, zum Vertrauten zurückzukehren, reduzierte das Zirkus-Erlebnis auf eine angenehme Ablenkung.

Doch dann bekam ich mit, wie der Ordensobere der Franziskaner, bei denen ich untergekommen war, zu einem der Studenten sagte: „Komm, wir gehen heute Abend in den Zirkus!“ Obwohl ich bisher nie den Wunsch verspürt hatte, einen Film mehr als einmal anzuschauen, erfüllte mich der Gedanke an einen erneuten Zirkusbesuch mit Erregung, und es war nicht schwer, vom Ordensoberen und seinen Studenten eingeladen zu werden, sie zu begleiten. Kurz vor unserer Abfahrt holte ich aus meinem Zimmer das Programmheft des Zirkus Barum, das ich einige Tage zuvor gekauft hatte, und schlug die Seite der Trapezartisten auf. Dort las ich:

Kraft und Geist – in dieser Darbietung begegnen wir einem Medizintechniker, einer Krankenschwester, einer Sportlehrerin, einem Schiffsbauer und einem Clown. Rod, der Leiter der Gruppe, mit seiner Frau Jennie, seiner Schwester Karlene und dem Fänger Johan Jonas kommen aus Südafrika. Jon, der zweite Fänger, ist Amerikaner und arbeitete vorher beim Ringling Circus. Diese talentierten Artisten finden sich zusammen in einer der besten Trapezdarbietungen, die es gibt.

Beim Durchlesen dieser Informationen über die fünf Akrobaten beschleunigte sich mein Herzschlag. Es war, als hätte ich einen Blick hinter den Vorhang einer der bewegendsten Darbietungen werfen dürfen, die ich je gesehen hatte. Und auf einmal durchströmten mich Gefühle, die ganz neu für mich waren: Neugier, Bewunderung und der sehr intensive Wunsch, dabei zu sein, aber auch Gefühle der Ehrfurcht, Distanz und eine ungewohnte Schüchternheit. Ich erinnere mich nicht, jemals besonders für einen Star oder eine berühmte Persönlichkeit geschwärmt zu haben. In meinem Zimmer hingen nie Poster von Sportgrößen oder Musikstars. Doch jetzt empfand ich diese seltsame Mischung aus Anbetung und Furcht, die vermutlich im Herzen eines Heranwachsenden zu finden ist, der sich in ein Idol auf einer unerreichbaren Bühne verliebt hat.

KAPITEL 3

Dennie tastet unter der Decke Henris Füße und Knöchel ab. Ein wenig geschwollen, sagt er, aber das konnte auch eine Nachwirkung seines Nachtfluges sein. Er bittet den Fahrer des Rettungswagens, ihm den Life-Pak 10 Defibrillator zu reichen, und legt drei EKG-Sensoren auf Henris Brust.

An Henris rechter Hand befestigt er eine Fingerklemme und erklärt, dass damit der Sauerstoffgehalt in seinem Blut gemessen wird. Henri ist dankbar, dass Dennie ihm erklärt, was geschieht. Das gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit.

„Ich muss auch einen Infusionsschlauch legen, um Ihre Glukosewerte zu messen und Ihnen vielleicht ein Medikament zu verabreichen“, erklärt Dennie. „Ich mache das jetzt sofort, für den Fall, dass Ihr Blutdruck absinkt. Dann wird es sehr schwierig, eine Vene zu finden. Sind Sie Rechts- oder Linkshänder?“

„Rechtshänder“, erwidert Henri, und er zuckt zusammen, als der Rettungssanitäter eine Nadel in seinen linken Handrücken sticht.

„Können Sie den Kopf heben?“, fragt Dennie. Henri versucht es, aber sofort dreht sich das ganze Zimmer um ihn. Dennie wirft einen Blick auf den Monitor des Defibrillators und schnappt sich sofort sein tragbares Funkgerät.

Henri hört seine Stimme, in der jetzt große Dringlichkeit liegt. Er bittet den Disponenten, die Feuerwehr zu verständigen, um mit oberster Priorität die Rettung eines Patienten aus einem der oberen Stockwerke des Hotel Lapershoek zu unterstützen. Der Patient soll ins Krankenhaus von Hilversum gebracht werden. Der Disponent möge bitte dafür sorgen, dass auf der Intensivstation des Krankenhauses ein Team für die Versorgung eines Herzpatienten bereit steht.

Henri wartet, dass der Schwindel nachlässt. Er empfindet keine unmittelbare Gefahr, aber der Funkspruch des Rettungssanitäters lässt auf einen Notfall schließen.

Der Fahrer des Rettungswagens telefoniert mit der Rezeption. Zwei Feuerwehrwagen sind unterwegs, erklärt er dem Hotelmanager. Ob jemand vom Hauspersonal bitte das größte Fenster öffnen könnte? Ja, sofort.

