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Die junge Schauspielerin Melina Mendel bekommt zu ihrer Überraschung die Hauptrolle in dem Stück "Lulu" von Frank Wedekind. Durch ihr früh erlebtes Leid nach dem Tod ihrer Mutter und die Not, Geld zu verdienen in einer Welt, in der die Männer herrschen, Frauen verachtend und zugleich sie zum Objekt ihrer Triebe machend, scheint sie vom Schicksal wie ausersehen, diese Rolle zu spielen. Sie identifiziert sich in einem solchen Grad mit der Rolle der Lulu, dass dies zu Komplikationen führt.
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Jetzt würde es sich entscheiden. Melina saß aufgeregt in dem Vorraum, zusammen mit den anderen Schülerinnen der Schauspielschule „Thalia“, und wartete darauf, in den Proberaum hereingerufen zu werden. Man hatte alle Schülerinnen der Abschlussklasse hergebeten, weil der Regisseur des örtlichen Theaters unbedingt eine möglichst junge und damit noch unerfahrene Schauspielerin suchte, mit welcher er die Rolle der „Lulu“ in dem bekannten Stück von Frank Wedekind besetzen wollte. Dies war eine einmalige Chance. Dies konnte das Sprungbrett in die Welt des Theaters sein, der Anfang einer vielversprechenden Karriere. Noch vor Abschluss der Ausbildung eine Hauptrolle angeboten zu bekommen, war ein Karrierestart, den man nur mit einem Raketenstart vergleichen konnte.
Entsprechend aufgeregt waren die versammelten jungen Frauen. Kaum eine schaffte es, den Mund zu halten. Alle mussten ihrer Aufregung in entenartigem Geschnatter Ausdruck verleihen, nur Melina verhielt sich ruhig. Sie dachte zurück an ihre Kindheit. Zu oft schon war sie in schwierigen Situationen gewesen. Immer hatte sie es geschafft, sich aus eigener Kraft emporzuarbeiten. Schon in frühen Jahren war ihre Mutter gestorben, und ihr Vater konnte, so sehr er sich auch bemühte, kein Ersatz für die Mutter sein. Es wäre übertrieben gewesen, ihn einen Alkoholiker zu nennen, aber eine starke Zuneigung zum Alkohol hatte er durchaus. Deswegen war es stets Melina, die, wenn sie nach der Schule nach Hause kam, für sich und den Vater das Essen machen musste. Sie hatte keine Geschwister, sie stand allein mit der ganzen Last des Haushalts, mit den Schularbeiten und mit der Unterstützung des Vaters, der, wenn er betrunken war, hilflos war wie ein kleines Kind.
Trotz der schwierigen Situation hatte sich Melina ihren Optimismus und ihre fröhliche Offenherzigkeit, die ihr Wesen kennzeichneten, bewahrt. Wenn es am Ende des Monats mit dem Geld knapp wurde, weil ihr Vater mal wieder alles vertrunken hatte, ging sie zum Blumenladen und bat darum, hundert Rosen verkaufen zu dürfen. Abends machte sie sich dann mit diesen Rosen auf, um sie auf der Straße oder in Gaststätten irgendwelchen verliebt scheinenden Herren anzudrehen, welche diese rote Rose dann an ihre sanft errötende Geliebte weiterreichten.
Es war auch schon vorgekommen, dass manche Herren ohne weibliche Begleitung sich mit freundlichen Komplimenten an sie wandten und ihr zehn Rosen gleichzeitig abkauften, wobei Melina trotz ihres jungen Alters – fünfzehn Lenze hatte sie gerade erst hinter sich gebracht – klug genug war zu begreifen, dass diese Herren unredliche Absichten hatten. Sie wusste immer geschickt das Gleichgewicht zu halten zwischen weiblicher Verlockung auf der einen Seite und nüchterner Abweisung auf der anderen Seite. Sie spürte, dass sie den Herren gefiel und dass sie mit ihrer jugendlichen Schönheit irgendetwas in ihnen auslöste. Zwar reizte sie das und machte sie neugierig, aber sie hatte auch Angst davor. Es war ein Spiel mit ihren eigenen Reizen, das sie genoss, aber immer nur bis zu einer gewissen Grenze. Sie war ja schließlich in der Großstadt aufgewachsen und besaß daher einen untrüglichen Instinkt für Gefahr.
Ihre Reize, ja, das war das, was sie jeden Morgen im Spiegel sah, und was sie mit dem Urinstinkt ihrer Weiblichkeit als das ihr von der Natur geschenkte Kapital ansah: ein wohlgeformtes Gesicht, eine reine, weißliche Hautfarbe, blühende, schwellende Lippen, große, unschuldsvolle Kinderaugen, und dann – um es mit Wedekinds eigenen Worten zu sagen – „diese herausfordernde Pracht des jugendlichen Fleisches an Hals und Armen“. Ihr Blick ging, wenn sie morgens nackt vor dem Spiegel stand, an ihrem Körper herunter, und sie schaute sich so an, wie diese Herren des Abends sie anzuschauen pflegten, wenn sie ihnen ihre Rosen verkaufte. Oft brannte der Blick der geilen Herrentiere noch in ihrem Rücken, wenn sie sich schon zum Gehen abgewandt hatte.
Nein, sie wollte sich nicht wegwerfen, auf jeden Fall nicht an einen dieser Herren, von denen sie wusste, dass sie sie am nächsten Morgen unbarmherzig aus der Wohnung werfen würden, nachdem ihre Gier nach jugendlichem Fleisch gestillt war. Nein, sie würde sich auch nicht wegwerfen an einen dieser jungen Männer, die wie sie an der „Thalia“ eine Schauspielausbildung absolvierten, noch nicht einmal an Thomas, den sie als ihren Freund ansah. Ja, er war nett, er sah gut aus, aber irgendetwas fehlte ihm. Zwar schon 18 Jahre alt, war er im Gemüt doch nur ein Junge, ohne Tiefgang, ohne Leidensfähigkeit, ohne Kraft. Was gelitten zu haben bedeutet, das wusste sie nur allzu gut. Es erwuchs Einsicht aus dem Leiden, Einsicht in die Unvollkommenheit und Unbarmherzigkeit des Lebens, und Kraft, hervorquellend aus dem Willen zu überleben. Thomas hatte nie gelitten, er war aus gutbürgerlichem Hause. Er hatte stets alles geschenkt bekommen, was er brauchte, ohne sich je anstrengen zu müssen. Jetzt wollte er Schauspieler werden. Warum? Melina vermutete, dass der wahre Grund nicht Interesse an der Kunst war, sondern ein großes Ego, ein Ego, das sich auf der Bühne noch vergrößern wollte.
Thomas stellte ihr nach. Melina ließ es sich gefallen. Er durfte ihr näher kommen, aber immer nur, um im letzten Moment wieder abzublitzen. Melina lachte insgeheim, wenn sie sein enttäuschtes Gesicht sah, nachdem er wieder mal eine Abfuhr erteilt bekommen hatte. Trotzdem gab er nie auf. Er machte sich immer wieder an sie ran, und dazu hatte er Grund genug. Denn Melina reizte ihn, und sie spielte mit ihren Reizen, führte sie ihm vor Augen, so dass er vor Begier zu brennen begann. An sein Ziel jedoch kam er nie.