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Seit sie denken kann, wird Prinzessin Luna von ihrem Volk gehasst und gefürchtet, weil in ihr die Kräfte der Dunkelheit schlummern. Ihr Leben wird von Krieg und Tod beherrscht, ohne die Möglichkeit auf eine glückliche Zukunft. Doch als Valentine endlich sein wahres Gesicht zeigt, bietet sich ihr die Gelegenheit, ihr Schicksal zu ändern. Getrieben von ihrem unbändigen Hass, beschreitet Luna einen Weg, der sie vor eine schreckliche Entscheidung stellt. Wählt sie die Liebe zu ihrer Schwester oder die lang ersehnte Rache?
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Lunaris
Kriegerinnen von Tag und Nacht
Alice Valeré
1.Auflage
Deutsche Erstausgabe Februar 2024
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© Alice Valerè
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Kristina Licht – Coverdesign
Lektorat: Stefanie Zainer
Impressum
Alice Valeré
c/o easy shop
K. Mothes
Schloßstraße 20
06869 Coswig (Anhalt)
Dieses Werk und seine Bestandteile sind urheberrechtlich geschützt. Ohne die schriftliche Zustimmung der Autorin ist jede Verwertung des vollständigen oder auszugsweisen Inhalts unzulässig und strikt untersagt. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Verbreitung oder Vervielfältigung. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt
Für alle,
die den Vorurteilen anderer ausgesetzt sind,
die sich täglich den Ungerechtigkeiten dieser Welt entgegenstellen
und sich dabei machtlos fühlen.
Astaria
Mein Herz schlug schwer gegen meine Brust und warnte mich, an meinem Vorhaben festzuhalten. Seit jeher existierte keine Macht, die größer war als der Tod selbst. Die Grenzen zwischen den Welten mussten gewahrt werden und kein Zauber durfte sie überschreiten.
Obwohl ich das genau wusste, stand ich hier im Tempel mit der Absicht, genau dagegen zu verstoßen.
Ich erinnerte mich an die Worte des Orakels, das mein Ende durch die Hand einer Kriegerin vorherbestimmt hatte, wenn ich an meiner Liebe festhielt und die Grenzen der Magie nicht achtete.
Doch wie sollte ich diese Regeln befolgen, wenn ich mein Leben nicht in Trauer und Einsamkeit verbringen wollte? Seine Liebe war es wert, jede Mauer einzureißen und jedes Gesetz zu brechen. Ich war bereit, jeden Preis zu zahlen, selbst wenn es mein Leben kostete.
Mein Blick wanderte zur Decke und ich kniff die Augen zusammen, geblendet von dem strahlenden Licht des riesigen blauen Kristalls, der in einiger Entfernung über mir schwebte. Er war der Schlüssel, meine letzte Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Sollte ich scheitern, würde mich mein Vater morgen mit einem Mann verheiraten, den ich mehr verachtete, als ich es jemals beschreiben konnte. Allein bei dem Gedanken an sein eingefallenes Gesicht und dem fauligen Atem verkrampfte sich mein Magen schmerzhaft.
Ich brauchte nur genügend Macht, um mich meinem Vater zu widersetzen, dann konnte ich weiterhin meinen Experimenten nachgehen und einen Weg finden, meine große Liebe zurück ins Leben zu bringen.
Unser größtes Heiligtum, das Herz unseres Landes und die Quelle unserer Kraft, konnte mir geben, was ich brauchte. Ich hatte lange darüber nachgedacht und wusste, wie gefährlich es war, sich seiner Macht direkt auszusetzen. Doch hatte ich keine andere Wahl.
Ich kniete mich auf den kalten Marmorfußboden, schloss die Augen und öffnete meinen Geist. In aller Demut flehte ich den Kristall an, mir seine Macht zu schenken und damit die Ketten zu sprengen, die mich an meine Familie banden. Ich wollte mich von ihrer Kontrolle befreien, die mich Tag für Tag mehr verzweifeln ließ. Niemals würden sie verstehen, dass es keinen anderen Mann in meinem Leben geben konnte als jenen, den mir der Krieg genommen hatte.
Die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Tränen füllten meine Augen und ich sank nach vorn, während ich mich mit den Händen auf dem harten Boden abstützte.
»Bitte«, flehte ich laut, ohne darauf zu achten, dass mich jemand entdecken könnte. Wenn der Kristall mich nicht erhörte, spielte es ohnehin keine Rolle.
Ich glaubte bereits, Stimmen in einiger Entfernung zu hören, als sich das Licht des Kristalls plötzlich veränderte und meine Umgebung in ein Gemisch aus blau und violett tauchte. Staunend hob ich den Kopf und betrachtete das Farbspiel auf den Steinwänden des Tempels.
»Ein Licht der Hoffnung, hell und klar wie die Sonne. Ein Licht des Verderbens, dunkel und machtvoll wie der Mond«, erklang plötzlich eine liebliche Stimme, die den Vers eines mir nur allzu vertrauten Kinderliedes zitierte. Meine Mutter hatte es mir bis zu ihrem Tod jeden Abend vorgesungen.
Mein Herz schlug schneller, aus Angst entdeckt worden zu sein. Suchend wanderte mein Blick umher, jedoch entdeckte ich den Besitzer der mir fremden Stimme nicht.
