Louisa. Und täglich grüßt das Chaos - Frauke Scheunemann - E-Book
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Louisa. Und täglich grüßt das Chaos E-Book

Frauke Scheunemann

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Beschreibung

Louisa gehört an ihrer Schule eher zu den Statisten und wird weitestgehend übersehen. Oberzicke Clarissa steht dagegen ständig im Rampenlicht und macht sich täglich einen Spaß daraus, sie zu schikanieren. Das ändert sich aber plötzlich, als Louisa zum Geburtstag ein Handyspiel bekommt. Willkommen Lousia 2.0: cool, schlagfertig und hip. Und schon hört die wirkliche Welt auf ihr Kommando und das Chaos ist vorprogrammiert … Das erste Jugendbuch von Frauke Scheunemann – rasant, humorvoll und crazy!

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Über dieses Buch

»Oh! Mein! Gott! Ist das gerade wirklich passiert?«

 

Louisa gehört an ihrer Schule eher zu den Statisten und wird weitestgehend übersehen. Oberzicke Clarissa steht dagegen ständig im Rampenlicht und macht sich täglich einen Spaß daraus, sie zu schikanieren. Das ändert sich aber plötzlich, als Louisa zum Geburtstag ein Handyspiel bekommt. Willkommen Louisa 2.0: cool, schlagfertig und hip. Und schon hört die wirkliche Welt auf ihr Kommando und das Chaos ist vorprogrammiert …

Prolog

Gurkenscheibchen

Oh! Mein! Gott! Ist das gerade wirklich passiert? Ich meine, es war schon lustig, Clarissa bei FriendsCity in den Hotdog-Stand stolpern zu lassen. Die Mayonnaise und der Ketchup gaben ihrer Frisur wirklich das gewisse Etwas, und gut für die Haare soll das ja auch sein … Schade, dass FriendsCity nur ein Spiel auf meinem Handy ist. Und das Mädchen mit dem Ketchup im Haar bloß ein Avatar. Echt lustig, aber nur ausgedacht. Bis eben jedenfalls. Denn jetzt ist die echte Clarissa wirklich über Jos Skateboard gestolpert und damit volle Lotte in den Hotdog-Stand gerauscht. Und ja: Jetzt hat auch die echte Clarissa Mayo und Ketchup im Haar. Plus noch ein paar Röstzwiebeln und Gurkenscheibchen auf der Nase. Autsch! Sieht aus, als hätte das ein bisschen wehgetan! Aber das wirklich Seltsamste an der Sache ist, dass ich, Louisa »Isi« Winter, das Gefühl habe, daran schuld zu sein. Ja, Leute, haltet mich für verrückt – aber schließlich war genau das meine Geschichte bei FriendsCity …

1. Kapitel

Vollkatastrophe

Jaaaa! Endlich ist er da, der erste Schultag nach den Sommerferien! Ich freue mich riesig! Bevor ihr mich jetzt alle für völlig verrückt haltet, weil das Ende der Sommerferien ja normalerweise echt zum Heulen ist – ich kann euch auch genau erklären, warum. Also, warum das so ein genialer Tag ist: Es ist der Start in mein neues Leben. Ab heute bin ich, Louisa »Isi« Winter, kein bemitleidenswerter Lappen mehr, sondern Fame. Angesagt. Cool. Nennt es, wie ihr wollt, jedenfalls werde ich nicht mehr zur falschen Zeit in den falschen Klamotten am falschen Ort sein und die falschen Sachen sagen. Wieso ich da so sicher bin? Ganz einfach: Es ist nicht nur der erste Schultag nach den Sommerferien, sondern auch der erste Tag in der achten Klasse. Was an meiner Schule bedeutet, dass die Klassen völlig neu zusammengesetzt werden. Es gibt einen neuen Klassenlehrer und neue Mitschüler – nur einen Freund aus der alten Klasse darf man sich für die neue Klasse wünschen. Klingt furchtbar? Nee, überhaupt nicht! Das ist meine Chance! Und ich werde sie ergreifen!

»Sachma, alles in Ordnung bei dir?«

Theo mustert mich neugierig von der Seite.

