Lovetube - Markus Müller-Hahnefeld - E-Book

Lovetube E-Book

Markus Müller-Hahnefeld

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Beschreibung

Adam steht an seinem dreißigsten Geburtstag der Tristesse seiner Existenz gegenüber. Sein Job in einer neurotischen IT-Firma langweilt ihn, seine feministische Freundin lebt neuerdings enthaltsam und seine Versuche in den Exzess auszubrechen, erschöpfen sich in deprimierenden One Night Stands.Als er sich in die junge Influencerin Jenjalee verliebt, ändert sich sein Leben schlagartig. Wie aus dem Nichts taucht das mysteriöse Tech-Unternehmen Dyne auf und versucht Adam mit unorthodoxen Methoden zu rekrutieren. Er soll mit dem Launch eines techorganischen Sextoys die Welt revolutionieren. Noch ahnt er nicht, welche düstere Wandlung die westliche Welt durch den Lovetube nehmen soll.

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Markus Müller-HahnefeldLOVETUBE

In dieser Reihe bisher erschienen

7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon Endstation7005 Angelika Schröder Böses Karma

7006 Guido Billig Der Plan Gottes7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz Kehrwieder7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer Das Konzept7012 Stefan Melneczuk Wallenstein

7013 Alex Mann Sicilia Nuova

7014 Julia A. Jorges Glutsommer

7015 Nils Noir Dead Dolls

7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit

7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen

7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut

7019 Markus Müller-Hahnefeld Lovetube

7020 Nils Noir Dark Dudes

7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten

7022 Astrid Pfister Bücherleben

Markus Müller-Hahnefeld

LOVETUBE

ROMAN

Der 1987 in Leipzig geborene Regisseur und Autor Markus Müller-Hahnefeld studierte Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. In seinen fiktionalen Filmprojekten fokussiert er sich auf Horror, Science Fiction und schwarze Komödien. Neben Auftritten auf Poetry Slam-, Stand Up- und Lesebühnen arbeitete der gelernte Medienkaufmann unter anderem als Filmkritiker, ­Performance ­Marketing Manager, Museumskaffeebarista, Content Creator, ­Bowlingbahntürsteher und Videographer in München und Leipzig und im Sales-Team eines Kreuzberger Tech-Startups. Mit Lovetube erscheint Müller-Hahnefelds Debütroman.

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Nikola KnezevicUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-070-3

1

„Ich will dich so schnell wie möglich teleportieren! Sofort!“

In seinem abgetragenen Schlüpfer zerrte Jeff Laura zum Teleporter. Ungläubig blieb sie vor ihm stehen.

„Etwas Furchtbares ist passiert, als du dich in die Beta-Kammer teleportiert hast“, sagte Laura, woraufhin sich Jeff trotzig abwandte und sich eine Jeans über seine drahtigen Beine zog.

„Okay, du kannst es also nicht ... Wenn du Angst vor der unbändigen Energie und Power hast, dann suche ich mir eine Neue ... eine, die an meine Vision glaubt und ihr Potenzial entfalten will!“

„Jeff ...“

„Du bist einfach zu eitel, um zerstört und neu geschaffen zu werden. Weil du nicht an die Wissenschaft glaubst, nicht an den Fortschritt, sondern nur an deine weiner­lichen Emotionen. Du kennst nur den mechanischen Weg zum Orgasmus. So erfährst du nie den wahren, den endgültigen Höhepunkt ... die nackte, blasse Angst hält dich davon ab!“

Plötzlich verstummte Jeff, woraufhin sich Adam verärgert zu Nina umdrehte.

Der Bildschirm wurde schwarz.

„Du schaust ja nicht mal hin ...“, sagte Nina. „Außerdem ist der Film aus den Achtzigern!“

Adam stand in Boxershorts am Fenster und blickte durch trauriges Geäst nach draußen. Der Sturm hatte sich gelegt. Der prasselnde Regen war in seichtes Nieseln übergegangen und zog in goldgelben Schleiern an den Straßenlaternen vorbei. Mit über den Kopf gespannter Winterjacke suchte eine dunkle Gestalt Schutz unter einer Linde, um nur einen Moment später weiter zur U-Bahn-Station zu rennen.

„Na gut, dann mach was aus den Neunzigern an.“

„Willst du dir nicht langsam mal was anziehen? Deine Gäste kommen gleich.“

Hinter Adams Schulter ertönte nun die Endlosschleife des Hauptmenüs von Mario Kart 64, während ein alter Laptop ruckelnd Friends-Folgen zeigte. Nina platzierte sorgsam Teelichter um den Benjamin-Blümchen-Kuchen, während sie in einem nabelfreien, unvorteil­haften Top um den Esstisch lief. Die Neunziger-Mottoparty war ihre Idee gewesen.

„Es wird kaum jemand kommen, und wer kommt, kommt zu spät.“

Drei kurzen digitalen Glockentönen aus Adams iPhone folgten zehn weitere, eine Absage nach der anderen. Jeder Ton meldete eine Entschuldigung, eine Ausrede und kaschierte Charakterschwächen durch niedliche, ironische Smileys, gepaart mit überfreundlichen Geburtstags­grüßen und Versprechen zu gemeinsamen Bieren, die man über die kommenden Monate bis in den Sommer schieben würde, bis schließlich ein längerer Urlaub die Planung endgültig beendete. Die Feigen unter den nicht erscheinenden Gästen würden ihm erst am nächsten Tag schreiben und die Tatsache, dass sie ihn vergessen hatten, auf ihre Vierzig-Stunden-Arbeitswoche schieben. Mit jeder Absage wurden die vier Bierkästen und das Zehn-Liter-Bierfass auf dem Couchtisch lächerlicher und die Marzipan-Dreißig auf dem Kuchen trauriger.

Eine Fliege landete auf dem Rand eines der Teelichter. Sie erstarrte beim Blick in die Flamme, sah nach unten ins Wachs und dann wieder zur Flamme und wieder ins Wachs. Dann wollte sie mit einem Satz abspringen, ertrank jedoch im heißen Wachs, als es an der Tür klingelte.

*

Adam zog sich eilig eine Jeans an und warf sich ein Rape-Me-Nirvana-T-Shirt über.

„Ich wünsche dir Gottes Segen bei allen Herausforderungen, die dir im neuen Lebensjahr begegnen werden.“

Herrmann fiel Adam um den Hals und drückte ihn liebevoll an seinen üppigen Bauch. Er hatte sich das Neunziger-Jahre-Motto mit großer Freude zu Herzen genommen und trug tief sitzende Sanchez-Baggypants. Scheinbar hatte er an den Beinen nicht mehr zugelegt, seit er sechzehn war. Sein Bauch hingegen ließ den einst weiten Mazine-Pullover gewaltig spannen. So langsam überkam Adam der Verdacht, dass er nur deswegen Antje unablässig schwängerte, damit ihr Bauch von seiner zunehmenden Fettleibigkeit ablenkte.

„Gottes Segen“, sagte sie, „und viel Erfolg in deinem Job. Gibts da was Neues?“

„E-Mail-Security-Appliances, Virtualisierung, applikationsbasierte Firewalls, Zweifaktor­authentifizierungen, same shit different ...“

Doch ehe Adam seinen Satz zu Ende brachte, hatte Antje schon Nina erspäht und sprang ihr in die Arme. Die beiden sahen sich zum zweiten Mal.

Nina fragte: „Und wie hast du das Neunziger-Motto für dich umgesetzt?“

„Ich bin schwanger, so wie meine Mutter in den Neunzigern mit mir.“

Adam blickte verdutzt zu ihr, als sich Herrmann in sein Blickfeld schob.

