Louis und die Hexe von Nordstrand - Timo Vega - E-Book

Louis und die Hexe von Nordstrand E-Book

Timo Vega

0,0

Beschreibung

Als Louis einen Kurzurlaub auf dem Hof seiner beiden Tanten an der Nordsee verbringt, gerät er schnell in einen Strudel mysteriöser Ereignisse. Nicht nur, dass ein unbekannter Verfolger ihm ein makabres Geschenk hinterlässt, so ist auch der alte Leuchtturmwärter Heinrich seit einiger Zeit spurlos verschwunden. Unter den Einwohnern im Dorf halten sich hartnäckige Gerüchte, eine Hexe treibe ihr Unwesen. Zusammen mit seinem vierbeinigen Gefährten Rufus und dem hübschen Pascal vom angrenzenden Reiterhof begeben sich die Freunde auf die Suche, die Geschehnisse aufzuklären, und stoßen bei ihren Recherchen auf einen schrecklichen Fund und eine unfassbare Tragödie, die bis weit in die Vergangenheit zurückreicht. #Gaycrime #Spannung # Junge Detektive #Behagliche Wärme

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 175

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Plot

Als Louis einen Kurzurlaub auf dem Hof seiner beiden Tanten an der Nordsee verbringt, gerät er schnell in einen Strudel mysteriöser Ereignisse. Nicht nur, dass ein unbekannter Verfolger ihm ein makabres Geschenk hinterlässt, so ist auch der alte Leuchtturmwärter Heinrich seit einiger Zeit spurlos verschwunden. Unter den Einwohnern im Dorf halten sich hartnäckige Gerüchte, eine Hexe treibe ihr Unwesen. Zusammen mit seinem vierbeinigen Gefährten Rufus und dem hübschen Pascal vom angrenzenden Reiterhof begeben sich die Freunde auf die Suche, die Geschehnisse aufzuklären, und stoßen bei ihren Recherchen auf einen schrecklichen Fund und eine unfassbare Tragödie, die bis weit in die Vergangenheit zurückreicht.

#Gaycrime #Spannung # Junge Detektive #Behagliche Wärme

*

Rufus, der kleine Jack Russell Terrier, jaulte vor Freude auf, als Louis endlich die Autotür öffnete. Mit einem Satz war das schwarz-weiße Hündchen mit den eingeknickten Schlappohren nach draußen gesprungen und streckte seine Ledernase in alle vier Himmelsrichtungen. Der alte Rasthof an der A7 war ungewöhnlich belebt. Viele Reisende standen geduldig Schlange an den Zapfsäulen der Tankstelle, und auf dem angrenzenden Parkplatz reihten sich die Transporter der Berufskraftfahrer aneinander, die bei einem Becher Kaffee in der Oktobersonne pausierten. Selbst auf den Picknickbänken erholten sich mehrere Familien, bei Butterbroten und Limonade, von der anstrengenden Fahrt auf den überfüllten Straßen. Um dem Trubel zu entgehen, hatte Louis am angrenzenden Waldrand geparkt, den der frühe Herbst in leuchtendes Rot und Gelb eingefärbt hatte. Warme Winde bogen die weit in den Himmel ragenden Bäume gefährlich stark zur Seite und wirbelten das bunte Blattwerk tanzend davon. Louis entschloss sich dazu, seinen von der Fahrt bleiern gewordenen Beine mit einem kleinen Spaziergang eine Erholung zu gönnen. Auch Rufus erfreute sich sichtlich an ihrem Ausflug und schnüffelte sich zielstrebig den Weg in den Wald hinein. Die fremden Gerüche schienen ihm gut zu gefallen. Selbst als ihn der Sand in der Nase zu einer Nießattacke zwang, dauerte es nicht lange, bis die ledrige Schnauze erneut jeden Zentimeter des Waldbodens umgrub. Die beruhigenden Eindrücke der Natur klarten auch Louis´ träge gewordenen Sinne spürbar auf. Tief sog er die sauerstoffreiche Waldluft in sich auf. Sie würden nur noch wenige Kilometer bis Hamburg benötigen und von dort aus war das letzte Stück Fahrt, bis zu ihrem Ziel bei Nordstrand, in etwa zweieinhalb Stunden zu erreichen.