»Klar, wieso?«

»Du wirkst so, als hättest du irgendwas genommen. Oder als hättest du sechs Liter Cola auf ex getrunken. Total überdreht und hibbelig. Ich habe Angst, dass du gleich vom Fahrrad fällst.«

»Quatsch.« Mehr sage ich nicht, sondern trete weiter in die Pedale. Theo ist zwar mein bester Freund, aber von meinem Plan habe ich ihm nichts erzählt. So, wie der immer über den Dingen schwebt, hätte der mir garantiert einen Bleib-doch-einfach-du-selbst-Spruch reingedrückt. Das ist ungefähr das Letzte, was ich jetzt brauchen kann. Denn ich will nicht ich selbst bleiben. Das war ich die letzten 13 Jahre meines Lebens, und das reicht mir völlig.

RUM! Ich knalle mit meinem Vorderrad auf den Bürgersteig, mein Fahrrad macht einen richtigen Satz. Mist – hab gar nicht gesehen, dass ich schon so nah am Kantstein war! Jetzt packe ich mich wirklich gleich hin!

»Hey, Isi, Vorsicht!«, ruft Theo und klingt erschrocken. »Guck doch, wo du hinfährst! Wo ist eigentlich deine Brille? Ich glaube, es ist keine gute Idee, ohne zu fahren. Bist ja offenbar total blind.«

»Ich war nur abgelenkt«, beschwichtige ich ihn. »Und ’ne Brille brauche ich nicht mehr, ich habe jetzt Kontaktlinsen.« Die gehören gewissermaßen zu meinem persönlichen Starterpaket Louisa 2.0.

»Echt?« Theo klingt beeindruckt. »Haben deine Eltern es doch endlich erlaubt?« Er weiß natürlich, dass ich schon seit mindestens zwei Jahre Linsen haben will, meine Eltern bisher aber strikt dagegen waren. Viel zu kompliziert und pflegeaufwendig für ein Kind in deinem Alter!, ist immer ihr Standardspruch. Als ob ich noch ein Baby wäre!

»Öhm, gewissermaßen«, antworte ich.

Theo bremst und hält, ich ebenfalls. Dann steigt er ab und guckt mich genau an.

»Stopp mal – was meinst du mit gewissermaßen? Haben sie es nun erlaubt oder nicht?«

Ich merke, wie ich rot werde. Verdammt! Die neue Isi wird doch nicht mehr rot, wenn ihr etwas peinlich ist. Was daran liegt, dass die neue Isi so cool ist, dass ihr einfach nichts mehr peinlich ist. Okay, das muss ich vielleicht noch ein bisschen üben. Ich seufze.

»Ja, okay, sie haben es nicht so direkt erlaubt. Aber ich habe sie gefragt, ob sie mir fünf Euro geben könnten, ich müsste noch etwas für die Schule besorgen. Die haben sie mir gegeben, damit habe ich dann die Linsen gekauft, also haben sie es mir doch irgendwie erlaubt.«

Theo reißt die Augen auf. »Es gibt Kontaktlinsen für fünf Euro?«

Ich nicke.

»Wow!« Er pfeift durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. »Hätte gedacht, so was ist teurer. Bei welchem Optiker warst du denn?«

»Wieso Optiker? Ich war im Drogeriemarkt. Da gibt es weiche Linsen in der Sechserpackung für vier Euro neunundneunzig. Hammer, oder?«

Kopfschütteln.

»Mann, Isi, echt – du kannst dir doch nicht einfach so Kontaktlinsen kaufen.«

»Warum nicht?«

»Na, die müssen doch irgendwie angepasst werden. Also, wenn man noch nie welche hatte, muss man erst mal zum Augenarzt oder Optiker. So war es jedenfalls bei meinem Bruder. Der ist garantiert nicht einfach in den nächsten Supermarkt gelatscht.«

»Drogeriemarkt«, korrigiere ich Theo.

»Na, oder Drogeriemarkt. Ist auch egal. Ich meine: ohne Beratung.«

Alter Besserwisser.

»Wofür denn Beratung? Ich weiß doch, wie stark meine Brillengläser sind. Minus vier Dioptrien. Also habe ich mir auch Linsen in der Stärke gekauft. Die steht direkt auf dem Karton drauf, gar kein Problem. Fürs Einsetzen habe ich mir ein Tutorial auf YouTube angeguckt, ging dann eins a. Und jetzt sehe ich scharf.«

»Schon klar. Und deswegen bist du auch gerade voll gegen die Kante geheizt.«

»Das hat damit gar nichts zu tun. Und jetzt lass uns weiter, ich will heute auf gar keinen Fall zu spät kommen.«

Theo sagt nichts mehr, steigt wieder auf sein Fahrrad und fährt weiter. Ich habe ihn offenbar überzeugt.

