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mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. In "Lourdes", veröffentlicht 1894, schildert der Autor die von Sehnsucht nach Erlösung und Heilung angetriebenen Pilgermassen, die seit den Marienerscheinungen des Bauernmädchens Bernadette Soubirous 1858 in den Pyrenäenort strömen.
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Seitenzahl: 891
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Émile Zola
Lourdes
Als die Pilger und die Kranken, die in dem dahinrollenden Zuge dicht gedrängt auf den harten Bänken des Wagens dritter Klasse saßen, das Ave maris Stella beendigten, das sie bei dem Verlassen des Orleansbahnhofs angestimmt hatten, sah Marie, die sich, von fieberhafter Ungeduld ergriffen, halb von ihrem Schmerzenslager aufgerichtet hatte, aus dem Fenster.
»Ah, die Befestigungen!« rief sie trotz ihres Leidens in freudig erregtem Tone. »Wir sind jetzt aus Paris heraus, wir sind abgefahren!«
Ihr gegenüber saß ihr Vater, Herr von Guersaint, und lächelte über die Freude seiner Tochter, während der Abbé Pierre Froment, der sie mit brüderlicher Zärtlichkeit betrachtete, sich in seiner liebevollen Besorgnis vergaß und ganz laut sagte:
»Und von jetzt an noch bis morgen früh, denn wir werden erst um drei Uhr vierzig in Lourdes sein. Über zweiundzwanzig Stunden Fahrt!«
Es war halb sechs Uhr; die Sonne ging soeben strahlend auf in der Klarheit eines wunderbaren Morgens. Es war ein Freitag, der 19. August. Aber schon kündigten am Horizonte kleine schwarze Wolken einen furchtbaren Tag gewitterschwangerer Hitze an. Und die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Abteile des Wagens und erfüllten sie mit goldigem, tanzenden Staube.
Marie, die wieder in ihren Schmerz zurückgesunken war, murmelte:
»Ja, zweiundzwanzig Stunden. Mein Gott! Wie lange ist das noch!«
Ihr Vater half ihr, sich wieder in dem engen Behältnis zurechtzulegen, einer Art Dachrinne, in der sie nun schon seit sieben Jahren lebte. Man hatte eingewilligt, ausnahmsweise die vier Räder als Gepäck mitzunehmen, die sich auseinandernehmen ließen und dazu dienten, sie fortzubewegen. So eingeschlossen zwischen die Bretter dieses rollenden Sarges nahm sie drei Plätze auf der Bank ein. Sie lag einen Augenblick ruhig da mit geschlossenen Augenlidern, mit ihrem abgemagerten und erdfahlen Gesichte, das trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch kindliche Zartheit bewahrt hatte. Sie sah noch reizend aus in der Umrahmung ihrer wunderbaren blonden Haare, Haare einer Königin, vor denen selbst die Krankheit Achtung hatte. Sie trug ein sehr einfaches Kleid von geringer schwarzer Wolle, und an ihrem Halse hing die Karte mit ihrem Namen und der Ordnungsnummer. Sie hatte selbst diese ärmliche Einfachheit gewünscht, da sie den Ihrigen, die nach und nach in große Bedrängnis geraten waren, keine Kosten verursachen wollte. So kam es, daß sie sich hier in der dritten Klasse befand, in dem weißen Zuge, in dem Zuge der Schwerkranken, dem schmerzerfülltesten der vierzehn nach Lourdes gehenden Züge, an dem Tage, an dem sich außer den fünfhundert gesunden Pilgern gegen dreihundert von Schwäche erschöpfte und von Schmerzen gepeinigte Kranke herandrängten, um Frankreich von einem Ende zum andern zu durchqueren.
Verstimmt darüber, daß er sie betrübt hatte, fuhr Pierre fort, Marie mit den zärtlichen Blicken eines älteren Bruders zu betrachten. Er hatte soeben sein dreißigstes Lebensjahr erreicht und sah bleich und zart aus, seine Stirn war breit. Nachdem er alle Vorbereitungen zur Reise getroffen hatte, hielt er es auch für seine Pflicht, sie zu begleiten, und hatte sich deshalb als Aushelfer in die Brüderschaft von NotreDame de Salut aufnehmen lassen. Er trug auf seiner Soutane das rote, orangegelb geränderte Kreuz der Sänftenträger. Herr von Guersaint selbst hatte nur an seinem grauen Tuchrocke das scharlachrote Pilgerkreuz befestigt. Er schien entzückt über die Reise, seine Augen schweiften überall umher, und er konnte seinen liebenswürdigen und zerstreuten Vogelkopf nicht stillhalten. Obgleich er schon die Fünfzig überschritten hatte, sah er noch recht jugendlich aus.
In der benachbarten Wagenabteilung hatte sich trotz des heftigen Schüttelns, das der armen Marie Seufzer entpreßte, Schwester Hyacinthe erhoben, die bemerkte, daß das junge Mädchen ganz in der Sonne lag.
»Herr Abbé, ziehen Sie doch den Vorhang herunter! Wir müssen es uns so bequem wie möglich machen und uns in unserem kleinen Reiche nach Möglichkeit einzurichten suchen.«
In dem schwarzen Gewand der Ordensschwester, das durch die weiße Haube, den weißen Schleier und die große weiße Schürze etwas gemildert wurde, war Schwester Hyacinthe bei ihrer heldenmütigen Tätigkeit immer heiter. Ihre Jugend sprach aus ihrem kleinen, frischen Munde und strahlte aus der Tiefe ihrer schönen blauen, immer zärtlich blickenden Augen hervor. Sie war vielleicht nicht hübsch, aber anbetungswürdig, zart, schlank, mit der Brust eines Knaben unter ihrem Schürzenlatz, eines braven Knaben mit schneeiger Haut, übersprudelnd von Gesundheit, Frohsinn und Unschuld.
»Aber die liebe Sonne löst uns schon ganz auf! Ich bitte Sie, gnädige Frau, ziehen Sie auch Ihren Vorhang herunter!«
In der Ecke neben der Schwester saß Frau von Jonquière und hielt auf ihren Knien ihre kleine Reisetasche. Sie zog langsam den Vorhang herunter. Brünett und kräftig, war sie noch immer eine angenehme Erscheinung, obgleich sie schon eine Tochter von vierundzwanzig Jahren hatte, Raymonde, die sie aus Anstandsrücksichten mit zwei anderen freiwilligen Krankenpflegerinnen, Frau Desagneaux und Frau Volmar, in der ersten Klasse hatte fahren lassen. Sie war Leiterin eines Saales in dem Hospital NotreDame des Douleurs in Lourdes und verließ ihre Kranken nicht. Außen an der Wagentüre hing das vorschriftsmäßige Plakat, auf dem unter ihrem eigenen Namen die Namen der beiden Schwestern von Mariä Himmelfahrt geschrieben standen, die sie begleiteten. Als Witwe eines ruinierten Mannes lebte sie mit ihrer Tochter bescheiden von vier bis fünftausend Frank Rente in einem Hofe der Rue Vaneau und war von einer unerschöpflichen Wohltätigkeit. Sie widmete ihre ganze Zeit und Tätigkeit dem Hospital NotreDame de Salut, dessen rotes Kreuz sie auf ihrem halbseidenen Karmelitergewand trug, und zu dessen tätigsten Anhängerinnen sie gehörte. Sie war von stolzer Gemütsart, liebte es, umschmeichelt und geliebt zu werden; und zeigte sich stets hochbeglückt über diese alljährliche Reise, die ihre Leidenschaft und ihr Herz befriedigte.
»Sie haben recht, Schwester, wir wollen es uns bequem machen. Ich weiß nicht, warum ich mich mit dieser Tasche herumplage.«
Sie stellte sie neben sich unter die Bank.
»Warten Sie«, sagte Schwester Hyacinthe, »Sie haben den Wasserkrug auf den Knien. Er belästigt Sie.«
»Ach nein, ganz gewiß nicht! Lassen Sie ihn nur! Er muß doch irgendwo seinen Platz haben.«
Dann taten sie beide, wie sie gesagt hatten, und richteten sich so bequem wie möglich für einen Tag und eine Nacht mit ihren Kranken ein. Das unangenehme war, daß sie Marie nicht hatten mit in ihre Abteilung nehmen können, da diese Pierre und ihren Vater bei sich hatte behalten wollen. Aber man verkehrte wenigstens gut nachbarlich miteinander und unterhielt sich über die niedere Scheidewand hinweg. Übrigens bildete der ganze Wagen mit seinen fünf Abteilungen, jede zu zehn Plätzen, nur ein einziges Zimmer voll Menschen, gewissermaßen einen fahrenden allgemeinen Saal, den man mit einem Blicke überschauen konnte. Er war mit der nackten gelben Holzbekleidung der Wände und dem weiß angestrichenen Tafelwerk der Decke ein wirklicher Krankensaal und glich auch in der Unordnung und dem Durcheinander einem improvisierten Feldlazarett. Halb verborgen standen und lagen nebeneinander unter der Bank Krüge, Schüsseln, Besen und Schwämme. Da der Zug keinen Gepäckwagen mitnahm, so häuften sich die Gepäckstücke, Mantelsäcke, weiße Holzkisten, Hutschachteln, Säcke, ein elender Haufen, ärmliche, abgenutzte Sachen, mit Bindfaden zugebunden. In der Luft begann diese Platzversperrung von neuem. Dort hingen Kleider, Pakete und Körbe an kupfernen Haken und baumelten ohne Unterlaß hin und her. Und mitten unter all diesem Trödelkram wurden die Schwerkranken, die auf ihren schmalen Matratzen ausgestreckt lagen, von den ächzenden Stößen der Räder hin und her geschüttelt, während die, die sitzen konnten, den Rücken an die Wand lehnten und das bleiche Gesicht in die Hände drückten. Nach der Vorschrift sollte in jeder Abteilung eine barmherzige Schwester sein. Am andern Ende des Wagens befand sich auch eine zweite Schwester von Mariä Himmelfahrt, Schwester Claire des Anges. Gesunde Pilger erhoben sich und fingen schon zu essen und zu trinken an. In einer Frauenabteilung befanden sich zehn Pilgerinnen, alte und junge, eng aneinander gedrückt, alle von derselben traurigen und bemitleidenswerten Häßlichkeit. Und da man es wegen der Schwindsüchtigen, die in der Abteilung waren, nicht wagte, die Fenster herunterzulassen, so entstand bald eine drückende Hitze und ein unerträglicher Geruch, den die Stöße des in voller Schnelligkeit dahinrollenden Zuges nach und nach überallhin auszubreiten schienen.