Tante Margarethe hatte bei ihrem letzten Anruf, vor lauter Vorfreude auf seinen Besuch, ganz aufgeregt geklungen. Er sah sie wegen der großen Distanz ihrer Heimatorte nicht mehr so häufig wie früher, aber ihre gemeinsamen Telefonate führten sie dennoch mit beharrlicher Regelmäßigkeit. Hier erfuhr er den neuesten Dorftratsch aus der kleinen nordischen Gemeinde und berichtete seinerseits die aktuellsten Geschehnisse seines jungen Lebens in Mannheim. Trotz des enormen Altersunterschieds, immerhin trennten sie gute vier Jahrzehnte, war sie ihm mit ihrer unkonventionellen, beinahe jugendlichen Art die Liebste aus der Verwandtschaft.

Tante Margarethe lebte seit Jahren mit ihrer Partnerin Luci auf einem alten Bauernhof, den sie in den frühen neunziger Jahren gekauft und gemeinsam saniert hatten. Der Hof war wenig wirtschaftlich, denn die beiden Frauen hatten ein viel zu großes Herz für ihre Nutztiere, die selbst dann noch auf dem Gehöft ihren Lebensabend verbringen durften, wenn diese schon lange nicht mehr ertragreich waren. So hatte sich ihr Milchkuhbetrieb nach und nach in einen Lebenshof verwandelt, der sich durch Tierschutzorganisationen und gelegentlichen Tourismus finanzierte. Mit den Jahren, und der zunehmenden Gebrechlichkeit der betagten Frauen, stagnierten die tierischen Neuzugänge. Aktuell zählten lediglich noch zwei alte Milchkühe, eine Hand voll Ziegen und zwei Ponys zu ihrem Bestand und verbrachten die alten Tage in genüsslicher Ruhe mit den beiden liebevollen Frauen. Darüber hinaus zogen einige Katzen ihren Nachwuchs in den alten Stallungen auf. Anfangs wurden Louis´ Tanten von den anderen Ortsbewohnern recht argwöhnisch beäugt. Zwei Frauen aus der Stadt, ohne Mann – es wurde gemunkelt, sie hätten eine Beziehung... Tante Margarethe und Luci ließen diese Frage gerne offen und machten sich einen Spaß daraus ihre neugierigen Nachbarn darüber im Zweifel zu lassen.

„Sollen die Leute doch denken, was sie wollen! Das ist uns doch ganz gleich. Wer über uns Bescheid wissen soll, erfährt es auch. Und wer ein bisschen offen ist, sieht nicht weg, wenn zwei Menschen sich lieben!“

Louis fand es immer unglaublich beeindruckend, wie ausgesprochen mutig und gleichzeitig fröhlich die beiden taffen Damen mit der Kritik ihrer Umwelt fertig wurden. Mittlerweile, nachdem sie schon über dreißig Jahre auf ihrem Hof in der Nähe von Nordstrand lebten, waren sie schließlich ganz und gar in die Gemeinde integriert.

Bei ihrem letzten Telefonat hatte Tante Margarethe sehr aufgeregt geklungen und von dem mysteriösen Verschwinden des Leuchtturmwärters Heinrich berichtet. Schon seit geraumer Zeit war er nicht mehr gesichtet worden. Sein Haus war verlassen, doch er hatte sich bei niemanden verabschiedet. Obwohl er seit Jahren etwas zurückgezogen lebte, war das Urgestein der kleinen Ortschaft ein beliebter Mann, der regelmäßig seine Runde durch den beschaulichen Ort gemacht hatte. Auch Luci und Margarethe hatte er hin und wieder besucht, um Ziegenmilch zu kaufen. Dann saß er noch einige Zeit auf der Veranda, stopfte sich eine Pfeife und trank mit Luci einen heißen Tee, der, gebührend eines alten Seebären, mit einem ordentlichen Schuss Rum versehen war. Bei seinem letzten Besuch hätte er mit keiner Silbe erwähnt, dass er Nordstrand verlassen wolle und trotzdem gab es schon kurze Zeit darauf kein Lebenszeichen mehr von ihm. Er war einfach verschollen. Tante Margarethe war über sein plötzliches Verschwinden sehr besorgt.