Ohne Brille sehe ich wirklich nix, was weiter als einen Meter von mir entfernt ist. Maulwurf total. Aber die Linsen sind einfach mega. Das Einsetzen war zwar nicht ganz so leicht, wie ich eben behauptet habe. Lag aber vielleicht auch daran, dass ich es nicht im Bad vor dem großen Spiegel, sondern heimlich im Fahrradkeller gemacht habe. Na ja, nach drei bis sieben Anläufen hab ich die Linsen dann endlich reinbekommen. Und jetzt sehe ich sogar besser als mit meiner Brille. Nicht scharf, sondern superscharf, sozusagen. Fast habe ich das Gefühl, als würden meine Augen die Bilder um mich herum aufsaugen, sie brennen ein bisschen. Egal. Hauptsache, ich bin meine Brille los. Denn Brille und die neue, coole, angesagte Isi Winter – das passt einfach überhaupt nicht zusammen!

 

»Da drüben«, flüstere ich Theo zu, »Clarissa und Magdalena …«

»Wer? Clarissa und wer?«, trompetet Theo so laut, dass die beiden Mädchen sich prompt umdrehen und zu uns herüberschauen.

»Schschhh!«, zische ich Theo an. »Leise! Die hören dich doch!«

»Na und?« Theo kann Clarissa nicht ausstehen, das merke ich immer an der Art, wie er ihren Namen ausspricht.

»Das sollen sie auf keinen Fall. Sonst wissen die doch gleich, dass wir über sie geredet haben!«

Theo zuckt mit den Schultern. Er scheint nicht zu begreifen, wie wichtig es gerade am ersten Schultag ist, seinen neuen Mitschülern total lässig gegenüberzutreten. Es muss so aussehen, als sei es einem ziemlich egal, mit welchen Leuten man in der neuen Klasse gelandet ist. Und so sieht es natürlich überhaupt nicht aus, wenn man sich kurz davor den Hals nach ihnen verrenkt hat. Gerade Clarissa Eggers soll nicht wissen, wie aufgeregt ich bin, dass ich jetzt in eine Klasse mit ihr gehe. Denn Clarissa ist das, was ich gern wäre: cool und angesagt. Ihr Wort ist Gesetz; was sie sagt, wird gemacht. Sie ist die Königin der Heinrich-Heine-Schule. Bisher ging sie immer in meine Parallelklasse, aber jetzt sind wir beide in der 8d gelandet.

Ich bemühe mich, sehr entspannt in Richtung Mittelstufengebäude zu schlendern. Mindestens tausend Mal habe ich mir in den letzten Tagen ausgemalt, wie ich durch die große Drehtür gehe und dabei fantastisch aussehe. Die Röcke und Blusen mit Blümchenmuster, die ich sonst so gern trage, habe ich alle in die hinterste Ecke meines Kleiderschranks verbannt. Stattdessen trage ich ein enges schwarzes T-Shirt und eine ebenso enge schwarze Jeans, und ich habe keinen Pferdeschwanz, sondern einen lockeren Dutt, aus dem ich extra ein paar Strähnen herausgezogen habe. Ziemlich lässig also!

Leider auch ziemlich lästig. Denn ein Teil der Strähnen pikst mir ein bisschen in die Augen, und ich muss zwinkern, was ich momentan gar nicht gut haben kann. Egal. Wie sagt meine Oma immer: Wer schön sein will, muss leiden!

»Wenn du ein Pferd wärst, würde ich sagen, du lahmst«, kommentiert Theo mein Schlendern und grinst.

»Warum? Nur weil ich hier nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn Richtung Schulgebäude renne? Ich gehe ganz entspannt.«

»Nee. Das ist kein entspanntes Gehen, sondern ein langsames Humpeln. Also, falls das irgendwie cool aussehen soll: Tut es nicht. Sieht scheiße aus.«

Mist – ich hoffe, Theo will mich nur ärgern. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass Clarissa und Maggi nun auch auf die Drehtür zusteuern. Ich atme tief ein, strecke den Rücken durch, nehme die Schultern nach hinten und mache den ersten Schritt in die Drehtür. Tatsächlich kann ich gerade gar nicht genau sagen, wie groß der Durchlass schon ist, denn bei genauerem Hinschauen sehe ich den entstandenen Spalt gerade irgendwie doppelt. Wie kommt das denn? Ich kneife die Augen zusammen, was wehtut, weil ich damit die blöde Strähne, die direkt auf Wimpernhöhe endet, regelrecht in mein Auge drücke. Das Bild, das eben noch scharf, wenn auch doppelt war, verschwimmt nun ein bisschen, und meine Schritte werden unsicherer.

