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Berlin, Ende Mai 1934. Die anfängliche Begeisterung für die Regierung Hitler schwindet, die unberechenbare SA macht vielen Bürgern Angst. Und Gereon Rath gerät bei seinen aktuellen Ermittlungen ausgerechnet mit den Braunhemden aneinander. Unter der Eisenbahnbrücke an der Liesenstraße, unter einer unvollendeten kommunistischen Parole, liegt ein SA-Mann, der scheinbar erschlagen wurde, tatsächlich aber an einem Glasauge erstickt ist. Am Tatort trifft Kommissar Rath auf seinen früheren Kollegen Reinhold Gräf, der nun für die Geheime Staatspolizei arbeitet. Während Gräf von einem politischen Mord ausgeht, ermittelt Rath in eine andere Richtung und entdeckt Verbindungen zum zerschlagenen Ringverein »Nordpiraten«, der seine kriminellen Aktivitäten als SA-Sturm getarnt fortsetzt. Als ein zweiter SA-Mann erschlagen aufgefunden wird, scheint alles auf eine Mordserie zu deuten. Eine Spur führt in den seit Kurzem geschlossenen Lunapark, einstmals Berlins berühmtester Rummel. Und Rath fragt sich, welche Rolle Unterweltboss Johann Marlow, ein Erzfeind der »Nordpiraten«, in diesem Fall spielt. Die politische Lage wird immer brisanter, Raths Frau Charly gerät in SA-Haft, und der Kommissar wird in einen Strudel sich überschlagender Ereignisse gezogen, an deren Ende er sogar einen unmissverständlichen Mordauftrag erhält. Wird er ihn ausführen? Volker Kutscher liefert atemlose Spannung und das packende Porträt politisch höchst unruhiger Zeiten.
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Seitenzahl: 824
Volker Kutscher
Gereon Raths sechster Fall
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Volker Kutscher
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Prolog
Erster Teil Luna Plena
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Zweiter Teil Interlunium
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
Dritter Teil Luna Minor
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
84. Kapitel
85. Kapitel
86. Kapitel
87. Kapitel
88. Kapitel
89. Kapitel
90. Kapitel
91. Kapitel
92. Kapitel
93. Kapitel
94. Kapitel
95. Kapitel
Epilog
Inhaltsverzeichnis
Freitag, 18. Mai 1934
Die hell erleuchteten Fassaden der Großstadt glitten an ihm vorüber, und er lehnte sich zurück in die Lederpolster. Mehr als zwei Stunden Fahrt lagen noch vor ihm: nach dem Lichtermeer der Berliner Nacht die Dunkelheit der Mark Brandenburg: nur die Alleebäume rechts und links der Chaussee, von den Autoscheinwerfern für Sekunden ins Licht geholt, um dann wieder in die Dunkelheit zurückgeworfen zu werden. Das hatte etwas Beruhigendes, fand er, diese ewige Wiederkehr des Gleichen.
Adolf Osterberg liebte es, in seinem Audi SS durch die Gegend gefahren zu werden, auf der Rückbank eine Zigarre zu rauchen und nachzudenken. Und heute gab es besonders erfreuliche Dinge, über die er nachdenken konnte. Sein Geschäftsabschluss mit Friedländer war mehr als zufriedenstellend. Ein Geschäft, von dem sie beide profitierten und das ihnen für die nächsten Monate Sicherheit gäbe. Sie hatten sich einen Cognac gegönnt zum Abschluss ihres Geschäftsessens, und immer noch spürte Osterberg die Wärme des Alkohols, die das Gefühl tiefster Zufriedenheit, das sich in ihm ausbreitete, auf angenehme Weise unterstützte.
Schulze steuerte den Achtzylinder mit ruhiger Hand. Der junge Fahrer kannte sich nicht nur gut mit Autos aus – fast alle Reparaturen erledigte er selbst –, er war auch im Umgang ein äußerst angenehmer Mensch, in dessen Gesellschaft man sich einfach gerne aufhielt. Und was war bei einem Chauffeur wichtiger?
Emilie und die Kinder waren bereits in Ahrenshoop, dorthin würde er morgen Abend nachreisen, wenn er in der Firma alles geregelt hatte und Leyboldt, seinem Prokuristen, die neuen Aufträge übergeben und alle Instruktionen für die nächsten zwei Wochen erteilt hätte. Nur noch ein Arbeitstag lag vor ihm, dann begann der Urlaub. Zwei Wochen Ostsee.
Er freute sich schon auf das Gesicht seiner Frau, wenn er ihr die Neuigkeiten erzählte. Von wegen: Im neuen Deutschland sei kein Platz mehr für ihresgleichen! Adolf Osterberg war alter Frontkämpfer, das zählte auch unter der neuen Regierung. Er war national gesinnt, immer gewesen, Deutschland kam vor allem anderen, manchmal sogar vor seiner Frau, und das hieß schon etwas, denn Adolf Osterberg liebte seine Frau.
Die Wollweberei, deren Direktor er war, lief gut. Auf die Gerüchte, die immer mal wieder die Runde machten, gab er nicht viel. Man musste ja nicht unbedingt damit hausieren gehen, dass man jüdisch war, dann ließen sie einen schon in Ruhe. Und viele andere Dinge machte die neue Regierung goldrichtig. Wie sie mit den Kommunisten umgesprungen war!
Der Fahrer schaute immer wieder in den Rückspiegel.
»Was ist denn, Johann? Stimmt etwas nicht?«
»Nichts Besonderes, Herr Direktor. Aber der Hanomag hinter uns macht mich nervös. Folgt uns schon seit dem Spittelmarkt.«
»Dann drosseln Sie doch mal das Tempo und lassen ihn überholen«, sagte Osterberg und griff zur Zigarrenkiste, »so eilig haben wir’s ja nicht.«
»Sehr wohl, Herr Direktor.«
Schulze ging vom Gas, und tatsächlich zog ein dunkelblauer Hanomag Rekord an ihnen vorbei. Osterberg schaute sich um. Ein weiterer Wagen hinter ihnen, sonst kein Auto weit und breit; sie waren schon ein ganzes Stück vom Stadtzentrum entfernt auf der Köpenicker Straße. Der Hanomag überholte den Audi, doch dann stellte er sich plötzlich mit einem gewagten Manöver quer und blieb mitten auf dem Fahrdamm stehen. Schulze musste auf die Bremsen steigen. Mit quietschenden Reifen kamen sie zum Halten.
Aus dem Hanomag stiegen vier Männer, allesamt in braunen Uniformen. Osterberg seufzte. Das hatte ihm noch gefehlt. Hinter ihnen hielt auch der andere Wagen, aus dem ebenfalls SA-Männer stiegen. Man hatte sie in die Zange genommen. Osterberg legte die Zigarrenkiste wieder beiseite. Er hatte sich zu früh gefreut.
Einer der Braunhemden, ein hageres, unscheinbares Kerlchen, das ohne Uniform ausgesehen hätte wie ein harmloser Buchhalter, klopfte an die Scheibe. Schulze kurbelte das Fenster herunter.
»Führerschein. Fahrzeugpapiere.«
»Heil Hitler, Sturmführer. Was gibt’s denn?«
»Führerschein! Fahrzeugpapiere!«
Schulze griff ins Handschuhfach und überreichte das Gewünschte. Der SA-Mann klappte die Dokumente auf und schaute misstrauisch ins Wageninnere.
»Schulze, Johann. Das sind Sie?«
»Jawohl, Sturmführer.«
»Aber das Fahrzeug gehört einem gewissen Osterberg, Adolf.«
»Mein Chef, Sturmführer. Ich bin nur der Chauffeur.«
»Halten Sie mich für blöd? Dass das keine SA-Uniform ist, die Sie da tragen, das seh ich auch.«
»Adolf?«, meldete sich ein vierschrötiger Kerl neben dem Sturmführer zu Wort. »’ne Judensau, die Adolf heeßt? Is ja irre!«
Der Sturmführer warf dem Kerl einen Blick zu, und der verstummte.
Dann ging er zum Wagenfond und schaute hinein. Osterberg kurbelte seine Scheibe herunter.
»Heil Hitler, Sturmführer!«, sagte er und streckte vorschriftsmäßig den rechten Arm aus, so gut es in dem engen Innenraum ging.
»Sie sind Adolf Osterberg?«
»Jawohl!«
»Steigen Sie bitte aus dem Wagen.«
»Ist das wirklich nötig? Ich …«
»Aussteigen, habe ich gesagt!«
»Jawohl.«
Adolf Osterberg war irritiert. Was hatte er falsch gemacht? Er hatte den Deutschen Gruß entboten und auch sonst jeden Respekt gezeigt, den die SA verdiente. Männer wie diese hier hatten im Kampf gegen die Kommune an vorderster Front gestanden, sie hatten ganz in seinem Sinne gehandelt. Über ihre antisemitischen Frotzeleien konnte er hinwegsehen. So stolz war er gar nicht darauf, Jude zu sein. Deutsch zu sein war für ihn schon immer wichtiger gewesen. Emilie zuliebe hatte er sogar konvertieren wollen, aber sie war dagegen gewesen, also hatte er es bleiben lassen. Sonderlich fromm waren sie beide ohnehin nicht. Nie gewesen.
»Was fährt denn einer wie Sie so einen schicken Wagen?«, fragte der Sturmführer, als Osterberg ausgestiegen war.
»Einer wie ich? Mit Verlaub, ich bin Fabrikant! Leite eine Wollweberei. Eine gut laufende. In Cottbus.«
»Der Wagen ist konfisziert.«
»Wie bitte?« Osterberg glaubte, sich verhört zu haben. »Wie soll ich denn um diese Zeit nach Cottbus kommen ohne mein Auto?«
»Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Der bullige SA-Mann, der eben den misslungenen Witz über Osterbergs Vornamen gemacht hatte, seinem Kragenspiegel nach ein Rottenführer, beugte sich zu Schulze hinunter.