„Und niemand hat eine Ahnung, wo er sich aufhält! Er hatte den Leuchtturm immer nur selten verlassen, doch nun steht er leer und es gibt keinen Hinweis, was mit Heinrich passiert sein könnte.“, hatte sie erzählt. „Komm doch für ein paar Tage zu uns hoch. Du warst schon ewig nicht mehr hier und wir würden uns so über deinen Besuch freuen. Die Abwechslung würde dir bestimmt gut tun...“, war nur wenige Augenblicke später ihre spontane Einladung gefolgt...

Rufus und Louis stiegen wieder ins Auto, um die Fahrt fortzusetzen. In der Tat war der Ausflug in den Norden eine höchst willkommene Abwechslung. Seit Milan sich im Frühjahr von ihm getrennt hatte, war sein Alltag in Mannheim unheimlich eintönig geworden. Gegen 9.00 Uhr stand er auf, trank zwei Tassen Kaffee und lief mit Rufus die Morgenrunde durch die angrenzenden Stadtparks. Ab 11.00 Uhr jobbte er dann als Aushilfskellner in dem rustikalen Gasthaus, in dem sich der Charme der achtziger Jahre hartnäckig hielt, jedoch nicht auf moderne Art und Weise. Rufus lag dann dort auf seiner Kuscheldecke und döste bis zum Feierabend vor sich hin. Direkt nach der Arbeit spazierten die Beiden dann ihre große Runde an den Flussauen, bis Rufus vom Toben mit den anderen Hunden völlig erschöpft war und die rosa Zunge beinahe bis zum Boden heraushing. Die Sommerabende verbrachte Louis anschließend mit einem Freund in dem immer gleichen, queeren Straßencafé, wo er seine am Mittag eingenommenen Trinkgelder in ein paar erfrischende Aperölchen investierte. Jeden Abend saßen sie trinkend an einem Bistrotisch auf dem Bürgersteig und beäugten die Passanten, in der stillen Hoffnung, Milan würde zufällig ihren Weg kreuzen. Rufus döste währenddessen zufrieden auf seinem Schoß und hob höchstens mal den Kopf, wenn der süße Schnuckel vom Service mit einem Teller duftender Snacks an ihnen vorbeilief. Meist kam Louis erst kurz vor Mitternacht nach Hause, leicht alkoholisiert und enttäuscht. Er hatte weder Milan getroffen noch andere junge Männer kennengelernt, die sein Herz zum Hüpfen gebracht hätten. So oder ähnlich verging jeder Tag der zerronnenen Sommermonate und Louis hatte genug davon, jetzt wo der Herbst rasant Einzug hielt. Tante Margarethes Einladung kam da wie gerufen. Sie hatte das Beziehungsende der beiden Jungs sehr einfühlsam bedauert. Lediglich elf glückliche Monate hatten sie gemeinsam verbracht, ehe Milan bezweifelte, ob seine Gefühle stark genug seien. Louis konnte das nur schwer nachempfinden, denn er war noch verliebt gewesen wie am ersten Tag. Das Ende ihrer Beziehung folgte auf dem Fuße, beinahe klassisch. Milan fing zunächst eine Affäre mit Louis´ Mitbewohner an, um sich bald darauf vollends rar zu machen. Von heute auf morgen war er schließlich komplett untergetaucht und hatte ihn für immer zurückgelassen.

*

Die Abendsonne versank nun rasch am Horizont. Die letzte Stunde Fahrt über Landstraßen, durch eine atemberaubend schöne Landschaft, hatte ihn von den betrüblichen Gedanken an Milan abgelenkt. Stattdessen sang er, nicht schön, aber laut, die Popsongs aus dem Autoradio mit. Seine Stimmung war nun merklich aufgeklart und die Vorfreude auf seine Tanten beschwingte ihn.

