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Diese Sammlung von Kurzgeschichten entspringt autobiografischen Erfahrungen und Erlebnissen. Die zeitlosen Texte sprechen von persönlichen Begegnungen, schmerzhaften Erinnerungen und lustigen Begebenheiten. Jede Geschichte enthält eine Dramatik, die aufgrund der Umstände einzigartig ist. Leben und Tod sprechen in allen Schattierungen aus ihnen hervor - die Leserin bzw. der Leser kennen ähnliche Begebenheiten aus ihrem eigenen Leben. In der Manier einer Zeitlupenaufnahme werden die kurzen Texte präsentiert. Dadurch bekommt jede Geschichte ihr eigenes Gesicht und Gewicht. Komik und Tragik verbinden sich zu einem untrennbaren Ganzen.
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Seitenzahl: 86
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Vorwort
Ate amanha
Auf der Flucht
Befehlsverweigerung
Das Totenbeinchen
Der Baum
Hut ab
Der Kran
Auf keinen Fall Rot
Kreislauf
Distanz
Ein Mail ist kein Mail
Engel
Kalt
Kein Entscheid ist auch ein Entscheid
Kopfvoran
Nachbarn
9/11
Der Flaschengeist
Reise ans Ende der Welt
Selbstjustiz
Spucken verboten
Vaterunser
Der Ameisenstier
Weihnachtsgeschichte 2.0
Worlds apart
Von Wind- und anderen Fahnen
Zeitlupe
Zwei Brüder
Die Kurzgeschichte ist eine moderne literarische Form der Prosa, deren Hauptmerkmal in ihrer Kürze liegt. Dies wird oft durch eine starke Komprimierung des Inhalts erreicht. Beim Wort Kurzgeschichte handelt es sich um eine Lehnübersetzung des englischen Begriffs short story. Die Entstehung der Kurzgeschichte hängt eng zusammen mit der Entwicklung des Zeitschriftenwesens im 19. Jahrhundert. Die Gattung der Kurzgeschichte entstand als short story im Bereich der englischsprachigen, insbesondere der amerikanischen Literatur.
Im deutschsprachigen Raum wurde die Kurzgeschichte erstmals um 1900 aufgegriffen. Hier musste sie sich zunächst gegen andere etablierte Kurzformen wie die Novelle, die Anekdote und die Kalendergeschichte durchsetzen. Bis in die fünfziger Jahre setzten sich viele Kurzgeschichten mit der Nachkriegszeit auseinander. Bei zahlreichen Autoren steht jedoch nicht die grosse Politik im Vordergrund, vielmehr gehen sie in einfach umrissenen Situationen allgemein-menschlichen Phänomenen wie Kommunikationsmangel, Statusdenken, Denunziantentum und Unverständnis zwischen den Generationen nach. Ab Mitte der 1960er Jahre hat die literarische Gattung einen Teil ihrer Bedeutung verloren.
Insofern knüpfen die vorliegenden Ultrakurzgeschichten am Anspruch der Kurzgeschichten an, entwickeln und verkürzen diese aber noch einmal wesentlich, um sich auf ein einziges Thema, eine einzige Begebenheit konzentrieren zu können. Aber auch wenn jeweils nur eine einzige Thematik behandelt wird, heisst das noch nicht, dass sie auch einzigartig ist. Im Gegenteil: Die Ultrakurzgeschichte hat zum Ziel, weit über die beschriebene Situation hinauszuweisen auf immanent menschliche Schicksale und Unzulänglichkeiten. Gerade weil sie weniger narrativ ist als die Kurzgeschichte oder der Roman, vermag sie den Wendepunkt im Leben eines Menschen umso klarer und deutlicher hervorzuheben.
Der Leser wird nicht von einer Fülle von Orten, Figuren und Handlungen abgelenkt, sondern er kann sich voll und ganz auf eine kurze Erzählung konzentrieren und sich dazu augenblicklich eine eigene Meinung bilden. Oftmals muss er zuvor allerdings die knapp dargestellte Situation aufschlüsseln, um sie in ihrer ganzen Wucht zu verstehen. Damit sind auch Einfühlungsvermögen und Interpretationsfähigkeit des Lesers gefordert, was das Lesen zu einem kurzweiligen Vergnügen werden lässt.
P.J. im September 2017
Sie war ihm vom ersten Tag an aufgefallen. Gross gewachsen, lange, schwarze Haare, meist offen getragen, ihre dunklen, wachen Augen. Jeder Besuch im Sekretariat wurde mit einem freundlichen Lächeln quittiert. Ihre flinken Hände fanden sekundenschnell die gewünschten Unterlagen oder tippten einige Wörter in die Maschine. Und immer wurde der Besuch mit einem herzlichen „ate amanha” abgeschlossen, Portugiesisch für „bis morgen″.