»Sitzt du auf den Ohren, Judenknecht? Der Wagen ist konfisziert! Raus mit dir!«
Osterbergs Fahrer blieb ruhig. Er öffnete die Tür und stieg aus.
»Schulze hört sich nicht besonders jüdisch an«, sagte der Rottenführer, dem die Rauflust geradezu aus den Augen sprang.
»Ich bin katholisch«, sagte Schulze mit leiser Stimme.
»Mit Verlaub, Sturmführer«, mischte sich Osterberg wieder ein. »Wir sind gute, aufrechte Deutsche, Sie brauchen uns …«
Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, trat der Rottenführer einen Schritt näher und rammte ihm seine Faust mit einer derartigen Wucht in die Magengrube, dass Adolf Osterberg einknickte und sich auf der Stelle übergab. Das gute Abendessen und der teure Cognac landeten auf dem Pflaster der Köpenicker Straße.
»’n Jude, der Adolf heeßt und behauptet, ’n aufrechter Deutscher zu sein? Ick gloob, mein Schwein pfeift! Wie aufrecht biste denn jetze, du Itzig?«
Während Osterberg auf dem Boden hockte und nach Luft schnappte, wandte sich der Rottenführer dem Chauffeur zu. Schulze hatte seinem Chef zu Hilfe eilen wollen, doch zwei SA-Männer hatten ihn rechts und links gepackt.
»Du bist also ’n Kathole«, sagte der bullige Kerl und baute sich mit seiner ganzen Körpermasse vor Schulze auf. »Und warum arbeiteste dann für so ’ne Judensau.«
»Herr Osterberg ist keine Judensau, sondern der beste Chef, den man sich nur wünschen kann.«
Adolf Osterberg war gerührt von der Loyalität, die sein Fahrer zeigte, doch wünschte er sich, Schulze hätte geschwiegen. Er hockte immer noch auf dem Straßenpflaster, aber dann rissen ihn zwei SA-Männer nach oben und nahmen ihn in ihre Mitte. Osterberg kam sich vor wie verhaftet, dabei hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen, außer nachts um zehn mit dem Auto durch Berlin zu fahren.
»Weißt du, was ich von deinem Chef halte?«, sagte der Rottenführer. Er stand nun ganz dicht vor Schulze. »Er ist ein Stück Scheiße, das man durch den Lokus spülen sollte.«
Der treue Schulze blieb ruhig. Doch er machte den Fehler zu antworten.
»Es ist mir völlig gleichgültig, was ein Analphabet wie du von meinem Chef hält.«
Der Rottenführer erwiderte nichts, nach einer kleinen Pause, die er offensichtlich brauchte, um das Gesagte als Beleidigung zu verstehen, nickte er nur kurz mit seinem schweren Kopf nach vorne und traf das Nasenbein des Fahrers mit voller Wucht. Schulze verdrehte die Augen und ging zu Boden, denn die beiden SA-Männer hatten ihn losgelassen und machten ihrem Rottenführer Platz, der mit seinen schweren Stiefeln ausholte und gegen Schulzes Kopf trat wie gegen einen Fußball. Die Chauffeurmütze flog in hohem Bogen übers Pflaster. Immer wieder trat der Kerl gegen den leblosen Körper, sprang auf ihm herum, als gelte es, ein Feuer auszutreten. Mehrmals meinte Osterberg, Knochen brechen zu hören, doch er konnte nichts tun, die Männer an seiner Seite hielten ihn so fest, dass er sich kaum rühren konnte.
»Hören Sie auf!«, rief er, »Sie bringen den armen Kerl doch um!«
Niemand reagierte.
Dann schien der Rottenführer sich endlich zu beruhigen. So sah es jedenfalls aus, doch Osterberg sollte sich täuschen. Langsam kniete sich der bullige Kerl auf den Boden und beugte sich über sein blutüberströmtes Opfer, das reglos und röchelnd am Boden lag, beugte sich über den wehrlosen Schulze und berührte dessen Gesicht, als wolle er ihn auf die Stirn küssen, doch das tat er nicht. Seine Lippen stülpten sich über Schulzes rechtes Auge. Und was Adolf Osterberg dann hilflos mit ansehen musste, in eisernem Griff gehalten von zwei SA-Männern und ohne jede Chance, eingreifen zu können, war das Schrecklichste, was er in seinem Leben je erlebt hatte.
Inhaltsverzeichnis
Montag, 28. Mai, bis Donnerstag, 7. Juni 1934
Lester Freamon: A life, Jimmy, you know what that is? It’s the shit that happens while you’re waiting for moments that never come.
The Wire, Season 3, Episode 9, Slapstick
Obwohl er sich gleich nach dem Anruf auf den Weg gemacht hatte, herrschte bereits Hochbetrieb. Im Schatten einer hohen Backsteinmauer standen zwei grüne Opel vom Präsidium, ein Überfallwagen der Schutzpolizei, der dunkelrote Horch von Doktor Karthaus und das schwarz glänzende Mordauto aufgereiht am Bordstein der Gartenstraße. Ein paar Meter weiter, im Halbdunkel unter der Bahnbrücke, waren so viele Schupos postiert, dass Rath vor lauter Uniformblau kaum etwas von dem erkennen konnte, was sich dahinter abspielte. Er parkte seinen Buick ganz hinten in der Reihe und stieg aus.
Der Morgen war nicht allzu freundlich, ein grauer Himmel hing über der Stadt. Rath holte sein Zigarettenetui aus der Manteltasche, zündete sich eine Overstolz an und schaute sich um. Rechts heruntergekommene Mietskasernen, links die Mauer, die das Betriebsgelände des Stettiner Bahnhofs vom Rest der Welt abschirmte. Und geradeaus versperrte eine monströse stählerne Eisenbahnbrücke den Blick auf den Horizont, die Liesenbrücke, so genannt wegen einer der Straßen, die sie überspannte, doch klang der Name eigentlich viel zu lieblich für den schwarzgrauen Koloss, der aussah, als habe ein schlecht gelaunter Gott ihn aus Wut mitten zwischen die Häuser geworfen. Alles in allem eine unwirtliche Gegend: unten Mietskasernen, Industrie und Friedhöfe, oben die Züge, die zum Stettiner Bahnhof ratterten und alle paar Minuten einen Höllenlärm machten.
Der Tatort schien sich genau unter der Brücke zu befinden, mehr als ein Dutzend Blaue hatten dort eine Kette gebildet. Zwei Männer in Zivil sprachen gerade mit einem Hauptwachtmeister, einer hatte einen altertümlichen Fotoapparat mitsamt Holzstativ geschultert, der andere einen Notizblock gezückt. Kriminalsekretär Paul Czerwinski und Kommissar z. A. Andreas Lange, seine beiden Männer für den heutigen Einsatz. Vergleichsweise wenig, wenn man bedachte, mit wie vielen Leuten der Erkennungsdienst und die Schutzpolizei angerückt waren.
Rath war müde. In der Nacht hatten ihn die Dämonen wieder besucht, die seine Albträume bevölkerten, die Menschen, deren Tod er verschuldet hatte, und die ihn nicht in Ruhe lassen wollten. Immer wieder in den Vollmondnächten krochen sie aus ihren Gräbern und hinein in seine Träume.
Er inhalierte den Zigarettenrauch zusammen mit der kühlen Morgenluft und ging hinüber. Lange hatte ihn bereits entdeckt und tippte mit zwei Fingern an die Hutkrempe. Woraufhin Czerwinski sich umdrehte und mit seinem Stativ beinahe einen der Schutzpolizisten gestreift hätte. Im letzten Moment duckte sich der Mann weg. Eine solche Szene hatte Rath zuletzt im Kino gesehen, in irgendeinem Dick-und-Doof-Film, Czerwinski jedoch passierte so etwas auch im richtigen Leben.
Unter der Bahnbrücke klebte noch immer die Nacht, es war duster und wurde auch ein paar Grad kälter, kaum war Rath in den Schatten des stählernen Gerüsts getreten.
»Was für ein Großaufgebot«, sagte er, als er die Kollegen erreicht hatte. »Man könnte ja fast meinen, der Kaiser von China sei gestorben.«
Niemand verzog eine Miene. Lange räusperte sich und schaute auf seine Schuhspitzen, Czerwinski grummelte etwas Unverständliches und stapfte weiter. Und der Blick des Uniformierten blitzte so böse, wie es der Rangunterschied zwischen Hauptwachtmeister und Kriminalkommissar gerade noch zuließ. Rath warf einen Blick über die blauen Schultern und verstand: Der Tote, der im Schatten der Bahnunterführung lag wie ein weggeworfener blutiger Sack, trug die braune Uniform der SA.
Rath zeigte dem Schupo seinen Dienstausweis. »Sie haben ja mächtig viel Männer im Einsatz«, sagte er.
»Man kann nie wissen, das hier ist immer noch ’ne rote Ecke. Die Lage hat sich zwar beruhigt seit der nationalen Revolution, aber wenn die Roten sich dann doch mal aus ihren Löchern wagen, gibt’s gleich Tote.«
»Hört sich an, als hätten Sie Erfahrung damit.«
»Dreiundfuffzichstes Revier«, sagte der Schupo, als erkläre das alles. »Drüben in der Voltastraße. Wir ham immer schon unseren Kopp hinhalten müssen.«
»Na, aber diesmal hat, wie es aussieht, jemand anderes seinen Kopf hingehalten«, meinte Rath mit Blick auf die Leiche.