„Nur noch zehn Minuten Rufus, dann sind wir endlich da...!“, kraulte er seinen geduldigen Hund beiläufig hinter den Ohren. Rufus erhob sich umgehend und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

Eine kalte Nacht war nun aufgezogen und begleitete die beiden Freunde klamm auf ihrem finalen Teil der Reise, welche sie durch einen dunklen Wald führte. Helle Nebelschwaden flohen aus dem undurchdringlichen Dickicht des Tanns und schwebten lautlos über den feuchten Asphalt der kurvenreichen Landstraße. Weiße Schlangen, assoziierte Louis und rieb sich die schweren Augenlider, die durch die schlechte Sicht müde geworden waren. Konzentration! Du hast es bald geschafft!, ermahnte er sich zum Durchhalten. Holzkreuze erhoben sich hier und da am Straßenrand, manche davon mit Fotografien versehen. Darunter brennende Grablichter und vermoderte Blumengebinde. Mahnmale tragischer Unfälle. Eine unbehagliche Schwermut überfiel ihn beim Anblick der aufgereihten Gedenkkreuze. Ob sie alle sofort gestorben waren? Oder hatten manche von ihnen über Stunden oder gar Wochen einen Todeskampf geführt, schweiften seine Gedanken zu den Schicksalen der Unfallopfer, als es plötzlich laut gegen seine Windschutzscheibe krachte. Geistesgegenwärtig riss er das Lenkrad herum und kam mit einer Vollbremsung am Straßengraben zum Stehen. Rufus bellte hysterisch, doch er sah unversehrt aus. Dem Himmel sei Dank!, atmete Louis erleichtert auf. Sein vierbeiniger Freund war seit mehreren Jahren sein treuester Weggefährte. Seit er bei ihm eingezogen war, waren sie kaum eine Sekunde getrennt gewesen. Er hätte es sich niemals verziehen, wäre Rufus wegen seiner Unachtsamkeit zu Schaden gekommen. Doch wenigstens einem Teilnehmer des Zusammenpralls ereilte ein weniger freundliches Schicksal, denn ein dicker brauner Fleck befand sich nun an der Stelle der Windschutzscheibe, an der es kurz zuvor den Aufschlag getan hatte. Als Louis durch den Rückspiegel spähte, erblickte er eine große Krähe, die verdreht auf dem dunklen Asphalt lag. Ihr abgespreizter Flügel stand senkrecht gen Himmel und bewegte sich sachte im Wind. Mit pochendem Herzen, und Rufus ganz dicht an seiner Seite, näherte er sich dem toten Tier, das einige Meter hinter dem Wagen zu Fall gekommen war. Der Aufprall hatte dem Vogel das Genick gebrochen. Eine Böe blies gegen seinen abgespreizten Flügel und rüttelte an dem Kadaver. Verdammte Autofahrerei, bedauerte Louis den Unfall. Er war ein absoluter Tierfreund. Der tote Vogel vor seinen Füßen schmerzte ihm das Herz. Auch Rufus sah beunruhigt drein und blickte abwechselnd von der Krähe zurück zu Louis. Einen Moment blieben sie ehrfürchtig bei dem Tier stehen, das so vorschnell und vollkommen unnötig vom Leben Abschied nehmen musste. Ihm kam die bittere Erkenntnis, dass die Landstraße nicht nur für die Menschen eine unglaubliche Gefahr darstellte, als Rufus unvermittelt die Ohren hob und seine Schnauze neugierig in den Wald hinein richtete. Kurz darauf knackte laut Gezweig aus der Dunkelheit der dichten Büsche am Straßenrand.