Dennie steckt das Funkgerät in die Halterung und kehrt zu Henri zurück. Er sieht, dass Henri nicht so ganz begreifen kann, was er mit angehört hat. Eine direkte Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen würde er bestimmt zu schätzen wissen.

„Diese Situation ist ein wenig ungewöhnlich“, erklärt Dennie sanft. „Der Rettungswagen steht auf dem Parkplatz, aber für eine Trage ist der Aufzug zu klein. Sie müssen unbedingt liegend transportiert werden. Mit dem Aufzug können wir Sie also nicht nach unten bringen. Über die Treppe geht es auch nicht. Sie ist zu steil, und Ihr Blutdruck ist sehr niedrig.“

Henri scheint seinen Erklärungen folgen zu können. Dennie holt tief Luft und sucht Henris Blick, weil die folgende Information besonders wichtig ist.

„Wir haben die Feuerwehr gerufen. Man wird Sie durch ein Fenster herausholen.“

Henris Augen weiten sich. Hat er Schmerzen oder ist das Angst? Dennie kann es nicht sagen. Anspannung spürt er keine. Henri scheint etwas sagen zu wollen, schweigt aber.

Durch ein Fenster. Trotz seiner Beschwerden ist Henri fasziniert. Erst neun Monate zuvor hatte er in Prag in sein Tagebuch geschrieben: Ich habe ein neues Wort gelernt: Fenstersturz. Das geschah, so erfuhr er, 1419 und noch einmal 1618, als die Menschen ihre Gegner aus dem Fenster stießen, und vermutlich auch 1948. Henri hatte unbeschwert hinzugefügt: Ich hatte noch nie von dieser seltsamen ‚Sitte‘ gehört, aber ich habe beschlossen, meine Fenster geschlossen zu halten!

Zum Glück scheint der Rettungssanitäter, der jetzt vorschlägt, ihn durch das Fenster nach unten zu bringen, sehr nett zu sein.

* * *

SEIN GANZES LEBEN LANG INTERESSIERTE sich Henri besonders für Menschen, die ganz oben waren, die Überflieger auf jedem Gebiet. Schon während seiner Universitätszeit sahen Henris Freunde in ihm einen sozialen Aufsteiger. Doch Henri pflegte nicht nur die Beziehungen zu einflussreichen Menschen. Er interessierte sich für jeden, aus jeder sozialen Schicht. Wie sein Vater mochte er Menschen, die etwas gut konnten, die kunstfertig, diszipliniert, voller Überzeugung ihre Aufgaben erledigten. Wo kam sie her, diese breitgefächerte Neugier, dieser beharrliche Wunsch, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen, in die Haut anderer Menschen zu schlüpfen?

Das war mehr als nur reine Neugier. Vielleicht war es eine Art der Selbstzurückweisung. Sein ganzes Leben lang hatte sich Henri einen anderen Körper gewünscht. Solange er denken konnte, war in seinem Körper ein Hunger, der nie gestillt werden konnte. Nach seiner Geburt hatte seine Mutter die strikte Anweisung bekommen, den Säugling nur alle vier Stunden zu füttern, egal wie hungrig und verzweifelt er schrie. Dieses ständige Hungergefühl führte sie auf diese erste Zeit als Säugling zurück. Seine Kindheit in Kriegszeiten in Holland und anschließend der Hungerwinter 1944/45 ohne Nahrung verstärkten diesen körperlichen Hunger.

Henri war auch bewusst, dass er sich in seinem Körper nie wohl gefühlt hatte, dass in seinem Körper Sehnsüchte und Wünsche waren, die er niemals in Worte zu fassen wagte. Sein Körper sehnte sich nach mehr Freiheit. Schon als Teenager wollte er sein wie ein Trapezartist, die Freiheit und Transzendenz einer künstlerischen Gemeinschaft teilen.

* * *

HENRI WÜRDE DENNIE GERN MEHR von sich erzählen. Bestimmt würde Dennie doch gern mehr über die Flying Rodleighs erfahren. In einem Interview im Jahr 1995 war Henri gefragt worden: „Wie wollen Sie die Prinzipien der Flying Rodleighs in den kommenden Jahren in Ihrem Leben umsetzen?“ Voller Begeisterung hatte Henri geantwortet: „Ein Prinzip ist, dass ich gern freier wäre. Dass ich gern mehr Risiken eingehen würde, wissen Sie, und mehr Vertrauen haben würde. Und das ist auch tatsächlich geschehen. Auf ganz tiefe Weise einfach diese verrückte Sache zu machen. Ich habe ein Wohnmobil gemietet und bin mit dem Zirkus durch Deutschland gereist – das ist natürlich ein wenig verrückt, und ganz bestimmt, wenn man die Sechzig bereits überschritten hat. Auf einer tieferen Ebene, meine ich, hat es mir das Gefühl gegeben, dass mein Leben gerade erst anfängt.“

Aber Dennies Aufmerksamkeit gilt Henris Körper, und Henri ist viel zu kraftlos, um das zu erklären. Und sowieso kam die Reise mit den Flying Rodleighs erst später.