„Lieber Adam, ich brauche Bier! Heute kam eine von Antjes Patientinnen zu mir in die Gemeinde, um mit mir über ihre Beerdigung zu reden.“

„Ziemlich übler Brustkrebs“, ergänzte Antje.

„Zum Glück konnte ich jetzt in Mutterschutz, bevor sie mit der Chemo anfängt.“

„Es gibt Kuchen“, wimmerte Nina in der Ecke des Flurs.

Die Türklingel unterbrach den Moment.

In einem neongelben Tanktop und einer über­geworfenen Alpha-Industries-Bomberjacke kam Alex die Treppe heraufgeeilt. In Begleitung einer ...

„Ich habe noch jemanden mitgebracht! Das ist Jenny.“

Jenny war höchstens neunzehn und hatte die Haare seitlich zu Zöpfen gebunden, wodurch sie wohl ein bisschen versuchte, auszusehen wie Britney Spears in dem Jahr vor Jennys Geburt. Und nebenbei war sie die schönste Frau, die Adam je gesehen hatte. Und Adam wollte sie augenblicklich ficken. Hier an Ort und Stelle. Gleich im Flur vor den Augen aller, auf dem Fensterbrett, auf der Waschmaschine, die ihnen Ninas Eltern geschenkt hatten, auf dem niedrigen Wohnzimmertisch, an dem sich Adam immer die Schienbeine stieß, auf dem kork­farbenen Lowboard, von dem er vorher den Fünfzig-Zoll-­Fernseher stoßen würde, und auf Ninas Schreibtisch, wo er auf einen chaotisch übereinander geworfenen Stapel von Foucault- und Lacan-Texten ejakulieren würde.

Erst als sie ihre Hand schon langsam und unsicher wieder zurückzog, bemerkte Adam, dass Jenny sie ihm entgegengestreckt hatte.

„Hallo, alles Gute zum Geburtstag.“

Verdammt war sie süß. Nun gab Alex Adam die Hand, brach sie fast und zog sich mit dem Handschlag in die Wohnung und Jenny hinter sich her. Er war wieder in der Massephase.

„Leider hatte ich keine Zeit mehr, dir etwas zum Geburtstag zu kaufen. Aber du sollst trotzdem ein Geschenk haben.“

Er überreichte ihm eine Plastikpackung mit Konfetti, auf der eine Zigarre, ein Wodka und ein Deospray in Reise­größe klebten.

„Das ist kein Deospray in Reisegröße, sondern ein Blowjobaroma­spray.“

„Ein Blowjobaromaspray?“

Adam sagte es mehr zu Jenny als zu Alex und sie lächelte verlegen.

„Ja, das sprühst du dir auf den Schwanz und dann schmeckt er nach Champagner, wenn sie dir einen lutscht! Grüß dich, Nina!“

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Herrmann kam in den Flur.

„Ach, der Priester ist auch am Start.“

„Pfarrer. Ich bin evangelisch. Kann ich das Blowjobspray mal sehen?“

Alex löste es aus der Packung, die Adam noch in der Hand hielt, sprühte sich einen kräftigen Stoß auf den Zeige­finger und streckte ihn Jenny vor den Mund. Zögerlich sah sie zwischen den drei Männern umher. Erst zu Alex, dann zu Adam und schließlich Hilfe suchend zu Herrmann, und der nickte ihr ermutigend zu. Im Hintergrund sagte Nina laut: „Ja, der Kuchen ist auch vegan“, als Jenny Alex’ Zeigefinger in den Mund nahm und ihn langsam ablutschte. Sie schmeckte noch ein wenig nach, als würde sie eine Weinprobe zerkauen.

„Und?“, fragte Herrmann ungeduldig.

„Schmeckt scheiße“, antwortete Jenny.

„Wollt ihr im Flur bleiben? Wir haben extra für heute Abend einen Esstisch gekauft!“, rief Nina aus dem Wohnzimmer.

Alex zog noch einen Absolut Vodka aus seiner Jackentasche.

„Wie viele kommen denn heute noch?“

„Wir sind komplett ... Leider haben mir ein paar Leute abgesagt. Kein Babysitter und so.“

„Ah ... ja ... verstehe ... na ja ...“

„Ich würde euch nun bitten, mir eure Handys zu geben.“

„Jetzt geht das schon wieder los“, seufzte Nina!

Adam sammelte die Smartphones ein und legte sie in seinen Kühlschrank.

„So, jetzt sind wir unter uns! Ich hab ein Bierfass gekauft.“

*

Zu sechst saßen sie um das Bierfass und aßen den veganen Kuchen.

„Wow ... der ist schon sehr süß“, sagte Alex, mit verzogenem Gesicht den Kuchen kauend, wobei er mit der Gabel lustlos im Kuchen herumstocherte.

Nina blickte vorwurfsvoll zu Adam.

„Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass es zu viel Zucker war.“

„Quatsch, ein veganer Kuchen kann nie zu viel Zucker haben! Irgendwo muss der Geschmack ja herkommen.“

Demonstrativ schob er sich ein großes Stück in den Mund, der sich kurz daraufhin gequält verzog. Sofort schossen die Erinnerungen an seinen früheren Kinder­arzt in seinen Kopf, der ihm die Kinderlähmungs­schluckimpfung verabreichte, als er nackt in der Mitte der Praxis stand.

„Warum war ich damals eigentlich nackt?“, flüsterte Adam leise vor sich hin, doch niemand hörte ihn, denn Alex nahm ein weiteres Stück zu sich und rief durch den Raum, als würde er allein dadurch Kalorien verbrennen: „Na ja, heute ist Cheatday.“

Dann blickte er auf Herrmanns Bauch, der sich sofort aufrechter hinsetzte, woraufhin Alex sich auf Antje fokussierte. Er musterte sie unangenehm lange von Kopf bis Fuß und von unten wieder nach oben, blieb dann auf Höhe ihres Bauches stehen und fragte: „Du bist aber schon schwanger, oder?“

Antje nickte verlegen und stellte ihren Kuchen zurück auf den Tisch. Nina lenkte das Gespräch zu Jenny.

„Und ... was machst du so?“

„Ich bin Content Creator!“

Adam verschluckte sich an seinem Kuchen.

„Content Creator? Und was für Content createst du?“

„Hauptsächlich TikTok, aber zurzeit mache ich auch wieder mehr Instagram.“

Alex ergänzte: „Sie hat über 200.000 Follower!“

„TikTok? Ist das diese App, auf der Siebzehnjährige mit sich selbst vor ihrer Handycam tanzen?“, fragte Herrmann.

„Ich bin neunzehn!“, warf Jenny ein.

Antje lehnte sich zurück und nippte borniert an ihrem Wasser. Adam ergänzte: „TikTok ist chinesisch. Kein chinesisches Unternehmen ist komplett unabhängig vom chinesischen Staat und TikTok sammelt die Gesichtsausdrücke aller junger Menschen auf der Welt. Fast alle deutschen Jugendlichen nutzen TikTok ... Kann sich von euch jemand vorstellen, was das für die KI-­Entwicklungspotenziale der Chinesen bedeutet?“

Alle sahen Adam schweigend an. Dann durchbrach Antje die Stille und frage Jenny: „Wie geht ihr denn mit dem Altersunterschied um?“

Alex antwortete für sie.

„Ich bin in einem Alter, in dem sich gleichaltrige Frauen als humorvoll, ehrlich und direkt bezeichnen ... Die Frage wäre, wie zur Hölle man damit umgehen soll.“

Jenny nickte verständnisvoll.

