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"Willkommen im Café LycoReco!" Ein schickes Café im Norden Tokios, von dem aus man den alten Sendeturm gut sehen kann, und in dem man leckere Getränke und Desserts bekommt: Das ist das Café LycoReco. Dieser Roman dreht sich um kleine Geschichten des ganz alltäglichen Wahnsinns, in den die zwei Starkellnerinnen Chisato Nishikigi und Takina Inoue immer wieder verwickelt werden, wie man sie in der originalen Anime-Serie noch nie gesehen hat. Von leckeren Desserts bis zur knallharten Waffenaction, über Brettspiele, Gefühlsdramen bis hin zu Zombies und Monstern und einem Roadmovie … Und außerdem noch eine Prise Romantik?! Natürlich darf bei so einem Mix auch nicht die Rettung durch einen guten Kaffee fehlen! "Bestell dir was von der Karte. Egal was … überlass das nur mir! " Im Laufe der Zeit wächst die Bindung zwischen den beiden Mädchen Chisato und Takina immer stärker. Dieser Roman wurde vom Schöpfer des Originalwerks als Spin-off kreiert und ist wie ein großes, buntes Paket voller Süßigkeiten, gefüllt mit Extras aller Art, sodass wirklich für jeden etwas dabei ist!
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Seitenzahl: 425
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Titel der Originalausgabe: »Lycoris Recoil Ordinary Days« presented by Asaura, with Illustrations by Imigimuri, story by Spider Lily, published in Japan by Kadokawa, 2022.
Lycoris Recoil Ordinary Days
©Asaura 2022
©Spider Lily/Aniplex, ABC ANIMATION, BS11
Edited by Dengeki Bunko
First published in Japan in 2022 by KADOKAWA CORPORATION, Tokyo.
German translation rights arranged with KADOKAWA CORPORATION, Tokyo
through TOHAN CORPORATION, Tokyo.
Deutsche Ausgabe 2024 by Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Julia Gstöttner
Lektorat: Katharina Altreuther
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDLICOR001E
ISBN 978-3-7569-9959-0
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, November2024, ISBN 978-3-8332-4565-7
Findet uns im Netz:
www.paninibooks.de
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Kapiteleinführung 1
Kazuhiko Tokuda war ein geschiedener und kinderloser Zeitschriftenautor.
Wenn man »Zeitschriftenautor« hört, klingt das ja erst mal interessant. In Wirklichkeit war es aber nur ein seriös klingender Titel für seine Schreiberrolle in einer Agentur für so ziemlich alles, was verschriftlicht werden musste.
Tagtäglich mühte er sich, seine Aufträge mit viel zu kurzen Abgabefristen und mickrigem Honorar abzuarbeiten, von denen er jeden einzelnen mit vermeintlicher Freude entgegennahm und sich so seinen Lebensunterhalt verdiente. Er war ein genügsamer Mensch.
Genau dieser Kazuhiko unterbreitete nun seiner Redaktionsabteilung, zu der er generell einen guten Draht hatte, einen Vorschlag. Und da er sich ansonsten immer mit seinen anfallenden Aufträgen zufriedengab, war es äußerst ungewöhnlich für ihn, so eine Initiative zu ergreifen.
Doch dieses Mal hatte er einen triftigen Grund dazu. Und dieser fußte auf der Zufallsentdeckung eines Cafés, auf das er neulich gestoßen war.
Es war noch nie zuvor in den Mainstream-Medien wie etwa im Fernsehen oder in sonstigen Publikationen aufgetaucht und war bisher vor der Gesellschaft verborgen geblieben. Nur die, die es kannten, wussten um das Etablissement.
Doch nun wollte Kazuhiko der sein, der das Café aus dem Schatten in die Öffentlichkeit brachte. Er wollte, dass es die ganze Welt kennenlernte.
Kazuhiko erwartete dafür keine Bezahlung oder andere Gegenleistungen. Er wollte einfach nur der sein, der seine Entdeckung mit Stolz präsentieren durfte. Die kleine Flamme, die in ihm loderte und sich nach Anerkennung sehnte, spielte dabei nur eine kleine Rolle.