Der tote SA-Mann lag mitten auf dem Gehweg im Schatten der Eisenbahnbrücke und war übel zugerichtet, die Gliedmaßen unnatürlich verbogen und verrenkt, als habe man dem armen Kerl sämtliche Knochen gebrochen. Sein Gesicht war entstellt von Platzwunden, die Nase gebrochen und blutig, die fleischige Oberlippe eingerissen, sodass man die lückenhafte Zahnreihe dahinter sehen konnte. Nur die weit aufgerissenen Augen, in deren Blick das schiere Entsetzen geschrieben stand, waren wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, ebenso die SA-Kappe, die vom Sturmriemen unterm Kinn an ihrem Platz gehalten worden war und so akkurat saß, als gehe es gleich zum Uniformappell. Der Rest der Uniform war in weniger gutem Zustand, der braune Stoff mehrfach gerissen, Blut an vielen Stellen in das Gewebe gesickert. Im Schritt hatte sich ein dunkler Wasserrand gebildet. Der Mann musste sich im Todeskampf eingenässt haben.
Auf der Backsteinwand über der Leiche hatte jemand in Großbuchstaben und mit weißer Farbe geschrieben: ARBEITER WEHRT EUCH! TOD DEN HITLERFASCHI… Weiter war er mit seiner Botschaft an die Berliner Werktätigen nicht gekommen.
Einer dieser Werktätigen stand zwischen zwei Blauen, knetete seine Mütze und gab sich große Mühe, nicht auf die unvollendete Parole zu schauen und noch weniger auf die Leiche. Die Schupos hatten dem Mann Handschellen angelegt.
Rath passierte die Polizeikette und ging hinüber. Lange folgte ihm, während Czerwinski begann, den Fotoapparat in Stellung zu bringen.
»Unser Tatverdächtiger?«, fragte Rath die Blauen.
Bevor einer der Uniformierten etwas sagen konnte, begann der Arbeiter zu reden, die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. »Ick schwör Ihnen, Herr Inspektor, ick hab damit nüscht zu tun! Sonst wär ick doch nich uff die Wache. Ick und die Kollejen ham ihn doch nur entdeckt … Da war er doch schon mausetot.«
»Sie haben den Leichenfund gemeldet?«
Der Arbeiter nickte.
»Der Mann ist ein Zeuge, warum trägt er dann Handfesseln?«, fragte Rath den Oberwachtmeister, der den Arbeiter am Arm hielt.
»Nummer sicher, Kommissar. Man weiß doch nie bei diesen Leuten.«
»Halten Sie jeden Arbeiter für einen Roten? Nehmen Sie dem Mann die Dinger ab.«
Der Oberwachtmeister wirkte nicht begeistert, doch er griff in seine Jackentasche und holte einen kleinen Schlüssel heraus.
»Wann haben Sie den Toten denn gefunden?«, fragte Rath den Arbeiter.
Der schüttelte seine Handgelenke, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. »So gegen halb sechs. Wurde jerade hell.«
Rath machte eine Notiz. »Und wo sind die Kollegen, von denen Sie gesprochen haben?«
»Na, wo wohl? Arbeeten. Waren doch auf dem Weg zur Schicht.«
»Wo?«
Der Mann zeigte ostwärts. »Drüben. AEG. Und icke bin zur Wache.« Er zuckte die Achseln. »Haben jelost, wer dette da melden soll.«
»Gelost? Warum sind Sie denn nicht alle zur Wache? Ihre Kollegen sind ebenfalls Zeugen eines Mordfalls, da kann man sich doch nicht einfach so verdrücken. War Ihnen das nicht klar?«
»Meenen Se, unsereins kann sich erlauben, hier stundenlang rumzustehen statt zu malochen?« Der Arbeiter warf den Schupos einen bösen Blick zu. »Und wenn ick sehe, wie ein Volksjenosse behandelt wird, der nur seine Pflicht erfüllt, denn bedaure ick wirklich, det icke derjenige war, der den Kürzeren jezogen hat.«
»Ihren Arbeitgeber werden wir selbstverständlich informieren. Mit Ihren Kollegen müssten wir allerdings auch noch sprechen. Haben Sie die Namen? Und Adressen?«
»Können Se haben. Wir ham nüscht zu verberjen.«
»Gut.« Rath drehte sich um. »Lange?«
»Kommissar?«
»Lange, setzen Sie doch die Befragung von Herrn …«
»Egerland«, soufflierte der Arbeiter.
»… setzen Sie doch bitte die Befragung des Zeugen Egerland fort.«
Andreas Lange hatte seinen Block bereits gezückt, diensteifrig wie immer. Seit einem Jahr arbeitete Rath mit Lange zusammen, der als Kriminalassistent in der Burg angefangen und inzwischen Kommissar zur Anstellung war. Die Zusammenarbeit hatte sich bewährt, Langes Berufung zum Beamten auf Lebenszeit stand nichts im Wege. Würde das z. A. hinter seinem Dienstgrad erst einmal wegfallen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er in ein anderes Büro umziehen würde und Rath sich wieder nach einem neuen Partner umschauen konnte. War Gereon Rath eigentlich der einzige Beamte im ganzen Präsidium, der niemals befördert wurde? Die Sozis hatten ihn schon geflissentlich übersehen, und seit der Nazi Magnus von Levetzow Polizeipräsident war, hatten sich Raths Aussichten auf Beförderung nicht gerade verbessert.
Würde es ihm ähnlich ergehen wie Paul Czerwinski, der seit Ewigkeiten auf der Stufe des Kriminalsekretärs stehen geblieben war? Doch Czerwinski, der sich gerade mit dem Fotoapparat abmühte, war kein Maßstab. Rath senior war der Maßstab, Kriminaldirektor Engelbert Rath, seinerzeit der jüngste Oberkommissar der Kölner Polizei, mit achtundzwanzig Jahren. Wobei der Stern seines Vaters im Kölner Polizeipräsidium im Sinken begriffen war. Sosehr Engelbert Rath die Duzfreundschaft zum früheren Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer lange Jahre genutzt hatte, sosehr hatte sie nun dazu beigetragen, den alten Herrn ins Abseits zu stellen. Sie hatten ihn nicht degradiert oder entlassen, seine Bezüge erhielt er noch, doch irgendwelchen Einfluss in der Kölner Polizei und schon gar in der Kölner Politik besaß Engelbert Rath nicht mehr.
Vielleicht fuhr man in solchen Zeiten besser, wenn man keinerlei Ambitionen hatte, dachte Rath. So wie Paul Czerwinski, der die Kamera nun endlich einsatzbereit hatte. Der Kriminalsekretär ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Zunächst nahm er die Parole ins Visier, denn mit dem Toten war die Spurensicherung noch beschäftigt.
Kronberg persönlich hockte bei der Leiche, auch die Spurensicherer nahmen einen toten SA-Mann ernst. Der ED-Chef erhob sich, als er Rath erblickte.
»Schönen guten Morgen, Kommissar.«
»Na, ob das wirklich der passende Ausdruck ist … Angesichts der Umstände …« Rath nickte zu dem Toten hinüber.
»Ich meinte natürlich: Heil Hitler!«
Kronberg wirkte ernsthaft erschrocken, dabei hatte Rath ihn gar nicht wegen seines Grußes maßregeln wollen. Wie blank die Nerven bei vielen Menschen lagen! Sogar ein gestandener Kriminalrat hatte Angst, etwas falsch zu machen.
Rath antwortete mit dem schlampigen Hitlergruß, den er sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte, und nuschelte sein »Heil«. Bislang hatte er sich damit durchmogeln können; außer ein paar missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen bei der ein oder anderen Gelegenheit hatte ihm seine Interpretation des mittlerweile für Beamte vorgeschriebenen Grußes noch keine Schwierigkeiten eingebracht. Und er selbst fühlte sich besser, wenn er nicht, wie so viele Polizeibeamte, strammstand und Männchen machte. Am besten fühlte er sich, wenn er gar nicht grüßte, doch das ließ die Situation nicht immer zu.
»Kommt Gennat nicht?«, fragte Kronberg.
Kriminaldirektor Ernst Gennat, Gründer und Leiter der Berliner Mordinspektion, war schon seit Jahren nicht mehr selbst zu einem Leichenfund rausgefahren. Der Buddha, wie Gennat ob seiner Leibesfülle und noch mehr seiner stoischen Ruhe wegen genannt wurde, löste seine Fälle lieber vom Schreibtisch aus, mit einer Tasse Tee und einem Stück Stachelbeertorte als wichtigstem Arbeitsgerät. Dass Kronberg dennoch nach ihm fragte, war mehr als ungewöhnlich und hatte, wie Rath vermutete, ebenso wie die Hundertschaft, die das 53. Revier zur Tatortsicherung aufbot, mit der Uniform des Toten zu tun.
»Ich fürchte, Sie müssen mit uns vorliebnehmen, Kriminalrat«, sagte Rath. »Die Kollegen Lange und Czerwinski sind Ihnen ja bekannt. Mehr Leute habe ich erst mal nicht.«
Kronberg nickte und reichte Rath eine Brieftasche.
»Die haben wir bei dem Toten gefunden. Fingerabdrücke sind bereits gesichert. Sie können jetzt fotografieren, wenn Sie wollen.«
Rath fächerte das braune Leder auf und zählte die Scheine, zwei Zehner und drei Zwanziger. »Raubmord können wir wohl ausschließen«, sagte er, was Kronberg mit einem säuerlichen Lächeln quittierte, und fummelte sich weiter durch die Brieftasche. Außer Kleingeld fand er zwei Zehner-Briefmarken und in einem separaten Fach, akkurat verstaut, einen Mitgliedsausweis der SA.
