Die Richtung finden - Henri J. M. Nouwen - E-Book

Die Richtung finden E-Book

Henri J. M. Nouwen

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Beschreibung

Wer bin ich? Wo komme ich her und wo gehe ich hin? Wer ist Gott für mich? Fragen, die sich jedem stellen, der sich auf die Suche nach einem tieferen Sinn im Leben macht. Der langjährige spirituelle Begleiter Henri Nouwen findet Antworten, indem er iaus seinem reichen Erfahrungsschatz schöpft. Weisheitsgeschichten, persönliche Erfahrungen und Texte aus der Bibel führen auf leichte Weise zu den "großen Fragen". Mit leicht umsetzbare Übungen nach jedem Kapitel. Eine spirituelle Einladung und ein Schatz für alle, die sich auf die Suche nach Gott machen oder andere Menschen bei dieser Suche begleiten.

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Seitenzahl: 271

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Henri Nouwen

Die Richtung finden

Ein spiritueller Reisebegleiterfür den langen Weg des Glaubens

Aus dem Amerikanischenvon Bernardin Schellenberger

Impressum

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Spiritual Direction. Wisdom for the Long Walk of Faith

Copyright © The Estate of Henri J. M. Nouwen / The Henri Nouwen

Legacy Trust, Michael J. Christensen, Rebecca J. Laird, 2006

Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes.

Vollständige deutschsprachige Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © Jürgen Fälchle – Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80344-4

ISBN (Buch) 978-3-451-61331-9

Inhalt

Danksagung

Vorwort: Worum es in diesem Buch geht

Einführung: Geistliche Begleitung

Erster Teil: Den Blick nach innen ins Herz lenken

1 Wer wird meine Fragen beantworten?

2 Wo fange ich an?

3 Wer bin ich?

4 Wo war ich, und wohin gehe ich?

Zweiter Teil: Im Buch lesen, um Gott zu finden

5 Was ist Gebet?

6 Wer ist Gott für mich?

7 Wie kann ich das Wort Gottes hören?

Dritter Teil: Sich in der Gemeinschaft um andere kümmern

8 Wohin gehöre ich?

9 Wie kann mein Dienst aussehen?

Epilog: Wohin gehe ich von hier aus?

Anhang 1: Mit seinen Fragen leben: Die zehn Gleichnisse von Henri Nouwen

Anhang 2: Wie man einen geistlichen Begleiter findetvon Rebecca J. Laird

Zur weiteren Lektüre

Quellennachweise

Danksagung

Technisch gesehen ist das vorliegende Buch nicht von Henri Nouwen geschrieben, aber es enthält seine Worte und seine Weisheit. Er selbst hat zu seinen Lebzeiten nur einen einzigen Beitrag geschrieben, in dessen Überschrift der Begriff »geistliche Begleitung« vorkam. Das vorliegende Buch ist also ein von uns Herausgebern zusammengestelltes posthumes Werk von Henri Nouwen über die geistliche Begleitung. Dafür haben wir aus seinen vielen Predigten, Aufsätzen, Zeitschriftenbeiträgen, Vorlesungsnotizen, unveröffentlichten Manuskripten und veröffentlichten Schriften Elemente gesammelt, die zeitlose Weisheiten über die persönliche Begleitung enthalten, und haben diese so zusammengestellt, dass sie eine praktische Anleitung ergeben. Für dieses zwei Jahre dauernde Unternehmen brauchten wir die Erlaubnis und Mitarbeit der Institution, die Henris literarischen Nachlass verwaltet, des Henri Nouwen Literary Trust, um seine Ausführungen in den heutigen Kontext versetzen, seine Ausdrucksweise aktualisieren, seine Weisheit konzentrieren und an vielen Stellen Überleitungen formulieren zu können, und das auf eine solche Art, dass wir seinen Auffassungen und seinem Stil treu bleiben konnten.

Wir Herausgeber möchten uns ausdrücklich bei allen bedanken, die uns beim Verfassen dieses Buches geholfen haben: bei Steve Hanselman und John Loudon vom Verlag HarperCollins dafür, dass sie dieses Projekt zusammen mit Rebecca entworfen haben; bei Sue Mosteller, der für Nouwens Schriften zuständigen literarischen Nachlassverwalterin, sowie bei dem Team, das sich um die Projekte zur Veröffentlichung des Nachlasses von Henri Nouwen kümmert: Nathan Ball, Robert Ellsberg, Gabrielle Earnshaw und Joe Vostermans. Sie haben zahlreiche Entwürfe durchgesehen und uns auf der Grundlage ihrer genauen Kenntnis des Lebens und Werks von Henri viele wertvolle Hinweise gegeben. Zudem hat uns Gabrielle Earnshaw in ihrer Rolle als Archivarin der J. M. Nouwen Archives and Research Collection geholfen, ursprüngliches Quellenmaterial und die am frühesten veröffentlichten Fassungen von Henris Schriften ausfindig zu machen, zu kopieren und zu prüfen. John und Carol Lang sowie Jeff Wittung, Doktoranden an der Drew University, haben für uns das Einscannen zahlreicher Nouwen-Dokumente besorgt, die wir dann in das Endmanuskript einfügen konnten; Mitglieder der Henri Nouwen Society, vor allem Jeff Imbach und Virginia Hall Birch, haben das Manuskript durchgesehen und uns hilfreiche Anregungen geliefert; und Mickey Maudlin, Roger Freet, Kris Ashley und Carolyn Holland waren unser zuverlässiges Team beim Verlag HarperCollins.