„Wer ist da?“

Louis starrte erschrocken in den Wald hinein, konnte jedoch kaum die dunklen Silhouetten der Bäume und Büsche voneinander trennen. Ihm schauerte es kalt den Rücken hinab. Gleichzeitig bleckte Rufus seine spitzen Zähne bedrohlich in die Dunkelheit. Morsches Geäst barst in der Nähe und deutlich waren schlürfende Schritte durch Laub zu hören, doch niemand antwortete auf sein Zurufen. Dafür näherten sich die Geräusche aus den Büschen merklich. Seine Herzfrequenz stieg nun schlagartig an und erste bedrohliche Panik breitete sich aus. Ein großer Schatten löste sich schließlich aus dem Dunkel und trat nun zielstrebig auf sie zu. Ausdruckslose Augen funkelten starr unter einer dunklen Kapuze hervor. Rufus´ Bellen überschlug sich hysterisch und ähnelte bald schon einem Winseln. Bedrohlich näherte sich die schweigsame Person auf sie zu. Louis überlegte, ob er erneut das Gespräch suchen sollte, doch instinktiv setzte sein Fluchtreflex ein und schon rannten die beiden verängstigten Gefährten zum Auto zurück, als sei der Teufel hinter ihnen her. Er hoffte nur, dass er jetzt vor lauter Schreck den Wagen nicht abwürgte, als er auch schon den Schlüssel drehte und die Zündung startete. Das Auto heulte laut auf und mit einem Blitzstart brausten sie in die Nacht davon. Der Nebel und der dichte Wald verschluckten bald schon ihre Silhouette. Dennoch brannte sich beim letzten raschen Blick in den Rückspiegel das Bild einer unheimlichen Gestalt in sein Gedächtnis, die bei dem toten Vogel kniete.

*

Der Empfang bei Tante Margarethe und Luci war wie immer sehr herzlich. Gleich als er aus dem Auto gestiegen war, nahmen ihn die beiden alten Damen glücklich in die Arme und herzten ihn energisch.

„Schön, dass du da bist! Aber du hast lange gebraucht... Hoffentlich war nicht zu viel Verkehr auf den Straßen?!“

„Ach Margarethe, du kennst doch seinen vorsichtigen Fahrstil... Mich wundert, dass er überhaupt schon Nordstrand erreicht hat. Ein Formel1 Pilot war Louis doch noch nie...“, lachte Luci und knuffte ihn feste in die Seite.

Wenig später saßen sie alle zusammen in der warmen Stube vor dem Kamin. Tante Margarethe hatte ihnen allen eine heiße Tasse Ostfriesen-Tee gebracht und Louis gleich mit einem Paar viel zu großer Wollsocken ausstaffiert, gegen die er sich nicht rechtzeitig gewehrt hatte.