Alex lachte und Jenny sagte: „Wir sind ja auch ungefähr in einem Alter. Mein letzter Freund war dreiundsechzig.“

Stille. Herrmann fragte: „Wie habt ihr euch denn kennen­gelernt?“

„Auf der SocialCom“, antworteten beide gleichzeitig und kicherten verlegen.

„Das ist so ’ne Influencer-Konferenz in Berlin.“

„Ach, du bist auch Influencer?“, fragte Hermann.

Alex nickte und breitete seine Arme aus.

„Klar, sind wir das nicht alle?“

Herrmann und Adam sahen sich an, dann blickte er fragend zu Nina und auf Antjes schwangeren Bauch. Adam ergänzte: „Alex’ letzte Videos über Bizeps- und Brachialis­workout hatten über 200.000 Klicks und sein Letztes über kalorienarme alkoholische Getränke ist auf einem guten Weg, diesen Rekord zu knacken!“

„Da hat aber jemand seine Hausaufgaben gemacht, darauf sollten wir einen trinken.“ Alex nahm sich sechs Biergläser von dem Stapel, der das Fass umgab. Alle winkten gleichzeitig ab, doch er schenkte unbeirrt ein und gab jedem ein Glas in die Hand. Antje nahm er es sofort wieder weg, trank es beiläufig und stieß mit den anderen an. Adam sammelte die leeren Gläser ein, bevor Alex auf die Idee kam, noch einmal nachzuschenken. Beiläufig fragte er Jenny:

„Ähm ... wie heißt du denn auf TikTok?“

„Jenjalee!“, antwortete Jenny.

Adam brachte die Gläser in die Küche, stapelte sie in der Spüle und nahm sein Smartphone aus dem Kühlschrank. Noch in der Küche öffnete er TikTok und lief mit einem laut hörbaren Musikschnipsel und Jennys Tanzperformance auf dem Screen ins Wohnzimmer.

„Du hast TikTok?“, fragte Nina entsetzt.

Doch Adam schwieg und starrte weiter auf den Screen, wo Jenjalee ihren 200.000 Followern einen fünfzehn­sekündigen Bauchtanz zu einem aktuellen Chartsong darbot, den keiner kannte. Herrmann sah gespannt auf das Smartphone, schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

„Das können die Schwarzen aber besser! Wir Deutsche sind ein feingeistiges Volk, mit einer romantisch-­melancholischen Gefühlswelt. Wir fühlen die Komplexität des Lebens durch die Breite eines Sinfonieorchesters und müssen sitzen, wenn wir Musik hören, da wir sonst übermannt von unseren Gefühlen zu Boden gehen würden. Das ist unvorstellbar weit entfernt von dem Hüft­gewackel der ewig balzbereiten Neger, die durch Analsex verhüten und sich danach Cola über die Eichel schütten, um sich vor Aids zu schützen.“

Nina starrte ihn entrüstet an. Ihr Mund war mit jedem seiner Worte ein Stück weiter aufgegangen.

„Das ist so ... 1933, was du da von dir gibst!“

„Ja, damals war die Musik ja auch noch besser“, gab Herrmann zu bedenken.

„Das hier ist eine weltoffene Wohnung! Wir begegnen hier jedem Menschen mit Respekt, statt mit Hass und Hetze um sich zu werfen, während man seinen fetten Bauch vor sich herschleppt, der nur so fett ist, weil wir Europäer seit Jahrhunderten Afrika ausbeuten und denen keine Chance lassen, aufzusteigen. Und während Nazis wie du ...“

„Rechtsintellektuelle. Ich bevorzuge den Begriff Rechtsintellektuelle.“

„... über einen ganzen Kontinent herziehen, zerstören wir hier seelenruhig das Klima.“

„Die grillen dort Fleisch auf Autoreifen.“

„Das ist doch schon wieder ein rassistisches Klischee.“

„Ich würde dir davon Videos zeigen, aber mein Handy liegt im Kühlschrank, weil dein Freund glaubt, dass ihn Geheimdienste ausspionieren.“

„Das tun sie ... soll ich dir dein Handy holen?“

Nina fuhr entrüstet herum zu Adam. „Willst du ihm jetzt auch noch recht geben?“

Jenny sprang ihm überraschenderweise bei. „Herrmann, so war doch dein Name, oder?“

Herrmann nickte gelassen.

„Sagt ja nur, dass Schwarze besser tanzen. Und das stimmt auch.“

Alle sahen einander schweigend an. Plötzlich sprang Adam in einem eiligen Satz auf und ging zum Plattenspieler.

„Schaut mal, was ich von Nina bekommen habe.“

Nach einem genussvollen Knopfdruck fuhr langsam der Tonabnehmer über den Plattenteller und sank elegant auf das Vinyl in die Mitte des ersten Tracks.

„I wanna fuck you like an animal, I wanna feel you from the inside.“

„Ja ... Nina hat mir noch ’ne Nine Inch Nails-Platte geschenkt. Aber irgendwie springt der Tonarm beim Aufsetzen immer nach innen.“

Alex sprang auf, ging zu Adam an den Plattenspieler und wiederholte das Auflegen.

„I wanna fuck you like an animal.“

„Seltsam. Vielleicht der Antriebsriemen.“

Nina blickte schuldbewusst zu den beiden, sie probierten es erneut.

„I wanna fuck you like an animal.“

„Wenn es nicht klappt, kann ich den ja umtauschen“, sagte Nina tröstend.

„Nein, wir lösen das jetzt!“, beschloss Adam und er und Alex verloren sich für die nächsten zehn Minuten am Platten­spieler, bis sie beschlossen, ihn aufzuschrauben. Als Adam gerade unter Ninas argwöhnischen Blicken ins Schlafzimmer gehen wollte, um einen Schraubenzieher zu holen, warf Jenny ein: „Können wir nicht einfach Spotify anmachen?“

*

Schon länger hatte Adam den Verdacht, dass Spotify seine Playlists nicht über Algorithmen generierte, ­sondern dass eine Bande von Nerds in dunklen Büros saß, von dort aus die Leben ihrer User abhörte und sich die Lebenszeit damit vertrieb, absichtlich unangenehme Songs in die Playlists zu schieben.

Nun saßen sie zu einer Neunziger-Playlist am Tisch, während DJ Bobos Freedom gerade von Aquas ­Barbiegirl abgelöst wurde. Adam saß Jenny gegenüber. Ihr Blick lag immer ein wenig zu lang auf ihm, und nachdem er ihn anfänglich kühl hielt, löste er sich in ein sanftes Lächeln auf, das Jenny erwiderte.

Langsam fuhr sie mit ihrem großen Zeh an der Innenseite von Adams linker Wade entlang und schob ihn entlang seiner Oberschenkel-Innenseiten zu seinen Eiern, wobei sie sich lustvoll auf die Unterlippe biss.

Adam hatte genug getrunken, um sich einzureden, dass es niemand mitbekam. Er hatte den Schutzengel des betrunkenen Idioten: Nina hatte mit Antje endlich ein Thema gefunden und tauschte Erfahrungen über Hautreizungen durch Naturkosmetik aus und Herrmann und Alex ließen sich mit dem Wodka zulaufen.

Jenny lehnte sich über den Tisch zu Adam. „Ich gehe jetzt in die Küche. Komm doch nach.“

Jenny stand auf und verließ von den anderen unbeachtet das Wohnzimmer. Adam wartete einen Moment ab, drehte sich zu den anderen, die miteinander beschäftigt waren, und sah ihnen für einen Moment dümmlich lächelnd bei ihren Gesprächen zu. Unbemerkt stand er auf, nahm sich ein Alibiglas mit und ging in die Küche.