In Juvisy hatte man den Rosenkranz gebetet. Und es schlug gerade sechs Uhr – man fuhr blitzschnell an dem Bahnhof von Brétigny vorüber – als sich Schwester Hyacinthe erhob. Sie leitete die Andachtsübungen, deren Verlesung die meisten der Pilger in einem Buche mit blauem Einbande folgten.
»Das Angelus, meine Kinder«, sagte sie, wie eine Mutter ihnen zulächelnd, was ihrer Jugend so reizend stand.
Von neuem folgten die Ave aufeinander. Und als sie beendet waren, beobachteten Pierre und Marie voll Teilnahme zwei Frauen, die die anderen beiden Ecken ihrer Abteilung einnahmen. Die eine von ihnen, die zu Mariens Füßen saß, war eine zarte blonde Erscheinung mit dem Aussehen einer Bürgersfrau, etwa dreißig Jahre alt, aber vor der Zeit verblüht. Sie hielt sich bescheiden im Hintergrunde und nahm kaum etwas Platz weg mit ihrem dunklen Kleide, den gebleichten Haaren, ihrer langen, schmerzgebeugten Gestalt, die hoffnungslose Verlassenheit und unermeßliche Trauer atmete. Die andere ihr gegenüber, die auf derselben Bank wie Pierre saß, eine Arbeiterin von gleichem Alter, mit einer schwarzen Haube und einem von Elend und Sorgen entstellten Gesicht, hielt auf ihren Knien ein kleines siebenjähriges Mädchen, das aber kaum vier Jahre alt zu sein schien, so blaß und verkümmert sah es aus. Die Nase war dünn, die Augenlider bläulich und geschlossen in dem wachsbleichen Gesicht. Sprechen konnte das Kind nicht, es hatte nur ein leises Klagen, ein schwaches Stöhnen, das jedesmal das Herz der Mutter zerriß.
»Würde das Kind vielleicht einige Weinbeeren essen?« fragte die bis dahin stumme Dame in zaghaftem Tone. »Ich habe welche in meinem Korbe.«
»Ich danke«, antwortete die Arbeiterin. »Sie nimmt nur Milch und ... Ich habe mich damit vorgesehen und eine Flasche voll mitgenommen.«
Und dann erzählte sie, dem Mitteilungsbedürfnis der Elenden nachgebend, ihre Geschichte. Sie hieß Frau Vincent; sie hatte ihren Mann verloren, der, Goldarbeiter von Beruf, an der Schwindsucht gestorben war. Allein geblieben mit ihrer kleinen Rose, die ihre Leidenschaft war, hatte sie Tag und Nacht als Näherin sich abgearbeitet, um sie groß zu ziehen. Da war die Krankheit gekommen. Seit vierzehn Monaten hatte sie das Kind auf ihren Armen gehalten, das immer elender wurde und zurückging und ganz und gar verfiel. Da war sie, die nie zur Messe ging, eines Tages, von Verzweiflung getrieben, in eine Kirche getreten, um Genesung für ihre Tochter zu erflehen; und da hatte sie eine Stimme vernommen, die ihr riet, das Kind nach Lourdes zu bringen, wo sich die Heilige Jungfrau seiner erbarmen würde. Da sie niemand kannte und auch nicht wußte, wie die Wallfahrten eingerichtet waren, so hatte sie nur den einen Gedanken gehabt: zu arbeiten, Geld zur Reise zu sparen, ein Billett zu nehmen und mit den dreißig Sous, die ihr übriggeblieben waren, abzufahren und nur eine Flasche Milch für das Kind mitzunehmen, ohne auch nur daran zu denken, für sich selbst ein Stück Brot zu kaufen.
»Welche Krankheit hat die liebe Kleine denn?« fragte die Dame.
»Oh, der Leib ist sicherlich nur aufgetrieben. Aber die Ärzte haben andere Namen dafür. Zuerst hatte sie nur leichte Leibschmerzen. Dann schwoll der Leib an, und sie litt so schwer, daß es einem die Tränen aus den Augen trieb. Jetzt hat sich der Leib wieder gesenkt, aber sie lebt eigentlich gar nicht mehr, sie hat keine Kräfte mehr, so mager ist sie geworden, und durch das unaufhörliche Schwitzen zehrt sie sich noch ganz ab.«
Die Mutter beugte sich, als Rose stöhnte und die Augen öffnete, bestürzt und erblassend zu ihr nieder.
»Mein Kleinod, mein Schatz, was willst du? ... Willst du trinken?«
Das kleine Mädchen schloß seine leeren Augen wieder, deren mattes Blau man einen Augenblick hatte sehen können. Sie antwortete nicht einmal und lag in ihrem totenähnlichen Zustand zurückgesunken, in ihrem weißen Kleidchen ganz weiß da, eine letzte Koketterie der Mutter, die diese unnötige Ausgabe gemacht hatte in der Hoffnung, die Heilige Jungfrau würde der kleinen Kranken viel gnädiger sein, wenn sie gut und ganz weiß gekleidet wäre.
Nach einem kurzen Stillschweigen fing Frau Vincent das Gespräch von neuem an:
»Und Sie, Sie reisen gewiß Ihretwegen nach Lourdes? Man sieht es Ihnen an, daß Sie krank sind.«
Die Frau fuhr erschreckt zusammen und sank dann schmerzgebeugt in ihre Ecke zusammen, indem sie murmelte:
»Nein, nein! Ich bin nicht krank ... Wollte Gott, ich wäre krank! Ich würde dann weniger leiden.«
Sie hieß Frau Maze und trug in ihrem Herzen einen unstillbaren Kummer. Nachdem sie mit einem lebenslustigen jungen Manne eine Liebesheirat geschlossen hatte, sah sie sich nach Verlauf eines Jahres voll Glückseligkeit verlassen. Ihr Gatte, der in Bijouteriewaren reiste, beständig unterwegs war und viel Geld verdiente, war seit sechs Monaten verschwunden. Er lockte sie von einem Ende Frankreichs zum andern und hatte sogar liederliche Frauenzimmer bei sich. Und sie betete ihn an und litt darunter so furchtbar, daß sie sich der Religion in die Arme warf. Endlich hatte sie den Entschluß gefaßt, nach Lourdes zu gehen, um die Heilige Jungfrau zu bitten, ihren Gatten zu bekehren und ihn zu ihr zurückzuführen.
Frau Vincent fühlte, ohne das richtige Verständnis dafür zu haben, dennoch den großen moralischen Schmerz, und beide fuhren fort, sich anzusehen, die verlassene Frau, die in ihrer Leidenschaft sich zu Tode grämte, und die Mutter, die daran zugrunde ging, daß sie ihr Kind sterben sah.
Jetzt mischte sich Pierre, der ebenso wie Marie zugehört hatte, in das Gespräch. Er wunderte sich, daß die Arbeiterin ihre kleine Kranke nicht hatte in das Hospital aufnehmen lassen. Die Gesellschaft von NotreDame de Salut war von den Augustinern von Mariä Himmelfahrt nach dem Kriege gegründet worden, um für das Wohl von Frankreich und für die Verteidigung der Kirche durch gemeinschaftliches Gebet und durch Wohltätigkeit zu arbeiten. Sie waren es, die die Bewegung der großen Wallfahrten und ganz besonders die nationale Wallfahrt ins Werk gesetzt und seit zwanzig Jahren ohne Unterlaß vergrößert hatten, die jährlich gegen Ende August nach Lourdes ging. So hatte sich eine kluge Einrichtung nach und nach vervollkommnet. Von überall flossen beträchtliche Almosen zusammen. In jedem Kirchspiel wurden Kranke angeworben, mit den Eisenbahngesellschaften Verträge abgeschlossen, ohne die tätige Hilfe der kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt und die Gründung der Hospitalität von NotreDame de Salut zu rechnen. Eine weite Verbrüderung aller wohltätigen Gesellschaften wurde geschaffen, in der Männer und Frauen, meistenteils der vornehmen Welt angehörig, unter Aufsicht von Leitern der Wallfahrten die Kranken versorgten, trugen und über gute Ordnung wachten. Die Kranken mußten eine schriftliche Bitte um Aufnahme in das Hospital einreichen, wodurch sie sämtlicher Kosten für die Reise und den Aufenthalt überhoben waren. Man holte sie von ihrem Wohnort ab und brachte sie wieder dorthin zurück. Sie hatten also nur einige Lebensmittel auf die Reise mitzunehmen. Aber die bei weitem größte Anzahl hatte Empfehlungen von Geistlichen und wohltätigen Leuten, die bei den Eintragungen die notwendigen Identitätsnachweise und ärztlichen Zeugnisse prüften. Außerdem hatten die Kranken nur ihre Plätze einzunehmen und waren unter den brüderlich und schwesterlich sorgenden Händen der männlichen und weiblichen Helfer nichts als trauriges Objekt für Leiden und für Wunder.