»Wo bist du?«
Ein leises Kichern erklang so schrill wie das eines Kindes. Doch konnte ich dessen Ursprung nicht ausmachen.
»Ich bin kein Mensch und auch kein Tier, keine Elfe und keine Fee. Ich bin hier und doch gleichzeitig überall.«
Eine Ansammlung verwirrender Worte, deren Bedeutung mir nicht sofort klar war. Einige Minuten verstrichen, bis ich begriff, was die Stimme damit meinte. Sie gehörte keinem Wesen aus Fleisch und Blut, sondern jenem geheimnisvollen Objekt, das über mir schwebte.
»Ich flehe dich an, mir zu helfen!«, rief ich, ohne zu zögern und zugleich voller Verzweiflung.
Erneut lachte die Stimme.
»Und was ist es, um das du mich bittest?«
Ich hatte lange nachgedacht, was ich von dem Kristall verlangen sollte. Macht war alles, was ich begehrte, denn sie sollte der Schlüssel zu meinem Glück sein.
»Schenk mir deine Kraft, damit ich meinem Herzen folgen kann.«
Stille. Ein dicker Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Wenn die geheimnisvolle Stimme meine Bitte ablehnte, war ich verloren.
»Und was bist du bereit, mir dafür zu geben?« Die Stimme klang lockend und so süß wie Honig.
»Alles«, antwortete ich und war dabei darum bemüht, möglichst sicher zu klingen. Ich würde ihr alles geben, was sie verlangte, auch wenn die Angst sich wie ein Mantel um mein Herz legte und mich davon abzuhalten versuchte.
»Gut«, säuselte die Stimme zufrieden, ehe ich leise Schritte hinter mir vernahm. Geschockt drehte ich mich um, als eine dunkle Gestalt aus den Schatten trat. Instinktiv wich ich zurück, doch es war zu spät. Ruckartig ergriff sie meinen Arm, hielt mich fest und ohne dass ich es verhindern konnte, stieß das Wesen ein Schwert durch meinen Leib. Gequält stöhnte ich auf, während mein Körper von einem alles verzehrenden Schmerz versenkt wurde. Die Welt verschwamm vor meinen Augen und ich stürzte in die Dunkelheit.
Das leise Knarzen einer alten Diele war das erste Geräusch, das ich bewusst wahrnahm, während mein benebelter Geist und mein betäubter Körper langsam wieder zueinanderfanden. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war das Gesicht eines toten Mädchens, bevor die Welt in einem Sturm aus Feuer und Dunkelheit verging.
Ich versuchte, mit meiner Hand nach meinem Dolch zu tasten, aber mein Körper reagierte nicht. In diesem Augenblick wünschte ich mir, dass ich mehr Zeit mit Solaris in ihrem Garten verbracht hätte, anstatt mich dem Kampftraining zu widmen. Weder konnte ich mit Sicherheit sagen, ob man mich vergiftet hatte, noch was ich in einem solchen Fall unternehmen musste. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass ich weder sprechen noch mich bewegen oder meine Augen öffnen konnte, hätte mir wohl auch dieses Wissen nichts genützt.
»Sieh mal einer an! Es scheint so, als würdest du langsam aus deinem tiefen Schlaf erwachen«, erklang eine verzerrte Stimme, die einen dröhnenden Schmerz in meinem Kopf verursachte. Sie war kaum mehr als ein leises Wispern und doch erschien sie mir grell und laut. Ich konnte nicht zuordnen, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelte, denn all meine Sinne spielten verrückt. Selbst das sanfte Zwitschern der Vögel, das von draußen hereindrang, glich einer Folter.
Als ich etwas Kühles, Nasses an meinen Lippen spürte, versuchte ich, panisch zurückweichen. Alles in mir kämpfte dagegen an, erneut vergiftet in einen tiefen Schlaf gezogen zu werden. Aber es war aussichtslos. Ich war machtlos. Und auch wenn es so frustrierend war, dass ich schreien wollte, blieb mir doch nichts anderes übrig, als es stillschweigend zu erdulden.
»Keine Sorge! Es ist nur Wasser«, erklang die Stimme erneut hell und klar. Nun erkannte ich auch, dass es sich um eine Frau handelte. Ob ich es jedoch tatsächlich geschafft hatte, meinen Körper zu einer Reaktion zu zwingen, oder ob die Fremde nur ahnte, was in mir vorging, wusste ich nicht.
Hatte sie mich vergiftet und entführt?
»Öffne die Augen!«, befahl die Frau und plötzlich löste sich ein Teil der Last, die meinen Körper niederdrückte. Als hätten sie nur auf ihre Erlaubnis gewartet, hoben sich langsam meine Lider. Die Umgebung wirkte zu hell, die Farben zu grell und die Konturen verschwommen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich das Gesicht der Fremden erkennen konnte. Über mich gebeugt stand sie neben dem Bett, in dem ich lag, und betrachtete mich aus giftgrünen Augen. Eine Gänsehaut überkam mich. Diese Farbe war mir so vertraut und löste gleichzeitig eine Welle des Schreckens in mir aus. Ihr Gesicht war markanter als Astarias, ihre Nase spitzer und ihre Haut von der Sonne gebräunt. Aber diese giftgrünen Augen waren dieselben wie die der Königin und die meiner Schwester. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen und trotzdem erkannte ich an ihr nichts, das auf die grausame Königin hindeutete. In den Augen der Fremden verbargen sich weder Astarias unverkennbarer Hass noch ihre skrupellose Brutalität. Selbst das goldene Haar schien heller und freundlicher.