»Hey, Winter«, höre ich eine Stimme hinter mir, »biste gelähmt, oder warum schleichst du so? Oder haste etwa Schiss vor deiner neuen Klasse? Gib mal Gas. Wir wollen hier nicht ewig warten, bis du dich durch die Tür getraut hast!«

Oh nein! Eindeutig Maggis Stimme! Das bedeutet, dass sie jetzt direkt hinter mir stehen. Tatsächlich höre ich nun auch Clarissas Stimme.

»Aber Maggi, nun stress doch die arme Isi nicht so. Die scheint es heute schon schwer genug mit sich selbst zu haben. Ist schließlich ganz schön kompliziert, so eine Drehtür.« Sie kichert.

Läuft ja super mit meinem lässigen Eindruck. So gar nicht! Ich mache einen hektischen Schritt nach vorn und versuche, möglichst schnell durch die Drehtür zu kommen. Leider bin ich dabei so schwungvoll, dass ich mit dem Kopf an die vordere Glaswand stoße. Die Drehtür macht daraufhin eine Vollbremsung, ich knalle noch mal mit Wumms vor das Glas und falle auf den Hintern. Natürlich nicht, ohne mir dabei noch den Kopf an der hinteren Glaswand anzuschlagen. Dann liege ich festgekeilt in dem Drehtürabteil und bin einen Moment lang benommen.

Von draußen höre ich Stimmen, sie klingen ganz dumpf in meinem Drehtürgefängnis.

»Oh Mann, was macht die denn?«

»Hol mal einer den Hausmeister! Sonst kriegen wir die da nie raus!«

»Wie bescheuert kann man sein?«

»Wer is’n das? Die Winter?«

»Ja. Hat wohl heute ihre Brille nicht auf, das blinde Huhn!«

»Gott, wie dämlich!«

Tränen schießen in meine Augen, die ich sehr gern schließen würde, um nicht zu sehen, wie mich meine Klassenkameraden anstarren wie einen seltsamen Fisch im Aquarium. Doch leider ist das gar nicht so einfach. Denn die Kontaktlinsen reiben jetzt so stark auf meinen Augen, dass jedes Blinzeln höllisch brennt und kratzt.

Jemand klopft gegen die Scheibe.

»Alles okay bei dir, Isi?«

Theo.

»Ja, alles gut!«, krächze ich kaum hörbar, obwohl natürlich überhaupt nicht alles okay ist. Im Gegenteil. Es sollte der Morgen meines Triumphs werden, stattdessen ist es ungefähr das Schlimmste, was mir seit langer Zeit in der Schule passiert ist.

»Kannst du aufstehen? Schätze mal, wenn du nicht mehr vorn und hinten Kontakt zur Tür hast, wird sie wieder anfangen, sich zu drehen, und du kannst raus.«

Ich nicke ergeben und rapple mich hoch. Tatsächlich beginnt die Tür wieder, sich langsam zu drehen, und ich stolpere ins Innere des Mittelstufenhauses. Kurz darauf steht Theo neben mir.

»Mann, Mann, Mann, was war das denn für ’ne Aktion? Besonders cool sah das jedenfalls nicht aus.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich habe die Tür auf einmal irgendwie doppelt gesehen, und dann bin ich gestolpert.«

»Das liegt bestimmt an den Kontaktlinsen. Wärste mal besser zum Optiker gegangen.«

»Menno, jetzt hör doch mal auf, mich ständig runterzumachen. Ich fand die Idee gut, und bevor ich gleich echt sauer werde, lass uns lieber in die neue Klasse gehen.«

Theo hebt beschwichtigend die Hände. »Ist ja gut, ist ja gut. Ich wollte dich doch nur ein bisschen ärgern, weil ich dein Projekt ›Die neue Isi‹ echt lustig finde. Und total überflüssig.«

»Woher weißt du das mit dem Projekt?«, frage ich überrascht. Theo grinst.