Vor allem aber bedanken wir uns bei unseren jungen Töchtern Rachel und Megan für ihre Geduld mit uns in der Zeit, in der wir voll damit beschäftigt waren, dieses Buch vor dem zehnten Jahrestag von Henris Tod fertigzustellen. Es sollte nämlich anlässlich dieses Termins unser Geschenk und ein Zeichen der Liebe und Dankbarkeit für ihn werden. Wir sind zuversichtlich, dass die Weisheit und die Freundschaft, die er uns zu seinen Lebzeiten geschenkt hat, auch noch in künftigen Jahren das Leben anderer Menschen prägen werden.

VorwortWorum es in diesem Buch geht

Als junger Priester verstand Henri Nouwen die geistliche Begleitung als formelle Beziehung zwischen einem reifen geistlichen Leiter und einem Neupriester oder Seelsorger, und zwar zum Zweck der Supervision und des Rechenschaftgebens.1 Später in seinem Leben bevorzugte er die Begriffe spiritual friendship (»geistliche Freundschaft«) oder soulfriend (»Seelenfreund«), in denen das dazu notwendige gegenseitige Geben und Nehmen im Prozess des spirituellen Rechenschaftgebens und der Glaubensbildung angedeutet war. Für Henri war ein geistlicher Begleiter einfach jemand, der mit einem anderen spricht und mit ihm betend sein Leben überdenkt. Die Weisheit und die Leitung ergaben sich aus dem spirituellen Dialog und der gegenseitigen Beziehung von zwei oder mehr gläubigen Menschen, die sich spirituellen Übungen widmeten und einander die für ein spirituelles Leben erforderliche Rechenschaft ablegten. Von daher lässt sich geistliche Begleitung, wie Henri sie verstand, definieren als eine Beziehung, die ein spirituell Suchender mit einem im Glauben reifen Menschen eingeht, welcher willens ist, mit ihm zu beten und sich mit Weisheit und Verständnis auf seine Fragen im Hinblick darauf einzulassen, wie man in einer Welt voller Zwiespältigkeiten und Zerstreuungen spirituell leben kann.

Laut Henri beruht das spirituelle Leben auf einem Paradox: »Ohne Alleinsein ist es praktisch unmöglich, ein spirituelles Leben zu führen.«2 Und dennoch können wir unser spirituelles Leben nicht allein führen. Um Gott zu erkennen, brauchen wir zwar das Alleinsein, aber wir brauchen zugleich auch eine Glaubensgemeinschaft, die uns in die Pflicht nimmt. Wir müssen lernen, wie wir auf das immer in unserem Herzen gegenwärtige Wort Gottes hören können. Wir brauchen intensives Studium und eine konsequente spirituelle Praxis, um das Wort Gottes in den Worten der Heiligen Schrift zu erkennen. Wir brauchen eine Kirche oder Glaubensgemeinschaft, die uns die Möglichkeit zum Gottesdienst und zum Miteinander-Teilen bietet, die uns zu gegenseitiger Korrektur und zum gemeinsamen Tragen unserer Lasten, zum Sündenbekenntnis, zum Gewähren von Vergebung und zum Feiern des Lebens auffordert. Zudem brauchen wir Führung: spirituelle Freunde, einen spirituellen Begleiter oder eine Gruppe, der wir Rechenschaft ablegen und die uns zum sicheren Ort für das Leben unserer Seele werden kann.

Henri schuf Gemeinschaft, wohin immer er kam, und innerhalb dieser Gemeinschaften bot er spirituelle Begleitung an, zuweilen ganz formell, aber meistens in informellen Gesprächen und Freundschaften. Zudem war er mittels seiner persönlichen Korrespondenz, seines öffentlichen Unterrichts und seiner Schriften, die er veröffentlichte, für viele ein spiritueller Begleiter. Vor seinem Tod sagte er zu seinen Freunden, wenn er sterbe, werde sein Geist allen zugänglich sein, die er liebe und die ihn liebten. Deswegen vertrauen wir darauf, dass auch die Leser und Leserinnen dieses Buches hier und jetzt aufgrund der Kraft des geschriebenen Wortes und durch das Wirken des Heiligen Geistes die persönliche Erfahrung machen können, von Henri Nouwen spirituell begleitet zu werden.