»Aber, liebe Frau«, setzte Pierre ihr auseinander, »Sie hätten sich doch nur an den Geistlichen Ihres Kirchspiels zu wenden brauchen. Dieses arme Kind verdient volles Mitleid. Man würde es sofort aufgenommen haben.«
»Das wußte ich nicht, Herr Abbé.«
»Wie haben Sie es denn dann gemacht?«
»Ich habe mir an einem Orte ein Billett gekauft, den mir eine Nachbarin nannte, die die Zeitungen liest, Herr Abbé«
Sie sprach von den Fahrkarten, die man unter die Pilger, die bezahlen konnten, verteilte. Marie, die zuhörte, wurde von tiefem Mitleid ergriffen und schämte sich etwas. Ihr, der es nicht an Mitteln fehlte, war es mit Hilfe von Pierre gelungen, in das Hospital aufgenommen zu werden, während diese arme Mutter und das unglückliche Kind, nachdem sie ihre armseligen Ersparnisse hingegeben hatten, ohne einen Sou blieben.
Ein heftiger Stoß des Wagens entriß ihr einen Schrei.
»O Vater, ich bitte dich, richte mich etwas in die Höhe! Ich kann nicht länger so auf dem Rücken liegen bleiben.«
Als Herr von Guersaint sie aufgerichtet hatte, seufzte sie tief auf. Man war in Etampes, anderthalb Stunden von Paris entfernt, und schon fing bei dem glühenden Sonnenbrande, dem Staub und dem Lärm die Abspannung an, sich geltend zu machen. Frau von Jonquière hatte sich erhoben, um das junge Mädchen über die Scheidewand hinweg durch gute Worte zu ermutigen. Auch Schwester Hyacinthe stand wieder auf und klatschte fröhlich in die Hände, um sich von einem Ende des Wagens bis zum andern Gehör zu verschaffen.
»Auf, auf! Denken wir nicht an unsere kleinen Schmerzen! Wir wollen beten und singen, die Heilige Jungfrau wird mit uns sein!«
Sie fing den Rosenkranz an, dann die Gebete von NotreDame de Lourdes, und alle Kranken und Pilger folgten ihrem Beispiele. Es war der erste Rosenkranz, die fünf freudigen Mysterien, die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Christi, die Reinigung Maria und der wiedergefundene Jesus. Dann stimmten alle den Choral: »Betrachten wir den himmlischen Erzengel«, an. Die Stimmen vermischten sich mit dem Rasseln der Räder. Man hörte nur das mächtige Rauschen dieses ohne Unterlaß rollenden Stromes menschlicher Stimmen, das im Hintergrunde des Wagens erstickte.
Obgleich darin geübt, kam Herr von Guersaint doch niemals zum Schlusse eines Chorals. Bald stand er auf, bald setzte er sich wieder. Schließlich stützte er sich mit den Ellenbogen auf die Zwischenwand und unterhielt sich halblaut mit einem Kranken, der mit dem Rücken gegen diese Zwischenwand in der nächsten Abteilung saß. Herr Sabathier war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, von untersetzter Gestalt, mit einem guten, dicken Gesicht und einem vollständigen Kahlkopfe. Seit fünfzehn Jahren war er gelähmt, Schmerzen litt er nur zuweilen, aber seine Beine waren vollständig gelähmt, und seine Frau, die ihn begleitete, legte sie wie tote Beine von einer Stelle zur andern, wenn sie ihm schließlich so schwer wurden wie Bleiklumpen.
»Ja, mein Herr, wie Sie mich sehen, bin ich ehemaliger Professor der fünften Klasse am Lyceum Charlemagne. Anfangs glaubte ich, es wäre einfach Hüftweh. Dann aber hatte ich brennende Schmerzen, wissen Sie, ungefähr so, als bekäme ich Stiche mit glühenden Degen in die Muskeln. Seit beinahe zehn Jahren bin ich allmählich ganz davon ergriffen worden. Ich habe alle möglichen Ärzte konsultiert, ich habe alle nur erdenklichen Bäder besucht, und jetzt leide ich allerdings weniger, aber ich kann mich nicht in meinem Stuhle rühren. Da bin ich denn wieder zu Gott zurückgeführt worden durch den Gedanken, daß ich zu unglücklich wäre und daß unsere liebe Frau von Lourdes nichts anderes tun könne, als Mitleid mit mir haben.«
Pierre hatte, von Teilnahme ergriffen, sich auch auf die Zwischenwand gestützt und hörte zu.
»Nicht wahr, Herr Abbé, das Leiden ist der beste Erwecker der Seelen? Jetzt ist es schon das siebente Jahr, daß ich nach Lourdes gehe, ohne an meiner Heilung zu verzweifeln. Und dieses Jahr wird mich die Heilige Jungfrau wieder gesund machen, davon bin ich fest überzeugt. Ja, ich rechne darauf, wieder gehen zu können, ich lebe nur noch von dieser Hoffnung.«
Herr Sabathier unterbrach sich, er wollte, daß seine Frau ihm die Beine mehr nach links schieben sollte. Und Pierre betrachtete ihn und wunderte sich, diese Hartnäckigkeit des Glaubens bei einem Gelehrten, bei einem Universitätslehrer zu finden. Wie hatte der Glaube an das Wunder in diesem Gehirn Wurzel fassen und weiter keimen können? Es war wirklich so, wie er selbst sagte: nur die heftigsten Schmerzen erklärten dieses Bedürfnis der Einbildung, diese Blütezeit der ewigen Trösterin.
»Und wie Sie sehen, sind wir, ich und meine Frau, gekleidet wie Arme, denn ich will dieses Jahr nur ein Armer sein, damit die Heilige Jungfrau mich zu den Unglücklichen, ihren Kindern, rechnet... Da ich aber nicht den Platz eines wirklichen Armen einnehmen wollte, so habe ich bei dem Hospital fünfzig Frank eingezahlt, was, wie Sie ja wissen, dazu berechtigt, daß ein besonderer Kranker mitgeführt wird... Ich kenne ihn sogar, meinen Kranken. Man hat ihn mir gleich auf dem Bahnhofe vorgestellt. Es ist ein Tuberkuloser, wie es scheint, und er ist mir sehr krank vorgekommen, sehr krank...«
Es entstand eine Pause.
»Nun, die Heilige Jungfrau möge auch ihn retten, sie, die alles kann! Und ich werde so glücklich sein, denn sie wird mich mit ihren Wohltaten überschütten!«
Die drei Männer fuhren fort, sich zu unterhalten, indem sie sich von den anderen absonderten und zuerst über Medizin sprachen und dann zu einer Erörterung über romanische Baukunst übergingen, veranlaßt durch einen auf einem Hügel gelegenen Glockenturm, den alle Pilger mit einem Kreuzzeichen begrüßt hatten. Mitten unter diesen armen Kranken, mitten unter diesen durch das Elend stumpfsinnig gewordenen Menschen vergaßen sich der junge Priester und seine beiden Gefährten, von den Gewohnheiten ihres gebildeten Geistes fortgerissen. Eine Stunde verrann, zwei weitere Choräle waren noch gesungen worden, und man hatte die Stationen Toury und Les Aubrais schon passiert, da brachen sie endlich in Beaugency ihre Unterhaltung ab, als sie die Schwester Hyacinthe mit ihrer frischen und klangvollen Stimme das Kirchenlied anheben hörten:
»Parce, Domine, parce populo tuo...«
Das Singen begann von neuem, alle Stimmen vereinigten sich, und wiederum stieg jene Flut von Bitten und Gebeten empor, die den Schmerz erstickt, die Hoffnung neu belebt, und den ganzen Menschen, der von der unablässigen Beschäftigung mit der in so weiter Ferne zu suchenden Gnade und Heilung übermüdet ist, von neuem erweckt und ermuntert.
Als sich Pierre wieder niedersetzte, sah er, daß Marie sehr bleich aussah und die Augen geschlossen hatte. Doch bemerkte er deutlich an ihrem schmerzlich verzogenen Gesicht, daß sie nicht schlief.
»Haben Sie jetzt ärgere Schmerzen?«
»O ja, fürchterliche! Ich werde das Ziel nicht erreichen. Diese fortwährenden Stöße sind...«
Sie stöhnte, öffnete die Augen und fuhr fort, von ihrem Lager aus trotz ihrer zunehmenden Schwäche die übrigen Kranken zu beobachten. In der Abteilung nebenan hatte sich gegenüber von Herrn Sabathier die Grivotte erhoben, die bis dahin wie eine Tote, ohne einen Atemzug zu tun, dagelegen hatte. Sie war ein großes Mädchen, das die Dreißig schon überschritten hatte, lahm und wunderlich, mit einem runden, schmerzentstellten Gesicht, das aber ihre krausen Haare und ihre Flammenaugen fast schön machten. Sie war in höchstem Grade schwindsüchtig.