Das Café, um das es ihm ging, befand sich in Sumida, einem ruhigen Bezirk im Osten Tokyos, im Stadtviertel Kinshichou. Es war nur ein paar Schritte vom gleichnamigen Bahnhof entfernt.
Jeder, der mit der Gegend dort vertraut war, wunderte sich wahrscheinlich, wenn er von der Vorstellung eines Cafés hörte, das ausgerechnet in Kinshichou lag. Die Nachbarschaft hatte in seiner Rolle als Vergnügungsviertel schon in etwa denselben Ruf wie die bekannteren Viertel in Tokyo. Da kam es schon mal vor, dass jemandem die Phrase »Kabukichou im Westen, Kinshichou im Osten« über die Lippen kam. Und spazierte man von dort ein wenig weiter, landete man auch schon im Freudenviertel Yoshiwara.
Doch Kinshichou hatte immer noch um einiges mehr zu bieten als seine städtischen Verwandtschaftsviertel.
Die meisten Nachtetablissements ballten sich gegenwärtig am Südausgang des Bahnhofs, wobei die Gegend beim Nordausgang erst kürzlich völlig restauriert worden war und nun einen wundervollen Blick auf den berühmt-berüchtigten alten Sendeturm bot. Mittlerweile war es deshalb auch Eltern mit Kindern möglich, in Kinshichou eine unbekümmerte Zeit zu verleben.
Nördlich des Bahnhofs befand sich der Kinshi-Park, durch den sich die Gegend dank der dort tobenden Kinder tagein, tagaus mit lautem Gelächter füllte. Obwohl Kazuhiko der Meinung war, dass diese manchmal schon ein bisschen zu viel Spaß hatten, da ihn ihr Geschrei ab und zu eher an Tiere im Zoo erinnerte.
Das Café mit dem Namen »Café LycoReco« hatte Kazuhiko ebenfalls in der Nähe des Nordausgangs entdeckt.
Verließ man den Bahnhof in nördliche Richtung, musste man nur ein paar Schritte gehen, um direkt in einer kleinen ruhigen Ecke des Viertels zu landen. Dort wurde man dann auch schon von dem etwas nonkonformen modernen Holzgebäude begrüßt.
Kazuhiko fand, dass das Café auf jeden Fall als Touristenattraktion durchging, so modern und stilvoll sah es von außen aus. Die Fenster waren allesamt aus wunderschön bunten Farbgläsern zusammengesetzt, und das sorgfältig gepflegte Grün, das die Fassaden umspielte, gab dem Gebäude eine ganz besondere Ausstrahlung, die jeden Passanten kurz dazu brachte anzuhalten.
Und war an so einem Gebäude dann ein Schild mit »Café« angebracht, konnte man nicht anders, als seine Hand nach der Klinke der Eingangstür auszustrecken – genau wie es Kazuhiko jetzt wieder tat.
Doch dieses Mal brachte er noch etwas anderes mit: Die deutliche Absicht, seinem Projekt Gehör zu verschaffen, und etwas Nervosität bei jedem Schritt.
*
Als er die Tür öffnete, ertönte das Türglöckchen, dicht gefolgt von einem freudigen »Willkommen!«. Er fühlte sich, als würde ihn auch das sanfte Kaffeearoma begrüßen, das in der Luft lag.
Das Café LycoReco war zwar auf das Servieren von Kaffee aus der ganzen Welt spezialisiert, war jedoch generell im japanischen Stil gehalten und bot eine feine Auswahl an süßen Desserts an, die das Angebot perfekt abrundeten.
Vielleicht war dieses Zusammenspiel der Kulturen ja auch der Grund für den Zauber dieses Cafés. Angefangen vom Chef bis hin zu den Angestellten des Lokals waren alle in traditionelle japanische Arbeitsuniformen gehüllt, bei denen jedoch keine so aufdringliche Note irgendeiner erzwungenen »Japanizität« wie in sonstigen Touristenfallen mitschwang.
Das gesamte Ambiente war modern und die Angestellten offen und freundlich. Die Atmosphäre war durch und durch angenehm und entspannt. Ein Ort, an dem man einfach abschalten konnte.