Wie es dazu kam, dass dieses Buch geschrieben wurde

Die Idee für dieses Buch ergab sich aus einer einfachen Begegnung: Eine Veranstaltung, bei der Rebecca einen Vortrag über Henri Nouwen hielt, war mit einem Festessen verbunden. Dabei ergab es sich, dass eine junge Protestantin, die gerade in der Ausbildung zur geistlichen Begleiterin war, ihre Tischnachbarin wurde und ihr von ihren derzeitigen Problemen erzählte. Infolge einer Depression aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit war sie ganz niedergeschlagen und antriebslos geworden. Sie erzählte: »Das Einzige, was mich durch den letzten Sommer gebracht hat, waren Henris Bücher, die ich gelesen habe. Er wurde mir anhand seiner Bücher zum persönlichen Begleiter durch meine dunkle Nacht.«

Wie kam es, dass ein römisch-katholischer Priester, der beim Schreiben seiner letzten Bücher schon mehr als sechzig Jahre alt gewesen war und nie die Höhen und Tiefen der Unfruchtbarkeit oder der Ehe durchgemacht hatte, das verwundete Herz dieser Frau hatte ansprechen können? Zwar gibt es die Depression quer durch alle Geschlechter und Altersstufen, aber das hier ging weit darüber hinaus. Henri kam auf ganz allgemeine spirituelle Bedürfnisse und Sehnsüchte zu sprechen. Er hatte erfasst, dass das Allerpersönlichste zugleich das Umfassendste ist. Er hatte aus der Tiefe der christlichen spirituellen Tradition gelebt und es gelernt, genau auf die grundlegenden Fragen zu hören, die dem Ringen aller Menschen zugrunde liegen.

Viele Menschen suchen in Henris Büchern spirituelle Anleitung. Aber viele von uns wünschen, sie hätten persönlich von Angesicht zu Angesicht mit Henri sprechen und ihm ihre drängendsten spirituellen Fragen stellen können. Doch das ist nicht mehr möglich. Henri weilt physisch nicht mehr unter uns. So entstand bei uns der Wunsch nach einem Buch, das seine Leser auf dem Gang durch die großen Fragen begleiten könnte, auf die viele Menschen stoßen, wenn sie sich bewusst daranmachen, sich mit grundlegenden Fragen des spirituellen Lebens auseinanderzusetzen, und sich dafür nach einem Begleiter umsehen.

Michael, der im Seminar in den Genuss von Henris spiritueller Begleitung gekommen war, erinnerte sich, dass er immer noch seine Mitschriften aus einem Kurs besaß, den Henri an der Divinity School in Yale gegeben hatte. Das genügte, um uns anfangen zu lassen. Wir suchten dann im Henri-Nouwen-Archiv am St. Michael’s College in Toronto nach seinen unveröffentlichten Schriften über die spirituelle Formung auf dem Wege spiritueller Begleitung. Was wir fanden, war mäßig viel, aber wunderbar, doch es war eine ziemliche Arbeit, es zu einem guten, flüssig durchlaufenden Text zusammenzusetzen und sprachlich neu zu fassen.

So setzten wir also bislang unveröffentlichte Gedanken, Ausführungen, Predigten, Vorlesungsmitschriften und Praxisvorschläge von ihm zusammen. Zudem verwoben wir damit Material, das ursprünglich in Form von Zeitschriftenbeiträgen erschienen war. Wir stellten fest, dass diese Texte formloser und direkter waren als die stärker geglätteten Fassungen, wie sie sich in seinen Büchern finden. Gelegentlich verwendeten wir auch Auszüge aus Henris Büchern, wenn für ein bestimmtes Thema keine bessere Originalquelle verfügbar war. Der sich daraus ergebende Flickenteppich ist unser Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Henri Nouwen Literary Trust Henris Aussagen zu einigen der großen Fragen im Hinblick auf das spirituelle Leben vorzustellen, um die es überall geht, wo jemand eine regelmäßige spirituelle Begleitung erfährt. Unsere Absicht ist es, eine spirituelle Begleitung durch Henri Nouwen zu ermöglichen, der aus seinen Schriften und praktischen Ratschlägen auch heute noch zu uns spricht. Unserer Überzeugung nach gibt der von uns ausgearbeitete Text den »klassischen Henri« wieder, nämlich sein spätes und reifstes Denken. So kann man über die vorliegenden Ausführungen in eine lebendige Beziehung zu ihm eintreten und eine persönliche spirituelle Anleitung von ihm erfahren. Allerdings muss man zugeben, dass sich natürlich mit den Worten eines gedruckten Buches keine lebendige Weggemeinschaft und Rechenschaft herstellen lässt. Aber auf jeden Fall erschließt dieses Buch hier Henris Weisheit und sein theologisches Denken. Es bietet wertvolle Anregungen sowohl für geistliche Begleiter als auch für solche, die Begleitung suchen. Es möchte zum persönlichen Nachdenken und Sich-Einlassen auf andere anregen.

Wir vertrauen darauf, dass seine Leserinnen und Leser rasch merken, dass es für sie am fruchtbarsten wird, wenn sie es nicht nur für sich lesen, sondern sich gleichzeitig auch auf das geistliche Gespräch mit jemand anderem einlassen.

Wie man dieses Buch lesen kann

Das Buch ist so angelegt, dass man es mindestens zweimal lesen sollte: ein erstes Mal rasch und zügig von Anfang bis Ende, vielleicht in einem einzigen Zug, und das zweite Mal langsam und meditativ, vielleicht über zehn Wochen hinweg nur ein Kapitel pro Woche. Man kann diese Kapitel allein für sich oder gemeinsam lesen, eins nach dem anderen oder in irgendeiner anderen Reihenfolge, je nachdem, welche Fragen, Bedürfnisse und Interessen einen bewegen. Wir hoffen, dass die Fragen »zum Nachdenken und für das Tagebuch« am Ende eines jeden Kapitels für das Nachdenken und die Vorbereitung auf das Gespräch mit anderen hilfreich sind. Die Übungen am Ende jedes Kapitels (die meisten von ihnen hat Henri persönlich verwendet und empfohlen) sind so gedacht, dass man sie gemeinsam mit seinem geistlichen Begleiter oder einem geistlich eng verwandten Menschen oder in einer kleinen Gruppe macht.

