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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 43
Siegfried Lenz
Lukas, sanftmütiger Knecht
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
Im Süden brannte das Gras. Es brannte schnell und fast rauchlos, es brannte gegen die Berge hin, gegen die Kenia-Berge; das Feuer war unterwegs im Elefantengras, es hatte seinen eigenen Wind, und der Wind schmeckte nach Rauch und Asche. Einmal im Jahr warfen sie Feuer in das Gras, das Feuer lief seinen alten Weg gegen die Berge hin, gegen die Kenia-Berge, und vor den Bergen legte es sich hin, und mit dem Feuer legte sich der Wind hin, und dann kamen die Antilopen zurück und die Schakale, aber das Gras war fort. Einmal im Jahr brannte das Gras, und wenn es verbrannt war, wurde gepflügt, es wurde gegraben und gepflügt, die neue Asche kam zu der alten Asche, und in das Land aus Asche und Stein warfen sie ihren Mais, und der Mais wurde groß und hatte gute Kolben.
Ich bog dem Feuer aus und fuhr in weitem Bogen zum Fluß hinunter, zum Bambuswald, ich fuhr langsam zwischen Dornen und Elefantengras um das Feuer herum, und ich spürte den heißen, böigen Wind auf der Haut und schmeckte den Rauch. Ich wollte am Fluß entlangfahren, am Bambuswald, ich konnte das Feuer überholen, ich konnte, wenn ich es überholt hatte, auf die Grasfläche zurückfahren, es war kein großer Umweg: ich hatte nur noch fünfzehn Meilen zu fahren, ich würde noch vor der Dunkelheit zu Hause sein, ich mußte vorher zu Hause sein.
Aber dann traf ich sie, oder sie trafen mich; ich weiß nicht, ob sie auf mich gewartet hatten; sie lagen am Rande des Flusses, am Rande des Bambuswaldes, mehr als zwanzig Männer, sie flossen aus dem Bambus hervor, lautlos und ernst, zwanzig hagere Männer, und sie trugen kleine Narben auf der Stirn und am Körper, rötliche Stigmen des Hasses, und in den Händen trugen sie ihre Panga-Messer, kurze, schwere Hackmesser, mit denen sie unsere Frauen töten und die Kinder, ihre eigenen Leute und das Vieh. Sie umringten das Auto, sie sahen mich an, sie warteten. Einige standen im Elefantengras, einige vor den Dornen, sie kamen nicht näher heran, obwohl sie sahen, daß ich allein war, sie hielten das Panga-Messer dicht am Oberschenkel und schwiegen, zwanzig hagere Kikujus, und sie blickten mich sanft und ruhig an, mit herablassendem Mitleid. Ich schaltete den Motor aus und blieb sitzen; in einem Fach lag der Revolver, ich konnte ihn sehen, aber ich wagte nicht, die Hände vom Steuer zu nehmen, sie beobachteten meine Hände, ruhig und scheinbar gleichgültig wachten sie über meine Bewegungen, und ich ließ den Revolver im Fach liegen und hörte, wie in der Ferne das Feuer durch das Elefantengras lief. Dann hob einer sein Messer, hob es und winkte mir schnell, und ich stieg aus; ich stieg langsam aus und ließ den Revolver liegen, und dann sah ich den, der mir gewinkt hatte, und es war Lukas, mein Knecht. Es war Lukas, ein alter, hagerer Kikuju, er trug eine Leinenhose von mir, sauber, aber von den Dornen zerrissen, Lukas, ein stiller, sanftmütiger Mann, Lukas, seit vierzehn Jahren mein Knecht. Ich ging auf ihn zu, ich sagte »Lukas« zu ihm, aber er schwieg und sah über mich hinweg, sah zu den Kenia-Bergen hinüber, zu dem brennenden Gras, er sah über die Rücken der fliehenden Antilopen, er kannte mich nicht. Ich schaute mich um, sah jedem der Männer ins Gesicht, prüfte, erinnerte mich verzweifelt, ob ich nicht einem von ihnen begegnet wäre, einem, der mir zunicken und bestätigen könnte, daß Lukas vor mir stand, Lukas, mein sanftmütiger Knecht seit vierzehn Jahren; aber alle Gesichter waren fremd und wiesen meine Blicke ab, fremde, ferne Gesichter, glänzend von der Schwüle des Bambus.
Sie öffneten den Kreis, zwei Männer traten zur Seite, und ich ging an ihnen vorbei, ging in die Dornen hinein; die Dornen rissen mein Hemd auf, sie rissen die faltige, gelbliche Haut auf, es waren harte, trockene Dornen, sie griffen nach mir, hakten sich fest, brachen, über der Brust hing das Hemd in Fetzen. Wir haben eine Bezeichnung für Dornen, wir nennen sie »Wart ein bißchen«. Ich hörte, wie sie das Auto umwarfen, sie ließen es liegen und folgten mir, sie zündeten das Auto nicht an; sie ließen es liegen, und das genügte, es genügte in diesem Land des schweren Schlafes und des Verfalls, niemand würde das Auto je wieder auf die Räder setzen, vielleicht würde es jemand in den Fluß stürzen, vielleicht, ich würde es nie mehr benutzen. Sie folgten mir alle, mehr als zwanzig Männer gingen hinter mir her; wir gingen durch die Dornen, als ob wir ein gemeinsames Ziel hätten, sie und ich.