Rath klappte das Papier auf und blickte in das Gesicht des Toten, der sich mit einer Miene hatte fotografieren lassen, als wolle er gleich kleine Kinder fressen. Ein vierschrötiger Kerl, der im Zivilberuf entweder Möbelpacker oder Preisboxer gewesen sein musste. Rath versuchte, die Statur der Leiche einzuschätzen. Groß gewachsen und kräftig, einer von der Sorte Mensch, der man lieber nicht im Dunklen begegnen mochte.
Laut Ausweis hieß der Tote Horst Kaczmarek, bekleidete den Rang eines SA-Rottenführers und war seit knapp zwei Jahren Mitglied des SA-Sturmes 101 im Wedding.
»Wo hat denn der Sturm hunderteins sein Sturmlokal?«, fragte Rath, und Kronberg hob verlegen seine Schultern; die Wissenslücke schien ihm peinlich zu sein.
»Mit Verlaub, Herr Kommissar: da drüben«, meldete sich ein Schupo und zeigte in Richtung Westen. »Gaststätte Bestmann. Boyenstraße. Hausnummer elf.«
Rath notierte die Adresse. Wegen Kaczmareks Wohnort musste er niemanden fragen und auch keinen Stadtplan bemühen. Gartenstraße 74. Das Haus lag keinen Steinwurf vom Fundort der Leiche entfernt. Die letzte Mietskaserne vor der massigen Eisenbahnbrücke, unter der sie standen. Es war ziemlich offensichtlich: Rottenführer Kaczmarek war auf dem Heimweg von seinem Sturmlokal kurz vor Erreichen seiner Wohnung gestorben. Weil er einer Wandparolenkolonne des kommunistischen Untergrunds über den Weg gelaufen war? So sah es jedenfalls aus, aber wenn Rath eines in seinen Jahren bei Ernst Gennat gelernt hatte, dann dies: Keine voreiligen Schlüsse ziehen!
Während er noch darüber nachdachte, was hier in der Nacht passiert sein mochte, donnerte ein Zug über die Brücke, so laut, dass kein anderes Geräusch mehr an seine Ohren drang. So laut, dass nicht mal die eigenen Gedanken den Weg zurück zu ihm fanden.
Rath zündete sich die nächste Zigarette an und schaute sich um. Czerwinski hatte den Fotoapparat umgepflanzt und mit dem Fotografieren der Leiche begonnen, Kronberg sich wieder seinen Leuten zugewandt. Ein Spurensicherer kratzte etwas Farbe von der Parole an der Wand und ließ sie in eine Blechdose rieseln, ein anderer markierte einen größeren eingetrockneten Farbklecks auf dem Boden, unweit der Leiche. Lange unterhielt sich mit dem Zeugen Egerland. Die Blauen standen in der Gegend herum und machten wichtige Gesichter. Nur Doktor Karthaus war nirgends zu sehen, obwohl der rote Horch des Gerichtsmediziners zwischen den Polizeifahrzeugen in der Sonne glänzte, die sich nun langsam durch die Wolkendecke brannte. Karthaus war meist als einer der Ersten am Einsatzort, obwohl er sich so gut wie immer gedulden musste, bevor er an eine Leiche herandurfte. Erst mussten die Spurensicherer mit ihrer Arbeit fertig sein, dann die Auffindesituation fotografiert werden. Meist fand man den Doktor rauchend irgendwo am Tatort, wie er, nach der ersten Inaugenscheinnahme der Leiche zum Nichtstun verurteilt, die Zeit mit Zigaretten totschlug. Doch heute konnte Rath ihn nirgends entdecken, nicht einmal die obligatorischen Rauchkringel, die den Standort des Gerichtsmediziners sonst untrüglich verrieten.
Das Donnern auf der stählernen Brücke hatte seine Sinne derart beansprucht, dass Rath erst jetzt den tiefschwarzen Mercedes bemerkte, der sich mit hoher Geschwindigkeit näherte, sämtliche Einsatzfahrzeuge in der Gartenstraße passierte und schließlich, als schon zu befürchten stand, er werde geradewegs in die Polizeikette rasen, direkt vor den Schupos hielt. Der Zug oben auf der Brücke machte immer noch einen Höllenlärm, ansonsten hätte man die Reifen des Mercedes quietschen gehört. Eine 200er Limousine, niegelnagelneu.
Die Spurensicherer hielten in ihrer Arbeit inne, Czerwinski blickte von der Kamera auf, Lange ließ seinen Notizblock sinken, und auch AEG-Arbeiter Egerland, ihr bislang einziger Zeuge, verrenkte sich den Hals, um zu sehen, wer da angekommen war. Zwei Anzugträger, die auf den ersten Blick wirkten wie Kriminalbeamte, stiegen aus dem Wagen. Noch bevor sie ihre Marken gezückt hatten, gab die blau uniformierte Absperrkette den Weg zum Tatort frei. Einer der Männer blieb stehen und unterhielt sich mit den Schupos, während der andere weiterging, hinüber zur Leiche und zum ermittelnden Kommissar. Rath glaubte so etwas wie ein Lächeln im Gesicht des Herankommenden zu erkennen, er konnte sich aber auch täuschen.
»Reinhold«, sagte er, noch bevor Reinhold Gräf ihn erreicht hatte, »das ist aber mal ein gelungener Auftritt.«
»Heil Hitler.«
Gräf lächelte tatsächlich, sogar beim Hitlergruß. Die unerwartete Begegnung mit seinem langjährigen Partner schien ihn zu freuen. Raths Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen. Er brachte es nicht fertig, Gräfs Deutschen Gruß zu erwidern, nicht einmal in der schlampigen Rath-Variante.
»Ewig nicht gesehen«, sagte er nur.
»So ist es.« Gräf nickte. »Einige alte Bekannte hier.«
Er bedachte Czerwinski und die Spurensicherer mit einem Kopfnicken. Wenigstens setzte er die Hitlergrüßerei nicht fort, anders als sein Begleiter, der sich gerade vor Andreas Lange und dem AEG-Arbeiter aufbaute und beide zum Männchenmachen nötigte.
Jahrelang, eigentlich seit er in Berlin war, hatte Rath mit Reinhold Gräf an seiner Seite ermittelt, bevor sein Kriminalsekretär vor einem Jahr schließlich von der Mordinspektion zur Politischen Polizei an die Prinz-Albrecht-Straße gewechselt und gleich zum Kommissar befördert worden war.
»Wo wir hier alle so hübsch versammelt sind, könnte man ja fast auf alte Zeiten anstoßen«, meinte Rath.
»Lass uns nicht von den alten Zeiten reden. Die neuen sind wichtiger.«
Rath sagte nichts dazu. Er wusste, dass Gräf nicht allein aus Karrieregründen zu den Politischen gegangen war. Sein früherer Partner wollte tatsächlich mithelfen beim Aufbau des neuen Deutschlands. Reinhold Gräf war zu jung, ihm fehlte der Zynismus, den Männer wie Rath aus dem Krieg mitgebracht hatten, er war ein unverbesserlicher Idealist, der an Deutschlands Zukunft glaubte. Und diese sogar mitgestalten wollte.
»Viele Männer hat der Buddha ja nicht gerade geschickt«, sagte Gräf und schaute sich um.
Rath ärgerte sich. Irgendwie erschien ihm Gräf nicht befugt, Ernst Gennat weiterhin bei seinem Spitznamen nennen zu dürfen. Das durften nur Mordermittler.
»Viel zu tun im Moment«, sagte er. »Sind doch genug Spurensicherer und Schupos hier. Wir müssen ohnehin aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten. Und nun kommt auch noch ihr. Ist die Stapo immer so schnell?«
Gräf überhörte Raths Sarkasmus. »Ein politischer Mord fällt nun mal in die Zuständigkeit der Geheimen Staatspolizei«, sagte er.
»Wir haben gerade mit der Arbeit angefangen, da redest du schon vom Mordmotiv? Wer sagt denn, dass es ein politisches ist?«
»Wenn ein SA-Mann ermordet wird, ist das immer eine politische Tat.«
»Auch SA-Leute sind Menschen. Und können aus ganz gewöhnlichen Motiven umgebracht werden: Hass, Liebe, Eifersucht, Habgier – das Übliche halt.«
»Habgier? Eifersucht?« Gräf deutete auf die Parole. »Ich finde, das sieht eher so aus: Ein SA-Mann ist einem Haufen Kommunisten in die Hände gefallen, und die haben das in die Tat umgesetzt, was sie an die Wand schreiben wollten: Tod den Hitlerfaschisten.«
Natürlich lag ein solcher Tathergang auf der Hand, doch Rath ärgerte sich über Gräfs Besserwisserei.
»Hat Gennat uns nicht immer eingetrommelt, bloß keine voreiligen Schlüsse zu ziehen?«, sagte er also. »Warten, bis alle verwertbaren Fakten auf dem Tisch liegen?«
»Ich arbeite nicht mehr für Gennat.«
»Stimmt. Hätte ich fast vergessen, wo wir hier so einträchtig beisammenstehen. Du bist ja ein Politischer.«
»Das heißt jetzt Staatspolizei. Gewöhn dich daran, dass euer PP uns nichts mehr zu sagen hat.«
»Ihr seid von einem Haufen Bayern übernommen worden, erzählt man sich.«
Gräf schwieg. Rath wusste, dass Rudolf Diels, der das Geheime Staatspolizeiamt vor einem Jahr aufgebaut hatte, den eingefleischten Kriminalbeamten Reinhold Gräf seinerzeit zum Wechsel ins politische Ressort bewegt hatte. Doch Diels war vor wenigen Wochen abserviert und als Regierungspräsident nach Köln abgeschoben worden. Der neue Stapo-Chef kam aus München und hieß Reinhard Heydrich, tanzte nach der Pfeife von SS-Chef Heinrich Himmler und hatte gleich einen ganzen Tross Mitarbeiter aus der Nazi-Stadt mit nach Berlin gebracht.