»Ich kenn dich schließlich schon ’ne Weile. Es ist ja nicht nur die Brille. Es ist dein ganzer Look – wenn du hier auf einmal ohne Blümchenmuster, sondern ganz in Schwarz aufkreuzt, kann das nur zwei Sachen bedeuten: Entweder, jemand ist gestorben und du musst gleich zu einer Beerdigung. Aber das hättest du mir erzählt. Oder du willst auf Biegen und Brechen anders aussehen. Das in der Kombi mit der Tatsache, dass ich in Anwesenheit von der beknackten Clarissa nicht mal mehr laut sprechen darf, macht den Fall für mich klar: Du willst eine radikale Typveränderung.«

Betreten schaue ich zu Boden. Theo hat mich voll durchschaut.

»Na ja, wenigstens so ein bisschen«, flüstere ich. Dazu sagt Theo nichts mehr, sondern hakt mich unter und geht mit mir in unseren neuen Klassenraum.

Dort nehme ich still und stumm an dem Tisch Platz, den Theo für uns beide ausgesucht hat. Eigentlich sah mein Plan vor, mich näher an Clarissa und ihre Clique zu setzen, aber unter den momentanen Umständen bin ich über ein paar Meter Abstand sehr dankbar. Ich traue mich nicht, zu ihr hinüberzuschauen, aber ich bin mir sicher, dass sie und ihre Freundinnen gerade tierisch über mich ablästern. Ihre Blicke kann ich jedenfalls fast spüren.

Kurz nach uns kommt Herr Gambati in den Raum. Er ist unser neuer Klassenlehrer und unterrichtet Deutsch und Kunst. Ich hatte ihn noch nie als Lehrer, aber bin sehr gespannt, ihn endlich kennenzulernen. Er leitet nämlich die Theater-AG, und zu meinem Projekt »Neuanfang« gehört auch der feste Wille, dort mitzumachen. Wenn man hier im Deutschunterricht einen guten Eindruck macht, hat man bestimmt die Chance auf eine gute Rolle! Lehrer sind ja einfach gestrickt: Wenn du keinen Ärger machst, mögen sie dich. Und wenn sie dich mögen, dann bist du klar im Vorteil. Also setze ich mich gerade hin und versuche, einen möglichst interessierten und intelligenten Eindruck zu machen.

Tatsächlich erzählt er nach einer kurzen Vorstellungsrunde von der Theater-AG und dass er sich freuen würde, möglichst viele von uns dort zu sehen. Die AG plant auch ein neues Stück, er verrät aber noch nicht, welches. Um uns noch ein bisschen für die AG zu begeistern – was bei mir gar nicht nötig ist –, bittet er dann Clarissa nach vorn. Clarissa hatte in der letzten Produktion eine der Hauptrollen: die Luise aus Kabale und Liebe. Bisschen staubiges Stück, geschrieben von jemandem, der schon echt lange tot ist, aber mit dramatischer Liebesgeschichte. War im letzten Schuljahr ein voller Erfolg.

»So, ich demonstriere euch mal, wie wir arbeiten, wenn wir proben. Clarissa übt einen Monolog ein, also einen längeren Text, den nur sie spricht. Damit sie den richtig gut rüberbringt, braucht sie einen Anspielpartner. Gibt ja nichts Blöderes, als mit einer Wand zu reden. Wer hat Lust, Clarissa zu helfen?«

Ehe noch jemand etwas dazu sagen kann, reiße ich die Hand hoch! Die Gelegenheit, meinen schlechten Eindruck bei Clarissa wieder auszubügeln und gleichzeitig einen guten bei Gambati zu machen, wird so schnell nicht wiederkommen.

»Ah, sehr gut«, ruft Gambati erfreut und bittet mich mit einer Handbewegung nach vorn. »Du heißt?«

»Louisa«, antworte ich, fast flüsternd.

»Haha, das passt ja zum Stück!«, freut sich Gambati.

Clarissa rollt mit den Augen. Sie scheint nicht besonders begeistert. Egal. Gleich wird sie sehen, dass ich die perfekte Partnerin für sie bin. Gambati stellt einen Stuhl nach vorn, ich setze mich.