Jenjalee saß breitbeinig auf dem Fensterbrett und hatte den linken Fuß lässig auf der Spüle abgestellt. Als Adam in die Küche kam, nahm sie die Zigarette aus dem Mundwinkel, aschte in die Spüle und atmete dabei genüsslich zum Boden aus. Nina würde sie dafür umgehend fenestrieren, wenn sie sah, dass in ihrer Küche geraucht wurde.

„Na, wie fühlst du dich mit dreißig?“

„So, als hätte nun der Rest eines Lebens begonnen, in dem ich schon jetzt alles bin, was ich jemals sein werde.“

„Du willst mich ficken, stimmt’s?“

Die Küchentür öffnete sich und Antje schob sich unbeholfen und unnötig eng zwischen Zarge und Tür hindurch zum Kühlschrank.

„Ich wollte gar nicht stören, wollte nur ...“ Sie bog sich ungeschickt umständlich um die Kühlschranktür heraus. „... kurz mein Smartphone aus dem Kühlschrank holen.“

Herrmann schob seinen Kopf über die rechte Schulter seiner Frau.

„Ja, wir müssen dann.“

„Jetzt schon?“

Jenny stieß sich vom Fensterbrett und schnippte die Zigarette auf die Straße. In beängstigend behäbigen Altherrengesten half Herrmann Antje in den Mantel. Jenny postierte sich vor Adam, lächelte süß und sagte: „Wir sehen uns wieder, wenn alle Bilder weiß sind.“

Dann verschwand sie hinter der Tür und prallte mit Alex zusammen.

„Was habt ihr denn hier getrieben? Na ja, egal: Du, ich muss morgen früh noch ein Video zu einem neuen Core Workout aufnehmen und wollte das auf meiner Dachterrasse machen, wegen München-Flair und so, weißt schon ...“

Nun räumte Nina auf, sah Adam nicht an und bedachte ihn mit mürrischem Schweigen. Zwei Stunden später lag Adam neben ihr im Bett, zu seinen Füßen das neue sechzehn mal sechzehn Kallax-Regal. Adam sah zu Nina.

„Könnten wir über einen Geburtstagsblowjob reden?“

„Ich muss morgen früh raus.“

„Nina, es ist zehn Monate und fünf Tage her, dass du mir zuletzt einen geblasen hast.“

„Gute Nacht!“

Ninas letzte Bewegung des Tages bestand aus einem verträumten Heranrücken zu Adam, wo sie ihren Kopf auf seine Brust legte und einschlief. Er lauschte ihrem Atem und tat kein Auge zu. Seine Erektion schmerzte und das Gewicht von Ninas Kopf drückte auf Herz und Lunge und verbot ihm jede noch so kleine Bewegung. Behutsam schob er ihren Kopf zur Seite auf das Daunen­kissen, in dem sie leise seufzend einsank und weiterschlief.

Adam schlich mit seinem Smartphone ins Bad, öffnete das TikTok-Profil von Jenjalee, legte es auf die Ablage vor seinem Spiegel und ejakulierte fünfundzwanzig Videos später in vier ergiebigen Stößen in sein Waschbecken.

2

Eine gut zehn Meter lange, dreckige Glasröhre markierte den Ausgang von DizTek. Manche sprachen davon, dass der Weg in die Firma sie daran erinnerte, ein Einkaufszentrum aus den Neunzigern zu betreten. Andere verglichen die Röhre mit einem begehbaren Meeresaquarium, in dem irregewordene Haie auf der Flucht vor sich selbst um die Besucher schwammen. Dicke Regentropfen prasselten auf die gewölbten Scheiben, die Staub und Blütenpollen vom Glas lösten und in das verwilderte Rosenbeet spülten.

Als Adam mit müden Schritten über die in partieller Nässe schattierten, abgelaufenen Marmorplatten in die Röhre trat, erkannte er den dicksten Mann, den er je gesehen hatte, zusammen mit dem dünnsten Mann, den er je gesehen hatte. Es waren die CEOs der Chromstahl AG, die seit einem allgemein als positiv empfundenen Kennenlern­meeting zu den vielversprechendsten Leads des aufstrebenden Jungvertrieblers Thomas zählten.

„... und die Babs wollte also unbedingt Terrakotta. Also haben wir die Wand Terrakotta streichen lassen und jetzt ist sie rosa.“

Der Dicke lachte laut auf, als sie an Adam vorbeigingen. Er grüßte freundlich, doch der Dünne fuhr fort. „... sie meinten, es lag an der Grundierung und daran, dass die Tapete darunter Farbe zieht und deswegen eher der Rosaton durchkommt.“

Adam drehte sich kurz nach ihnen um und ärgerte sich: An einem Tag, an dem er eine perfekt auf das Blau des Anzugs abgestimmte Krawatte trug, erwartete er mehr Anerkennung. An den grundsätzlichen Entwürfen seines Lebens zweifelnd, trat er aus der Röhre ins Foyer. Der Ausbau der Büros im Erdgeschoss zog sich nun schon über mehrere Monate. Eine Leiter, Schubkarre, Kabelrollen und mannshohe Pakete mit Deckenplatten standen achtlos zurückgelassen in einer Ecke und erweckten den unvorteilhaften Ersteindruck einer südeuropäischen Baustelle in einem in der Rohbauphase aufgegebenen Spekulations­bau.

Tatsächlich wirkte das Foyer so rustikal, das man geneigt war, diese allzu offensichtlichen Missstände von DizTek zu trennen und die Schuld dafür bei einem anderen Mieter im Gebäude oder dem Eigentümer zu vermuten. Doch es gab keine weiteren Mieter. Und DizTek war Eigentümer dieser Müllhalde.

Rosenfeld, seines Zeichens Gründer und CEO von DizTek, war mit der handwerklichen Qualität der bisherigen Arbeiten einer rumänischen Baufirma derart unzufrieden, dass er seit einigen Wochen Vergleichsangebote für die weiteren Bauabschnitte einholte und es wohl noch Monate dauern würde, bis ihm eine Entscheidung gelang.

Adam entschied sich gegen die Treppe und für den behäbigen Glasfahrstuhl. Die rot leuchtende digitale Stockwerkanzeige versprühte den futuristischen Touch einer Zukunftsphantasie aus den frühen Neunzigern, war jedoch im Laufe der Jahre albern geworden. Adam durchschritt den langen Gang, an dessen Seiten sich Glaswände mit schallabsorbierenden Holzschiebetüren erstreckten, und lief auf die stählerne Treppe im Mittelgang zu, die den Flur wie die Businessversion einer Justiz­vollzugsanstalt wirken ließ.

Hinter der Treppe befand sich der Meetingraum: Ein von allen Seiten einsehbarer Glaskasten, mit einem großen Tisch in der Mitte, Flipchart, trauriger Zimmerpflanze und einem in die Jahre gekommenen Flachbildfernseher, dessen Kabel offen an der Glaswand herabhingen. Der Raum ließ sich mit Rollos abdunkeln, sodass zumindest gelegentlich der Blick in das Terrarium, wie der Raum intern genannt wurde, verborgen bleiben konnte.

*

Adam schob die Holzschiebetür zu seinem Büro auf, setzte sich an seinen Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch und blickte durch die Scheibenwand in Rosenfelds benachbartes Büro. Rosenfeld begrüßte ihn grimmig nickend und drehte sich so ein, dass er mit seinem Rücken den Blick auf seine beiden Monitore verdeckte.