»Dein Kollege …« Rath nickte zu Gräfs Begleiter hinüber, der sich inzwischen in Langes Zeugenvernehmung eingemischt hatte. »… ist das auch einer von denen?«
»Truppführer Pfeiffer ist kein Bayer, der ist Franke, das ist wohl ein großer Unterschied, hat man mir gesagt.«
»Pfeiffer?«, fragte Rath. »Mit drei F?«
Eins vor dem Ei und zwei hinter dem Ei.
Gräf konnte sein Grinsen nur schlecht verbergen. Er hatte den Roman vom Schöler Pfeiffer offensichtlich auch gelesen.
»Truppführer ist aber kein Polizeidienstgrad«, meinte Rath.
»Nein. SS.«
Mehr sagte Gräf nicht, doch das Grinsen war wieder aus seinem Gesicht verschwunden. Es war ihm anzusehen, dass ihm die jüngsten Entwicklungen in der Staatspolizei nicht behagten. Und dass er nicht weiter über seinen neuen Kollegen reden wollte.
»Wie politisch dieser Fall auch sein mag«, fuhr Rath fort, »er bleibt erst einmal eine Todesfallermittlung. Und die Experten dafür sitzen am Alex und nicht in der Prinz-Albrecht-Straße.«
»Du vergisst, dass ich früher auch Mordermittler war.«
»Und deine Pfeife mit drei F? Die da drüben gerade dem Kollegen Lange in die Parade fährt und die Zeugenvernehmung stört? Hat die auch nur einen blassen Schimmer von Polizeiarbeit?«
»Du solltest aufpassen, was du sagst, Gereon«, zischte Gräf. »Die SS versteht alles, nur keinen Spaß.« Nach einer kurzen Pause fuhr er in normaler Lautstärke fort: »Du führst dich auf, als hättest du Angst, wir würden dir den Fall hier wegnehmen.«
»Warum seid ihr denn sonst vor Ort?«
»Weil wir mit der Kriminalpolizei zusammenarbeiten wollen. Es geht um Kooperation.«
»Kooperation«, sagte Rath. »Wie die aussieht, das weiß ich aus den Zeiten, als die Staatspolizei noch Politische Polizei hieß: Wir machen die Drecksarbeit, laufen uns die Hacken ab, liefern euch brav zu. Und ihr schmückt euch am Ende mit den Lorbeeren.«
»Die Zeiten haben sich geändert, Gereon.«
»Ja. Fragt sich nur, ob sie besser geworden sind.«
Jemand räusperte sich vernehmlich, und Rath drehte sich um. Vor ihm stand die hagere Gestalt von Doktor Karthaus. Natürlich mit einer Zigarette in der Hand.
»Heil Hitler, die Herren«, grüßte der Gerichtsmediziner. »Ist die Spurensicherung mit ihrer Arbeit bald durch? Mir gehen so langsam die Zigaretten aus.«
»Heil Hitler, Doktor«, sagte Gräf. »Werde mich gleich darum kümmern. Wollte ohnehin mit dem ED über die Spurenlage sprechen.«
»Gut. Dann tun Sie das und machen Kronberg ein bisschen Dampf.«
Gräf nickte und ging zu dem ED-Chef hinüber, der mit einem seiner Mitarbeiter gerade die unvollendete Wandparole inspizierte.
»Immer auf Zack, die Staatspolizei«, sagte Karthaus, und ein Blick ins Gesicht des Gerichtsmediziners sagte Rath, dass das ganz und gar nicht ironisch gemeint war.
»Wundert mich auch, dass die so schnell Bescheid wussten.«
»Das braucht Sie nicht zu wundern. Ich habe in der Prinz-Albrecht-Straße angerufen. Drüben in der Ackerstraße steht eine Telefonzelle.«
»Wie bitte?« Rath schüttelte den Kopf. »Sie haben die Staatspolizei alarmiert? Wie kommen Sie dazu?«
»Einer musste es ja tun«, sagte Karthaus ungerührt. »Die Beamten vom Dreiundfünfzigsten hatten es versäumt, und Sie waren noch nicht hier, Kommissar. Da habe ich eben ein Telefon gesucht. Konnte sowieso nicht an die Leiche, da macht man sich doch gerne nützlich.«
Rath schluckte seine Wut hinunter. Karthaus hatte ganz klar eine Grenze überschritten, dennoch wollte er sich mit dem Mann nicht anlegen. Für einen Kriminalkommissar war es grundsätzlich nicht ratsam, sich mit der Gerichtsmedizin anzulegen. Außerdem gehörte der Doktor zu den Zeitgenossen, die im neuen Deutschland Karriere machen wollten.
»Hat Kronberg Sie mal wieder nicht rangelassen, Doktor«, sagte Rath also nur.
»Die übliche Leier. Durfte bislang nur einen kurzen Blick auf die Leiche werfen. Aus drei Metern Entfernung.« Karthaus trat seine Zigarette aus. »Aber wie ich Sie kenne, Kommissar Rath, wollen Sie trotzdem schon eine erste Einschätzung, nicht wahr?«
»Sie würden mir eine große Freude machen. Haben Sie schon irgendeine Idee, was den armen Kerl so zugerichtet haben könnte?«
»Ein stumpfer Gegenstand, irgendein Knüppel, würde ich vermuten.«
»Ein Schlagstock?«
»Eher etwas Schwereres. Oder jemand hat hier mit großer Kraft gewütet.« Karthaus fummelte bereits die nächste Manoli aus seinem silbernen Etui, Rath gab ihm eilfertig Feuer. »Was mich aber wundert«, fuhr der Doktor fort und inhalierte gierig, »was mich wundert, sind seine Augen. In den Augäpfeln haben sich Stauungsblutungen gebildet, und das wäre ein deutlicher Hinweis auf einen Erstickungstod.«
»Vielleicht hat er im Kampfgetümmel einen Schlag auf den Kehlkopf bekommen.«
»Möglich. Aber dann hätte sich an dieser Stelle auch ein Hämatom bilden müssen, und ich kann keines erkennen. Außerdem: Wenn mich nicht alles täuscht, hat er die Prügel erst nach seinem Tod erhalten. So sehen die Wunden jedenfalls aus.«
»Wie?«
»Er hat für die schlimmen Verletzungen, die er erlitten hat, eigentlich viel zu wenig Blut verloren.«
»Moment mal …« Rath zögerte. »Sie behaupten allen Ernstes, dass hier jemand in der vergangenen Nacht auf die Leiche eines SA-Mannes eingeprügelt hat, der bereits erstickt war? Wer tut denn so was? Und warum?«
»Ich behaupte das nicht allen Ernstes, ich gebe Ihnen wie gewünscht eine grobe erste Einschätzung.« Der Doktor wirkte leicht pikiert. »Machen Sie damit, was Sie wollen, Kommissar. Und wenn Sie es genauer wissen wollen, kann ich Ihnen nur raten, das Ergebnis der Leichenöffnung abzuwarten.«
»Natürlich, Doktor. Geben Sie mir doch bitte sofort Bescheid, sobald Sie mehr wissen.«
»Bis morgen werden Sie sich da noch gedulden müssen, fürchte ich.« Karthaus zeigte auf Gräf, der sich gerade mit Kronberg über irgendwelche Beweismitteldosen beugte. »Ich denke, es gibt noch genügend andere Spuren, um die Sie sich bis dahin kümmern können. Lassen Sie uns also beide unsere Arbeit machen. Ich rufe Sie an, sobald ich mit der Obduktion fertig bin.«
Und mit diesen Worten drehte sich der Gerichtsmediziner um, trat seine gerade angerauchte Zigarette aus und ging zu der Leiche hinüber, die Czerwinski mittlerweile von allen Seiten fotografiert hatte.
Charly rührte in ihrer Kaffeetasse und wusste nicht, warum sie sich eigentlich ärgerte. Wenn sie die Augen schloss, war das ein ganz normales Frühstück. Leise Musik aus dem Radio, knisterndes Zeitungspapier, das Klimpern eines Löffels, der leise gegen den Tassenrand schlug. Wenn sie die Augen öffnete, sah sie Gereons leeren Stuhl, den kalten Rest Kaffee in seiner Tasse, die verbliebenen Krümel auf seinem Teller. Und daneben die Morgenzeitung, hinter der sich Fritze vergraben hatte und mit gutem Appetit kaute.
Sie wusste doch, dass Polizeibeamte auch außerhalb der Dienstzeiten aus dem Haus mussten, warum versetzte ihr solch ein unerwarteter Anruf aus dem Präsidium dann jedes Mal einen Stich? Sie kannte die Antwort und schämte sich dafür: Weil sie Gereon um seine Arbeit in der Mordinspektion beneidete. In jener Inspektion, die Charly lange Jahre eine zweite Heimat gewesen war. Und das nie wieder sein würde.
Das war ein Grund für ihre schlechte Laune. Der andere wog schwerer, denn sie ärgerte sich über sich selbst. Über ihre Zögerlichkeit. Heute Morgen hatte sie es ihm endlich sagen wollen. Dass es so nicht weiterging. Dass sie schon längst etwas unternommen hatte, dass sie bald wieder arbeiten gehen würde. In einer Woche schon. Guido hatte alles vorbereitet, in seiner Kanzlei würde sie ihr vor drei Jahren abgebrochenes Referendariat wieder aufnehmen.
Sie war es leid, ans Haus gefesselt zu sein und die Hausfrau und Mutter zu spielen, die sie einfach nicht war, sie fühlte sich regelrecht eingesperrt. Und sie ärgerte sich über ihr schlechtes Gewissen bei diesen Gedanken. Die einzige Freundin, die sie in dieser Hinsicht verstand, war Greta, alle anderen schüttelten bloß den Kopf. Warum war sie denn unzufrieden? Solch ein netter Mann! So eine tolle Wohnung! So ein aufgewecktes Pflegekind! Fehlten doch nur noch eigene Kinder, um das Glück perfekt zu machen!