Ihr Name war Magdalena. Eine Heilige war sie aber auf keinen Fall, dafür trug sie ein zu enges Top, das die Ansätze ihrer Brüste erahnen liess, sowie enge Jeans, die ihre Körperformen zur Schau stellten. Es war für ihn eine Wonne, sie während der kurzen Zeit zu beobachten, wenn sie sich im Büro zwischen den Pulten, Stühlen und Korpussen hin und her bewegte. Es war wie ein Tanz, der jedermann entzückte, so auch ihn. Es fiel ihm jedoch auf, dass sie zu allen die gleiche Freundlichkeit an den Tag legte, allen ihr Lächeln schenkte und ihnen zum Schluss ein aufmunterndes „ate amanha” − bis morgen − mit auf den Weg gab. Hatte er anfänglich gehofft, dass sie zu ihm besonders nett und aufmerksam sei, sah er mit der Zeit ein, dass dem nicht so war. Trotzdem bildete er sich manchmal ein, dass sie ihm einen besonders langen Augenblick, ein paar Minuten mehr Aufmerksamkeit schenkte, und ein besonders herzliches „ate amanha” mitgab. In seinen Träumen hatte er sie schon Dutzende Male auf einen Drink, auf einen Kaffee oder einen Spaziergang am Strand eingeladen. Den Mut dazu hatte er noch nie aufgebracht.
An jenem Freitag nahm er sich aber vor, seinen Wunsch in die Tat umzusetzen. Er wollte Magdalena nach der Arbeit zum Apéro einladen. Vielleicht würde sich dann etwas ergeben - das Wochenende liess Zeit und Raum offen. Gegen Ende des Nachmittags begab er sich, ohne ein bestimmtes Anliegen zu haben, aufs Sekretariat und sie begrüsste ihn freundlich wie immer. Eine ältere Mitarbeiterin sass am Pult und tippte auf der Maschine, hinter ihr stand die Tür zum Zimmer des Direktors offen. Magdalena schien müde, aber sie fragte umgehend, wie sie ihm behilflich sein könne. Er murmelte etwas von Kopien abholen. Sie schien nicht zu verstehen und sah ihn fragend an. Er spürte den Kloss im Hals, wiederholte umständlich sein Gemurmel, entschuldigte sich fürs Versehen, drehte sich schliesslich enttäuscht um und verliess den Raum. Kurz bevor er die Tür schloss, hörte noch ein sanftes „ate amanha”.
Am folgenden Montag erschien Magdalena nicht zur Arbeit. Die Belegschaft wurde während der Morgenpause von der Direktion orientiert. Magdalena war am Wochenende mit ihrem Wagen verunglückt und lag im örtlichen Spital im Koma. Ihr Zustand war äusserst kritisch. Zwei Tage später wurden die schlimmsten Befürchtungen bestätigt – Magdalena erlag ihren schweren Verletzungen.
Der Alarm ertönte in den frühen Morgenstunden. Es war Samstag, der 1. November. Ein Feiertag - Allerheiligen. Durch die einen Spalt breit geöffnete Balkontüre waren die städtischen Sirenen deutlich zu vernehmen. Um eine Übung oder einen Testlauf konnte es sich nicht handeln, schoss es mir durch den Kopf und ich stand auf. Die beiden Kinder schliefen noch fest. Auf dem Weg zur Toilette begegnete ich meiner Mutter, die mich besorgt ansah. „Es muss etwas passiert sein”, meinte sie kurz und fügte hinzu: „Draussen riecht es abscheulich.” Eine Feststellung, die mich noch nicht beunruhigte.
Erst auf der Toilette wurde mir klar, was sie meinte. Der Geruch von faulen Eiern hatte sich einen Weg durch die Lüftung bis ins Innere der Wohnung gebahnt. Ich hielt die Luft an, verliess rasch den engen Raum und schloss die Tür hinter mir zu. Inzwischen befand sich mein Vater im Korridor. Auch er mit ernster Miene, aber wie immer sachlicher und gefasster als die Mutter. „Draussen stinkt die Luft zum Himmel”, sagte er und begab sich ins Wohnzimmer, wo er das Radio einschaltete. Es war die Rede von einem Grossbrand in einem Industriequartier ausserhalb der Stadt, wo die Chemie ihre Produktionsstandorte besass.