Kaum dass Adam saß, sprang er auch schon wieder auf, um sich einen Kaffee zu holen. An manchen Tagen war der erste Kaffee der einzige Grund für Adam, um aufzustehen.

Mohammed und Malte standen vor dem Geschirrspüler und räumten in verschiedenen Varianten Gläser und Tassen im oberen Fach umher. Sie befanden sich in einem für Netzwerkadministratoren nicht unüblichen Optimierungsprozess, und während langsam der saure Kaffee des Vollautomaten die Juniper-Networks-Tasse füllte, beobachtete Adam Mohammed betont auffällig dabei, wie er Malte eine seiner Meinung nach effizientere Einräumkombination anbot. In seiner Hand hielt er eine schwarze Kaffeetasse. Doch auch die neue Kombination erwies sich nicht als Lösung. Die Tasse passte einfach nicht. Daraufhin stellte er sie ab und schichtete erneut Gläser und Tassen um und versuchte, sie nun zwischen zwei Unterteller zu schieben, womit er diese jedoch so nach oben schob, dass sich die Spülmaschine nicht mehr zuschieben ließ.

„Wäre es nicht einfacher, wenn ihr die Tasse mit der Hand spült?“

„Es geht hier schon lange nicht mehr um die Tasse“, raunte Malte gereizt und sortierte alle Tassen auf die linke und die Gläser auf die rechte Seite, bis sich schließlich nach einigen Henkeldrehungen eine Lücke ergab, in die die Tasse passte. Malte klopfte Mohammed tröstend auf die Schulter und Adam ließ noch einen doppelten Espresso zu seinem Café Crema hinzu.

Malte lief an Adam vorbei und drehte sich noch einmal kurz zu ihm um.

„Ach so, Adam, bevor du es wieder nicht mitbekommst: Steffen ist nicht mehr da!“

„Wie nicht mehr da? So ganz weg?“

„Heute Morgen lag an seinem Platz nur eine ausgedruckte Mailkommunikation von Rosenfeld mit rot markierten Textpassagen.“

„Er hat Worte wie Rumgeficke und Scheißdreck daneben geschrieben ... ich glaube, das war als Kündigung gemeint. So langsam wird es luftig in der Technik ...“, ergänzte Mohammed und schlurfte mit gesenktem Haupt den Gang entlang. Wahrscheinlich war er der Nächste.

*

Thomas hängte seine regennasse, kürzlich von einem Markenoutlet auf 900 Euro reduzierte Hugo-Boss-­Winterjacke an den verchromten Kleiderhaken neben der Büroschiebetür. Beiläufig begrüßte er Adam, als er mit fest nach hinten gestreckten Schulterblättern an ihm vorbei­stolzierte, seinen grauen Kaschmirpullover dynamisch über seinen Kopf gleiten ließ und über die Lehne seines ergonomisch geformten, mit rot-schwarzem Büffel­leder bespannten Bürostuhls warf.

Er fuhr seinen Laptop hoch, grinste Adam kurz an, sagte selbstzufrieden: „Schicker Anzug“, und bog in den Gang in Richtung der Kaffeemaschine ein. Adam erwiderte angestrengt das Grinsen und rieb sich danach die schmerzenden Augen.

„Wow, schicker Anzug!“, sagte Kathrin und verschwand im Nachbarbüro. Er wollte etwas sagen, doch sie hörte ihn schon nicht mehr. Zu konzentriert wiederholte sie mantraartig in einem geflüsterten Monolog Vertragsnummern. So versuchte sie, einen Tag zu strukturieren, der sie durch zahllose Anrufe führen würde, in denen sie Kunden daran erinnerte, dass sie zahlen mussten. Im Grunde tat sie nichts anderes: Sie erklärte Menschen, dass es wichtig war, pekuniäre Mittel gegen den Fachblick eines Nerds in Richtung bunter Kabel und grün blinkender LEDs einzutauschen. Das war ihr Leben, und ihre Erfolgserlebnisse bestanden darin, dass noch mehr Nerds noch öfter auf LEDs und Kabel blickten und nebenher ein paar Updates aufspielten.

Kathrin führte ein trauriges Leben, das sie nur durch Dating-Apps, wasserdichte, remote steuerbare Sextoys und einer sehr bald folgenden Benzodiazepinabhängigkeit erträglich scheinen lassen konnte. Und bei alledem nahm sie sich auch noch unerträglich ernst, was das Ganze noch trauriger machte.

Adam öffnete TikTok. Jenjalee hatte ein neues Video hochgeladen. Sie war phänomenal: Eine jener Frauen, die allein durch ihre Mimik gewaltige Dopaminmengen in das Belohnungssystem ihrer Zuschauer spülen konnte. Wenn sie ihre riesigen, wunderschönen Kulleraugen aufmachte oder in einem Video einen skeptischen Blick in ein warmherziges Lächeln aufweichen ließ, spürte Adam ein Prickeln in seinem Bauch. Es musste jedem ihrer 200.000 Follower so gehen. Ihr Körper war nur eine Projektions­fläche für die Songs und Sprachschnipsel anderer, die sie interpretierte, und obwohl man nichts von ihr wusste, nicht einmal ihre Stimme kannte, verliebte man sich innerhalb von Sekunden in sie. Immer wenn Adam eine solche Frau irgendwo auf der Welt sah, kam ihm in den Sinn, dass sie mit irgendjemandem fickte.

Das Bild eines Mannes, der mit solchen Frauen schlief, war für Adam gleichgesetzt mit einer gottgleichen Ikone, einem Mann jenseits jeglichen erreichbaren körperlichen und geistigen Niveaus, eines jener Einzelindividuen, die durch ihre schiere Existenz den Fortschritt der gesamten Menschheit zu beeinflussen vermochten.

Es mussten Übermänner sein, Männer von dem Format wie die Herren, die einst Sklaven zum Bau von Pyramiden im alten Ägypten koordinierten, Techrevolutionäre, die heute das waren, was die Feldherren vergangener Jahrhunderte zu sein versuchten. Es waren Männer wie ... Alex. Doch was um alles in der Welt meinte sie mit diesen weißen Bildern? Das war schon alles sehr albern.

*

Für den Nachmittag stand das Meeting mit der Virtual Person GmbH in Adams ansonsten überwiegend mit den Terminen von Kollegen gefülltem Outlook-Kalender. Es war im Grunde unzweckmäßig, einem hippen Start-up wie Virtual Person im Anzug zu begegnen. Es erschien Adam jedoch sinnvoll, overdressed aufzutreten, um so seine Inkompetenz zu kaschieren.

Virtual Person zählte zu den vielversprechendsten jungen Firmen im Virtual-Reality-Bereich und fokussierte sich auf die Idee, Freunde und Familienmitglieder als digitale Avatare immer bei sich zu haben. So sollte es auch in einer zunehmend globalisierten Welt, in der man zwangsläufig einen Teil seines sozialen Umfelds in ferne Länder verlor, weiterhin möglich sein, mit ihnen den Alltag zu bestreiten und sogar mehr Zeit mit ihnen zu verbringen, ohne das Geld und Ressourcen verbraucht wurden, die wiederum eine katastrophale CO2-Bilanz mit sich brachten.