»Nun, Fräulein«, sagte sie mit ihrer heiseren, kaum verständlichen Stimme, sich an Marie wendend, »wie glücklich würde man sein, wenn man ein kleines bißchen einschlafen könnte. Aber daran ist gar nicht zu denken, diese Räder drehen sich einem ja im Kopfe herum.«
Und trotz der Ermattung, die deutlich beim Sprechen zum Ausbruch kam, ließ sie sich nicht abhalten, Näheres von ihrem Leben zu erzählen.
Sie war Matratzenmacherin und hatte lange Zeit, mit einer ihrer Tanten in Bercy, von Hof zu Hof ziehend, Matratzen gemacht. Die verpestete Wolle, die sie selbst kämmte, hatte ihr in der Jugend ihr Leiden verschafft. Seit fünf Jahren machte sie die Runde in allen Spitälern von Paris. Sie sprach von den großen Ärzten in ganz vertrautem Tone. Die Schwestern von Lariboisière hatten sie, als sie sie von den religiösen Zeremonien leidenschaftlich erregt gesehen hatten, vollends bekehrt und überzeugt, daß die Heilige Jungfrau in Lourdes nur auf sie warte, um sie zu heilen.
»Sie sagten mir, der eine Lungenflügel sei bei mir ganz verloren und der andere nicht viel mehr wert. Wissen Sie, es hatten sich Kavernen gebildet... Zuerst hatte ich nur zwischen den Schultern Schmerzen und beim Husten einen schaumigen Auswurf. Dann magerte ich ab. Es war ein wahrer Jammer. Jetzt bin ich immer von Schweiß gebadet und huste, als wollte es mir die Brust zersprengen. Ich kann aber trotzdem nichts mehr aushusten, so dick ist es... Und wie Sie sehen, kann ich mich gar nicht mehr aufrecht halten, ich esse nicht mehr...«
Ein Erstickungsanfall unterbrach sie, ihr Gesicht wurde ganz schwarzblau.
»Das macht nichts. Ich stecke aber doch noch lieber in meiner Haut als in der des Bruders dort in der Abteilung hinter Ihnen. Er hat dasselbe Leiden, aber er ist noch viel schlimmer daran als ich.«
Sie täuschte sich. Es befand sich allerdings in der Abteilung hinter Marie ein junger Missionar, der Bruder Isidor, der auf einer Matratze lag und den man nicht sehen konnte, da er nicht imstande war, sich einen Finger breit emporzurichten. Aber er war nicht schwindsüchtig, er lag hoffnungslos danieder an einer Leberentzündung, die er sich am Senegal geholt hatte. Er war sehr groß und mager und hatte ein gelbes, eingefallenes Gesicht wie von Pergament. Das Geschwür, das sich an der Leber gebildet hatte, war schließlich nach außen durchgebrochen, und die Eiterung, verbunden mit fortwährendem heftigen Fieber, Erbrechen und Phantasieren, raubte ihm alle Kräfte. Nur allein seine Augen lebten noch, Augen voll unendlicher Liebe, deren warmer Strahl sein Gesicht, das dem sterbenden Heiland glich, verklärte. Sonst war es ein gewöhnliches Bauerngesicht, das nur der Glaube und die Leidenschaft adelten. Er war ein Bretone, das jüngste, kränkliche Kind einer sehr zahlreichen Familie, und hatte den geringen Landbesitz in der Heimat seinen älteren Brüdern überlassen. Eine seiner Schwestern begleitete ihn, Martha, zwei Jahre älter als er, die nach Paris gekommen war, um in seinen Dienst zu treten. Sehr bescheiden in ihrer untergeordneten Stellung als Mädchen für alles, hatte sie ihren Platz verlassen, um ihm zu folgen, und verzehrte nun ihre mageren Ersparnisse.
»Ich stand gerade auf dem Perron, als man ihn in den Wagen hob; vier Männer hielten...«
Sie konnte aber nicht weitersprechen; sie bekam einen Hustenanfall, der sie zwang, sich wieder auf die Bank niederzulegen. Sie rang mühsam nach Atem, die roten Äpfelchen auf ihren Backen wurden ganz blau. Sofort richtete ihr Schwester Hyacinthe den Kopf in die Höhe, trocknete ihre Lippen mit einem Leinentuche, das rote Flecken bekam. Frau von Jonquière war in demselben Augenblicke um die Kranke beschäftigt, die ihr gegenüber saß und ohnmächtig geworden war. Sie hieß Frau Vêtu, war die Frau eines kleinen Uhrmachers, der seinen Laden nicht hatte schließen können, um sie nach Lourdes zu begleiten. Sie hatte sich daher in die Hospitalität aufnehmen lassen, um die nötige Pflege zu haben. Die Furcht vor dem Tode hatte sie zur Kirche zurückgeführt, in die sie seit ihrer ersten Kommunion die Füße nicht mehr gesetzt hatte. Sie wußte, daß sie dem Tode unrettbar verfallen war, da der Krebs ihren Magen zerfraß. Schon hatte sie das zitronengelbe, entstellte Aussehen der Krebskranken. Ihr Auswurf war ganz schwarz, als ob sie Kienruß von sich gegeben hätte. Auf der ganzen Reise hatte sie noch kein einziges Wort gesprochen, ihre Lippen waren fest geschlossen, sie litt entsetzlich. Dann war Erbrechen eingetreten, und sie hatte das Bewußtsein verloren. Sobald sie den Mund öffnete, hauchte sie einen entsetzlich stinkenden Atem aus, einen Pestgeruch, der den Magen zum Umwenden brachte.
»Das kann man unmöglich aushalten«, murmelte Frau von Jonquière, die sich einer Ohnmacht nahe fühlte, »es muß etwas Luft gemacht werden.«
Schwester Hyacinthe war gerade damit fertig geworden, die Grivotte auf ihre Kissen zu betten.
»Gewiß, öffnen wir ein paar Minuten das Fenster. Aber nicht auf dieser Seite hier, denn ich habe Angst vor einem neuen Hustenanfall... Öffnen Sie es auf Ihrer Seite.«
Die Hitze wurde immer ärger. Man erstickte fast in der dicken, ekelhaften Atmosphäre. Es war eine wirkliche Erleichterung, als frische Luft hereinkam. Einige Minuten gab es jetzt andere Geschäfte zu besorgen, und eine allgemeine Reinigung fand statt. Die Schwester wusch alle Geschirre und Becken, deren Inhalt sie zum Fenster hinausschüttete, während die zur Hilfe beigegebene Dame mit einem Schwamme den Fußboden auftrocknete. Dann gab es ein neues Geschäft: die vierte Kranke, die sich bisher noch nicht gerührt hatte, ein zartes Mädchen, dessen Gesicht ganz von einem schwarzen Tuche verhüllt war, sagte, sie hätte Hunger.
Frau von Jonquière erbot sich gleich in ihrer ruhigen, ergebenen Weise, für sie sorgen zu wollen.
»Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern, liebe Schwester. Ich werde ihr das Brot in kleine Stücke schneiden.«
Marie hatte sich in ihrem Verlangen nach Zerstreuung für die regungslose Gestalt, die sich unter dem schwarzen Tuche versteckt hatte, lebhaft interessiert. Sie vermutete, daß sie irgendeinen Schaden im Gesicht hätte. Man hatte ihr gesagt, es wäre eine Erzieherin. Die Unglückliche, Elise Rouquet aus der Picardie, hatte ihre Stelle verlassen müssen und lebte in Paris bei einer Schwester, die sie schlecht behandelte. Da sie aber kein anderes Leiden hatte, hatte sie kein Hospital aufnehmen wollen. Bei ihrer großen Frömmigkeit war es schon seit Monaten ihr heißer Wunsch, nach Lourdes zu gehen. Marie wartete mit stummer Besorgnis, ob sich wohl das schwarze Tuch heben würde.
»Sind die Stücke so klein genug?« fragte Frau von Jonquière in mütterlichem Tone. »Können Sie sie selbst in den Mund stecken?«
Unter dem schwarzen Tuche krächzte eine heisere Stimme nur halb verständliche Worte.
»Ja, ja, gnädige Frau.«
Endlich fiel das Tuch, und Marie fuhr entsetzt zurück. Es war ein Lupus, der die Nase und den Mund ergriffen hatte, ein Geschwür, das sich unter einem Ausschlage immer weiter ausbreitete und die Schleimhäute zerfraß. Der Kopf, der sich in die Form einer Hundeschnauze verlängert hatte, war mit seinen struppigen Haaren und seinen großen runden Augen abschreckend geworden. Schon waren die knorpligen Teile der Nase fast ganz zerfressen. Der Mund war eingefallen und nach links gezogen durch das Anschwellen der Oberlippe. Er glich einer schiefen, formlosen und unsaubern Kluft. Eine blutige Flüssigkeit, vermischt mit Eiter, floß aus dieser schrecklichen schwarzblauen Wunde.