Vorsichtig versuchte ich, meine Hände unter der schweren Daunendecke zu bewegen und hätte beinahe vor Freude aufgeschrien. Mit den Fingerspitzen erstastete ich den weichen Untergrund meines Nachtlagers und den samtigen Stoff der Decke.
»Du machst Fortschritte«, bemerkte die Frau und verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Vielleicht bist du doch stärker, als ich erwartet habe.«
Ich würde ihr zeigen, wie stark ich war, sobald ich meine Kraft zurückerlangt hatte. Es würde nicht mehr lange dauern. In jeder Minute, die verging, spürte ich, wie mein Körper sich weiter aus dem festen Griff des Gifts befreite.
Während sich die Fremde von mir abwandte und zu dem Feuer in einer kleinen Ecke des Zimmers ging, hob ich die Arme und stemmte mich mühevoll hoch. Es war anstrengend und verlangte mir alles ab, doch ich schaffte es.
Schwer atmend sah ich mich neugierig um. Das Bett, in dem ich geschlafen hatte, stand in einem kleinen Raum, der nur spartanisch eingerichtet war. Außer meinem Nachtlager gab es nur einen alten Schaukelstuhl, eine kleine Kommode links von mir und die kleine Feuerstelle rechts mit einem alten Tisch und zwei Stühlen davor. Auf einem davon nahm die Fremde Platz und musterte mich mit einem misstrauischen Ausdruck.
»Wo bin ich?«, verlangte ich zu wissen, als mein Blick an der Holztür hängen blieb, die nur wenige Meter entfernt lag. Wenn ich ausreichend Kraft sammelte, konnte das vielleicht mein Weg in die Freiheit sein. Für den Fall, das die Frau mich nicht freiwillig gehen ließ.
»Verschwende deine Kraft nicht an einen sinnlosen Fluchtplan.«
Rasch glitt mein Blick zu ihr zurück. In ihren Gesichtszügen lag eine feste Entschlossenheit. Die Zweifel, ob es sich bei ihr um meine Entführerin handelte, waren mit einem Wimpernschlag verschwunden. Sie war es ganz sicher. Und noch dazu schien sie nicht vorzuhaben, mich entkommen zu lassen.
Schön. Sollte sie es mir ruhig schwer machen. Ich würde es trotzdem schaffen, zu fliehen, noch bevor sie die Gelegenheit erhielt, mir zu verraten, was sie von mir wollte.
Mit einem siegessicheren Lächeln tastete ich nach der Macht der Dunkelheit, doch da war nichts. In meinem Inneren herrschte eine erschreckende Leere. Es fehlte nicht nur jede Spur der verhängnisvollen Stimme, sondern sogar die der Existenz der Dunkelheit selbst.
Das Lächeln auf meinen Lippen gefror und verwandelte sich schlagartig in einen Ausdruck blankem Entsetzen.
Wie war das möglich?
Geschockt suchte ich in jedem Winkel meines Geists nach der Kraft, fand jedoch nichts bis auf eine riesige Mauer, die mich nach alten Seiten hin einschloss. Die Dunkelheit musste dahinter sein, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich zu ihr gelangen sollte. Es war nicht eine trennende Magiebarriere wie bei der blauen Nachtigall, sondern vielmehr ein Gefängnis, das nur für mich allein erschaffen worden war. Statt Wänden aus Glas hatte ich es mit unüberwindbaren Mauern aus Saphir zu tun, die sich bewegten und zu leben schienen. Sie pulsierten in einem seltsamen Takt, jedes Mal, wenn ich sie berührte. Als würden sie auf mich reagieren.
»Was hast du mit mir gemacht?« Der Schock und die Fassungslosigkeit spiegelten sich ungehindert in meiner Stimme wider. Kein Gift vermochte es, mich von meiner Macht zu trennen. Selbst bei einer Magiebarriere konnte ich meine Kraft noch deutlich spüren. Es war mir nur nicht möglich, sie zu manifestieren. Doch in diesem Augenblick fühlte es sich an, als hätte ich niemals magische Fähigkeiten besessen.
»Du solltest dich noch etwas ausruhen«, erwiderte sie ruhig und ignorierte meine Frage.
»Sag mir sofort, was du mir angetan hast!« Meine Fingernägel krallten sich in die weiche Matratze unter mir, als ich die Frau zornig anschrie. Angst schnürte mir die Kehle zu, wie ich es noch nie erlebt hatte.
»Antworte mir!« Ich sprang von dem Bett und wäre beinahe gestürzt, da plötzlich Sterne vor meinen Augen tanzten. Aber im letzten Moment fing ich mich wieder. Mit so viel Stärke in meiner Haltung, wie es mir möglich war, funkelte ich die Fremde einschüchternd an. Ich war eine Kriegerin und keine verängstigte Maus, die sich einfach so einsperren ließ. Ob mit Kräften oder ohne, ich würde mir meinen Weg in die Freiheit erkämpfen.