KAPITEL 4

CS. Lewis schieb in seinem Buch Über die Trauer, niemand hätte ihm je gesagt, dass Trauer sich genauso anfühlte wie Furcht: „Dasselbe Flattern im Magen, dieselbe Ruhelosigkeit … Ich schlucke ständig.“ Henri schluckt. Seine Gefühle im Hotelzimmer kommen dem der Furcht sehr nahe, aber da ist noch ein anderes Gefühl, seltsamerweise der Erregung ähnlich, die ihn fünf Jahre zuvor erfasst hatte. Niemand hatte Henri je gesagt, dass Furcht sich so anfühlt wie jugendliche Begierde, dasselbe Herzklopfen, dasselbe ruhelose Zucken, die beunruhigenden Emotionen, die sich in Tränen Bahn brechen. Seine körperlichen Reaktionen jetzt in Hilversum unterscheiden sich nicht so sehr von dem, was er 1991 gefühlt hat, als er den Flying Rodleighs zum ersten Mal begegnet ist.

* * *

Während ich mir im Programmheft des Zirkus die Fotos der fünf Artisten anschaute, fragte ich mich, wie diese fünf Menschen wohl zusammengefunden und diese zehn Minuten ihres Luftballetts entwickelt hatten. Ich sagte zu mir: „Wer ist Rodleigh? Wer ist Jennie? Wer ist Karlene? Wer ist Johan? Wer ist Jon? Wer sind diese Menschen, die irgendwo in einem Zirkuszelt in Deutschland durch die Luft fliegen und sich gegenseitig auffangen? Ich wünschte, ich könnte mit ihnen reden, sie mir genauer ansehen, sie berühren und vielleicht ihr Freund werden.“

Meine Wünsche machten mich verlegen, aber ich wollte mich von meiner Verlegenheit einfach nicht zu sehr beunruhigen lassen. Denn schließlich … niemand schaute zu … ich war weit weg von zu Hause … weg von allen Pflichten und Verpflichtungen … weit weg von dem normalen Muster meines Lebens. Warum sollte ich nicht ein Teenager sein, ein Fan, ein uneingeschränkter Bewunderer? Was hatte ich schon zu verlieren?

Diese inneren Grübeleien machten deutlich, dass ich Schwierigkeiten hatte, mit meinen aufgewühlten Emotionen umzugehen. Kurz darauf, als ich mit meinen Gastgebern aus dem Franziskanerorden zum Zirkus unterwegs war, dachte ich immerzu: „Wie kann ich diese Artisten kennenlernen? Ob sie wohl offen sind für eine Begegnung mit mir, ob sie wohl mit mir reden, mir ihre Zeit und Aufmerksamkeit schenken, oder werden sie mir begegnen wie einem ihrer vielen Fans, der neugierige, aber törichte Fragen stellt und verscheucht werden muss wie eine Biene von einem Marmeladentopf?“ Mir wurde bewusst, dass meine Franziskanerbrüder keine dieser Fragen bewegte und sie auch ganz gewiss kein Verständnis dafür hätten.

Als wir durch den Eingang schritten, der mit Hunderten kleinen Lichtern, beleuchteten Bildern von Löwen, Tigern und Clownsgesichtern geschmückt war, stand Zirkusdirektor Gerd Simoneit dort. In dem Augenblick, in dem ich ihn erblickte, wusste ich, dass dies meine Chance war, eine Begegnung mit der Zirkustruppe herbeizuführen. Während meine Gefährten das Zirkuszelt betraten und sich auf die Suche nach ihren Plätzen machten, trat ich auf ihn zu und sagte auf Deutsch: „Guten Abend, mein Herr. Vor ein paar Tagen hatte ich mir Ihre Vorstellung angeschaut und sie sehr genossen. Vor allem die Flying Rodleighs haben mich beeindruckt. Ob ich die Artisten wohl kennenlernen könnte? Was meinen Sie?“

Seine Antwort überraschte mich. Er deutete auf eine Frau mit einem kleinen Mädchen, die gerade an dem Stand mit dem Popcorn und den Getränken vorbeigingen. „Sie gehört zur Truppe; fragen Sie doch sie“, erwiderte er.

Karlene wurde unsicher, als der Zirkusdirektor Gerd Simoneit auf sie deutete. In den Zirkusregeln war festgelegt, dass sie sich fertig geschminkt nicht vorne, wo die Zuschauer sie sehen könnten, aufhalten sollten, aber sie hatte ihrer Tochter Kail ein Eis versprochen. Doch statt eines Tadel verwies Simoneit einen großen, schlanken Holländer mittleren Alters an sie.

„Hallo, sprechen Sie Englisch?“, fragte er.

„Oh ja“, erwiderte sie. „Ich komme aus Südafrika.“