So sahen es alle. Nur wollte sie keine Kinder. Jetzt jedenfalls nicht. Mit Fritze und dem Hund hatte sie schon genug am Hals. Ja, am Hals! Wie Mühlsteine hingen sie dort und ließen ihr kaum Luft zum Atmen.
Kirie streifte zum wiederholten Male an ihren Beinen entlang, winselte sogar schon leise.
»Der Hund macht nicht den Eindruck, als sei er schon draußen gewesen«, sagte Charly und bereute es sofort. Sie hasste sich, wenn sie merkte, dass sie ihre Unzufriedenheit an dem Jungen und dem Hund ausließ.
»Mach ich gleich noch.«
»Schultasche gepackt?«
»Sicher. Jestern Abend schon.« Fritze ließ die Zeitung sinken und schaute sie an. »Hier steht schon wieder was vom Tempelhofer Feld drin«, sagte er.
»Ach ja?«
»Wird ’ne Riesensause!«
Er musste nicht sagen, um was es ging, Charly wusste Bescheid. In zwei Wochen war auf dem Tempelhofer Feld ein großes Zeltlager der Hitlerjugend anberaumt. In Fritzes Schule schien man über nichts anderes mehr zu sprechen, alle fieberten dem großen Tag entgegen.
»Schön«, sagte Charly. »Wenn das so eine Riesensause wird, dann steht am nächsten Tag bestimmt auch genug darüber in der Zeitung.«
»Mit dabei sein wär aber schöner.«
»Das ist nur für HJ. Dazu müsstest du erst mal ins Jungvolk eintreten, und das …«
»Eben. Noch is Zeit dafür. Is ja erst in zwee Wochen.«
»Du willst allen Ernstes Hitlerjunge werden? Nur um da hingehen zu können? Überleg doch mal, wie dämlich das ist. Du gehst denen auf den Leim!«
»Aber Atze jeht ooch hin«, maulte der Junge. »Alle jehen hin. Is ja ooch nich nur wejen Tempelhof. Die treffen sich zweemal die Woche.«
Angeblich waren schon alle Jungen aus seiner Klasse beim Jungvolk. Charly wollte das nicht glauben. Immer waren angeblich allen anderen in der Klasse die Dinge erlaubt, die Fritze verboten waren.
»Wir haben doch schon oft genug darüber gesprochen. Wir möchten das nicht!«
»Wir?« Der Junge klang ernsthaft empört. »Du möchtest das nicht. Gereon denkt da doch ganz anders drüber.«
»Gereon hat darüber überhaupt noch nicht nachgedacht.«
»Hat er wohl. Er hat gesagt, dass ihn das an die Pfadfinder erinnert. Wandern und Zelten und Bewegung an der frischen Luft. Und dass so was gut ist für einen Jungen.«
Charly spürte, wie die Wut in ihr wuchs. Hatte der liebe Herr Rath sich wieder mal zu unbedachten Äußerungen hinreißen lassen. Hauptsache, keinen Streit mit dem Jungen! Die Erziehung konnte man ja der Frau im Haus überlassen. Dabei brauchte Fritze eine strenge Hand von Tag zu Tag mehr, je älter er wurde, Charly spürte das.
»Es ist eben nicht nur Zelten und das«, sagte sie. »Die machen euch da zu kleinen Nazis.«
»Ach? Und was soll daran so schlimm sein?«
Charly wusste nichts zu erwidern. Natürlich war es nicht schlimm, im neuen Deutschland ein Nazi zu sein, es war im Gegenteil sogar äußerst hilfreich.
»Wir sind eben keine Nazis«, sagte sie schließlich. »Auch wenn das viele Dinge heutzutage einfacher macht.«
»Mir doch ejal, ob du Nazi bist oder nicht. Oder Gereon. Aber warum willstet denn mir verbieten? Haste etwa was dagegen, dass die Dinge für mich einfacher werden?«
»Aber Fritze, darum geht es doch nicht!«
»Worum denn?«
»Müssen wir wirklich jeden Tag darüber reden?«
»Ja, wenn du mir keine vernünftige Antwort gibst!«
»Ich möchte es einfach nicht, und damit basta!«
Das war alles andere als eine vernünftige Antwort. Wie hatte Charly ihre eigene Mutter für solche Sätze verflucht! Und jetzt fiel ihr selbst nichts Besseres ein. Weil sie es hasste, über dieses Thema zu reden. Weil sie es hasste, sich mit diesem Nazikram auch noch in ihrer eigenen Familie abgeben zu müssen.
Fritze starrte sie an, zitternd vor ohnmächtiger Wut. Sie spürte, wie er sich zusammenreißen musste, damit ihm die Tränen nicht in die Augen schossen.
»Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist?«, sagte er, und seine Stimme war kurz davor, sich zu überschlagen. »Ich bin der Einzige in unserer Klasse, der noch nicht dabei ist. Der Einzige! Weißt du, was ich mir alles anhören muss?«
Er warf die Zeitung auf seinen Teller, stand auf, schnappte seinen Schulranzen und stürmte hinaus.
»Friedrich Thormann! Setz dich sofort wieder hin! Hörst du? Sofort!«
Charly war aufgesprungen und ertappte sich dabei, wie sie mit dem Zeigefinger drohte. Doch der Junge konnte sie schon nicht mehr sehen. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Charly schaute auf ihren Zeigefinger, als gehöre er nicht ihr. Sie setzte sich wieder hin und seufzte. Der Einzige. Ob das stimmte? Und selbst wenn. Sie konnte es doch nicht zulassen, dass sie einen Nazi aus dem Jungen machten, nur weil aus allen Jungen heutzutage kleine Nazis gemacht wurden. Es konnte doch nicht das, was sie immer für falsch gehalten hatte, auf einmal richtig sein.
Sie schaute Kirie an. Der Hund hatte innegehalten in seinem unruhigen Hin und Her und schielte zur Tür, durch die Fritze gerade verschwunden war. Der morgendliche Streit zwischen ihr und dem Jungen, der fast schon zur Regel geworden war, riss das Tier jedes Mal aufs Neue aus seiner Gleichmut.
»Ist schon gut, meine Liebe«, sagte Charly und streichelte Kirie durchs schwarze Fell. »Wir haben dich nicht vergessen. Frauchen geht gleich mit dir. Und dann machen wir uns einen schönen Vormittag. Wie immer.«
Ja, es war wie immer, auch wenn ihre Männer die Wohnung heute früher verlassen hatten als sonst: Sie und der Hund blieben zurück. Charly konnte es kaum noch ertragen, und sie war froh, dass sich das bald ändern würde.
Kirie legte den Kopf schief und schaute sie an, hechelnd, die Zunge aus dem Maul hängend. Die weit nach hinten gezogenen Mundwinkel wirkten wie ein Lächeln, und Charly konnte nicht anders, sie musste grinsen. Was ihre Laune augenblicklich besserte.
»Hund bleibt Hund«, sagte sie. »Daran werden auch die Nazis nichts ändern. Oder haben die für euch auch schon einen Verein gegründet?«
Der Hund schaute sie an, als müsse er tatsächlich darüber nachdenken.
»Wehe!« Charly drohte mit dem Zeigefinger, und der Hund legte seinen Kopf schief und lächelte wieder.
Sie trank den letzten Rest Kaffee, dann ging sie in den Flur und horchte kurz an der Wohnungstür ins Treppenhaus, ob der Junge vielleicht doch zurückkehrte. Nichts. Fritze war stur. Sie seufzte noch einmal aus tiefstem Herzen und holte die Hundeleine von der Garderobe.
In der Kneipe war es duster wie in einem Kohlenkeller. Souterrain. Als Rath von der sonnenhellen Straße in den Schankraum trat, konnte er zunächst nichts erkennen, nicht einmal die massige Gestalt des Wirts, der vorangegangen war und ihnen aufgeschlossen hatte. Der Bierdunst und der Zigarettenrauch des gestrigen Abends lagen noch in der Luft. Der Wirt, den sie gerade erst aus dem Bett geklingelt hatten, schaltete das elektrische Licht ein, eine Handvoll funzeliger 40-Watt-Birnen, die den Raum kaum heller werden ließen, und stellte sich hinter den Tresen, als wolle er den Beamten ein Bier zapfen. Vielleicht fühlte sich Hans Bestmann aber auch nur wohler an seinem angestammten Platz, selbst im Hausmantel, den er jetzt trug. Die Fensterläden ließ er geschlossen, wohl um dem Eindruck entgegenzuwirken, die Gaststätte Bestmann habe bereits geöffnet.
Rath bemerkte den Bleistiftstummel hinter Bestmanns linkem Ohr. Hatte der Wirt damit geschlafen? Oder sich den Stift gleich nach dem Aufstehen hinters Ohr geklemmt? Der Inhaber des Sturmlokals schaute die beiden Polizeibeamten an, als erwarte er eine Bestellung, und Rath lehnte sich an den Tresen, als wolle er ihm den Gefallen tun.
»Horst Kaczmarek«, sagte er und beobachtete den Wirt genau.
»Ja?« Bestmann zog die Augenbrauen hoch.
»Sie kennen ihn?«
»Klar kenn ick Katsche. Is ja beim SA-Sturm hunderteins. War jestern noch hier. Wieso?«
»Gestern Abend?«
»Ja. Is spät geworden. Wie meistens.«
»Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»Was?« Der Blick des Wirts huschte unsicher von Rath zu Gräf hinüber, der bislang geschwiegen hatte. Dessen fabrikneu funkelnde metallene Ausweismarke mit dem eingeprägten Schriftzug GEHEIME STAATSPOLIZEI hatte deutlich mehr Eindruck gemacht als Raths abgegriffene Kripomarke.