Doch mein Ausbruch stieß bei ihr nur auf taube Ohren und mit verschränkten Armen erwiderte sie gelassen: »Hör auf, wie eine Furie rumzuschreien und beruhige dich.«
Sie musste wahnsinnig sein, wenn sie glaubte, dass ich mich entspannte. Erst wurde ich vergiftet, dann entführt und jetzt auch noch meiner Kräfte beraubt, während man mich gegen meinen Willen festhielt. Wer würde denn dabei die Ruhe bewahren?
Sie schien zu wissen, was ich dachte und gab ein leises Seufzen von sich. Entnervt schloss sie die Augen und legte eine Hand an die Stirn, ehe sie begann, sich diese zu massieren.
»Du gehst mir jetzt schon furchtbar auf die Nerven. Ich habe ihnen gesagt, dass es eine dumme Idee ist, aber auf mich hört ja niemand.«
Wen meinte sie? War sie es nicht allein gewesen, die mich vergiftet und dann hierhergebracht hatte?
Unzählige Fragen ohne Aussichten auf Antworten. Ich öffnete gerade erneut den Mund, als mit einem geräuschvollen Knarren plötzlich die Tür aufschwang. Ruckartig flog mein Kopf herum und ich erstarrte. Mir blieb fast der Mund offenstehen, als ich den Mann erkannte, der seinen Kopf zu uns hinein streckte. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte meinem Instinkt vertrauen sollen.
Vorsichtig trat Val durch die Tür hinein.
Unsicher betrachtete er mich. Zurecht. Während ich äußerlich noch immer eine trügerische Ruhe ausstrahlte, brodelte in meinem Inneren der Hass. Wie ein wildes Raubtier schlug er seine Krallen in mein Fleisch und ich gefror innerhalb von Sekunden zu der eiskalten Kriegerin, die ich schon immer war.
Dieser miese Verräter.
Ein Knurren entwich meiner Kehle. Ich sah, wie sich seine Augen entsetzt weiteten und er mit dem Gedanken an eine sofortige Flucht spielte.
»Du!«, fauchte ich ihn noch lauter an.
Mein Blick bohrte sich in seinen und Val wich einen Schritt zurück. Jedoch erregte ein unterdrücktes Lachen seine Aufmerksamkeit, bevor er einen weiteren Schritt tat. Auch mich ließ das Geräusch einen Moment lang meine Aufmerksamkeit von ihm abwenden. Die fremde Frau sah amüsiert zu Val und schenkte ihm ein süffisantes Grinsen.
»Das ist nicht lustig, Scarlett!«, fuhr Val sie grob an. Aber das sah sie wohl anders, denn nun begann sie lautstark und hemmungslos zu lachen.
»Du hast ja keine Ahnung, wie sauer sie ist«, japste sie und konnte sich kaum beruhigen. »Sei froh, dass sie überhaupt noch so still dasteht.«
Besorgt wandte sich Val wieder mir zu.
Sie hatte recht, es war ein Wunder, dass ich noch hier stand. Er war eine miese Ratte, die mich getäuscht und betrogen hatte. Und nicht nur mich, sondern auch Solaris und Astaria. Er war der Feind in unseren Reihen gewesen, der Verräter, dem wir den Angriff der Schattenwandler zu verdanken hatten. Und den Tod von Phillip und Milan.
Aber woher wusste sie, wie es in meinem Inneren aussah? Wer war sie? Ohne Zweifel besaß sie magische Fähigkeiten, wenn sie es vermochte, mich von der Dunkelheit abzuschirmen. Aber das erklärte noch lange nicht, was sie war. Vielleicht eine Magierin? Andererseits gehörte es nicht zu den Fähigkeiten einer Magierin, die Gedanken anderer Wesen zu lesen.
Wahrscheinlich war das bei mir aber auch keine Kunst. Jeder Blinde wüsste, dass ich über die Tatsache, ausgerechnet von Val entführt worden zu sein, stocksauer war.
Nicht Val, korrigierte ich mich. Er hatte mir gesagt, dass ich anfangen sollte ihn so zu nennen, wenn wir Freunde werden wollten. Was nun niemals geschehen würde.
Valentines eindringlicher Blick hatte etwas Flehendes, aber seine Bitte hatte keine Bedeutung für mich. Sein Betteln prallte an der Mauer aus Hass und Wut wie ein lästiges Insekt ab. Er hatte mich immer und immer wieder belogen und getäuscht. Und ich einfältiges Geschöpf hatte ihm trotzdem vertraut, hatte auf ihn gehört und zugelassen, dass er mich entführen konnte.
Ich würde ihn zertreten wie das abscheuliche Ungeziefer, das er war.
»Lauf!« Meine Stimme glich einem unheilvollen Brüllen, ehe ich auf ihn zustürzte. Jedes Gefühl von Schwäche war verschwunden. Ich wollte ihn in der Luft zerreißen und seine Überreste an die Vögel verfüttern. Meine Kräfte mochte ich nicht einsetzen können, aber auch ohne sie hatte er keine Chance.
Anstatt sich mir jedoch zu stellen, wich er geschickt aus und lief eilig zu Scarlett, um sich hinter ihr zu verstecken.