Verstand und Gefühle begannen sich in meinem Körper einen unerbittlichen Kampf zu liefern. „Nur die Ruhe bewahren”, sagte ich zu meinen Eltern, „das wird schon nicht so schlimm sein”. Aber ich spürte augenblicklich, dass ich mit diesen Worten eher mich beruhigen wollte als meine besorgten Eltern. Nachdem wir alle Fenster geschlossen hatten, zog ich mich an, wusste aber eigentlich nicht genau, warum. Die beiden Kinder schliefen immer noch tief und fest in ihren Betten.
Der Hauptgrund für unseren Besuch in der Stadt war die Herbstmesse, die wie immer um diese Jahreszeit stattfand. Meine Eltern hatten mich eingeladen und wir wollten am Nachmittag mit den Kindern die vielen bunten Stände und lauten Bahnen in der Innenstadt aufsuchen. Meine Kinder waren zwar noch klein, aber es gab auch spezielle Buden und Bahnen für sie. Und aufs Riesenrad, das hoch über dem Münster und dem Rhein seine Kreise drehte, konnten wir alle miteinander gehen. Danach assen wir normalerweise Wurst und Pommes in einem der Festzelte auf dem Münsterplatz. Die Kinder kauften sich mit ihrem Messebatzen noch irgendeine Süssigkeit oder ein Spielzeug, bevor wir uns auf den Heimweg machten.
Aber an diesem Samstagmorgen war alles anders. Niemand dachte zu diesem Zeitpunkt an Riesenrad, Festzelt, Wurst und Pommes. Draussen lauerte Gefahr, von der man nicht wusste, was sie einem anhaben konnte. War es nur einfach schlechte Luft wie jener jauchegeschwängerte Duft, welcher über den Feldern schwebte, wo wir als Kinder möglichst lange den Atem angehalten hatten? Oder schwebte hier etwas in der Luft, das gesundheitliche Schäden hinterliess oder vielleicht sogar tödlich war?
Die Ungewissheit war wohl das Schlimmste an der Sache. Mein Vater hatte sich inzwischen auch angekleidet, während sich meine Mutter einen Bademantel übergezogen hatte. „Was sollen wir machen?”, fragte sie mit kreidebleichem Gesicht. Mir fiel keine Antwort ein, obwohl mir augenblicklich bewusst worden war, dass ich mich in einer Art Wartemodus befand. Für eine Entscheidung fehlten mir jedoch weitere Informationen, die das Radio nicht hergab. Alles, was man erfuhr, war, dass die Autobahn Richtung Osten wegen eines Feuers gesperrt war und man die Fenster geschlossen halten sollte.
Während mein Vater zum Nachbar ging - einem Arzt, der ebenfalls ein Kleinkind hatte - ging ich unruhig schnuppernd in der Wohnung umher, um zu kontrollieren, ob die Luft noch schlechter wurde. Schliesslich hielt ich es nicht mehr aus und weckte die Kinder. Ich versuchte möglichst ruhig zu bleiben, was mir schlecht gelang. Unsere Vorfahren mussten während des Zweiten Weltkriegs ebenso gefühlt haben, als sie befürchteten, der nördliche Nachbar könnte unser Land überfallen. Meine Furcht schlug langsam in Angst, dann in Panik um.
Als mein Vater zurückkehrte, sagte er sofort: „Wir müssen fliehen. Im Augenblick ist nicht klar, welche Stoffe sich in der Luft befinden und uns bedrohen.” Ich spürte eine gewisse Erleichterung, da nicht ich eine Entscheidung treffen musste. Ich zog den Kindern eiligst ihre Kleider an, stopfte die am Vorabend erst ausgepackten Utensilien wieder in die Tasche und hielt mich bereit. Meine Eltern packten ihrerseits ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer und zogen ihre Mäntel an. Das Ziel unserer Flucht war ihr Ferienhaus in den Bergen. Wieder schoss mir der Gedanke ans „Réduit” durch den Kopf, als Tausende Menschen sich eine Notbleibe weitab der Grenze gesichert hatten, wo sie im Notfall hinflüchten konnten.
Während die Eltern sich um die Kinder kümmerten, eilte ich hinunter auf die Strasse, um meinen Wagen bereit zu stellen. Vor dem Verlassen des Hauses holte ich noch einmal tief Luft, um anschliessend mit angehaltenem Atem zum Fahrzeug zu rennen, den Schlüssel mit zittrigen Fingern ins Schloss zu stecken, den Motor anzulassen und direkt vors Haus zu fahren.