Als sich Kazuhiko nach dem Eintreten vergewissert hatte, dass keine anderen Kunden anwesend waren, nahm er seinen Lieblingsplatz genau mittig an der Theke ein.
Gerade wollte er seine übliche Bestellung für den Caffé Americano aufgeben, da unterbrach auch schon eine wohlbekannte und beruhigende Stimme sein Vorhaben: »Dasselbe wie immer?«
Die Frage war von Mika gekommen, dem Besitzer des Cafés, der wie immer hinter der Theke stand. Kazuhiko nickte zustimmend.
Dass er beim Personal bereits bekannt war und ihm eine Stammbestellung zugestanden wurde, machte ihn unfassbar glücklich. Mika hatte irgendwann letzte Woche damit begonnen, ihm diese Frage zu stellen.
Von der Mitte der Theke aus beobachtete Kazuhiko, wie Mika gleich begann, im hinteren Bereich der Küche den Kaffee für ihn aufzubrühen.
Kinshichou war in Japan zwar für seine Nachtlokale bekannt, die häufig von skandinavischen Immigranten geführt wurden, doch von Lokalen, die von groß gewachsenen Schwarzen in japanischer Kleidung verwaltet wurden, war eher nicht die Rede. Dass dieser dann auch noch ausgerechnet ein Café leitete, war besonders außergewöhnlich.
Für Kazuhiko verkörperte der Schwarze Mann in japanischer Kleidung ja im Grunde das Zusammenspiel von Kaffee und japanischem Konfekt, auf das in diesem Lokal so viel Wert gelegt wurde.
Durch seine Brillengläser strahlten Mikas Augen Freundlichkeit und Reife aus. Und weil seine eher zierlichen und emsig arbeitenden Hände so im Kontrast zu seiner sonst stämmigen Statur standen, konnte Kazuhiko nicht anders, als das irgendwie aufregend zu finden.
»Schon tagsüber mal so durchatmen zu dürfen, ist aber wirklich was Schönes! Was machen Sie noch mal beruflich, Tokuda-san?«, fragte ihn eine der Angestellten plötzlich, die am Rande der Theke in einer Zeitschrift blätterte. Ihr Name war Mizuki Nakahara.
Während der Öffnungszeiten konnte man sie schon mal einhändig aus einer vollen Flasche Sake trinken sehen, doch heute war sie offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt. Sie war generell sehr freundlich und offen, aber mehr noch strahlte sie eine Art »Freiheit« aus. Da sie allerdings in Wirklichkeit häufig für die Verwaltungsangelegenheiten des Cafés einsprang, um Mika mit seinem schlechten Bein zu unterstützen, hatte sie wahrscheinlich mehr Autorität in diesem Etablissement, als man ihr aufgrund ihres Verhaltens zugesprochen hätte.
Gerade blätterte sie in einer Brautzeitschrift namens »Zexy«. Die Zeitschrift war sehr beliebt unter verträumten Frauen. Für Kazuhiko aber, der schon einmal geschieden war, war es eine verwünschte Publikation. Was Mizuki da in Händen hielt, brachte ausschließlich fürchterliche Erinnerungen in ihm hoch.
Wenn man eine Dame in so einer Zeitschrift schmökern sah, lag der Schluss nahe, dass es auch einen zukünftigen Bräutigam in deren Leben gab, doch Mizuki hatte ihren früheren Aussagen zufolge keinen Partner, mit dem sie sich liieren wollte. »Kein einziger Mann erkennt mehr eine gute Frau, wenn sie direkt vor ihm steht!«, hatte sie sich letztens noch beklagt. Kazuhiko war allerdings der Meinung, dass sie wahrscheinlich einfach zu hohe Standards hatte.
Und obwohl ihre altmodische Brille eine vielleicht etwas ungeschickte Wahl gewesen war, war Mizuki ohne Zweifel eine wunderschöne Frau. Sie war von üppiger Statur und hatte gesunde Kurven – allem voran musste man da ihre wohlgeformte Brust erwähnen.