Feigling!
Meine ganze Konzentration richtete sich auf die schlanke Gestalt, die zwischen mir und meinem Ziel stand. Scarlett grinste noch immer breit, hatte sich allerdings etwas beruhigt. Kopfschüttelnd betrachtete sie mich, während ich nun mit hochrotem Gesicht auf sie zu rannte. Dieser Schwächling konnte sich nicht verstecken! Und wenn ich ihn bis ans Ende der Welt verfolgen musste.
»So sehr ich auch den Anblick genießen würde, wenn du Valentine in seine Einzelteile zerlegst, fürchte ich aber, dass ich das nicht zulassen kann.«
Innerhalb einer Sekunde verengten sich Scarletts Augen zu Schlitzen und noch bevor ich sie erreichte, erklang ein schrilles Kreischen in meinem Kopf. Noch im Lauf schrie ich schmerzerfüllt auf und stürzte zu Boden. Meine Hände fest auf meine Ohren gedrückt, versuchte ich gegen diesen grauenvollen Schmerz anzukämpfen. Es fühlte sich an, als würde mein Trommelfell augenblicklich reißen und mein Kopf zerplatzen. Alarmiert brüllte mein Körper mich an, etwas dagegen zu unternehmen, aber ich nahm nur noch diesen entsetzlichen Ton wahr. Alles, was ich wollte, war, dass es aufhörte.
So schnell wie es gekommen war, verschwand es auch wieder. Verkrampft lag ich zusammen gekauert auf dem Holzboden und zitterte unaufhörlich am ganzen Leib. Der Hass war verschwunden und zurück blieb nur eine erschöpfte Version meiner selbst. Keine Kriegerin, keine Prinzessin, sondern ein schwaches Mädchen.
Keuchend stieß ich den Atem aus, während ich nur mit Mühe das Bedürfnis verdrängte, sofort die Flucht zu ergreifen. Wenn Solaris mich jetzt sehen könnte, würde sie auf mich zustürzen und mir sagen, dass ich mich mit diesem Gegner übernahm. Doch gleichzeitig würde ich auch Astarias höhnisches Lachen hören, die mir sagte, dass ich eine Schande für ihre Armee und ihre Familie sei.
Schwarze Stiefel traten in mein Sichtfeld. Scarlett schritt auf mich zu und sah von oben auf mich herab.
»Ich nehme an, dass du dich wieder beruhigt hast?«
Zur Antwort fletschte ich die Zähne und bemühte mich mit aller Kraft, wieder auf die Beine zu kommen. Scarlett dachte nicht einmal daran, mir aufzuhelfen, sondern beobachtete mich mit einer stoischen Ruhe, für die ich sie verachtete.
Kaum dass ich wieder stand, erblickte ich Valentine und die Wut flammte bei seinem Anblick erneut auf.
»Du bist ein mieser Verräter! Sobald ich meine Kräfte zurückhabe und dein Wachhund hier verschwindet, bringe ich dich um, das schwöre ich!« Meine Stimme klang kristallklar und so scharf wie eine Klinge. Vielleicht war ich ohne die Dunkelheit nicht mehr als eine einfache Frau, aber das änderte nichts an der unkontrollierten Wut, die mich dieses Versprechen geben ließ.
Scarlett schob sich erneut in mein Blickfeld und versperrt mir die Sicht auf seine Reaktion.
»Schluss jetzt, Prinzessin!« Der Ton, den sie anschlug, duldete keine Widerworte und erinnerte mich an Astaria. Möglicherweise hatte ich mich nicht nur in Valentine, sondern auch in ihr getäuscht und es steckte mehr von der unbarmherzigen Königin in ihr, als ich vermutet hatte. Was mir nur recht sein sollte. Immerhin hatte ich nicht vor, nur noch einen Moment lang hierzubleiben.
Scarlett hielt mich nicht auf, als ich zur Tür herum schwang, nach dem morschen Holz griff und sie mit einem donnernden Geräusch hinter mir zuschlug.
Es war mitten am Tag, als ich in das grelle Licht der hoch am Himmel stehenden Sonne trat. Die frische Luft umfing mich und kühlte mein erhitztes Gemüt ab. Weder Scarlett noch Valentine waren mir gefolgt. Ob sie glaubten, dass ich entkommen konnte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Ich war nur froh, sein Gesicht nicht länger ertragen zu müssen.
Doch als mein Blick über meine Umgebung glitt, traf mich erneut das Entsetzen. Vor der Holzhütte, in der ich erwacht war, tobte das Leben. Frauen, Männer und Kinder liefen geschäftig zwischen unzähligen schlichten Gebäuden und einzelnen Zelten umher. Ich erkannte zwei Feuerstellen, an denen sowohl Männer als auch Frauen Essen zubereiteten. An anderen Orten schärften Menschen Waffen, knüpften Körbe oder gingen anderen Beschäftigungen nach.
Mir stockte der Atem. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, sondern nur von welchen Leuten ich umgeben war. Denn hoch über dem Treiben hing an einem simplen Gestell eine mir bekannte Flagge. Der blaue Rabe.
