Lotte soll nicht sterben - Siegfried Lenz - E-Book

Lotte soll nicht sterben E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.

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Seitenzahl: 36

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Siegfried Lenz

Lotte soll nicht sterben

Erzählung

Hoffmann und Campe Verlag

Lotte soll nicht sterben

Es ist eine einfache Geschichte, denn sie handelt nur vom Tod und von der Liebe eines Jungen zu einem alten Pferd, und sie passierte in Masuren, zwischen einsamen Wäldern, Mooren und Seen. Masuren war ein schönes Stück Erde, still und unbesiegbar, und so voller Einsamkeit, daß man dort richtig verlorengehen konnte. Das kleine Dorf Romeiken beispielsweise war so ein verlorenes Dorf; die Leute, die hier wohnten, waren Holzfäller und Bauern, und die meisten von ihnen hatten immer nur den Himmel von Romeiken gesehen und nie ein anderes Wasser getrunken als das von Romeiken. Sie waren noch nie aus diesem Dorf herausgekommen, und wenn es einer mal tun mußte, dann traf er gleich Vorbereitungen, als ob er zu einem anderen Stern reisen wollte. Vielleicht glaubten einige sogar, daß die Welt hinter den Feldern von Romeiken zu Ende sei. Das mag schon sein. Rudi jedenfalls glaubte es nicht mehr, obwohl er nur neun Jahre alt war, denn er hatte einen Großvater, der in Johannisburg eine Sägemühle besaß, und Johannisburg war ziemlich weit von Romeiken entfernt. Rudi lief im Sommer immer barfuß, er trug ein graues Flanellhemd und eine kurze, schwarze Manchesterhose, und die Sonne hatte seine Beine und sein Gesicht verbrannt und sein Haar ausgebleicht. Er flitzte oft in den Wäldern herum oder am See, aber die meiste Zeit verbrachte er an der Wiese, denn da war er immer in der Nähe von Lotte. Lotte war ein Pferd, eine alte Grauschimmelstute, die Rudis Vater gehörte, und sie war schon so alt, daß sie nicht mehr zu arbeiten brauchte. Lotte war beinahe zweiundzwanzig Jahre alt und bekam, wie man sagt, das Gnadenbrot. Trotz ihres Alters aber war Lotte noch ein schönes Pferd, und vielleicht lag die größte Schönheit in ihren dunklen, stillen, ein wenig traurigen Augen. Rudi verbrachte die meiste Zeit bei ihr, und er schleppte ganze Bündel von Wegerichblättern, Löwenzahn und wildem Rhabarber an, und während er das dem Pferd auf flacher Hand hinhielt, sprach er mit ihm und erzählte ihm alles Mögliche. Und er dachte, das würde immer so weitergehen und schön sein und nie ein Ende nehmen, bis er selbst einmal alt wäre.

Aber eines Tages – Rudi war zufällig auf dem Hof –, da kam ein Mann in einem Kastenwagen angefahren, ein älterer, hagerer Mann mit grauem Stoppelhaar und einer zerkratzten Lederweste. Er fragte Rudi: He, ist dein Vater zu Hause? Und Rudi sagte: Er ist drin. – Der Mann nickte und ging in das Haus hinein, und Rudi war neugierig, was der von seinem Vater wollte, und er schlich unter das Fenster. Aber er konnte nicht verstehen, was die beiden Männer besprachen, nur zum Schluß kamen sie etwas näher an das Fenster heran, und da hörte er, daß sie von Lotte sprachen. Der Mann mit der Lederweste sagte: Ich komme morgen früh vorbei, gegen fünf, dann nehme ich sie mit. Und Rudis Vater sagte: Gut, ich werde alles soweit fertig machen, und vergiß nicht, mir in den nächsten Tagen den linken Vorderfuß zu bringen. – Dann kamen die beiden Männer auch schon heraus, und Rudi sprang hinter die Sonnenblumen, um nicht gesehen zu werden. Und als der Kastenwagen vom Hof fuhr, ging er durch den Apfelgarten zur Straße und sah den Mann mit der Lederweste krumm auf der Seitenwand des Wagens sitzen, und Rudi folgte ihm, langsam und verwirrt. Er konnte sich nicht erklären, warum der Vater Lotte weggeben wollte, den einzigen Grauschimmel, den er noch hatte, und eine wilde Angst erfaßte ihn, als er an den linken Vorderfuß des Pferdes dachte, den der Vater zurückhaben wollte. Sie wollten Lotte totmachen, überlegte er verzweifelt, das alte Pferd soll sterben.