»Oh, sehen Sie doch, Pierre!« murmelte Marie zitternd.
Den Priester überlief ebenfalls ein Schauder, als er sah, wie Elise Rouquet vorsichtig die kleinen Brotstückchen in die blutige Öffnung schob, die ihr als Mund diente. Alle in dem Wagen waren bei diesem fürchterlichen Anblicke bleich geworden. Und der gleiche Gedanke stieg in allen diesen so hoffnungsfreudigen Seelen auf: »Oh, Heilige Jungfrau! Oh, welches Wunder, wenn ein solches Leiden geheilt würde!
»Meine Kinder, denken wir nicht an uns, wenn wir uns wohl verhalten wollen«, wiederholte Schwester Hyacinthe, die ihr ermutigendes Lächeln bewahrt hatte.
Und sie fing den zweiten Rosenkranz zu beten an, die fünf Mysterien: Jesus in dem Ölbaumgarten, der gegeißelte Jesus, der dornengekrönte Jesus, der kreuztragende Jesus und der am Kreuze sterbende Jesus. Dann folgte der Choral: »Ich setze mein Vertrauen, Jungfrau, in deine Hilfe ...«
Man fuhr gerade durch Blois und war nun schon drei lange Stunden unterwegs. Marie, die ihre Augen von Elise Rouquet abgewendet hatte, ließ sie jetzt auf einem Mann ruhen, der die eine Ecke der anderen Wagenabteilung zur Linken einnahm, in der Bruder Isidor lag. Schon zu wiederholten Malen hatte sie ihn bemerkt. Er war noch jung und bescheiden in einen alten schwarzen Überrock gekleidet. Sein dünner Bart fing an grau zu werden. Klein und mager, mit einem abgezehrten, bleifarbenen und schweißbedeckten Gesichte schien er schwer zu leiden. Dennoch saß er ganz unbeweglich in seine Ecke gedrückt da, sprach mit keinem Menschen und starrte nur mit großen, weitgeöffneten Augen vor sich hin. Plötzlich bemerkte sie, wie die Augenlider herabsanken und er ohnmächtig wurde.
Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Schwester Hyacinthe auf ihn.
»Liebe Schwester, sehen Sie doch! Diesem Herrn dort scheint es schlecht geworden zu sein.«
»Welchem denn, mein liebes Kind?« »Dort drüben dem, der den Kopf zurückgelehnt hat.«
Es entstand eine unruhige Bewegung, alle gesunden Pilger standen auf, um hinzusehen. Und Frau von Jonquière kam auf den Gedanken, Martha, der Schwester des Bruders Isidor, zuzurufen, sie solle dem Manne auf die Hände klopfen.
»Fragen Sie ihn, fragen Sie ihn, ob er leidet!«
Martha trat an ihn heran, schüttelte ihn und richtete wiederholt die Frage an ihn. Aber der Mann gab keine Antwort, er röchelte nur, und seine Augen blieben fest geschlossen.
Eine Stimme rief erschrocken:
»Ich glaube, er wird sterben.«
Die Furcht wurde größer, Worte schwirrten hin und her, und von einem Ende des Wagens zum andern wurden Ratschläge erteilt. Niemand kannte den Mann. Er hatte sich nicht in die Hospitalität aufnehmen lassen, denn er trug am Halse nicht die Karte mit der weißen Farbe des Zuges. Einer erzählte, er hätte ihn drei Minuten vor Abgang des Zuges ankommen sehen, sich mühsam fortschleppend, und dann habe er sich mit dem Ausdrucke unendlicher Müdigkeit in die Ecke fallen lassen, in der er jetzt im Sterben läge. Dann hätte er nicht mehr geatmet. Man sah übrigens sein Billett, das in dem Bande seines alten hohen Hutes steckte, der neben ihm hing.
Schwester Hyacinthe stieß einen freudigen Ruf aus.
»Oh, er atmet, er atmet! Fragen Sie ihn doch nach seinem Namen!«
Als ihn Martha aber von neuem fragte, stieß der Mann nur einen Klagelaut, den kaum verständlichen Schmerzensschrei aus:
»Oh, wie ich leide!«
Und von da an gab er nur diese eine Antwort. Auf alles, was man von ihm wissen wollte, wer er wäre, woher er käme, welches sein Leiden sei, was man für ihn tun könnte, antwortete er nicht, sondern stieß nur fortwährend den Klageruf aus:
»Oh, wie ich leide ... Oh, wie ich leide!«
Schwester Hyacinthe geriet in fieberhafte Aufregung. Wenn sie sich nur in der gleichen Abteilung befunden hätte! Und sie nahm sich vor, auf der nächsten Station, an der man halten würde, den Platz zu wechseln. Aber es kam jetzt lange keine Haltestelle. Der Kopf des Mannes sank immer tiefer herab.
»Er stirbt, er stirbt!« rief die Stimme von neuem.
Mein Gott! Was sollte man anfangen? Die Schwester wußte, daß ein Pater von Mariä Himmelfahrt sich im Zuge befand, der Pater Massias, der das geweihte Öl bei sich hatte und jederzeit bereit war, den Sterbenden die Letzte Ölung zu geben. Es starben jedes Jahr während der Fahrt mehrere Pilger. Aber sie wagte es nicht, das Alarmsignal in Bewegung zu setzen. Auch befand sich in dem von der Schwester SaintFrançois beaufsichtigten Kantinenwagen ein Arzt mit einer kleinen Apotheke. Wenn der Kranke nur noch bis nach Poitiers käme, wo man eine halbe Stunde Aufenthalt hatte. Hier würde ihm alle erforderliche Hilfe zuteil werden. Schrecklich wäre es, wenn er plötzlich sterben würde. Schließlich beruhigte man sich etwas. Der Unbekannte war zwar immer noch ohnmächtig, aber er atmete doch wenigstens regelmäßig und schien zu schlafen.
»Sterben, bevor man dort wäre!« murmelte Marie zitternd. »Sterben, bevor man das gelobte Land ...«
Und als ihr Vater sie zu beruhigen suchte, flüsterte sie:
»Auch ich leide, auch ich leide so sehr!«
»Haben Sie Vertrauen!« tröstete Pierre. »Die Heilige Jungfrau wacht über uns.«
Sie konnte nicht mehr in ihrer sitzenden Stellung bleiben, man mußte sie wieder in ihren engen Sarg legen. Ihr Vater und der Priester mußten dabei mit der größten Vorsicht zu Werke gehen, denn der leiseste Stoß entlockte ihr ein schmerzliches Stöhnen. Und dann lag sie da, ohne zu atmen, wie eine Tote, mit ihrem Leidensgesichte, umwallt von ihrem blonden, königlichen Haarschmucke. Man fuhr nun schon seit beinahe vier Stunden, und rastlos rollte der Zug immer weiter und weiter. Daß der Wagen in so unerträglicher Weise hin und her geschleudert wurde, lag daran, daß er sich am Ende des Zuges befand. Die Verbindungsketten kreischten, und die Räder rasselten entsetzlich. Durch die Fenster, die man notgedrungen halb offen hatte stehen lassen müssen, drang Staub herein, sonnendurchglüht und beißend. Dabei nahm die Hitze immer mehr zu. Eine gewitterschwangere, erschlaffende Hitze. Der Himmel hatte ein fahles Aussehen und bedeckte sich allmählich mit schweren, unbeweglichen Wolken. Überhitzten Backöfen glichen die Abteilungen, diese engen dahinrollenden Behausungen, in denen man aß und trank, in denen die Kranken alle ihre Bedürfnisse in der verdorbenen Luft befriedigten und unter dem betäubenden Durcheinander von Klagen, Gebeten und Gesängen.
Marie war nicht die einzige, deren Zustand sich verschlimmert hatte, die anderen litten in gleicher Weise unter der Reise. Auf den Knien ihrer verzweifelten Mutter, die sie mit ihren großen, von Tränen verdunkelten Augen betrachtete, lag die kleine Rose bewegungslos mit so bleichem Gesicht, daß sich Frau Maze schon zweimal zu ihr herabgebeugt hatte, um ihre Händchen anzufassen, in der Furcht, sie kalt zu finden. Jeden Augenblick mußte Frau Sabathier den Beinen ihres Mannes eine andere Lage geben, denn sie wurden ihm so schwer, wie er sagte, als ob man sie ihm aus den Hüften herausreißen wollte. Der Bruder Isidor fing an in seinem totenähnlichen Zustande Schreie auszustoßen, und seine Schwester hatte ihn nur dadurch beruhigen können, daß sie ihn etwas in die Höhe richtete und in ihren Armen hielt. Die Grivotte schien zu schlafen, doch erschütterte ununterbrochen ein Schlucken ihren Körper, und aus ihrem Munde rieselte langsam ein dünner Faden Blut. Frau Vêtu hatte wieder eine schwarze, ekelhafte Flüssigkeit von sich gegeben. Elise Rouquet dachte nicht mehr daran, die entsetzliche Wunde in ihrem Gesichte zu verbergen. Der Mann dort drüben fuhr fort, so dumpf zu röcheln, als wenn es jede Sekunde mit ihm zu Ende gehen wollte. Umsonst mühten sich Frau von Jonquière und Schwester Hyacinthe ab. Sie konnten nichts weiter tun, als die Jammernden trösten. Für Augenblicke war dies alles wie ein Traum, dieser Wagen voll Elend und Jammer, der mit voller Geschwindigkeit dahinfuhr und die Gepäckstücke, die alten aufgehängten Kleider, die abgenutzten Körbe, die mit Bindfaden notdürftig geflickt waren, hin und her schüttelte, während in der hintersten Abteilung zehn Pilgerinnen, alte und junge, alle von einer bedauernswerten Häßlichkeit, ohne Unterlaß in jammervollen, gellenden und falschen Tönen sangen.