Das hier war ein Rebellenlager. Viel besser aufgebaut und organisiert als ich es je vermutet hätte. Dennoch war es genau der Ort, an dem ich am wenigsten sein sollte.
Wie hatten sie nur so dumm sein können, ausgerechnet mich hierher zu bringen? Es war nicht lange her, da hatte ich einen von ihnen vor den Augen von Dutzenden Adligen hingerichtet.
Es grenzte an Wahnsinn, mich hier festzuhalten und noch vielmehr mich aus der Hütte entkommen zu lassen. War ihnen denn nicht bewusst, dass sie alle zum Tode verurteilt waren, sobald ich ins Schloss zurückkehrte?
Natürlich mussten sie es wissen. Niemand konnte so einfältig sein. Obwohl vielleicht ich in diesem Fall einfältig war, da ich tatsächlich glaubte, jemals wieder von hier verschwinden zu können. Es gab zwar keine Mauern oder Gitter, die mich festhielten, doch ich war mir sicher, dass sie diese auch nicht brauchten. Sie hatten Scarlett. Den Wachhund, der mir unmissverständlich gesagt hatte, ich sollte meine Kraft nicht an einen sinnlosen Fluchtplan verschwenden. Sie hatte mir bereits einen Teil ihrer Kraft demonstriert und eine leise Stimme warnte mich, dass da noch viel mehr war.
Ein lautes Kreischen erklang und ich versteifte mich sofort. Meine Ausbildung zur Kriegerin drängte mich, auf einen Angriff vorbereitet zu sein und mein Schwert zu ziehen, doch als ich mit der Hand an meine Hüfte griff, war da nichts. Keine Waffe. Keine Chance, mich zu verteidigen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, während ich hastig nach der Quelle suchte und erleichtert aufseufzte, als ich ein kleines Kind entdeckte. Ein schwarzhaariges Mädchen sauste mit seinem Hund über den staubigen Platz vor der Hütte und quietschte vergnügt.
Unwillkürlich schüttelte ich meinen Kopf. Meine angespannten Nerven hatten doch tatsächlich die überschwängliche Heiterkeit eines Mädchens für eine Bedrohung gehalten.
Wie lange war es her, dass ich das Lachen eines Kindes hörte? Im Palast gab es böses Getuschel, verachtende Blicke und hasserfüllte Intrigen, aber niemals diese unbeschwerte Freude. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich beobachtete, wie die Kleine fröhlich in die Luft sprang. Kinder besaßen die einzigartige Fähigkeit, die Schrecken der Welt auszublenden und mit Leichtigkeit ihre Schönheit zu genießen. Als gäbe es keine Sorgen, keinen Kummer und kein Leid, das ihrem Glück im Wege steht.
»Wer bist du?« Die zarte Stimme des Mädchens drang an mein Ohr und erst da bemerkte ich, dass es stehengeblieben war, um mich fragend anzusehen. Hastig drehte ich mich weg und wollte in die entgegengesetzte Richtung davonlaufen, da kam es auch schon auf mich zu und griff nach meiner Hand. Wie erstarrt blieb ich stehen, als ich die Wärme spürte, die von ihm ausging. Ich wollte seine unbekümmerte Art nicht durch meine missmutige Stimmung verderben, aber die Kleine zog immer energischer und krallte auch die zweite Hand in den Saum meines Hemds, weshalb ich es nicht ignorieren konnte.
»Ich habe dich noch nie hier gesehen.«
Langsam drehte ich den Kopf und sah in ein Paar blaugraue Augen, die mich interessiert musterten.
»Kannst du nicht sprechen?«
»Doch.«
Das Mädchen sah so unschuldig und vollkommen sorglos aus, dass ich es nicht schaffte, meinen Blick wieder von ihm zu lösen. Die vom Spielen gerötete Wangen leuchteten beinahe auf der blassen Haut und wurden noch zusätzlich von rabenschwarzem Haar betont, während seine Augen vor Glück strahlten.
»Und wie heißt du dann? Oder hast du deinen Namen vergessen? Das passiert manchmal bei ein paar Kriegern, die zu lange von hier fort waren und bösen Menschen begegnet sind. Das hat Mama mir erzählt. Aber keine Sorge, dir fällt dein Name ganz sicher wieder ein. Meistens dauert es nur ein paar Tage.« Es sprach so schnell, dass es manche Silben verschluckte, was vermutlich der Aufregung zuzuschreiben war, die ihm deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
Böse Menschen? Meinte das Mädchen damit mich? Natürlich wusste ich, dass es mich nicht für einen von ihnen hielt, aber ganz bestimmt tat es seine Mutter. Dabei waren es die Rebellen, die uns immer wieder angriffen und unzählige blutige Konfrontationen provozierten.
Langsam ging ich vor dem kleinen Mädchen in die Knie.
»Mein Name ist Luna«, sagte ich sanft und bemühte mich, ihm ein möglichst freundliches Lächeln zu schenken. »Und wie heißt du?«
»Selena. Bist du neu?«
Vorsichtig schüttelte ich den Kopf.
»Nein. Ich bin nur kurz zu Besuch.« Ein unfreiwilliger Besuch, aber davon musste sie nichts wissen.
Traurig verzog Selena das Gesicht.
»Und für wie lange?«, wollte sie sofort wissen und ließ mich damit erneut schmunzeln.