So wie die immer öfter allein in Großstädten wohnenden Menschen gegen die Einsamkeit in ihren Single-Wohnungen den Fernseher oder lange Youtube-Videos als geduldige und redselige Gesellschaft laufen ließen, würde es in Zukunft möglich sein, den simulierten besten Freund oder die Ex-Freundin der Wahl auf der Couch sitzen zu haben. Alles, was es dafür brauchte, war eine Verknüpfung mit möglichst allen Social-Media-Accounts und Zugang zu den lokalen Smartphone-Daten.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis den großen Playern wie Facebook oder Google keine andere Wahl blieb, als Virtual Person zu kaufen. Langfristig bestand in vielversprechenden Start-ups wie Virtual Person eine gewaltige Chance für DizTek. Im internationalen Vergleich hatte der Wirtschaftsstandort Deutschland mit Ausnahme von Virtual Person kaum innovative Tech-Unternehmen zu bieten und würde in nicht allzu ferner Zukunft selbst von ehemaligen asiatischen Entwicklungsländern eingeholt werden.

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Kathrin huschte wieder durch das Büro, heftete Vertragsunterlagen in eine Mappe und hängte diese in einen der weißen Metallschränke, während sie hektisch und getrieben wirkte.

Adam knabberte nachdenklich an einem Bleistift, der mit dem Slogan Time to Fire your Firewall bedruckt war und öffnete Kathrins Instagram-Account.

Sie hatte traurige 252 Follower, doch ihre ersten drei Fotos wurden beachtlicherweise zwischen 150- und 182-mal geliked und immerhin von ein paar Bots kommentiert. Die mit einer DSLR der Einsteigerklasse fotografierten Bilder zeigten sie in einem glänzenden, karamellfarbenen Seidenmorgenmantel, wie sie in einem neoklassizistischen Badehaus posierte. Darunter standen englische Sätze, die die Wichtigkeit der Verwirklichung der eigenen Entspannungsträume frönten und dabei ein subtiles Ich will Sex mit drei afrikanischen Männern gleichzeitig in einer Edelpornokulisse suggerierten.

Unter einer Reihe von Tier- und Wasseremojis standen Hashtags wie Luxury, Luxuslife, Relax und Work-Life-Balance. In weiteren Bildern folgte eine ausgewogene Kombination aus Abendgarderobe und Yogaübungen auf einer Bastmatte, wobei sie ihren durchaus sportlichen Po wenig subtil im Hund und ihr weit ausgeschnittenes Dekolleté in der Cobra-Position inszenierte.

„Ich finde die Wartungsverträge von der Infinity AG nicht mehr“, sagte sie verzweifelt.

„In einer Welt, in der sich Firmen Infinity AG nennen können, sollte man sich darüber keine Gedanken machen müssen.“

Kathrin drehte sich um und starrte wieder ratlos den Schrank an.

„Habt ihr die nicht digitalisiert?“, fragte Adam.

„Bestimmt. Aber die finde ich auch nicht.“

„Das ist ein Problem, oder?“

„Ja, das ist ein großes Problem. Bestimmt hat sie Torben wieder rausgezogen.“

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Rosenfeld stürmte in den Raum. Er trug einen dunklen Anzug, der einigermaßen seinen ausladenden Bauch zu kaschieren vermochte. Rosenfeld sah so aus, wie sich Ostdeutsche Anfang der Neunziger-Jahre den typischen westdeutschen Autoverkäufer vorstellten, wozu sein Oberlippenbart einen ergiebigen Beitrag leistete.

„Kathrin, hast du den Wartungsvertrag der Infinity AG mal bitte, er ist nicht im CRM abgelegt und die haben gerade angerufen und verstehen nicht, warum sie zahlen sollen, was sie zahlen sollen, und die Buchhaltung versteht auch nicht, warum sie zahlen sollen, was sie zahlen sollen, und du hast denen gerade gesagt, dass sie zahlen sollen, was sie zahlen sollen ... also los.“

„Ähm, ja, den habe ich gleich.“

Kathrin öffnete den Schrank und begann mit bebender Oberlippe und weit aufgerissenen, glasigen Augen unter ihren zusammengezogenen Augenbrauen in der Ablage zu wühlen. Ihre verzweifelte Übersprungshandlung erinnerte an einen Schwarzfahrer, der in seinen Taschen sekundenlang nach einem nicht existierenden Fahrschein suchte.

„Wenn der Kunde schon direkt in der Geschäftsführung anruft, weil er offensichtlich das Gefühl hat, das sein Ansprechpartner bei DizTek nicht weiß, was er zu tun hat, dann ist das schlecht. Verstehst du das, Kathrin? Das ist dann sogar sehr schlecht, Kathrin. Unverantwortlich ist das dann. Weißt du auch warum?“

Kathrin schwieg.

„Weil sich der Kunde dann verarscht fühlt. Verstehst du das, Kathrin? Verarscht. Und wenn sich der Kunde von DizTek verarscht fühlt, dann fühlt er sich von mir verarscht, Kathrin. Und dann fühle ich mich von dir verarscht, Kathrin. Verstehst du das? Und nun frage ich dich, Kathrin, willst du mich verarschen?“

Kathrin war den Tränen nahe. Ihre Stimme zitterte und klang, als läge eine Hantel auf ihren Stimmbändern, als sie sagte: „Ja ... Ich weiß doch auch nicht ...“

„Kathrin, versteh mal ... Wenn ich dich dann frage, wo der Wartungsvertrag ist, und du keine Ahnung hast, wo der Wartungsvertrag ist, dann sind das Entwicklungen, die dazu führen, dass wir den Laden mal irgendwann zusperren können und ich das Licht ausmache, und ich habe hier schon oft genug das Licht ausgemacht. Aber ich mache hier gern das Licht aus. Weißt du auch warum, Kathrin? Weil ich mich darauf freue, es am nächsten Morgen wieder für euch anmachen zu können. Ich verbringe hier mehr Zeit als zu Hause und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass das meine Ehe nicht belastet und dass ich mir durch mein Engagement keine Sorgen darüber mache, dass meine Tochter sich mit sechzehn einen Sugardaddy auf MySugardaddy.com suchen wird, um meine Abwesenheit zu kompensieren, aber damit muss ich leben, weil es Wichtigeres gibt als das. Verstehst du das, Kathrin?“

Kathrin nickte. Adam war zunächst erstaunt und peinlich berührt zugleich, mit welcher ergebenen Bereitschaft sie sich von Rosenfelds Monolog einschüchtern ließ, und er fragte sich, wie alt Rosenfelds Tochter war. Adam wusste nichts über Kathrins Vater, doch es war wahrscheinlich, dass er einer von denen war, die ihre Pubertät nie ertragen haben konnten. Das hatte auch Rosenfeld erkannt und zudem stand ihm der Führungsstil ­enttäuschter, autoritärer Chef einfach ausgezeichnet.

Er nahm es in Kauf, dass er Kathrin mit hoher Wahrscheinlichkeit psychisch zerstörte, und zweifellos hatte er auch einen Plan, wer sie im Falle einer zweimonatigen Reha vertreten sollte.

Er atmete gütig aus und ging zur Tür. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal zu Kathrin um, seufzte und sagte: „Also, Kathrin, mach mich nicht unglücklich und versprich mir, dass ich hier noch viele Jahre das Licht anmachen kann.“

Dann tat Rosenfeld überraschend wieder ein paar Schritte auf Kathrin zu. Er stand nun unangenehm nah vor ihr und sah sie eindringlich an, sie hob ihr gesenktes Haupt und blickte ihm unterwürfig in die Augen. Er streckte seine Hand aus, legte seinen Zeigefinger ­vorsichtig unter ihr Kinn und schob daran ihren Kopf nach oben.

„Versprichst du mir das?“

Kathrin nickte, wie es für das kleine Mädchen, zu dem Rosenfeld sie gemacht hatte, erwartbar und anständig war. Rosenfeld zog sein Handy aus der Tasche, hob es an sein Ohr und verließ den Raum.