Pierre dachte an die anderen Wagen des weißen Zuges. Alle rollten dahin voll des gleichen Elends mit dreihundert Kranken und fünfhundert Pilgern. Dann dachte er an die anderen Züge, die an diesem Tage Paris verließen, an den grauen und den blauen Zug, die vor dem weißen von Paris abgefahren waren, an den grünen Zug, an den gelben, an den rosa und an den orangefarbenen Zug, die ihm folgten. Und er dachte an andere Züge, die an dem gleichen Tage von Orleans, Le Mans, Poitiers, Bordeaux, Marseille und Carcassone abgingen. Die Erde Frankreichs sah sich zur selben Stunde nach allen Richtungen hin durchfurcht von ähnlichen Zügen, die alle der heiligen Grotte zustrebten und dreißigtausend Pilger und Kranke zu den Füßen der Heiligen Jungfrau führten. Und er dachte daran, daß ein solcher Menschenstrom wie an diesem Tage sich auch an den anderen Tagen des Jahres dorthin wälzte, daß keine Woche verging, ohne daß Lourdes eine Wallfahrt ankommen sah, und daß nicht nur Frankreich allein, sondern daß ganz Europa, daß die ganze Welt sich auf den Weg dorthin machte, und daß es in besonders frommen Jahren dreimalhunderttausend, ja sogar bis fünfmalhunderttausend Pilger und Kranke dort gegeben hatte.
Pierre glaubte sie zu hören, diese im Rollen begriffenen Züge, die Züge, die überallher kamen und die alle derselben Felsengrotte zustrebten, in der die Kerzen flammten. Alle rollten rasselnd dahin unter Schmerzensgeschrei und dem Rauschen der frommen Gesänge. Es waren fahrende Hospitäler voll verzweifelter Kranker, Züge menschlichen Leidens zu der Hoffnung und der Heilung; ein großes brennendes Verlangen nach Trost vor dem Drohen des schrecklichen Todes. Sie rollten dahin, sie rollten immer weiter, sie rollten ohne Unterbrechung dahin, das Elend dieser Welt mit sich führend, auf dem Wege zu einem heiligen Wahne, der Gesundheit der Kranken und dem Troste der Niedergedrückten.
Pierres Herz floß über von unendlichem Mitleid. Es war traurig, zu sterben. Eine heiße Barmherzigkeit flammte in ihm auf, das unlöschbare Feuer einer brüderlichen Liebe zu allen Dingen und allen Wesen.
Als man um halb elf Uhr den Bahnhof von SaintPierre du Corps verließ, gab Schwester Hyacinthe das Zeichen, und man betete den dritten Rosenkranz, die fünf glorreichen Mysterien: die Auferstehung unseres Herrn, die Himmelfahrt unseres Herrn, die Ausgießung des Heiligen Geistes, die Himmelfahrt der Allerheiligsten Jungfrau und die Krönung der Jungfrau. Dann sang man das Lied der Bernadette, ein endloses Klagelied von sechzehn Strophen, bei denen der englische Gruß den immer wiederkehrenden Schlußvers bildete, eine künstlich in die Länge gezogene Quälerei, die schließlich das Bewußtsein trübte und die Kranken in einen verzückten Traumschlaf versenkte in der köstlichen Erwartung des Wunders.
Jetzt zogen die grünen Gefilde von Poitou vorüber, und der Abbé Pierre Froment sah, die Augen starr nach außen gerichtet, die Bäume vorbeifliegen, bis schließlich alles vor seinen Augen verschwamm. Ein Kirchturm erschien und verschwand; alle Pilger bekreuzigten sich. Man sollte um zwölf Uhr fünfunddreißig Minuten in Poitiers sein; der Zug rollte unaufhaltsam weiter und weiter in der erschlaffenden Schwüle des gewitterschwangeren Tages. Und der junge Priester verfiel in eine tiefe Träumerei. Das Singen traf sein Ohr nur noch wie das einschläfernde langsame Auf und Abwogen des Meeres.
Ein Vergessen der Gegenwart, ein Wiedererwachen der Vergangenheit nahm sein ganzes Wesen gefangen. Er ging in seinen Erinnerungen zurück, soweit ihm das möglich war. Er sah das Haus in Neuilly wieder, in dem er geboren worden war und das er jetzt noch bewohnte, dieses Haus des Friedens und der Arbeit mit seinem Garten, in dem schöne Bäume standen. Nur eine lebende Hecke trennte ihn von dem Garten des Hauses nebenan, das dem seinigen ähnlich war. Er war drei, vielleicht auch vier Jahre alt, und er sah, wie an einem Sommertage in dem Schatten eines alten Kastanienbaumes sein Vater, seine Mutter und sein älterer Bruder an einem Tische beim Frühstück saßen. Sein Vater, Michel Froment, hatte kein besonders auffallendes Gesicht; er sah ihn nur verwischt und unbestimmt vor sich, den berühmten Chemiker, der Mitglied des Instituts war und der sich in seinem Laboratorium vergrub, das er im Hintergrunde seines weltentlegenen Besitztums hatte errichten lassen. Seinen Bruder Guillaume, der damals vierzehn Jahre alt und am Morgen zu einem kurzen Ferienaufenthalte aus dem Lyzeum eingetroffen war, sah er ganz deutlich vor sich, und vor allem seine sanfte Mutter, aus deren Augen eine so rührende Demut sprach. Später hatte er die Sorgen dieser frommen, gläubigen Seele kennengelernt, die sich aus Achtung und Dankbarkeit dazu verstanden hatte, einen Ungläubigen zu heiraten, der fünfzehn Jahre älter als sie war und der ihrer Familie große Dienste geleistet hatte. Er selbst, ein Spätling dieser Ehe, der erst geboren worden, als sein Vater schon in den fünfzig stand, hatte seine Mutter nur als demütige und ergebene Frau ihrem Gatten gegenüber gekannt, den sie heiß liebte mit der schrecklichen Qual im Herzen, ihn dem ewigen Verderben verfallen zu wissen. Und plötzlich stieg ihm eine andere Erinnerung auf, die entsetzliche Erinnerung an den Tag, an dem sein Vater in seinem Laboratorium, durch das Platzen einer Retorte, getötet worden war. Er war damals fünf Jahre alt gewesen. Er erinnerte sich noch der unbedeutendsten Einzelheiten, des Schreies seiner Mutter, als sie den zerrissenen Körper gefunden hatte mitten unter all den Trümmern, und dann ihres Entsetzens, ihres Jammers und ihrer Gebete bei dem Gedanken, Gott habe den Gottlosen, auf ewig Verdammten niedergeschmettert. Da sie seine Papiere und Bücher nicht zu verbrennen wagte, hatte sie sich damit begnügt, sie in ein Zimmer zu schließen, das niemand mehr betrat. Seit diesem Augenblicke wurde sie von dem Bilde der Hölle heimgesucht, und sie hatte nur noch den einen Gedanken, ihren jüngeren Sohn ganz strenggläubig zu erziehen als Sühne und zur Erlösung seines Vaters. Der ältere, Guillaume, war ihr schon entwachsen, er war im Lyzeum auferzogen und ganz von den Gedanken und Bestrebungen des Jahrhunderts erfüllt. Er selbst, der jüngere, durfte das Haus nicht verlassen und erhielt einen Geistlichen als Erzieher. Ihr geheimer Traum, ihre heiße Hoffnung war, ihn eines Tages selbst als Geistlichen zu sehen, wie er seine erste Messe las und die leidenden Seelen tröstete.