»So«, meint Gambati, »Clarissa ist also die junge Luise, die ihre Liebe verteidigt. Und zwar vor Lady Milford, die in dieser Szene zwar nichts sagt, aber Luises Projektionsfläche ist.«

Hä? Projektwas? Ich versteh kein Wort. Macht aber nichts, schließlich soll ich ja nichts sagen, sondern nur hier rumsitzen. Clarissa seufzt und beginnt.

»Und wenn Sie es nun entdeckten? Und wenn Ihr verächtlicher Fersenstoß den beleidigten Wurm aufweckte, dem sein Schöpfer gegen Misshandlung noch einen Stachel gab?«

Clarissa schnaubt verächtlich. Ich rühre mich nicht, sondern starre sie nur an.

»Ich fürchte Ihre Rache nicht, Lady – die arme Sünderin auf dem berüchtigten Henkerstuhl lacht zum Weltuntergang. Mein Elend ist so hoch gestiegen, dass selbst Aufrichtigkeit es nicht mehr vergrößern kann.«

Je mehr ich Clarissa anstarre, desto komischer wird mir. Denn jetzt sehe ich wieder doppelt, und wenn Clarissa sich beim Sprechen dann noch hin und her bewegt, wird mir regelrecht schwindelig. Reiß dich zusammen, Isi!, schimpfe ich mit mir selbst. Clarissa redet weiter auf mich ein und fuchtelt jetzt zu allem Elend auch noch mit ihrem Finger direkt vor meiner Nase herum.

»Sie wollen mich aus dem Staub meiner Herkunft reißen. Ich will sie nicht zergliedern, diese verdächtige Gnade. Ich will nur fragen, was Milady bewegen konnte, mich für die Thörin zu halten, die über ihre Herkunft erröthet?«

Das Doppeltsehen, die komische Sprache, Clarissas hektische Bewegungen – woran auch immer es liegt: Um mich herum beginnt sich alles zu drehen. Erst langsam. Dann immer schneller. Und dann, BUMM!, ist es mit einem Mal völlig dunkel um mich herum. Und still. Bin ich jetzt tot?

2. Kapitel

Dumm gelaufen

»»Was machst du denn für Sachen?« Fanny schüttelt den Kopf, während sie mir eine Tasse mit heißem Pfefferminztee unter die Nase hält. Ich hasse Pfefferminztee, aber wenn er von der großartigsten Großmutter der Welt serviert wird, muss ich ihn wohl trinken. Zwei Schlucke aus der Tasse, und es geht mir tatsächlich etwas besser.

Ich befinde mich zu Hause auf dem Sofa, Fanny hat mir zwei Kissen unter den Kopf geschoben und mich mit einer kuscheligen Wolldecke zugedeckt. Nach meinem kleinen Ohnmachtsanfall in der Deutschstunde hat mich meine Großmutter aus der Schule abgeholt. Sie hat mein Fahrrad in ihren klapprigen, knallbunten VW-Bus geladen und ist mit mir nach Hause gedüst.

Dort liege ich nun also herum und fühle mich wieder genauso mickrig wie Kindergarten-Louisa, die auch ab und zu von Fanny eingesammelt werden musste, weil sie sich das Knie aufgeschlagen oder eine Erbse ins Ohr gesteckt hatte. Na gut, eigentlich hatte mir der blöde Torben die Erbse ins Ohr gesteckt, aber das habe ich mich nicht zu sagen getraut, weil ich Angst hatte, dass er mich dann verhauen würde. Ich könnte wetten, dass es damals auch Pfefferminztee gab – Fanny glaubt einfach, dass dieser scheußliche Tee gegen alles hilft.

Es war übrigens schon immer Fanny, die angerufen wird, wenn sich kleine oder größere Katastrophen bei mir ereignen. Mama und Papa sind meistens viel zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Sie haben eine Rechtsanwaltskanzlei und sind pausenlos unterwegs, um ihre Mandanten zu retten. Das klingt jetzt krass, so als würden die mich irgendwie vernachlässigen. Ist aber nicht so. Ich kann die beiden immer erreichen, und sie wissen auch, was bei mir gerade abgeht. Nur mich mal eben abholen – das können sie nicht. Können ja schlecht den Richter sitzen lassen, weil ihre Tochter eine Erbse im Ohr hat oder in einer Drehtür stecken geblieben ist. Macht mir aber nichts. So habe ich nicht nur Mama und Papa, sondern auch eine äußert coole Oma, die immer wieder die tollsten Ideen hat. Oder auch einfach nur mal einen Pfefferminztee für mich kocht.