Das Buch ist so aufgebaut, dass es zehn grundlegende Themen des geistlichen Lebens anspricht. Diese Themen werden in Form von Gleichnissen, persönlichen Schilderungen und biblischen Überlegungen vorgestellt. Das war die Art und Weise, wie Henri seine Vorlesungen und Retreat-Kurse aufbaute: Er erzählte kurze, prägnante Gleichnisse, stellte grundlegende und zeitlos aktuelle Fragen, wählte für seine Überlegungen meistens Evangelientexte aus, führte zahlreiche spirituelle Möglichkeiten und Weisungen an und empfahl bestimmte Weisen der Glaubensvertiefung.

Ganz gleich, auf welche Weise Sie dieses Buch lesen oder verwenden – jedenfalls ist es ein Angebot, sich eine bestimmte Zeit lang lesend auf die persönliche Begegnung mit Henri einzulassen. Das wird Ihnen helfen, im Rahmen Ihrer eigenen Gemeinschaft spirituell weiter zu wachsen. Zu jedem Kapitel verweisen wir am Ende des Buches auf die ursprünglichen Fundorte der einzelnen Ausführungen in Henris Schriften, sodass, wer will, auch auf die Originaltexte und ursprünglichen Zusammenhänge zurückgreifen kann. Die Anhänge enthalten zusätzliche Anregungen und Hilfen, wie man einen geeigneten geistlichen Begleiter erkennen und für sich finden kann, mit dem zusammen man dann die Disziplin der geistlichen Begleitung weiter üben kann.

Wir sind selbst in den Genuss von Henris persönlicher geistlicher Begleitung gekommen, wie er sie sein Leben lang praktiziert hat. Von anderen, die ihn besonders gut gekannt haben, haben wir erfahren, dass Henri eine besondere Gabe dafür hatte, sich bei Alltagsgesprächen gründlich auf geistliche Wirklichkeiten und Wahrheiten einzulassen. Er verfügte zudem über eine ausgesprochen starke Begabung für Freundschaft und Gastlichkeit.

Henri weilt nicht mehr unter uns, aber seine Weisheit bleibt uns. Auf dem Weg über das, was er geschrieben hat, können wir ihm immer noch im Geist ganz nahe kommen. Da er dem Leibe nach nicht mehr bei uns ist, müssen wir unser Vertrauen jetzt desto mehr auf den Führer und Begleiter schlechthin setzen, der natürlich der Heilige Geist ist. Wir sind fest davon überzeugt, dass Henri sich ganz hinter diesen Hinweis stellen und uns genau wie schon zu seinen Lebzeiten ständig auf Gott verweisen würde, den Geber, Schöpfer und Gestalter unseres Lebens.

Michael J. ChristensenRebecca J. Laird

EinführungGeistliche Begleitung

Zu Beginn dieses unseres gemeinsamen Weges in der geistlichen Begleitung3 möchte ich Sie dazu einladen, zunächst einmal in Ihrem Leben für Gott Raum zu schaffen. Dazu brauchen Sie Zeit und Einsatz. Jede Selbstverpflichtung zu einer geistlichen Begleitung bringt die Möglichkeit zu geistlicher Freundschaft mit sich und liefert die Zeit und Struktur sowie die Weisheit und Disziplin, um in Ihrem Leben einen heiligen Raum zu schaffen, in dem Gott wirken kann. Indem Sie einen heiligen Raum schaffen, reservieren Sie ein Stück Ihrer selbst. Das verhindert, dass Ihr eigenes Leben restlos mit allem Möglichen ausgefüllt, belegt oder beschäftigt ist. Die geistliche Begleitung richtet im Haus Ihres Lebens sozusagen eine »Anschrift« ein, sodass Gott Sie beim Gebet dort vorfinden und ansprechen kann. Wenn das der Fall ist, beginnt sich Ihr Leben zu verändern, und zwar auf Weisen, die Sie überhaupt nicht vorgesehen und mit denen Sie nicht gerechnet hätten, denn Gott wirkt in unserem Leben auf ganz wunderbare und verblüffende Art.

Das Ziel der geistlichen Begleitung ist die geistliche Formung, die darin besteht, dass Ihre Fähigkeit, aus Ihrem Herzen heraus ein geistliches Leben zu führen, immer größer wird. Ohne Disziplin, Praxis und das Ablegen von Rechenschaft lässt sich kein intensives geistliches Leben ausbilden. Spirituelle Übungen gibt es viele. Fast alles, was uns regelmäßig dazu auffordert, die Dinge langsamer zu tun und unsere Zeit, unsere Wünsche und Gedanken fest darauf ausrichtet, unserer Selbstsucht, Unbesonnenheit oder hastigen Verschwommenheit entgegenzuwirken, kann zur spirituellen Übung werden.