Ein anderes lebhaftes Bild tauchte zwischen den grünen, von den Sonnenstrahlen durchbrochenen Zweigen auf. Pierre sah plötzlich Marie von Guersaint, so wie er sie eines Morgens durch ein Loch in dem Zaune erblickt hatte, der die beiden benachbarten Besitzungen trennte. Herr von Guersaint, einem kleinen Adelsgeschlecht der Normandie entstammend, war Architekt, damals gerade mit der Erbauung von Arbeitersiedlungen mit Kirche und Schule beschäftigt. Eine schwere Aufgabe, zu der er nicht genügende Vorbereitung besaß und bei der er seine dreimalhunderttausend Frank Vermögen riskierte, dank der ihm eigenen Hartnäckigkeit und künstlerischen Unvorsichtigkeit. Die gleiche tiefe Frömmigkeit hatte Frau von Guersaint mit Frau Froment zusammengebracht. Aber die erstere war eine entschlossene, strenge Frau, die das Regiment führte und mit eiserner Hand verhinderte, daß Katastrophen über das Haus hereinbrachen. Sie erzog ihre beiden Töchter streng religiös. Die ältere war schon ernst wie sie, während die jüngere, obgleich sehr fromm, doch Spiel und Fröhlichkeit sehr liebte in dem lebhaften Jugenddrange, der sich in ihrem schönen, klangvollen Lachen kundgab. Seit ihrer frühesten Jugend spielten Pierre und Marie zusammen. An jenem sonnenhellen Morgen, an dem er sie jetzt wieder vor sich sah, wie sie die Zweige auseinanderbog, war sie zehn Jahre alt. Er zählte sechzehn Jahre und sollte am folgenden Dienstag in das Seminar eintreten. Niemals war sie ihm so schön erschienen. Ihre wie reines Gold glänzenden Haare waren so lang, daß sie, wenn sie sich lösten, sie ganz umhüllten. Er sah ihr Gesicht von damals ganz deutlich vor sich, ihre runden Backen, ihre blauen Augen, ihren roten Mund und vor allem den Glanz ihrer schneeweißen Haut. Sie war heiter und strahlend wie die Sonne. An ihren Augenlidern schimmerten Tränen, denn sie wußte, daß er fortgehen würde. Sie saßen zusammen im Schatten der Hecke im Hintergrunde des Gartens. Ihre Hände waren verschlungen und ihre Herzen schwer. Dennoch hatten sie niemals bei ihren Tändeleien Schwüre ausgetauscht, so unberührt waren noch ihre Seelen. Aber am Abende vor ihrer Trennung trat ihnen ihre zärtliche Liebe auf die Zunge. Sie sprachen davon, ohne es zu wissen, sie schwuren, unablässig aneinander zu denken und sich eines Tages wiederzufinden, wie man sich im Himmel wiederfindet, um glücklich zu sein. Dann hatten sie sich in die Arme genommen, ohne weiter zu fragen, und sich bis zum Ersticken geküßt und heiße Tränen vergossen. Es war eine köstliche Erinnerung, die Pierre damals mit fortgenommen hatte und die er immer noch lebendig in sich fühlte, trotzdem so viele Jahre und so viel schmerzliches Entsagen dazwischen lagen.
Ein heftiger Stoß weckte ihn aus seinen Träumereien. Er blickte im Wagen umher und sah in undeutlichen Umrissen die Gestalten der Leidenden; Frau Maze saß, unbeweglich und von ihrem Schmerz betäubt da. Die kleine Rose stöhnte leise auf den Knien ihrer Mutter. Einen Augenblick trat die heiter lächelnde Gestalt der Schwester Hyacinthe in den Vordergrund mit ihrer weißen Haube und dem weißen Brusttuche. Dann verschwamm alles von neuem in einem Nebel, der aus der fernen Vergangenheit herbeizog. Es blieb nur noch der einschläfernde Gesang der undeutlichen Traumstimmen, die aus dem Unsichtbaren hervordrangen.
Später war Pierre auf dem Seminar. Deutlich erschienen ihm wieder die Schulzimmer, der kleine Klosterhof mit seinen Bäumen. Plötzlich aber sah er wie in einem Spiegel die Gestalt eines jungen Menschen, so, wie er damals war, und er betrachtete sie genau, er zergliederte sie, wie die Gestalt eines Fremden. Groß und schlank, hatte er ein langes Gesicht mit einer stark entwickelten Stirn, hoch und gerade wie ein Turm, während die Kinnbacken zurücktraten und in einem sehr feinen Kinn endigten. Er schien ganz Verstand zu sein; nur der etwas große Mund war zart. Wenn das ernste Gesicht einen freundlicheren Ausdruck annahm, dann verrieten der Mund und die Augen eine unendliche Zärtlichkeit, ein unstillbares Verlangen zu lieben, sich hinzugeben und zu leben. Daneben stand die geistige Leidenschaft hochstehender Wesen, Neues zu lernen und zu erfahren. Diese Begierde hatte stets an ihm gezehrt. Mit Erstaunen gedachte er dieser Seminarjahre wieder. Wie hatte er nur so lange Zeit die herbe Lehre des blinden Glaubens ruhig hinnehmen können, wie hatte er sich gehorsam ohne Prüfung all dem unterwerfen können? Man hatte von ihm eine vollständige Preisgabe seines Verstandes verlangt. Er hatte sich zwingen lassen und war schließlich dahin gelangt, das quälende Verlangen nach Wahrheit ganz in sich zu ersticken. Ohne Zweifel hatten ihn die Tränen seiner Mutter gerührt. Er kannte nur den Wunsch, ihr das erträumte Glück zu verschaffen. Dennoch erinnerte er sich in dieser Stunde an manche aufrührerische Gedanken. Er fand in seinem Gedächtnis die in Tränen zugebrachten Nächte wieder, ohne daß er gewußt hatte, warum, Nächte voll unklarer Bilder, in die das freie Leben des Mannes von außen eindrang und in denen dann immer und immer Mariens Bild erschien, so, wie er sie eines Morgens gesehen hatte, erblassend und in Tränen gebadet und ihn mit heißer Inbrunst küssend. Dieses Bild blieb ihm jetzt allein vor Augen. Die Jahre seiner frommen Studien mit ihren eintönigen Stunden, mit ihren immer gleichen Übungen und Zeremonien verschwanden in einem unklaren Halbdunkel, erfüllt von einer schwülen Totenstille.
Dann gingen ihm, gerade als man eine Station durchfahren hatte, bei dem betäubenden Gerassel der Räder eine Menge Dinge in buntem Durcheinander durch den Sinn. Sein Traum verwirrte sich. Ein langes Unwohlsein das ihn in seinen Studien sehr zurückbrachte, hatte ihn veranlaßt, aufs Land zu gehen. Lange Zeit hatte er Marie nicht wiedergesehen. Zweimal verbrachte er seine Ferien in Neuilly, ohne daß er sie dort antraf, denn sie befand sich fast immer auf Reisen. Er wußte, daß sie sehr leidend war infolge eines Sturzes vom Pferde, den sie im Alter von dreizehn Jahren getan hatte, gerade als sie Weib zu werden anfing. Ihre Mutter schleppte sie in ihrer Verzweiflung jedes Jahr an einen andern Kurort. Dann hatte er den neuen schweren Schlag, der sie getroffen, erfahren, den plötzlichen Tod ihrer strengen, aber so besorgten Mutter: in fünf Tagen hatte sie eine Lungenentzündung hinweggerafft, die sie sich bei einem Abendspaziergang in La Boule geholt, als sie ihren Mantel ausgezogen hatte, um ihn Marie um die Schultern zu legen. Ihr Vater hatte in Eile abreisen und seine vor Schmerz halb wahnsinnige Tochter und die tote Mutter heimbringen müssen. Das schlimmste war, daß nach dem Hinscheiden der Mutter sich die Verhältnisse der Familie wieder verschlechterten und nach und nach immer verwickelter wurden, da der Architekt sein Vermögen, ohne zu rechnen, in den Abgrund seiner Unternehmungen warf. Marie konnte sich nicht mehr von ihrem Krankenstuhl erheben. So war nur Blanche da zur Leitung des Hauswesens, und diese war ganz in Anspruch genommen von den Prüfungen, die sie noch zu bestehen hatte, und von den Zeugnissen, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte, da sie voraussah, daß sie sich eines Tages ihren Lebensunterhalt selbst würde verdienen müssen.
Plötzlich trat vor Pierres Augen eine lichte Erscheinung, die sich loslöste von der Masse dieser halb vergessenen trüben Ereignisse. Es war während eines Urlaubs, den er wegen seines Gesundheitszustandes hatte nehmen müssen. Er war vierundzwanzig Jahre alt, aber in seiner Ausbildung sehr zurück, denn er hatte bis dahin erst die vier niederen Weihen erhalten. Nach seiner Rückkehr sollte er das Unterdiakonat bekommen, das ihn für immer durch einen unverletzlichen Eid band. Und die Szene trat ihm wieder vor die Augen, in dem kleinen Garten in Neuilly, der Guersaint gehörte und in den er einst so oft zum Spielen gekommen war. Man hatte unter die großen Bäume in der Nähe des Zaunes Mariens Krankenstuhl gerollt. Sie waren allein in dem trübseligen Frieden des Herbstnachmittags. Er sah Marie in tiefer Trauer um ihre Mutter halb ausgestreckt mit gelähmten Beinen daliegen, während er selbst ebenfalls schwarz gekleidet schon in der Soutane neben ihr auf einem eisernen Stuhle saß. Sie zählte achtzehn Jahre und sah sehr bleich und abgezehrt aus, ohne daß sie aufgehört hatte, anbetungswert zu sein. Er glaubte, sie wisse, daß sie für immer gelähmt und verdammt sei, niemals Mutter zu werden. Die Ärzte, die sich nicht miteinander verständigen konnten, gaben sie auf. Jedenfalls sie erzählte ihm alles das an jenem trübseligen Nachmittage, indes die welken Blätter auf sie herabregneten. Aber er erinnerte sich nicht mehr ihrer Worte, nur ihr trauriges Lächeln, ihr noch so jugendlich reizendes und doch schon durch den Verzicht auf das Leben gezeichnetes Gesicht waren ihm gegenwärtig. Dann dachte er daran, wie sie den Tag ihrer Trennung ihm ins Gedächtnis zurückrief, ihrer Trennung auf der gleichen Stelle hinter der von den Sonnenstrahlen durchschienenen Hecke. Alles dies war tot, ihre Tränen, ihre Umarmung, ihr Versprechen, sich eines Tages wiederzufinden in der Gewißheit ihres Glückes. Sie hatten sich wiedergefunden, aber was nützte ihnen das jetzt, wo sie ja wie tot war und er im Begriffe stand, für das Leben dieser Welt zu sterben? Von dem Augenblicke an, da es gewiß war, daß sie nicht mehr Frau, weder Gattin noch Mutter werden würde, konnte auch er darauf verzichten, Mann zu sein, und konnte ganz in dem Gott aufgehen, dem seine Mutter ihn geweiht hatte. Er fühlte noch die süße Bitterkeit dieser letzten Zusammenkunft in sich. Marie lächelte schmerzlich über ihre alten Träume und sprach von dem Glück, das er in dem Dienste Gottes finden würde, und er war gerührt bei dem Gedanken, daß sie sich von ihm hatte versprechen lassen, sie zur Anhörung seiner ersten Messe einzuladen ...