»Hatte Herr Kaczmarek vielleicht Streit mit irgendwem?«, hakte Rath nach.
»Ne, bestimmt nich. Mit Katsche legt sich keener an, da schluckt man seine Wut lieber runter.« Bestmann lachte. Dabei wackelte seine Wampe unter dem fadenscheinigen Hausmantel.
»Und gestern Abend? Hat da jemand seine Wut hinunterschlucken müssen?«
»Ick weeß nich, worauf Sie hinauswollen.«
»Das müssen Sie auch nicht wissen«, sagte Gräf. »Sie müssen lediglich unsere Fragen beantworten.«
Über ein Jahr hatte Rath nicht mehr mit Reinhold Gräf zusammengearbeitet, doch sie waren immer noch so aufeinander eingespielt, als habe es diese Pause nie gegeben. Und dass Gräf nun ein Staatspolizist war, schien von Vorteil, wenn es galt, widerspenstige Zeugen ein wenig einzuschüchtern. Es war deutlich zu sehen, wie Bestmann das Herz in die Hose rutschte, obwohl Gräf mit durchaus freundlicher Stimme gesprochen hatte.
»Natürlich, jawohl«, sagte der Wirt. Fehlte nur noch, dass er salutierte und die Hacken zusammenschlug.
»Also?«, fragte Rath. »Irgendetwas Besonderes gestern Abend?«
»Nich dass ick wüsste. Die Kameraden waren alle bester Laune. Haben irgendwas gefeiert.«
»Was denn gefeiert?«
»Keene Ahnung. Bin nur der Wirt. Da müssen Se den Sturmführer fragen. Katsche hatte jedenfalls schon ziemliche Schlagseite, als er ging.«
»Wann war das?«
»Gegen zweie vielleicht … Er war einer der Letzten.«
Rath notierte in aller Ruhe die Uhrzeit. Sein Schweigen schien den Wirt nervös zu machen.
»Was ist denn?«, fragte Bestmann. »Hat Katsche irjendwat ausjefressen?«
»Was soll er denn ausgefressen haben? Ein SA-Mann ist doch kein Verbrecher«, sagte Rath.
»Natürlich nicht. Ick dachte ja nur … Weil die Bul… – wenn die Polizei nach ihm fragt.«
»Wenn gegen schwarze Schafe innerhalb der SA vorgegangen wird«, sagte nun Gräf, »dann ist das Sache der SA-Feldjäger und nicht der Polizei.«
»Weeß ick doch, weeß ick doch.« Bestmann winkte ab. »Aber warum sind Se denn nun hier? Darf man det nich wissen?«
Gräf warf Rath einen Blick zu, und Rath nickte. »Rottenführer Kaczmarek«, sagte der Stapo-Kommissar dann, »ist tot.«
Bestmann riss die Augen auf. »Tot?«
Die Neuigkeit schien ihn tatsächlich zu überraschen.
»Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Rottenführer Kaczmarek gegangen ist?«, fuhr Gräf fort. »Ist Ihnen da etwas aufgefallen? Waren Gäste im Lokal, die sonst nicht hier sind? Ist dem Rottenführer möglicherweise jemand gefolgt?«
»Ne, Katsche ist meist alleene nach Hause. Gestern ooch. Is ja nich weit.«
»Und draußen auf der Straße? Ist da jemand hinter ihm her?«
Bestmann kratzte sich am Kopf. »Keene Ahnung. Von hier drinnen sieht man doch nicht, was draußen los ist. Die Zeiten, wo man jeden Abend Angst haben musste, die Roten schlagen einem den Laden zu Klump, sind Jott sei Dank vorbei, da loof ick ooch nich mehr alle fünf Minuten zur Tür, um zu kieken, wat da los is.«
Rath übernahm wieder. »Wo hat Rottenführer Kaczmarek denn gesessen?«, fragte er, und der Blick des Wirts wanderte irritiert zurück zu ihm.
Bestmann zeigte auf einen großen Tisch in der Nähe des Fensters. »Zuletzt da.«
»Und mit wem?«
»Muss ick nachdenken. Keene Fremden jedenfalls.« Er zog die Stirn in Falten. Das Denken schien ihn wirklich anzustrengen. »Der Sturmführer war schon weg, jloob ick«, sagte er schließlich, »aber Möller und Landvogt waren noch da. Und Peters.«
Rath riss eine leere Seite aus seinem Notizbuch. »Schreiben Sie mir die Namen doch bitte auf.«
Bestmann nickte beflissen. Er nahm den Stift, der hinter seinem linken Ohr steckte, leckte an der Spitze und begann zu notieren. Es sah aus, als addiere er eine gesalzene Getränkerechnung, auch weil er die Stirn wieder in Falten zog. Rath schaute sich in der Kneipe um, seine Augen hatten sich mittlerweile an das schummrige Licht gewöhnt. Der Schankraum hatte die Form eines großen L und war weitläufiger, als er erwartet hätte. Acht Tische, zwei davon für mindestens zehn, zwölf Personen. Die Stühle waren hochgestellt, doch geputzt worden war noch nicht. Eingetrocknete Bierlachen auf dem Boden ließen die Schuhsohlen bei jedem Schritt kleben. Neben der Theke eine Tür, die weiter nach hinten führte. An der Wand eine Schiefertafel, auf der noch das gestrige Tagesgericht angekündigt war: Gulaschsuppe 30 Pf.
Rath beobachtete Gräf, der seinen Blick ebenfalls schweifen ließ, und fragte sich, inwieweit er dem einstigen Kollegen noch trauen konnte. Die Staatspolizei, das war nicht einfach eine andere Polizeibehörde. Die Politischen mit ihrem Wahn, alles kontrollieren zu wollen, waren der Feind für jeden Kriminalbeamten. Schon immer gewesen. Gerade deswegen nahm er Reinhold Gräf diesen Wechsel übel. Ihre Freundschaft war allerdings schon vorher zerbrochen, und so hatte Rath bei aller Enttäuschung auch Erleichterung empfunden, als sein alter Kriminalsekretär sich gegen die Mordinspektion und für die Politische Polizei entschieden hatte.
Und nun arbeiteten sie dennoch wieder zusammen. Nur dass der Kriminalsekretär nun Kommissar der Staatspolizei war und sich nichts mehr sagen ließ. Früher hatte er Gräf einfach wegschicken können, wenn der Mann ihm nicht in den Kram passte, jetzt hatte er ihn am Hals. Wenigstens diesen SS-Schnösel war er losgeworden, den hatte er Andreas Lange zugeschanzt.
Und Rath hatte zusammen mit Gräf den mutmaßlich letzten Weg Horst Kaczmareks Schritt für Schritt zurückverfolgt bis zu dessen Sturmlokal. Sie hatten die Augen offen gehalten und kaum ein Wort miteinander gewechselt.
Ihnen war nichts Besonderes aufgefallen. Neben der Eisenbahnbrücke hatten Ausschachtungen für eine neue S-Bahn-Brücke begonnen, ansonsten führte der Weg an Friedhöfen und Industrie vorbei. Alles deutete darauf hin, dass Rottenführer Kaczmarek auf dem Heimweg von Kneipe und Kumpanen einen Trupp kommunistischer Widerständler beim Parolenpinseln erwischt und das mit dem Leben bezahlt hatte.
Kaczmareks Sturmlokal hatten sie verschlossen vorgefunden und den Wirt aus dem Bett klingeln müssen. Hans Bestmann wohnte gleich über seiner Kneipe und hatte den frühen Besuch mit verschlafenen Augen angeblinzelt, bis ihn der Anblick von Gräfs Marke geweckt hatte.
»Det sind alle«, sagte er jetzt und steckte seinen Bleistiftstummel wieder hinters Ohr. Rath las vier Namen auf dem Zettel, den der Wirt ihm reichte.
»Haben Sie keine Adressen?«
»Bin doch keen Adressbuch. Sind aber allet Männer vom Sturm hunderteins.«
»Hier im Sturmlokal gibt es doch bestimmt irgendwo eine Kartei …«
Bestmann zuckte die Achseln. »Keene Ahnung. Ick bin nur der Wirt. «
»Wo geht’s denn da hin?«, fragte Rath und zeigte auf die große Schwingtür neben dem Tresen.
Bestmann schaute erschrockener, als man bei einer solchen Frage normalerweise schaute.
»Nach hinten.«
»Ach was?«
»Küche, Toiletten und so.«
»Und so?«
Bevor der Wirt irgendwelche Einwände erheben konnte, hatte Rath die Tür geöffnet und fand sich in einem langen, schmalen Gang wieder, an dessen Ende eine weitere Tür wartete, eine massive Stahltür, über der tatsächlich ein Schild auf die Toiletten hinwies. Links führte eine Schwingtür in die Küche. Doch Rath interessierte sich mehr für die Tür, die rechts abging, eine schlichte Holztür, auf der PRIVAT stand.
»Da dürfen Sie nicht rein«, hörte er Bestmann rufen, hatte die Klinke aber schon gedrückt. Die Tür öffnete sich mit einem leichten Knarren.
»Und warum nicht?«
»Das ist das Büro des Sturmführers.«
»Genau das suche ich doch«, sagte Rath und betrat den Raum.