Meiner Überzeugung nach sind zumindest drei klassische Disziplinen oder geistliche Übungen besonders wichtig, wenn man sich auf die Beziehung einer geistlichen Begleitung einlassen will. Sie können helfen, in uns Raum für Gott zu schaffen: 1. die Disziplin des Herzens, 2. die Disziplin des Buches und 3. die Disziplin der Kirche oder Glaubensgemeinschaft. Das Zusammenspiel dieser drei geistlichen Übungen hilft uns, unsere Widerstände gegen das kontemplative Hören und den aktiven Gehorsam gegenüber Gott zu überwinden und uns dafür frei zu machen, ein leibhaftiges und erfülltes geistliches Leben zu führen.4

Den Blick nach innen ins Herz lenken

Die erste und wesentlichste geistliche Übung, zu der jeder geistliche Begleiter alle auffordern muss, besteht darin, sich um die Disziplin seines Herzens zu bemühen.5 Die uralte Disziplin, dank deren wir Gott in unserem Herzen zu sehen beginnen, besteht aus der Innenschau und dem kontemplativen Gebet. Beim innerlichen Gebet geht es um das sorgfältige Aufmerken auf den, der im Mittelpunkt unseres Wesens wohnt. Mittels des Gebets wecken wir uns selbst für Gott in unserer Wesensmitte auf. Mit unserem Üben ermöglichen wir es Gott, in unseren Herzschlag und unser Atmen zu kommen, in unsere Gedanken und Gefühle, in unser Hören, Sehen, Fühlen und Schmecken, ja in jede Faser unseres Körpers. Indem wir wach auf Gott in uns achten, können wir auch in zunehmendem Maß in der uns umgebenden Welt Gott sehen.

Die Disziplin des Herzens bringt uns zu Bewusstsein, dass das Gebet nicht nur darin besteht, auf das Herz zu hören, sondern auch darin, mit dem Herzen zu hören. Das Gebet hilft uns, mit allem, was wir haben und sind, in der Gegenwart Gottes zu stehen: mit unseren Befürchtungen und Ängsten, unserer Schuld und Scham, unseren sexuellen Fantasien, unserer Gier und Wut, unseren Freuden, Erfolgen, Bestrebungen und Hoffnungen, unseren Überlegungen, Träumen und unserem mentalen Herumschweifen, und vor allem auch mit unseren Familienangehörigen, Freunden und Feinden – kurz: mit allem, was uns zu denen macht, die wir sind. Mit all dem müssen wir auf Gottes Stimme hören und es zulassen, dass Gott in jedem Bereich unseres Daseins zu uns spricht.

Ein solcher Bereich unseres Daseins ist natürlich auch unser Körper. Tatsächlich ist ja das »Herz« nicht einfach nur ein spirituelles Organ, sondern zugleich auch jene geheimnisvolle Stelle in uns, an der unser Geist, unsere Seele und unser Körper zusammen die Einheit unseres Selbst ausmachen. So etwas wie ein körperloses spirituelles Herz gibt es nicht. Wir sind berufen, Gott und unseren Nächsten aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben (vgl. Lk 10,27).

Das fällt uns sehr schwer, weil wir so ängstlich und unsicher sind. Wir verstecken uns ständig vor Gott und den anderen. Wir neigen dazu, Gott und den anderen nur die Teile unserer selbst darzubieten, mit denen wir relativ gut auskommen und von denen wir glauben, dass sie ein positives Echo auslösen werden. Von daher wird unser Gebet sehr selektiv und eng. Es ist ganz klar, dass die Disziplin des Herzens ein gutes Stück weit Anleitung braucht, damit wir es fertigbringen, unsere Ängste zu überwinden, unseren Glauben zu vertiefen und deutlicher wahrzunehmen, wer Gott für uns ist. Die typischen Fragen, die ein geistlicher Leiter stellen muss, sind: »Wie sieht dein Gebetsleben aus?« und »Wie schaffst du in deinem Leben Raum, damit Gott zu dir sprechen kann?«

Den Blick auf Gott im Buch richten

Eine zweite für die geistliche Begleitung ganz wesentliche spirituelle Disziplin ist die Disziplin des Buches, bei der wir in der lectio divina nach Gott Ausschau halten. Dabei geht es darum, in Andacht die Heilige Schrift und andere spirituelle Schriften zu lesen.6