„In der Nacht wird es hier bei uns im Norden mittlerweile schon ganz schön frisch. Die Temperaturen fallen beinahe bis zum Gefrierpunkt. Ihr süddeutschen Stadtkinder seid die nordische Kälte doch überhaupt nicht gewohnt.“, hatte sie erklärt, während sie ihm in gebückter Haltung die geringelten Wollsocken überstülpte. Auch Rufus bekam eine kuschelige Wolldecke vor den Ofen gelegt, auf der er sich zufrieden auf den Rücken rollte und alle Viere von sich streckte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis das gleichmäßige Knistern des Feuers und die behagliche Wärme den kleinen Hund eingelullt hatten und seine rosa Zunge zufrieden aus den Lefzen baumelte. Auch von Louis fiel endlich die Anspannung der Fahrt ab. Er hatte sich in den gemütlichen Ohrensessel sinken lassen und die Füße auf einem Hocker vor sich abgelegt, von wo aus ihn die Ringelsocken verhöhnten. Von der unheimlichen Begegnung auf der dunklen Landstraße hatte er nichts erzählt. Lucis Kommentar über seinen Fahrstil hatte ihm gereicht. Wenn sie jetzt auch noch erfuhren, dass er sich sprichwörtlich beinahe in die Hosen gemacht hatte, würde er nur noch mehr Spott ernten. Er hatte absolut keine Lust darauf den Rest seines Urlaubs als Hasenfuß verschrien zu sein. Im Nachhinein betrachtet war ja auch gar nichts Schlimmes passiert. Wahrscheinlich hatte ihm nur der Schreck des plötzlichen Aufpralls in den Knochen gesteckt. Obendrein hätte selbst die taffe Luci, bei dieser düsteren Atmosphäre im Wald, mit dem geisterhaften Nebel und den Kreuzen, weiche Knie bekommen, mutmaßte er. Lediglich das plötzliche Erscheinen der schweigenden Gestalt und die Erinnerung an ihren starren Blick, ließ sich nicht so einfach abstreifen. Ein Schauer durchzog ihn kalt, sobald er an die vermummte Person dachte. Der Schreck saß noch immer hartnäckig in seinen Gliedern. In der heimeligen Wohnstube seiner Tanten und ihrer liebevollen Umsorgung, verblasste die Erinnerung an die schaurige Erfahrung jedoch allmählich. Tante Margarethes Geschichten von ihrer letzten Südamerika-Reise war für den Augenblick sowieso interessanter. Fasziniert lauschte er, wie die beiden alten Damen mit einem Jeep und einem Rucksack ausgerüstet auf der Pan-Americana quer über den Kontinent gereist waren. An vielen ihrer Stationen hatten sie sich bei Einheimischen einquartiert und mit ihren Familien zusammengelebt. Lucis Spanischkenntnisse waren für die intensiven Begegnungen mit Land und Leute natürlich von Vorteil. Dabei waren sie unter anderem Zuschauer bei einem Frauenfußballspiel hoch oben in den Anden geworden, bei dem Indio-Frauen aus benachbarten Dörfern gegeneinander antraten.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was das für eine Schau war. Die Frauen hatten keine Sport-Trikots an, sondern spielten in wunderschön bestickten Kleidern und mit geflochtenen Zöpfen. Unser Gastwirt hat uns erzählt, dass es eine der höchsten Auszeichnungen für die Frauen sei, in eine Fußballmannschaft aufgenommen zu werden, um das Dorf vertreten zu dürfen.“, schwärmte Luci. „Und die sahen so hübsch aus in ihren bunten Röcken. Nach dem Spiel gab es ein richtiges Fest mit einem selbstgebrauten alkoholischen Maisgetränk. Wir hatten vielleicht Kopfschmerzen am nächsten Tag...“

Louis zog die Kuscheldecke noch ein Stück höher und lauschte fasziniert den abenteuerlichen Geschichten seiner Tanten. Sie berichteten über ihre Begegnungen mit Schamanen, unwirklichen Salzwüsten, dem Genuss von Kokablättern, Regenwaldexpeditionen voller exotischer Pflanzen und wilder Tiere, sowie von den Lebenslinien ihrer Gastfamilien. Louis beneidete die alten Damen, die so viel mehr erlebten als er. Sie berichteten so lebendig von ihren Erfahrungen, dass es ihm vorkam, als würde er den Kontinent aus seinem Ohrensessel heraus buchstäblich mitbereisen. Es fehlte lediglich noch ein Eimer Popcorn im Arm. Erst als sie von ihren Erfahrungen mit Meerschweinfleisch berichteten, verzog er angewidert das Gesicht.

„Ach, tu nicht so! Erst probieren, dann meckern. Es ist eine absolute Delikatesse bei den Peruanern und schmeckt eigentlich nicht viel anders als Hühnchen!“, konterte seine Tante.

„Ihr wisst doch, dass ich schon seit Jahren Vegetarier bin.“, brüstete er sich. „Die Vorstellung Meerschwein zu essen ist einfach widerlich, Tante Margarethe!“ Es gab durchaus Erfahrungen, auf die er gerne verzichtete. „Und was habt ihr in dieser Zeit mit eurem Hof gemacht? Wer hat sich denn um all die Tiere gekümmert?“, wechselte er endlich das Thema.

„Na die versorgen sich doch so gut wie selbst. So schnell wie das Gras da draußen wächst, können die gar nicht fressen. Hin und wieder hatte Pascal nach dem rechten gesehen. Sein Vater ist der Besitzer des angrenzenden Pferdehofs, gleich fünfhundert Meter weiter die Straße hinunter. Ein ganz lieber Junge. Er arbeitet im Kaffeehaus und hilft dort im Service aus. Wir stellen ihn dir gerne mal vor.“, lächelte Maggie liebevoll.