»Ich bin gerade dabei, aufzubrechen.«
»Schade«, jammerte sie und ließ meine Hand los. »Ich hatte gehofft, dass du mit mir spielen kannst. Die anderen Erwachsenen haben nie Zeit.«
Einen Moment lang sah ich zu der Tür in meinem Rücken und drehte mich dann wieder zu Selena, ehe ich sie mitleidig betrachtete.
»Gibt es keine anderen Kinder, mit denen du spielen kannst?«
»Doch. Aber mein Bruder will nicht und Ciera ist zu krank. Ihre Mutter sagt, dass sie nicht mit mir spielen kann.«
Nur zu gern hätte ich Selena angeboten, ihrer Freundin zu helfen, damit sie wieder zusammenspielen konnten, aber ich durfte nicht vergessen, wo ich mich befand. Auch wenn noch niemand bis auf das Mädchen auf mich aufmerksam geworden war, hieß das nicht, dass es so blieb. Ich musste meine Chance nutzen und fliehen, bevor sich das änderte.
»Es tut mir leid«, begann ich, wurde dann jedoch abrupt durch den Ruf einer jungen Frau unterbrochen.
»Lass sofort mein Kind los!«, blaffte sie, während sie so schnell auf mich zu gerannt kam, dass ich instinktiv aufsprang und mich in eine Verteidigungsposition begab. Kaum hatte sie uns erreicht, riss sie Selena von mir weg. In ihrem Gesicht erkannte ich Verachtung und Abscheu, die mich seit meiner Kindheit begleiteten.
Beschwichtigend hob ich die Hände, während ich sie verständnislos betrachtete. Ich hatte absolut nichts angestellt, um diese Gefühle zu verdienen. Zumindest nicht heute.
»Ich habe ihr nichts getan«, schwor ich, aber der Blick der Frau wurde nur noch feindseliger. Der Hass loderte deutlich in ihren Augen. Derselbe, mit dem ich kurz zuvor noch Valentine bedacht hatte, schlug nun mir selbst entgegen.
»Geht es dir gut, mein Liebling?«, fragte sie die Kleine sorgenvoll, während sie sich hinhockte und das Mädchen nach Verletzungen absuchte.
»Ich habe eine neue Freundin gefunden!«, verkündete es daraufhin stolz und die Frau erstarrte. Ihr Körper verkrampfte sich und ihre Augen wurde mit einem Mal ganz groß. Jegliche Sorge wich augenblicklich aus ihren Gesichtszügen und hinterließen eine von Wut verzerrte Miene.
»Sie ist nicht deine Freundin.« Sie spie die Worte zwischen zusammengebissen Zähnen hervor und sah das Kind so streng an, dass dieses es nicht wagte, zu widersprechen.
Eine weitere Frau trat hinter sie und zog Selena schnell von uns fort. Das Mädchen sah so verschreckt aus, dass ich am liebsten etwas gesagt hätte, doch der Blick der Mutter war nun erneut auf mich gerichtet und ich wusste, dass es keine gute Idee gewesen wäre.
»Mörderin!«, rief sie mir voller Abscheu entgegen, doch ihre Beschimpfung prallte an mir ab wie eine Feder an einem Stahlpanzer. Wenn sie mich tatsächlich beleidigen wollte, dann musste sie sich schon mehr einfallen lassen.
»Komm meiner Tochter nie wieder zu nahe!«
Ernst erwiderte ich ihren Blick und verschränkte die Arme vor der Brust, während die Frau sich erhob.
»Sie kam auf mich zu und wollte mit mir spielen«, stellte ich klar. »Ich habe rein gar nichts getan.«
»Das ist mir egal. Du hast es nicht verdient, sie auch nur anzusehen.«
Es wäre klug gewesen, mich einfach umzudrehen und endlich von hier zu verschwinden. Mittlerweile blieben immer mehr Rebellen stehen und beobachteten uns interessiert. Aber ich war zu stur. Diese Frau hatte nicht das Recht, auf diese Weise mit mir zu sprechen.
»Was ist eigentlich dein Problem?«
Eingehend betrachtete ich die Frau und irgendetwas an ihr kam mir bekannt vor. Ihr Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde und die kleinen Falten, die sich unter ihren Augen bildeten, wenn sie diese zusammenkniff. Ihre Tochter ähnelte ihr sehr. Bis auf die Augen, die sie wohl von ihrem Vater geerbt hatte.
»Du weiß es nicht? Bringst du so viele Menschen um, dass du dich nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern kannst?«
Verwirrt runzelte ich die Stirn.
»Ich hätte gedacht, dass du ihn in meiner Tochter erkennst. Sie sieht ihm so ähnlich.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Marcus hatte das nicht verdient.«
Der Name hallte in mir wider, verbunden mit Erinnerungen, die mir nicht gehörten. Marcus. Der Rebell, der ins Schloss eingedrungen und vor Astarias Thron gestorben war.
Durch mich.
Mein Gesichtsausdruck musste die Erkenntnis, die in meinem Inneren entfacht wurde, widerspiegeln, denn auf den Lippen der Frau erschien ein bitteres Lächeln.