Wenn wir wirklich mit Hingabe ein spirituelles Leben führen wollen, müssen wir auf sehr persönliche und tief innerliche Weise auf das Wort Gottes hören, wie es uns aus der Heiligen Schrift anspricht. Die Disziplin des Buches besteht in der Übung des andächtigen Lesens eines heiligen Textes und des Meditierens über ihn, das dann ins Gebet hineinführt. Meditieren heißt, das Wort aus unserem Verstand in unser Herz hinabsinken zu lassen, damit es uns in Fleisch und Blut übergehen kann. Meditieren heißt, das Wort zu essen, zu verdauen und es konkret dem eigenen Leben einzuverleiben. Die Meditation ist die Übung, durch die wir das Wort Gottes zum Wort ganz persönlich für uns werden lassen und durch die es sich in unserer Wesensmitte verankert und zugleich zum Quellpunkt unseres gesamten Handelns wird. Auf diese Weise wird die Meditation zur fortlaufenden Fleischwerdung Gottes in unserer Welt. Die Disziplin des Buches führt uns auf den Weg des echten inneren Gehorsams. Mittels der regelmäßigen Praxis der Schriftmeditation entwickeln wir eine Art inneres Ohr, das es uns ermöglicht, Gottes Wort zu erkennen, das direkt unsere innersten Bedürfnisse und Sehnsüchte anspricht. Wenn wir auf einen Satz, eine Geschichte oder ein Gleichnis hören, und zwar nicht nur, um uns davon unterrichten, informieren oder inspirieren zu lassen, sondern um zu einem wahrhaft gehorsamen Menschen umgeformt zu werden, bietet uns das Buch vertrauenswürdige spirituelle Einsichten. Die tägliche Praxis der lectio divina (also der geistlichen – wörtlich: »göttlichen« – Lesung) verwandelt im Lauf der Zeit unsere persönliche Identität, unser Handeln und unser gemeinsames Glaubensleben. Ein reifer spiritueller Begleiter hilft uns, uns aufrichtig und regelmäßig auf Gottes Wort einzulassen, und er fügt dem noch die Perspektive der gemeinschaftlichen Textauslegung hinzu. Die Heilige Schrift hält ein persönliches Wort für jeden von uns bereit, aber die Kenntnis der historischen christlichen Lehre hilft uns vermeiden, dass wir in die verführerische Falle geraten, die Heilige Schrift nur zur Bestätigung unserer eigenen Vorstellungen heranziehen zu wollen.

Den Blick auf die anderen in der Gemeinschaft richten

Die dritte Schlüsseldisziplin für die geistliche Begleitung ist die Disziplin der Kirche oder Glaubensgemeinschaft. Diese geistliche Praxis verlangt von uns, in Beziehung zum Volk Gottes zu stehen und die aktive Gegenwart Gottes in der Geschichte und in der Gemeinschaft zu bezeugen, also überall da, »wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind« (vgl. Mt 18,20).

Eine Glaubensgemeinschaft erinnert uns unablässig daran, was tatsächlich in der Welt und in unserem eigenen Leben geschieht. Die Liturgie und die Leseordnung der Kirche – die allgemein üblichen Gebete, Rituale, Schriftabschnitte und ein Kalender, der alljährlich die Stationen des Lebens Christi mitgeht – entfalten für uns zum Beispiel die Fülle des Christus-Ereignisses: Christus kommt, Christus wird geboren, Christus offenbart sich der Welt, Christus leidet, Christus stirbt, Christus wird auferweckt, Christus fährt in den Himmel auf und Christus sendet seinen Geist. Das alles sind nicht bloß Ereignisse, die vor langer Zeit stattgefunden haben und an die man sich mit einer gewissen Melancholie erinnert, sondern sie alle finden weiterhin im täglichen Leben der christlichen Gemeinschaft statt. Im Leben Christi, wie es im Gemeindeleben und im Gottesdienst in Erinnerung gehalten wird, und durch es lässt uns Gott seine aktive Gegenwart erkennen. Darum geht es im Advent, an Weihnachten und Epiphanie, in der Fastenzeit, an Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten. Die Kirche weckt unsere Aufmerksamkeit für die göttlichen Ereignisse, die der gesamten Geschichte zugrunde liegen und die es uns ermöglichen, auch in unserer eigenen Geschichte einen Sinn zu erkennen.

Auf die Kirche hören heißt auf den Herrn der Kirche hören. Das heißt insbesondere, dass man am liturgischen Leben der Kirche teilnimmt. Im Lauf der liturgischen Jahreszeiten – Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten – gibt es Feste, Feiern und Themen, die uns helfen, Jesus besser kennenzulernen, und uns enger mit dem göttlichen Leben innerhalb der Glaubensgemeinschaft vereinen.

Je mehr wir uns von den Ereignissen des Lebens Christi informieren und formen lassen, desto mehr werden wir dazu fähig, die Geschehnisse unseres eigenen Alltags mit der großen Geschichte der Gegenwart Gottes in unserem Leben zu vereinen. Auf diese Weise wirkt die Disziplin der Kirche als Glaubensgemeinschaft als unsere spirituelle Anleitung, indem sie uns Herz und Sinn auf den Einen hin ausrichtet, der unser Leben wirklich ereignisreich werden lässt. Die Begegnung mit einem spirituellen Begleiter bietet eine zwischenmenschliche Erfahrung christlicher Gemeinschaft und ermöglicht konzentrierte Gespräche darüber, wie unser individuelles Leben Bestandteil von Gottes großer, sich immer weiter entfaltender Geschichte mit dem Gottesvolk ist.

Diese drei Disziplinen – die des Herzens, des Buches und der Kirche – erfordern geistliche Unterscheidung, Rechenschaft und Anleitung, damit wir unsere Taubheit und unsere Widerstände überwinden, um zu freien und gehorsamen Menschen zu werden, die selbst dann auf Gottes Stimme hören, wenn sie uns an unbekannte Orte ruft.