Kazuhiko war sicher, dass sie eine geraume Auswahl an Verehrern haben könnte, wenn sie wollte. Und hätte er in der Vergangenheit nicht so schmerzliche Erfahrungen mit seiner eigenen zerbrochenen Ehe gemacht, wäre bestimmt auch er Mizuki äußerst enthusiastisch begegnet.
Er fand allerdings, es kam in der heutigen Zeit eher selten vor, dass Frauen noch von der Ehe träumten. Einmal hatte Kazuhiko hier seinen Vorbehalt dazu geäußert, weil er die Meinung einer Frau dazu hören wollte. Mit einem selbstsicheren Lächeln hatte ihm Mizuki damals geantwortet: »Aber eine Frau darf in der heutigen Zeit doch auch noch altmodisch sein, oder nicht?«
Anders als früher hatten sich die Wertvorstellungen in der nun sehr diversen Gesellschaft verändert. Die Heirat stand nicht mehr im Mittelpunkt des Lebensglücks einer jeden Frau. Da auch Kazuhiko immer öfter solch neueren Anschauungen ausgesetzt war, ertappte er sich bald dabei, wie er selbst diese veralteten und konservativen Vorstellungen ablehnte – bis er sich letztlich schämte, sobald er sich dessen bewusst geworden war, und dadurch merkte, wie veraltet seine eigenen Denkweisen eigentlich waren.
Er hatte nicht unbedingt vorgehabt, sich vor Mizuki zu loben, aber irgendwie wollte er dann doch einen Kommentar über seine Gedanken dazu abgeben und erklärte es ihr:
Er fand diese Zurückweisung von gesellschaftlichen Normen, die junge Frauen gegenwärtig immer häufiger an den Tag legten, wirklich beeindruckend. Er bewunderte ihre Lebenseinstellung – sie hatten eine wirklich »freie« Art zu leben gefunden.
»Hm? Ist irgendetwas, Tokuda-san? Ach so … Sie gehen wohl einer Arbeit nach, über die man lieber nicht spricht, was?«, schloss Mizuki an ihre vorherige Frage an.
Für Autoren, die berühmte Serien verfassten und in ihrem Portfolio auflisten konnten, war ihre Frage einfach zu beantworten. Doch für jemanden wie Kazuhiko, der keine bekannten Veröffentlichungen hatte und generell nur kurzlebige Werke publizierte, war es schwer, seinem Namen als Autor Gewicht zu verleihen.
Er hatte schon sehr oft erleben müssen, dass seine Gesprächspartner am Anfang solcher Konversationen zwar häufig noch faszinierte Fragen stellten, nach seinen ersten Antworten aber etwas verlegen wurden, bis letztendlich jegliche anfängliche Motivation ihrerseits abgeflaut war. Die Konsequenz war ein unbefriedigender Ausklang des Gesprächs für beide.
Nur heute hatte er vor, sich nicht damit zufriedenzugeben und mehr von sich mitzuteilen. Er wollte gerade anfangen zu sprechen, da wurde sein Gespräch mit Mizuki scharf von der Seite unterbrochen: »Lass das, Mizuki. Du hast ja gar kein Taktgefühl.«
Mizuki verstummte sofort. Doch es war nicht Mika gewesen, der den beiden ins Wort gefallen war – es war ein kleines Mädchen, das gerade vom hinteren Bereich der Theke zu ihnen kam und an einem Stück Kuchen nagte. Auf den ersten Blick schätzte Kazuhiko sie auf unter fünfzehn Jahre – bei genauerem Hinsehen ging sie aber sogar als unter Zehnjährige durch.
Ihr Name war Kurumi. Dem Lokalbesitzer zufolge hatte er Kurumi angeblich »für eine Weile unter seine Fittiche« genommen. Da Kazuhiko dieses Thema aber als äußerst sensibel einschätzte, erlaubte er sich nicht, weiter nachzubohren.