„Ja genau, da sind wir bei roundabout 130k“, sagte Rosenfeld und schob hinter sich die Bürotür zu.

Kathrin sah verstohlen zu Adam und Adam mit offenem Mund zu Kathrin, dann machte sie auf der Stelle kehrt und verschwand eilig aus dem Büro.

*

Regen prasselte gegen die Scheiben. Adam genoss den februargrauen Ausblick in den grau-beige-ocker-­farbenen Innenhof, der sich von außen in der blaugrauen Glasfassade des DizTek-Komplexes spiegelte, als er sich die Oberlippe an dem überzuckerten Kaffee verbrannte.

Die Drucker druckten, irgendwo klopfte jemand einen Papierstapel zurecht. Businessleben, Haifischkragen für die agileren Vertriebler, Kentkragen für die älteren, Button-­Down und karogemusterte Kurzarmhemden für die Techniker. Vertragsabschlüsse, Telefonklingeln, Umsatz, Einkaufen, Verkaufen bis zum Wochenende und zum nächsten 3.000-Euro-Strandurlaub, und auf Adams Smartphone tanzte Jenjalee mit sich selbst, als wäre die Welt in Ordnung und als gäbe es keine Sorgen in diesem wundervollen kleinen Hochformatvideo.

Thomas kam mit einem Starbucks-Coffee-To-Go-Becher zurück, nahm den Plastikdeckel ab und warf ihn aus dem Handgelenk in den Papiermüll.

„Der Kaffee ist heute schon wieder so sauer, dass ich gerade noch mal runter zu Starbucks bin.“

„Bist du mit der U-Bahn gefahren? Der nächste ­Starbucks ist in der Stadt ...“

„Nee, nur kurz in den Firmen-Audi gesprungen ...“

„Sag mal, wenn eine Frau sagt, dass ich sie wiedersehe, wenn alle Bilder weiß sind, was will sie mir denn dann damit sagen?“

Thomas checkte seine Mails, sprang auf und freute sich über einen neuen Abschluss, der ihm 5.000 Euro Provision einbrachte.

„Hä? Ach so ... weiße Bilder ... dann will sie dir sagen, dass sie wie die meisten Frauen eine Psychopathin ist ... und dass du besser deiner Freundin treu bleibst.“

Er hörte aus der Ferne Torben, wie er weinerlich versuchte, einen Kunden am Telefon zu beruhigen, während Kathrin geduldig auf das Ende seines Telefonats wartete, um ihn für das Verschwinden ihrer Wartungsverträge verantwortlich zu machen.

„Herr Meier, ich hab nicht gesagt, Ich muss Ihre Hunde vergiften, sondern Ich muss Ihre Stunde berechnen.“

Mohammed kam in den Raum gestürmt.

„Habt ihr es schon gesehen?“

„Was gesehen?“, fragte Thomas entnervt, ohne zu ihm aufzusehen.

„Schaut mal auf Instagram oder Facebook.“

Thomas öffnete Facebook. Es gab keine Bilder, überall nur weiße Flächen. Adam öffnete Instagram: Unter den Benutzernamen und Profilbildern standen nur weiße Flächen. Er öffnete TikTok: Alles funktionierte reibungslos.

„Natürlich geht TikTok, das ist ein Angriff der Chinesen! Es geht los! Xi Jinping hat seine Hacker mobilisiert.“

„Ist es nicht gerade typisch für Hacker, dass man sie nicht mobilisieren muss?“, fragte Adam Mohammed, als das erste Telefon klingelte. Dann das nächste. Innerhalb von Sekunden klingelte es an allen Plätzen.

E-Mails fluteten die Posteingänge und verwandelten jeden Outlook-Account in eine massige Fläche aus gefettetem schwarzem Text. Adam sah durch die Scheibe in Rosenfelds Büro. Kreidebleich schlug er die Hände über dem Kopf zusammen.

Thomas stand als Erster in seinem Büro, Jonas und Petra folgten ihm hektisch, dann versammelten sich sukzessive alle in seinem Büro und hielten teilweise mehrere Kunden in den Leitungen.

Rosenfeld wandte sich ab und ging zum Fenster. Nachdenklich sah er hinaus und schwieg.

„Was sollen wir tun?“, fragte Thomas.

„Ruhe bewahren“, antwortete Rosenfeld.

Alle sahen sich ratlos an. Aufgeregt sprang nun auch Adam herbei. „Heute ist das Meeting mit Virtual Person! Was machen wir mit denen?“

„Auf Montag verschieben. Und jetzt erst mal das Wochenende genießen“, seufzte Rosenfeld.

Mohammed hielt ratlos einen Laptop am Bildschirm zwischen Daumen und Zeigefinger und streckte ihn fragend Rosenfeld entgegen.

„Das Wochenende genießen? Sollen wir das so den Kunden sagen?“

„Ja ... Und jetzt geht wieder an die Arbeit, sagt ihnen, dass sie nach Hause gehen sollen, zu ihren Familien und ihren pubertierenden Töchtern, und dass es ein Segen ist, wenn das Internet stillsteht ... und die Leute diese Websites nicht mehr besuchen können, die ihr Leben in Tragödien verwandeln und Apps benutzen, die uns verblöden lassen ... Sagt ihnen das!“

Schweigen. Langsam löste sich die Traube vor seinem Büro und Rosenfeld starrte nachdenklich aus dem Fenster.

Mohammed sah sich währenddessen eines der weißen Bilder näher auf seinem iPad an. Mit Daumen und Zeigefinger zog er es groß.

„Schaut mal, die Pixel ... die sehen irgendwie aus wie kleine ... Kristalle ...“

3

Adam hatte sich nie besonders viel aus Sushi gemacht. Die Beliebtheit der überteuerten Kombination aus rohem Fisch, Algen und klebrigem Reis war für ihn schon immer exemplarisch für den unverständlichen Hype um leicht verderbliche Globalisierungsprodukte ohne gesellschaftlichen Mehrwert gewesen: Sushi taugte weder als Protein­quelle, noch war es sättigungswirksam, und so konnte es als unverhältnismäßiger Ausdruck von gött­lichem Zynismus verstanden werden, dass nun ausgerechnet jenes unbefriedigende Teilstück japanischer Küchen­kultur der Auslöser für eine einschneidende Veränderung in Adams Leben werden konnte.

Die Box mit den seit Tagen überlagerten Reis-Fisch-Röllchen lag den Nachmittag über auf der grau-­schwarzen Marmorimitat-Küchentheke und der Fisch­geruch peitschte durch die Lieferservice-Plastikbox durch die Küche in Adams Nase, während ihn Nina mit leerem Blick und einer zitternden Träne im Augenwinkel ansah.

„Montag hab ich dich höflichst gebeten, dein scheiß Sushi wegzuschmeißen. Weißt du eigentlich, was für einen Dreck du da isst? Fische sind nichts als Giftschwämme.“

Die Träne löste sich und rollte eilig über die Sommersprossen auf Ninas Wange und Adam stand da und starrte auf seine Sushibox, die inzwischen alle Jämmerlichkeit der Welt in sich vereinte.

Adam schwieg, öffnete den Kühlschrank und legte sein Smartphone hinein. „Das muss ja jetzt nicht jeder hören.“

Nina verdrehte die Augen. „Und, welchen Tag haben wir heute?“

Adam schwankte auf der Stelle und versuchte, leger und unbeeindruckt auszusehen. Inzwischen hatte sich sein Blick am Regal festgefahren, immer wieder las er die Buchrückenaufschrift von Vegan kochen für ­Entrepreneure.