Wenn Sie also diese Reise antreten möchten, kann ich Ihnen noch sehr viel mehr dazu sagen; denn für die Reise des geistlichen Lebens braucht man nicht nur Entschlossenheit und Disziplin, sondern auch ein Erfahrungswissen über das zu durchquerende Gelände. Ich muss Sie allerdings nicht vierzig Jahre lang durch die Wüste wandern lassen, wie das bei unseren geistlichen Vorfahren der Fall war. Ich wünsche Ihnen nicht einmal, dass Sie darin so lange verweilen müssen, wie das bei mir der Fall war. Auch wenn es stimmt, dass jeder für sich selbst lernen muss, glaube ich dennoch, dass wir diejenigen, die wir lieben, davor warnen können, die gleichen Fehler, die wir gemacht haben, noch einmal zu machen. Auf dem Gebiet des geistlichen Lebens brauchen wir Führer. Ich möchte gern Ihr Führer sein. Ich hoffe, Sie haben Interesse, sich mit mir auf den Weg zu machen.

Henri J. M. Nouwen

Erster Teil

~

Den Blick nach innenins Herz lenken

1 Wer wird meine Fragen beantworten?

Einmal besuchte mich ein buddhistischer Mönch, der mir die folgende Geschichte erzählte:

Der Zen-Meister

Es lebte vor vielen Jahren ein junger Mann, der nach Wahrheit, Glück, Freude und der richtigen Weise zu leben suchte. Nach vielen Jahren des Umherreisens, vielen verschiedenen Erfahrungen und vielen Mühsalen ging ihm auf, dass er noch keinerlei Antwort auf seine Fragen gefunden hatte und dringend einen Lehrer brauchte. Da hörte er eines Tages von einem bekannten Zen-Meister. Unverzüglich suchte er diesen auf, warf sich ihm zu Füßen und sagte: »Bitte, Meister, sei mein Lehrer.«

Der Meister hörte ihn an, akzeptierte seine Bitte und ernannte ihn zu seinem persönlichen Sekretär. Doch der Meister sprach zwar ständig mit vielen Menschen, die um Rat und Anleitung zu ihm kamen, doch nie mit seinem Sekretär. Nach drei Jahren war der junge Mann derart enttäuscht und frustriert, dass er nicht länger an sich halten konnte. In einem Wutanfall sagte er eines Tages zu seinem Meister: »Ich habe alles geopfert, habe alles, was ich hatte, weggegeben und bin dir gefolgt. Warum hast du mich nicht unterwiesen?« Der Meister blickte ihn mit großem Mitgefühl an und erwiderte: »Hast du denn nicht begriffen, dass ich dich in jedem Augenblick, den ich mit dir zusammen war, unterwiesen habe? Wenn du mir eine Tasse Tee bringst, trinke ich die etwa nicht? Wenn du dich vor mir verneigst, verneige ich mich da etwa nicht auch vor dir? Wenn du meinen Tisch säuberst, sage ich da nicht: ›Vielen Dank!‹?«

Der junge Mann konnte nicht begreifen, was sein Meister da sagte, und wurde sehr verstört. Da schrie ihn der Meister jäh aus vollem Hals an: »Wenn du siehst, siehst du es direkt!« In dem Augenblick kam dem jungen Mann die Erleuchtung.7

Der Abstand zwischen einem Zen-Meister im Fernen Osten, der einen wissbegierigen jungen Schüler unterweist, und einem christlichen geistlichen Begleiter im Westen, der einem spirituellen Sucher Rede und Antwort steht, mag himmelweit sein. Dennoch verweist diese Geschichte eindrucksvoll auf die Weisheit, die wir brauchen, um die Fragen unseres Lebens bewältigen zu können, wenn wir unsere Sendung in der Welt suchen, sei es als Einzelne oder auch als Gemeinschaft.

Der junge Mann in dieser Zen-Geschichte hatte unausgesprochene, aber drängende Fragen wie: Was ist Wahrheit? Wie kann ich Freude und Glück finden? Was ist die richtige Weise zu leben? Zu diesen seinen Fragen könnten wir unsere eigenen Lebensfragen hinzufügen: Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Wen soll ich heiraten? Wo soll ich leben? Welche Gaben kann ich mit anderen teilen? Was fange ich mit meiner Einsamkeit an? Warum bin ich so bedürftig nach Zuneigung, Bestätigung oder Macht? Wie kann ich meine Ängste überwinden, meine Verschämtheit, meine Süchte und mein Gefühl der Unzulänglichkeit oder des Versagens?

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, in Kalkutta Mutter Teresa zu treffen. Damals hatte ich mit vielem zu kämpfen, und so beschloss ich, diese Gelegenheit zu nutzen und sie um Rat zu fragen. Gleich nachdem wir uns niedergesetzt hatten, fing ich an, ihr alle meine Probleme und Schwierigkeiten zu erläutern – also zu versuchen, sie davon zu überzeugen, wie kompliziert alles sei. Als ich schließlich mit dem Reden aufhörte, sah Mutter Teresa mich an und sagte in aller Ruhe zu mir: »Also wenn Sie täglich eine Stunde der Anbetung Gottes weihen und nie etwas tun, wovon Sie wissen, dass es falsch ist … dann wird es Ihnen gut gehen!«

Als sie das gesagt hatte, ging mir plötzlich auf, dass sie meinen großen Ballon voller Klagen über mich selbst angestochen und zum Platzen gebracht und mich an einen Punkt weit über mich selbst hinaus verwiesen hatte, dorthin, wo ich wirklich geheilt werden konnte. Beim Nachdenken über diese kurze, aber entscheidende Begegnung ging mir auf, dass ich eine Frage von unten her gestellt, sie mir aber eine Antwort aus der Sicht von oben her gegeben hatte. Auf den ersten Blick schien ihre Antwort nicht auf meine Frage zu passen, aber dann begann ich einzusehen, dass ihre Antwort vom Ort Gottes aus gekommen war und nicht vom Ort meiner Beschwerden her. Meistens antworten wir auf Fragen von unten her auch mit Antworten von unten her, und das Ergebnis ist dann oft eine noch größere Verwirrung. Mutter Teresas Antwort war wie ein Blitzstrahl in meine Dunkelheit hinein.