„Als Dankeschön haben wir ihm Pico mitgebracht. Ein uralter Esel aus Patagonien, für den die Gauchos keine Verwendung mehr hatten. Das alte Tier hatte sich während unseres Aufenthaltes auf der Ranch jedoch so sehr mit Maggie angefreundet, dass sie Pico unmöglich seinem Schicksal überlassen konnte. Du kennst ja ihr weiches Herz... Na ja, und was soll ich sagen: Irgendwie hat sie es geschafft die Einreisegenehmigung für Pico zu bekommen. Und nun steht er draußen auf der Weide und hat schon mehr Monate abgerissen, als man ihm vorausgesagt hatte.“

„Ihr seid wirklich ein paar verrückte Hühner!“, lachte Louis laut auf und malte sich in lebhaften Bildern aus, wie die zwei alten Damen mit einem Esel im Handgepäck quer über den Atlantik geflogen waren.

*

Louis gähnte herzhaft und reckte die Arme weit von sich.

„Das gibt’s doch nicht. So ein junger Kerl und schon müde?!? Wie alt bist du denn, Herzchen? Fünfzig?“, wollte Luci wissen.

„Ich bin dieses Jahr fünfundzwanzig geworden, Tante Luci!“ Louis nannte beide Damen Tante, obwohl er genau genommen nur mit Margarethe verwandt war.

„Fünfundzwanzig?!?“, wiederholte Luci energisch. „Das ist ja nicht zu fassen! Wann haben wir uns denn das letzte Mal gesehen? Ist das wirklich schon so lange her?!“

Louis nickte. Es mussten tatsächlich schon einige Jahre vergangen sein. Während seiner Kindheit hatte er sämtliche Schulferien bei ihnen auf dem Hof verbracht. Bei seinen Tanten war es immer sehr abenteuerlich gewesen. Häufig durfte er einen Schulkameraden mitnehmen. Sie waren auf Bäume geklettert, hatten die alte Scheune nach Schätzen durchsucht, hatten bei der Arbeit geholfen oder die weitläufige Landschaft erkundet. Abends hatten sie an der offenen Feuerstelle gegrillt und in den Sommerferien vor der Kuhweide gezeltet. Selbst die Mitschüler, die ihren Urlaub in einem teuren Hotel im Ausland verbracht hatten, waren nach den Ferien immer ganz gebannt an seinen Lippen gehangen, wenn er von seinen Abenteuern erzählte, die er auf dem alten Hof bei Nordstrand erlebt hatte. Louis gähnte erneut. Die Augen waren müde und fielen ihm schläfrig zu.

„Du meine Güte, du hast ja schon ganz kleine Augen. Komm, ich bring dich in die Schlafstube.“

„Tja Maggie, ich glaube das letzte Schinkenbrot, das du ihm aufgedrückt hast, war einfach zu viel...“, lachte Luci von dem alten Knubbelsofa rüber. Tatsächlich hatten die Tanten vehement darauf bestanden, dass Louis ihren selbstgeräucherten Hofschinken probierte. Und nachdem der erste Bissen getan war, konnte er sich nicht mehr stoppen und vernichtete gleich vier Schinkenbrote mit Essiggurken und Petersilie. So viel zum Thema konsequenter Vegetarier.

Tante Margarethe begleitete ihn zu der Schlafstube im hinteren Teil des Erdgeschosses. Die Ausstattung war rudimentär und das Zimmer kühl.

„Wir schlafen gerne bei niedrigen Temperaturen, aber wenn dir das zu kühl ist, kannst du den kleinen Ofen anfeuern. Holz liegt in der Ablage und Streichhölzer findest du in der Nachttischschublade.“

„Danke, Tantchen. Ich komme zurecht. Gute Nacht zusammen!“

Louis zündete die beiden Nachttischlampen links und rechts neben dem Bett an. Rufus sprang mit einem Satz auf die dicke Daunenbettwäsche und sank langsam darauf ein. Er hatte sich zu einer Schneckennudel zusammengerollt und die Schnauze