Auf der Station SainteMaure entstand ein Lärm, der die Aufmerksamkeit Pierres wieder auf seine Umgebung in dem Wagen richtete. Er glaubte, es wäre irgendein Unfall vorgekommen. Aber die Leidensgesichter, denen seine Augen begegneten, waren noch dieselben, zeigten noch dieselben schmerzverzerrten Züge und die angstvolle Erwartung auf die göttliche Hilfe, die nur langsam herankam. Frau von Jonquière hatte ein Zinngeschirr, das sie reinigte, auf den Boden fallen lassen. Sofort ließ die Schwester Hyacinthe den Rosenkranz von neuem beten, wobei sie mit dem Angelus noch wartete, das nach dem festgestellten Programm erst in Châtellerault gebetet werden sollte. Die Ave folgten rasch aufeinander, es war nur noch ein dumpfes Murmeln, das in dem Lärm und dem Rasseln der Räder sich verlor.
Pierre zählte sechsundzwanzig Jahre und war Priester. Noch einige Tage vor seiner Weihe waren ihm Bedenken gekommen. Das dumpfe Bewußtsein bedrückte ihn, daß er sich binden wollte, ohne sich streng geprüft zu haben. Aber er hatte absichtlich unterlassen, dies zu tun, da er glaubte, mit einem einzigen Entschluß alle Menschlichkeit in sich ertötet zu haben. Sein Fleisch war mit dem unschuldigen Romane seiner Kindheit abgestorben. Er hatte seine Vernunft zum Opfer gebracht in der Hoffnung, das Wollen an sich genüge, das Denken sei gar nicht nötig. Jetzt war es zu spät. Er konnte im letzten Augenblicke nicht zurücktreten. Und wenn er in der Stunde, in der er den Schwur leistete, von einem geheimen Schrecken sich gepackt gefühlt hatte, von einem unendlichen, ungeheuren Bedauern, so hatte er alles vergessen und war göttlich belohnt worden für sein Opfer an dem Tage, als er seiner Mutter die große, lange ersehnte Freude bereitet hatte, ihn seine erste Messe lesen zu hören. Er sah sie noch, seine arme Mutter, in der kleinen Kirche zu Neuilly, in der das Leichenbegängnis seines Vaters gefeiert worden war; er sah sie noch, wie sie an jenem kalten Novembermorgen fast ganz allein in der kleinen dunklen Kapelle kniete und, das Gesicht in die Hände gedrückt, lange weinte, während er die Hostie in die Höhe hob. Sie hatte damals ihr letztes Glück genossen, denn sie lebte einsam und verhärmt. Ihren älteren Sohn sah sie nie. Der war, von anderen Ideen ergriffen, fortgegangen und hatte alle Beziehungen zu seiner Familie abgebrochen, seitdem sein Bruder sich entschlossen hatte, Priester zu werden. Man sagte, daß Guillaume, wie sein Vater ein bedeutender Chemiker, aber verbummelt und in revolutionären Träumereien befangen, ein kleines Haus an der Bannmeile bewohnte, wo er sich mit gefährlichen Studien über Sprengstoffe beschäftigen sollte. Man fügte hinzu, er habe jedes Band zwischen sich und seiner frommen und ehrbaren Mutter dadurch gelöst, daß er in wilder Ehe mit einer Frauensperson lebte, von der man nicht wußte, woher sie stammte. Seit drei Jahren hatte ihn Pierre, der in seiner Jugend Guillaume wie einen älteren väterlichen und guten, lustigen Freund verehrt hatte, nicht wiedergesehen.
Der Tod der Mutter war der nächste schwere Kummer seines Lebens. Es war ein ganz unerwarteter Schlag. Nach einer nur dreitägigen Krankheit war sie plötzlich verschieden. Er hatte sie eines Abends, als er weggelaufen war, um einen Arzt zu holen, bei seiner Rückkehr tot wiedergefunden. Während seiner Abwesenheit war sie gestorben, und seine Lippen hatten noch den erkalteten Hauch ihres letzten Kusses bewahrt. An das übrige erinnerte er sich nicht mehr, weder an die Totenwache noch an die Vorbereitungen, noch an die Beerdigung. Alles dies verschwand in dem Dunkel seines Schmerzes, der so wild sich aufbäumte, daß er beinahe daran gestorben wäre. Bei der Rückkehr vom Friedhof hatte ihn ein heftiger Schüttelfrost befallen, ein Fieber stellte sich ein, und drei Wochen schwebte er, unaufhörlich phantasierend, zwischen Leben und Tod. Sein Bruder war gekommen und hatte ihn gepflegt. Dann hatte Guillaume sich mit der Erbschaftsangelegenheit beschäftigt und nach der Teilung des kleinen Vermögens ihm das Haus und eine kleine Rente überlassen, während er seinen Anteil in barem Gelde mitnahm. Als er ihn außer Gefahr gesehen hatte, war er wieder gegangen und in sein Dunkel zurückgekehrt. Pierre hatte nichts getan, um Guillaume zurückzuhalten, denn er sah ein, daß zwischen ihnen eine weite Kluft sich gebildet hatte. Anfangs hatte er unter der Einsamkeit schwer gelitten. Dann aber hatte er sich in der tiefen Stille der Zimmer, die der Lärm der Straße nicht störte, und unter dem verschwiegenen Schatten des kleinen Gartens sehr wohl befunden. Sein Zufluchtsort war vor allem das alte Laboratorium seines Vaters, das seine Mutter zwanzig Jahre sorgfältig verschlossen gehalten hatte, gleichsam als wollte sie auf diese Weise dort die Vergangenheit mit ihrem Unglauben und ihrer Verdammnis einmauern. Vielleicht wäre sie trotz ihrer Sanftmut und ihrer andächtigen Verehrung für den Gatten doch noch eines Tages zur Vernichtung der Bücher und Papiere geschritten, wenn der Tod sie nicht überrascht hätte. Pierre hatte die Fenster wieder öffnen, den Schreibtisch und die Bücher abstauben lassen, sich in dem großen Lehnstuhl niedergelassen und verbrachte dort köstliche Stunden. Wie neugeboren durch seine Krankheit und in die Tage seiner Jugend zurückversetzt, genoß er durch die Lektüre der Bücher, die ihm unter die Hände kamen, ein ihm unbekanntes geistiges Behagen.
Während dieser zwei Monate langsamer Wiedergenesung hatte er, soviel er sich erinnerte, nur den Doktor Chassaigne empfangen. Das war ein alter Freund seines Vaters, ein gediegener Arzt, der sich bescheiden auf seine Eigenschaft als Praktiker beschränkte und nur den einen Ehrgeiz besaß, seine Kranken zu kurieren. Vergebens bemühte er sich um Frau Froment, aber er durfte sich rühmen, den jungen Priester aus einer schlimmen Lage gerettet zu haben. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn, plauderte mit ihm und suchte ihn zu zerstreuen. Er erzählte ihm von seinem Vater, dem großen Chemiker. Er wußte reizende Anekdoten von ihm zu berichten und rührende Einzelheiten einer innigen Freundschaft. So hatte sich der Sohn während seiner langsam fortschreitenden Erholung von seinem Vater ein Bild von verehrungswürdiger Einfachheit, Güte und Liebenswürdigkeit gebildet. Das war sein Vater, wie er wirklich war, und nicht der Mann der strengen Wissenschaft, wie er sich ihn früher nach den Erzählungen seiner Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn allerdings niemals anderes als aufrichtige Verehrung und Hochachtung des teuren Verstorbenen gelehrt. Aber war er nicht der Ungläubige, der Mann der Verneinung, der die Engel weinen machte, der Helfershelfer der Ruchlosigkeit, die sich gegen Gottes Werk richtete? So war er eine düstere Schreckenserscheinung gewesen, ein Verdammter, der als Gespenst im Hause umging, während er jetzt zum hellen, freundlichen Licht wurde, als ein von heißem Verlangen nach Wahrheit beseelter Arbeiter, der niemals anderes erstrebt hatte als die Liebe und das Glück aller. Doktor Chassaigne, ein Sohn der Pyrenäen, geboren in einem Dorfe, wo man noch an Hexen glaubte, würde sich noch eher der Religion zugewendet haben, wenn er auch seit den vierzig Jahren, die er in Paris lebte, seinen Fuß niemals in eine Kirche gesetzt hätte. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß Michel Froment, wenn es irgendwo einen Himmel gäbe, sich dort befände und auf einem Throne zur Rechten des lieben Gottes säße.