»So, jetzt noch mal von vorn: Du hast auf einmal alles doppelt gesehen, dann ist dir schwindelig geworden, und du bist vom Stuhl gekippt? Und vorher hattest du schon einen Unfall mit der Drehtür?«

Ich nicke stumm.

»Theo hat irgendwas von deiner Brille gesagt?«

Mieser Verräter! Hat er etwa erzählt, dass ich mir Kontaktlinsen gekauft habe? Fanny mustert mich.

»Hast du die Brille verloren, oder warum trägst du sie nicht?«

Gut, Theo ist kein Verräter. Aber jetzt muss ich wohl raus mit der Sprache. Wenn ich Fanny die Geschichte von der verlorenen Brille erzähle, muss ich die nächsten drei Stunden bestimmt die gesamte Wohnung absuchen.

»Ich hab sie nicht verloren, ich hatte sie nur nicht dabei.«

»Aber wie bist du denn dann heil in die Schule gekommen? Du kannst doch ohne Brille gar nichts sehen. Auch nicht doppelt!« Fanny grinst.

 

Einmal Luft holen – und dann raus mit der Wahrheit!

»Ich habe mir vorgestern Kontaktlinsen besorgt. Die habe ich momentan drin. Erst klappte das ganz gut, aber dann, auf dem Weg durch die Drehtür, ging das mit dem Doppeltsehen auf einmal los.«

Fanny starrt mich an. Kriege ich jetzt einen Anpfiff? Schließlich weiß sie ganz genau, dass Mama und Papa strikt gegen Kontaktlinsen sind. Ihr Mund beginnt sich zu kräuseln – und dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. Puh! Sie ist nicht nur die großartigste, sondern auch die coolste Großmutter der Welt.

»Du hast was?« Noch immer muss sie japsend nach Luft schnappen, so lustig scheint sie die ganze Angelegenheit zu finden. »Wie kommst du denn auf die Idee, dass man sich die Dinger einfach nur kaufen muss? Kein Wunder, dass das in die Hose gegangen ist!«

Okay, manchmal ist sie auch nicht großartig, sondern so doof wie die anderen Erwachsenen.

»Wieso?«, schnappe ich beleidigt. »Ich finde, das war eine Mega-Idee! Du musst ja schließlich nicht mit so einer ätzenden Brille rumlaufen.«

»Na komm.« Fanny streicht mir besänftigend über die Haare. »Ich wollte dich nicht ärgern. Ich verstehe dich doch, obwohl ich deine Brille überhaupt nicht ätzend finde.«

»Ich wollte halt anders aussehen. Nicht mehr so … so … nicht mehr so Isi-mäßig.«

»Ach, und deswegen auch keine Blümchen mehr?«

Oh, das hat Fanny auch gemerkt? Offenbar kann sie meine Gedanken lesen, denn ohne dass ich laut gesprochen hätte, antwortet sie mir.

»Ja, das habe ich gemerkt. Als Erstes sogar. Denn wenn hier einer gern Blümchen trägt, dann doch wohl ich. Und bis eben dachte ich: du auch!«

Stimmt. Die Liebe zu wilden Mustern teile ich mit Fanny. Wenn sie nicht so unglaublich klein und zart wäre, hätte ich schon öfter Klamotten mit ihr getauscht. Na gut, ich übertreibe: Vielleicht müsste Fanny dafür noch sechzig Jahre jünger sein. Auf alle Fälle hat sie mich mit ihrer Kleidung oft inspiriert. Ich zucke also verlegen mit den Schultern.

»Ähm, ich finde Blumenmuster immer noch schön, aber ich dachte … jetzt, wo das neue Schuljahr anfängt … Also, ich dachte, ich könnte doch einfach mal jemand anderes sein. Nicht mehr Isi, die Liebe, sondern Isi, die Coole. Verstehst du?«

Fanny nickt. »Natürlich verstehe ich das. Ich habe in meinem langen Leben zwar die Erfahrung gemacht, dass es sich meistens nicht lohnt, jemand anderes sein zu wollen – aber das muss wahrscheinlich jeder für sich selbst herausfinden.«

»Ja«, antworte ich knapp, denn ich bin fest davon überzeugt, dass das bei mir anders sein wird. Ich werde mich neu erfinden, die kleine Schlappe von heute Vormittag wird mich nicht davon abhalten!