Wenn man geistliche Begleitung sucht, heißt das für mich also, dass man im Kontext einer hilfreichen Gemeinschaft die großen Fragen stellt, die grundlegenden Fragen, die allumfassenden. Stellt man die richtigen Fragen und lebt man mit diesen Fragen, so ergeben sich daraus auch die richtigen Handlungen, die sich auf ganz erstaunliche Weisen einstellen können. Will man unter Anleitung von Gottes Geist mit diesen Fragen leben und richtig handeln, so erfordert das sowohl Beharrlichkeit als auch Mut – vor allem die Beharrlichkeit, »zu fragen, zu suchen und anzuklopfen«, bis die Tür aufgeht (vgl. Mt 7,7–8).

Was für Fragen stellen die Menschen?

Möglicherweise kann man nicht unbedingt gleich eine grundlegende Lebensfrage stellen. Zuweilen empfinden wir ja so viel Angst und Sorge und identifizieren uns derart stark mit unserem Leiden, dass unser Schmerz die Fragen verdeckt. Sind der Schmerz oder die Verwirrung erst einmal mittels einer Frage umschrieben oder ausgesprochen, so müssen wir erst einmal eher mit dieser Frage leben als sie beantworten. Von daher besteht beim Suchen nach geistlicher Begleitung die Aufgabe zunächst einmal darin, bewusst an sein eigenes Ringen, Zweifeln und Unsichersein zu rühren – kurz: sein Leben als ein Suchen anzuerkennen.8 Das Leben eines jeden Menschen ist ein Gnadengeschenk Gottes. Das Leben eines jeden von uns ist kein Problemfall, den wir lösen müssten, sondern jedes stellt einen Weg dar, den wir gemeinsam mit Jesus als unserem Freund und besten Führer gehen sollen.

Dafür kann der Dienst der geistlichen Begleitung – zusammen mit den anderen zwischenmenschlichen Disziplinen des geistlichen Lebens: Predigen, Lehren, Beraten und Seelsorge – hilfreich sein. Diese Dienste, die wir einander zu bieten vermögen, können dazu beitragen, den Menschen zu einem ruhigen inneren Abstand gegenüber ihrem eigenen Leben zu verhelfen. Aus diesem Abstand heraus lässt sich dann das, was sie erfahren, genauer erhellen, indem es die Form einer Frage annimmt, mit der sie leben sollen.

Vor langer Zeit war ein solcher gläubiger Mensch, der die schwierigen Fragen seines Daseins formulierte und mit ihnen lebte, Ijob. Beim sorgfältigen Lesen des biblischen Buches Ijob erkennt man, dass Ijobs Fragen zwar von seinen »Freunden« beantwortet werden, aber nicht von Gott. Ijob lebt angesichts seines Leidens mit seinen eigenen Fragen. Alles, was er dazu sagen kann, ist: »Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; der Name des Herrn sei gepriesen« (Ijob 1,21).

Die Fragen Ijobs

Ijob ist ein guter Mensch, der alles verliert: seinen ganzen Besitz, sein Land, seine Familie. Mitten aus seinem Elend heraus ruft er: »Vergehen soll der Tag, an dem ich geboren wurde, die Nacht, die sprach: Ein Knabe ist empfangen … Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, trat aus dem Mutterleib und starb dahin? Warum kamen Knie mir entgegen und warum Brüste, dass ich daran sog? … Wie die verscharrte Fehlgeburt wär’ ich, die nicht gelebt, wie Kinder, die das Licht noch nie geschaut« (Ijob 3,3.11.12.16).

Was aber sagen seine Freunde Elifas, Bildad und Zofar dazu? Sie können seine Fragen nicht ertragen und herrschen ihn an: »Wie lange noch willst du so reden? Ein wilder Sturm sind deines Mundes Worte!« (Ijob 8,2). Sie nehmen seinen Aufschrei nicht ernst und fangen an, Gott und sich selbst zu verteidigen. Doch Ijob erwidert ihnen: »Elende Tröster seid ihr allesamt. Gibt es für eitle Reden denn kein Ende? … Auch ich verstände es, wie ihr zu reden. Wärt ihr doch erst an meiner Stelle, ich könnte euch mit Worten überhäufen und über euch das Haupt schön schütteln« (Ijob 16,2–4). Alle Argumente seiner Freunde helfen ihm nichts. Indem sie seine schmerzlichen Fragen abweisen, treiben sie ihn in Wirklichkeit in noch tiefere Verzweiflung.