„Komm schon, das ist doch jetzt albern, ich habe einfach vergessen, das scheiß Sushi wegzuschmeißen.“

„Du schmeißt nie dein Sushi weg.“

„Ich kaufe auch nie Sushi“, entgegnete Adam siegesgewiss.

„Es geht doch schon lange nicht mehr um das Sushi.“

„Okay, es ist Freitag“, gestand Adam ein.

Nina stemmte die Hände in die Hüfte, atmete resigniert seufzend zur Seite aus und fokussierte ihren Ikea­kleiderschrank.

„Verpiss dich einfach! Und komm nie wieder.“

„Du kannst mich nicht einfach rausschmeißen. Irgendwo muss ich schlafen.“

„Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du das Sushi in meinem Kühlschrank vergammeln lassen hast.“

„In deinem ...? Egal, ich treff’ mich jetzt mit Alex. Er hat irgendwie Redebedarf wegen der Whitescreen-Attacke.“

„Willst du mich verarschen? Ich bin Grafikdesignerin ... niemand hat mehr Redebedarf als ich ... Mein kompletter Feed war weiß ...“

„Alle Feeds waren weiß ... und im Gegensatz zu ...“ Adam deutete Gänsefüßchen in die Luft. „... echten Grafik­designern ...“

„Designerinnen!“

„... hast du noch ein Studium, mit dem du dich ablenken kannst, aber Alex ... der arme Kerl ...“

Adam ging auf Nina zu und umschloss ihre Schultern.

„Was hat er schon außer ein paar Muskeln und Teenager­liebschaften? Also lass mich heute mit ihm ein paar Bierchen trinken und den Kampf schauen.“

Nina stieß sich von Adam ab und verschwand in der Küche.

„Heute gibt es keinen Kampf“, sagte sie in Richtung der Sushibox. Für einen kurzen Moment war Adam überrascht, dass das Sushi nicht antwortete.

„Es gibt immer einen Kampf!“, entgegnete Adam mit der Türklinke in der Hand.

Nina hielt kurz inne und sah Adam entnervt an. Es war unübersehbar, dass sie jede einzelne Minute, die sie je mit ihm verbracht hatte, für verschwendet und verloren hielt und sich nun fragte, wo sie im Leben stehen würde, wenn sie von vornherein statt mit ihm, mit einem politisch versierteren, die richtigen Fragen über das Leben stellenden, Veganer geschlafen hätte.

„Geh doch zu dieser Schlampe von Alex. Die fickt bestimmt mit dir.“

„Die fickt doch schon mit Alex.“

„Das interessiert die doch nicht, denkst du, ich hab nicht gemerkt, was da bei euch lief?“

„Hä?“

Nina schleuderte die Sushibox zu Adam, der sie im letzten Moment abwehren konnte und die Sushiröllchen zu Boden regneten.

„Verpiss dich einfach aus meinem Leben! Und aus meiner Wohnung! Und sammel deinen scheiß Gammelfisch auf.“

Als sie das sagte, kniete Adam schon auf dem Parkettboden und suchte angewidert mit Daumen und Zeigefinger die schrumpeligen Algenröllchen zusammen und warf sie mit tiefer Verachtung in die Box. Während er kurz am Wasabi roch, um den Gestank zu überdecken, sagte er zaghaft: „Warte mal, es ist immer noch unsere Wohnung.“

„Der Mietvertrag läuft auf mich, dir war das damals ja egal.“

*

Mit der Sushibox in der Hand schlurfte er die Treppen hinab, lief aus dem Haus, zog bedeutungsvoll die linke Augenbraue nach oben, blieb einen Moment vor der Haustür stehen und atmete tief die kühle Märzluft ein, bevor er sich eine Zigarette anzündete, erleichtert das Sushi in die Hecke vor dem Haus warf und zur U-Bahn lief.

Kurz vor der Rolltreppe blieb Adam stehen. Sie wechselte gerade ihre Fahrtrichtung, um drei junge Araber nach oben zu transportieren. Aus ihren iPhones lärmte ­blechern orientalische Volksmusik. Er klopfte seine Hosentaschen ab und fluchte. Nach kurzem Zögern entschied er sich, zurückzulaufen, kam zurück in die Wohnung und lief auf Nina auf, die im Flur kauerte und erschrocken die Aufnahme einer Sprachnachricht abbrach.

„Ich ... habe mein Handy im Kühlschrank vergessen.“

Ninas Lidstrich war in einem dicken Rinnsal verlaufen und ließ sie aussehen wie Alice Cooper nach einem zweistündigen Sommerkonzert in einer stickigen Halle. Sie schob sich an der Raufasertapete nach oben. „Gib mir deinen Schlüssel.“

„Du kannst mich mal.“

„Sofort.“

Adam ignorierte sie und ging zur Tür, Nina folgte ihm, machte einen kurzen Abstecher in die Küche und trat nun strumpfsockig in den Hausflur. Als sich Adam nach ihr umdrehte, kam ihm ein Weißkohl entgegengeflogen. Er wehrte ihn mit dem hochgezogenen linken Ellenbogen ab und lenkte ihn so gegen die Wand, von der er jämmerlich herabstürzte und schließlich auf dem Boden zerbarst.

*

„Eine Whitescreen-Attacke ... Ich kann es nicht fassen ...“

Alex schüttelte ratlos mit dem Kopf und stellte kraftvoller als nötig sein Bier auf den Tisch. Es war allgemein nicht nötig, Kraft aufzuwenden, um ein Bier abzustellen, doch alles, was Alex tat, war von einer gewissen Energie getrieben, die von seinen T-Shirt-Ärmel-aufspannenden, trocken definierten Oberarmen ausging.

„Was sind das nur für Menschen, diese Chinesen? Hätten sie wenigstens die Bilder durch Penisse ersetzt, aber einfach weiße Flächen? Das ist unmenschlich!“

„Sie hat mich mit einem scheiß Weißkohl beworfen.“

„Stell dir vor, es wäre eine Melone gewesen.“

„Die haben gerade keine Saison ... Sie würde nie Gemüse kaufen, das nicht saisonal ist. Aber jetzt mal im Ernst: Ich meine, wie tief muss eine Beziehung gesunken sein, wenn man sich mit Gemüse bewirft?“

Alex blickte Adam wissend an und hob sein Glas, um mit ihm anzustoßen.

„Wie läuft die Arbeit?“, fragte Alex ablenkend.

„Na ja. Leute haben Angst, dass andere Leute Dinge auf ihren Computern löschen könnten, und ich verdiene mit dieser Angst Geld, indem ich behaupte, dass ihre Daten bei uns unlöschbar sind. Und nachdem ich Jahre meines Lebens damit vergeudet habe, begreifen wir auf einmal innerhalb von Sekunden, dass wir nur Illusionen verkaufen und dass keiner auch nur die geringste Ahnung hat, was er tun soll. IT-Security ist eine Bitch.“

„Jeder Job ist eine Bitch ...“, seufzte Alex.

„Egal ... weißt du, was du jetzt mit deiner Grande Dame machst?“

Adam schüttelte den Kopf.

„Du gehst nachher schön wieder nach Hause, legst dich zu ihr und schläfst mit ihr.“

„Okay.“

Beide sahen sich an und nickten einander schweigend zu.

„Ja ... Ich sollte sie einfach ficken.“

„Ja, solltest du!“

„Aber ich habe sie seit Wochen nicht mehr gefickt.“

„Seit Wochen ...“, Alex wischte mit der Hand durch die Luft, als schiebe er dieses Problem einfach beiseite.