Im Liegen merke ich erst, wie müde ich eigentlich bin. Ich schließe die Augen – nur, um sie gleich wieder zu öffnen. Mist! Mittlerweile piksen die Kontaktlinsen so schlimm, dass jeder Lidschlag höllisch brennt. Tränen beginnen, über meine Wangen zu laufen.

»Mein armes Mäuschen!«, ruft Fanny erschrocken. »So schlimm ist es doch auch wieder nicht! Probier ruhig aus, ob du andere Sachen lieber trägst, ich bin doch nicht böse, wenn dir Blumenmuster auf einmal nicht mehr gefallen!«

Ich schüttle den Kopf. »Ich heul doch nicht deswegen! Genau genommen heul ich gar nicht – meine Augen tränen nur so doll. Das sind die Kontaktlinsen, die brennen einfach schlimm.«

»Na, dann nimm sie schnell raus und setz dir deine Brille auf die Nase!«

»Hab ich doch schon versucht«, erkläre ich kleinlaut. »Eben, als ich auf der Toilette war. Aber ich kriege es nicht hin. Die Linsen haben sich irgendwie festgesaugt, und außerdem mache ich immer automatisch die Augen zu, wenn ich mit meinen Fingern in Richtung Linse will. Da ist nichts zu machen!«

»Hm.« Mehr sagt Fanny nicht, aber dann beugt sie sich über mich und schaut mir genau in die Augen.

»Okay, ich kann sie sehen. Ich wasche mir jetzt mal die Hände, und dann versuche ich es.«

Kurz darauf tauchen zwei spitze Finger direkt vor meinen Augen auf. Sofort schließe ich sie. Es tut zwar höllisch weh, aber ich kann sie wirklich nicht wieder öffnen.

»Isi!«, schimpft meine Großmutter. »Nun stell dich doch nicht so an! Lass gefälligst die Augen auf!«

»Ich möchte ja«, jammere ich, »aber es geht einfach nicht!«

Ein tiefer Seufzer.

»Es hilft nichts. Dann fahren wir jetzt zum Augenarzt.«

Auweia. Von dem werde ich mir bestimmt was anhören müssen!

 

»Meine liebe Louisa!« Dr. Ventropp schlägt einen Ton an, der eigentlich nicht so klingt, als fände er mich irgendwie lieb. »Wie kann man denn nur auf so eine bescheuerte Idee kommen? Linsen aus dem Supermarkt!«

»Drogeriemarkt«, erwidere ich kleinlaut.

»Woher auch immer. Jedenfalls nicht von mir!«, lässt Ventropp keine Ausrede gelten. »So, und jetzt lass mal das Auge auf. Ich komme mit einem kleinen Saugnapf und entferne die Linsen. Das tut überhaupt nicht weh, vielleicht zupft es ein bisschen.«

Er greift hinter sich, und dann sehe ich, wie er sich mit einem kleinen runden Röhrchen nähert. Als er nur noch eine Wimpernlänge entfernt ist, kneife ich unwillkürlich die Augen zu, und der kleine Saugnapf landet auf meinem Lid.

»Louisa! Reiß dich doch zusammen!« Dr. Ventropp schnauzt mich regelrecht an, und am liebsten würde ich jetzt vom Behandlungsstuhl aufspringen und das Weite suchen. Allerdings hätte ich dann immer noch die blöden Linsen auf den Augen und würde auf meiner Flucht vermutlich gleich gegen den Türrahmen rennen. Also versuche ich, so gut es eben geht, die Augen wieder zu öffnen und auch offen zu halten.

Ventropp nimmt einen neuen Anlauf, und nun gelingt es ihm tatsächlich, den Sauger auf die Linse zu bekommen. Dafür, dass er so sauer auf mich ist, macht er das erstaunlich sanft, ich spüre wirklich kaum etwas. Dann ein Zupfen – und das unerträgliche Reiben und Drücken im Auge lässt sofort nach. Der Arzt nickt zufrieden.

»So, eine Linse hätten wir schon mal. Und, hat’s wehgetan?«, erkundigt er sich halbwegs fürsorglich. Ich schüttle den Kopf. »Na also. Dann hole ich gleich die andere raus.«

Diesmal schaffe ich es, mein Auge geöffnet zu halten, und Dr. Ventropp braucht nur einen Anlauf, um mich von der Linse zu befreien. Puh! Geschafft!