»Du erinnerst dich also doch.«
Ja, das tat ich. Auch sie erkannte ich nun. Sie war in Marcus Erinnerungen gewesen. Zusammen mit ihren Kindern hatte sie vor einem ärmlichen Haus gestanden.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise und meinte es ernst. Mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass das Kind, mit dem ich soeben gesprochen hatte, eine Halbwaise war. Ich hatte Selena ihren Vater genommen.
Auch wenn ich wusste, dass es keinen anderen Weg gegeben hatte, überschwemmte mich eine plötzliche Welle an Schuldgefühlen. An meinen Händen klebte viel Blut und selten hatte ich es bedauert. Aber dieses Mal war es anders. Zu oft hatte ich mir gewünscht, den Waisenkindern auf den Straßen ihre Eltern zurückgeben zu können. Und nun war ich der Grund dafür, dass ein kleines Mädchen einen wichtigen Teil in seinem Leben verloren hatte.
Es war naiv zu glauben, dass sie das erste Kind war, dem ich einen geliebten Menschen entrissen hatte, doch es hatte sich noch nie so real angefühlt.
»Lüg nicht«, knurrte Selenas Mutter mich an. »Du hast es genossen, ihn zu töten. Unsere Informanten haben uns berichtet, wie du gelächelt hast, als du in seinen Geist eingedrungen bist. Und wie er dabei gelitten hat.«
Inzwischen waren wir umringt von verschiedenen Menschengruppen, die aufgeregt zu flüstern begannen.
»Ich hatte keine andere Wahl.«
Sie schnaufte. »Ist es das, was du dir einredest?«
Ich hatte nicht erwartet, dass sie mir glaubte, aber dennoch durchzog mich eine Woge der Enttäuschung. Wie jedes Mal, wenn die Menschen in mir nur das Monster sahen.
Auf einmal öffnete sich hinter mir eine Tür und eine tiefe Stimme erklang.
»Leyla, was hat das zu bedeuten?«
Valentine trat neben mich, doch ich sah ihn nicht an. Meine Chance auf Flucht war mit einem Mal verloren. Und das nur, weil ich zu schwach war, ein kleines Mädchen abzuweisen.
»Misch dich nicht ein.«
»Du scheinst zu vergessen, dass Prinzessin Luna unser Gast ist.«
Nun wanderte mein Blick doch zu Valentine, der die Frau mit ernster Miene betrachtete.
»Sie ist unser Feind. Sie hat Marcus getötet«, erwiderte Leyla unnachgiebig.
»Und trotzdem steht sie unter meinem und Viktors Schutz, solange sie hier ist.«
»Sie ist ein Monster!«
»Das ist sie nicht!«, verteidigte er mich und wandte sich einen Augenblick mir zu, sodass sich unsere Blicke trafen. Entschlossenheit funkelte in seinen Augen. Aber auch etwas anderes.
Bedauern?
Schnell drehte er sich wieder weg.
»Du solltest jetzt zu deinem Kind gehen.«
Auch ich wandte mich wieder Selenas Mutter zu. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepresst und starrte Valentine zornig an. Aber er schien nicht nachgeben zu wollen, denn er hob abwehrend die Hand. Kurz öffnete sie den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder, als hätte sie es sich anders überlegt. Bevor sie allerdings ging, richtete sie den Blick ein letztes Mal auf mich.
»Du wirst deiner gerechten Strafe nicht entgehen«, drohte sie mit vor Hass sprühenden Augen. »Viktor wird dich für alles zur Rechenschaft ziehen, was du getan hast.« Damit wandte sie mir schließlich den Rücken zu und ging davon.
Viktor. Valentine hatte ihn erwähnt, als er sich einmischte und nun auch Leyla.
Anders als bei ihr und Marcus wusste ich jedoch sofort, wer sich hinter diesem Namen verbarg. Ich hatte sein Gesicht auf einem Schriftstück auf Astarias Schreibtisch gesehen, das jedoch ohne eine Unterschrift gewesen war. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nur vermuten können, dass er ein Gefangener war, der bereits in einer Zelle saß.
Sein Abbild hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt, insbesondere wegen der auffälligen Narbe, die sich über sein Gesicht zog. Es war ein Exekutionsbefehl gewesen, der für niemand geringeren als den Anführer der Rebellen bestimmt war, wie mir nun bewusst wurde. Aber anders als vermutet, war dieser kein Gefangener, sondern frei. Und ganz gleich wie sehr Astaria ihn tot sehen wollte, er lebte und ich befand mich in seiner Gewalt.
Solaris
»Aus dem Weg!«, brüllte ich erneut die Wachen vor Mutters Gemächern an, die sich beharrlich weigerten, mich zu ihr zu lassen. Aber das würde ich nicht akzeptieren. Nicht dieses Mal. Meine Schwester war verschwunden, wahrscheinlich wurde sie sogar entführt.
Was redete ich denn da? Natürlich wurde sie entführt. Denn außer ihr fehlte auch von Valentine jede Spur. Es war, als hätte der Erdboden die beiden verschluckt. Und wenn es stimmte, was ich vermutete, dann waren sie von den Schattenwandlern, die uns angegriffen hatten, verschleppt worden.
In einem Moment hatte ich die beiden noch gesehen und im anderen waren sie plötzlich unauffindbar gewesen.