Hier schien noch seltener gelüftet zu werden als im Schankraum. Der Geruch von kaltem Zigarrenrauch wehte ihm entgegen. Das Büro war durchaus geräumig und wurde beherrscht von einem massiven Schreibtisch, auf dem zwei schwarze Telefone standen, dahinter ein großer ledergepolsterter Bürostuhl, davor drei Holzstühle, die deutlich bescheidener ausfielen. An den Wänden Regale, Aktenschränke und ein großer Waffenschrank. Erstaunlich wenige Nazi-Devotionalien, nur die SA-Standarte des Sturms 101, die neben dem Waffenschrank lehnte, und ein einsames Hitlerfoto an der Wand. Keines von SA-Chef Röhm. Auch keines des Berliner SA-Chefs Karl Ernst. Entweder interessierte sich der Sturm 101 nicht für seine Vorgesetzten, oder aber die SA hier im Wedding hatte Probleme mit den Gerüchten, die um diese Männer kursierten: dass sie vom anderen Ufer waren. Dass sie sich nicht nur aus politischen Gründen mit jungen, knackigen SA-Männern umgaben.
Er hörte Bestmanns Schnaufen von der Tür. Hinter dem dicken Wirt erschien Gräf im Türrahmen, so etwas wie Missfallen im Blick, doch das kümmerte Rath nicht. Er ging zu den Karteischränken hinüber, fand eine Schublade mit der Beschriftung Me-Ri und öffnete sie.
»Na sehen Sie, Herr Bestmann«, sagte er. »Da müssen wir Ihren Sturmführer ja gar nicht erst behelligen wegen der Adressen.«
Rath blätterte sich durch die Karteikarten. Möller, Landvogt, Peters und ein vierter Mann namens Reimann, alle in derselben Schublade. Wie praktisch. Wo er schon mal dabei war, öffnete er auch die darüberliegende Schublade und angelte sich die Kartei Kaczmarek aus dem Register.
»Sie können das doch nicht einfach da rausnehmen«, protestierte Bestmann.
»Natürlich kann ich. Ich bin Polizist.«
»Aber …«
»Ich denke, Sie sind nur der Wirt«, schnauzte Rath den Mann an. »Wie wäre es dann, wenn Sie Ihre Arbeit machen, während ich die meine mache?«
»Wir ham doch noch jar nich jeöffnet«, maulte der Wirt.
»Vielleicht können Sie mir und dem Kollegen Gräf trotzdem einen Kaffee kochen. Was meinen Sie?«
Bestmann schaute zu Gräf hinüber, und als der nichts sagte, verzog er sich nach gegenüber in die Küche, und kurz darauf hörte man Wasser in einen Blechkessel fließen.
Gräf war mit verschränkten Armen am Türpfosten stehen geblieben. »Gereon, kannst du mir mal verraten, was das hier soll?«, fragte er.
Rath hob die Hand mit den Karteikarten. »Habe mir die Adressen von Zeugen besorgt«, sagte er.
»Das hier ist das Büro eines SA-Sturms. Da kannst du nicht einfach so eindringen.«
»Die Tür stand offen.«
»Hör auf mit den Kindereien. Du weißt genau, was ich meine. Und dann noch ohne richterlichen Beschluss.«
»Dank der nationalen Revolution ist so was doch nicht mehr nötig.«
»Du weißt, wie empfindlich die SA in diesen Dingen ist.«
»Wir suchen den Mörder eines SA-Mannes. Und ich habe die Adressen mutmaßlicher Zeugen recherchiert, das ist alles.«
Gräf verdrehte die Augen. Doch er sagte nichts mehr, sondern verließ das Büro mit einem letzten Seufzer. Rath notierte die Adressen und stutzte. Das Eintrittsdatum. Freitag, der 5. August 1932. Kein besonderes Datum eigentlich. Aber alle fünf SA-Männer, die am Vorabend zuletzt in der Kneipe nebenan beisammengesessen hatten, waren am selben Tag in die Sturmabteilung der NSDAP eingetreten.
Rath notierte das Datum und steckte die Karteikarten zurück, da begann nebenan ein Wasserkessel zu pfeifen. Rath verließ das Sturmführerbüro und schaute in die Küche.
»Alles wieder an seinem Platz, Herr Bestmann, der Sturmführer wird nichts merken.«
Der Wirt nickte. »Kaffee ist gleich fertig«, sagte er.
»Gut, schenken Sie dem Kollegen Gräf doch schon eine Tasse ein. Ich muss mal eben für kleine Jungs.«
Die Stahltür unter dem Toilettenschild führte auf einen schmalen Hinterhof. Neben der Toilettentür auf der anderen Hofseite hing ein Waschbecken an der Wand. Die Gäste der Schankwirtschaft Bestmann mussten sich ihre Hände unter freiem Himmel waschen.
Auf der Toilette – eine hölzerne Kabine, eine geflieste Pinkelrinne, an der höchstens vier Mann nebeneinander Platz fanden – stank es bestialisch. Rath versuchte, möglichst nicht zu atmen, als er sich an die Rinne stellte. Und war höllisch froh, dass sich das Waschbecken an der frischen Luft befand.
Während er sich die Hände wusch, ließ er seinen Blick über den Hof schweifen, der an dieser Stelle höchstens acht Meter breit war und sich erst weiter hinten öffnete, eine kaum einsehbare Ecke zwischen der Gastwirtschaft und dem Nachbarhaus. In der Mitte ungefähr war ein Gully in das Pflaster eingelassen, über den das Regenwasser abfließen sollte, doch in Rath löste der Anblick des metallenen Gitters düstere Erinnerungen aus. Ein Schuss, eine klaffende Wunde, ein lebloser Körper. Und Blut, das in einen Gully sickert. Fünf Jahre war das her, doch tauchten die Bilder immer noch aus den Tiefen seines Unterbewusstseins nach oben, erst letzte Nacht hatte er davon geträumt, von der Leiche, die er hatte verscharren müssen. Und so glaubte Rath auch in diesem Moment zunächst an Einbildung, als er das eingetrocknete rostbraune Rinnsal bemerkte, das sich, über ein paar Umwege mäandernd, zum Gully hinzog. Doch es war keine Einbildung, die Spur war schon ein wenig verblasst, aber noch gut zu erkennen. Rath hockte sich hin und tippte mit dem Finger hinein. Als er die Fingerspitze unter das fließende Wasser hielt, leuchtete es blutrot vor dem Emailleweiß des Waschbeckens.
Er kehrte in die Kneipe zurück und fand Gräf zusammen mit dem Wirt im Schankraum. Bestmann hatte einen kleinen Vierertisch frei geräumt und eine Kaffeekanne mit drei Tassen dort hingestellt. Sogar an Milch und Zucker hatte er gedacht.
Gräf hatte sein Notizbuch aufgeschlagen.
»Gab es in der jüngsten Zeit Ärger mit Kommunisten?«, hörte Rath den Kollegen fragen und ärgerte sich zum ersten Mal wirklich, heute nicht allein unterwegs zu sein.
»Wir haben hier immer Ärger mit den Kommunisten«, sagte Bestmann, der sich zu freuen schien, endlich wieder auf vertrautem Terrain unterwegs zu sein. »Immer schon jehabt. Sie müssen nich glooben, dass es keene Kommunisten mehr jibt in Berlin. Der Kampf jeht weiter!«
Für einen Moment glaubte Rath, der Wirt werde gleich den Arm zum Hitlergruß ausstrecken, doch die rechte Schulter zuckte nur leicht.
»Wenn Sie mir mit ein paar Namen dienen könnten, Herr Bestmann«, sagte Gräf, »dann wäre uns schon sehr geholfen.« Er schob seinen Notizblock über den Tisch, und der Wirt griff wieder zu dem Bleistiftstummel hinter seinem Ohr.
Rath setzte sich nicht dazu. Er trank einen Schluck Kaffee im Stehen. Ohne Milch, ohne Zucker.
»Entschuldigen Sie, dass ich noch mal unterbrechen muss, Herr Bestmann«, sagte er, nachdem der Wirt ein paar Namen notiert hatte – diesmal mit Adresse –, »aber da ist Blut auf Ihrem Hof.«
Bestmann schaute auf.
»Wie?«, fragte er nur, aber es war ihm anzusehen, dass er Rath genau verstanden hatte und noch genauer wusste, um was es ging.
»Blut. Irgendjemand hat Blut in den Gully gespült. Da bei Ihrem Waschbecken. Ist gestern wirklich nichts Besonderes passiert?«
»Muss aus der Fleischerei kommen«, sagte Bestmann schließlich.
»Welche Fleischerei?«
»Fleischerei Thönissen. Nebenan. Die Tür neben meinen Toiletten ist deren Hinterausgang. Den Hof nutzen wir beide.« Der Wirt zeigte auf einen freien Stuhl. »Setzen Sie sich doch, Kommissar, und trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee.«
»Das muss ich mir mal näher ansehen«, sagte Rath und stellte seine Tasse wieder ab.
Er befand sich noch in dem Gang, der auf den Hof führte, da hörte er hinter sich Stuhlbeine mit einem hässlichen Geräusch über den Boden schrappen. Er konnte es zwar nicht sehen, sich aber umso besser vorstellen, wie der Wirt aufstand, so schnell es ihm seine Statur und sein Gewicht erlaubten.
Neben der Toilettentür, auf der anderen Seite des Waschbeckens, befand sich eine zweite Tür, der Rath vorhin keine Beachtung geschenkt hatte und auf der in strenger Fraktur nur zwei Worte standen: Zutritt verboten.
»Hier geht’s zur Fleischerei?«, fragte Rath, und der Wirt, der inzwischen nachgekommen war, nickte. »Man könnte ja meinen, hinter dieser Tür befindet sich eine Trafostation oder ein hungriger Löwe, so bedrohlich wirkt dieses Schild.«
»Ist nur, damit sich niemand in der Tür irrt«, sagte Bestmann. »Meine Gäste sind manchmal schon reichlich … anjeheitert, wenn sie die Toilette aufsuchen.«