Er hatte sich schon öfter gefragt, ob sie skandinavischer Abstammung sei. Ihr Hautton war hell, sie hatte langes gewelltes, blondes Haar und strahlend blaue Augen. Wenn er ihr Gesicht näher betrachtete, vermutete er aber auch ein paar asiatische Gene. Ihr Japanisch war fließend, doch Kazuhiko hatte sie auch schon einmal völlig akzentfreies Englisch mit einem Touristen sprechen hören, der sich ins Café verirrt hatte. Sie war also zumindest zweisprachig. Kazuhiko fand aber ohnehin, dass so ein Mädchen, dessen Herkunft überhaupt nicht identifizierbar schien, perfekt in die Nachbarschaft von Kinshichou passte.
Es war nicht klar, ob Kurumi die Schule besuchte, aber sie hatte einen außergewöhnlich scharfen Verstand. Immer wieder mischte sie sich in die Gespräche der Erwachsenen ein, und obwohl sie eine teilweise kindlich simple Ausdrucksweise wie Mizuki hatte, sinnierte sie immer wieder über Wirtschaft und sonstige Themen, deren Komplexität die der für sie vermeintlich altersgerechten Konversationen weit überstieg. Kazuhiko konnte sich keinen Reim darauf machen, und Kurumi blieb für ihn ein einziges Rätsel.
Das Mädchen setzte sich an einen der Tische im erhöhten Tatami-Sitzbereich und fing an, ein Brettspiel vor sich aufzubauen. Kazuhiko vermutete, dass sie es für den Brettspielabend mit den bald eintreffenden Stammgästen vorbereitete.
Mika ging auf sie zu und neigte den Kopf leicht zu ihr hinunter.
»Für gewöhnlich veranstalten wir unseren Brettspielabend ja erst nach Ladenschluss, aber in letzter Zeit sind doch auch immer ein paar jüngere Gäste dabei. Sollten wir nicht auch mal daran denken, das tagsüber zu machen?«, fragte er sie.
»Ach was!«, entschlüpfte es Kazuhiko reflexartig. »Ich dachte immer, dass die jüngere Generation nur Videospiele bevorzugt. Zumindest ging es mir früher so.«
Kazuhiko sah, wie sich daraufhin auf Mikas Profil ein vielsagender Blick abzeichnete.
»Kinder sind heutzutage überall von digitalen Medien umgeben. Ich glaube, dass analoge Spiele genau deshalb so einen Reiz für sie haben. So kommen sie wieder mit anderen Menschen zusammen. Das sieht man ganz besonders bei Kurumi hier.«
Verstehe, dachte Kazuhiko. Analoge Spiele wurden also wieder populärer und gewannen an Wert zurück, gerade weil es digitale Medien im Überfluss gab. So hatte er das noch gar nicht gesehen.
»Wollen Sie auch dazukommen, Tokuda-san?«, fragte ihn Kurumi. »Einen weiteren Mitspieler kriegen wir noch rein.«
Kazuhiko aber hielt sich zurück. Er hatte generell nichts dagegen mitzuspielen, doch heute hatte er schon andere Pläne. Er war schließlich nicht nur ins LycoReco gekommen, um sich zu amüsieren.
»Ähem, Mika … Es gibt da etwas Wichtiges, das ich gerne mit Ihnen besprechen würde«, begann er, doch Mizuki fiel ihm sofort ins Wort: »Wie jetzt?! Kommt gleich ein Liebesgeständnis?!«
Dass sie ihn so direkt unterbrochen hatte, ließ Kazuhiko in Verlegenheit geraten. Selbst wenn er ein Liebesgeständnis hätte machen wollen, hätte er es doch nicht am helllichten Tag für jemanden geplant, der gerade auf der Arbeit ist und noch dazu von seinen Mitarbeitern umgeben war.
Mika tadelte Mizuki mit einem enttäuschten Blick und servierte Kazuhiko anschließend den Caffé Americano. Dieser nippte einmal an der Tasse und fand seine Fassung sogleich wieder.
»Also, es ist so …«, begann er erneut, doch dann ertönte wieder das Glöckchen, das an der Eingangstür angebracht war.
Kazuhiko dachte gerade noch, ein neuer Kunde würde hereinkommen, als auf einmal zwei Oberschülerinnen in ihren schwingenden Schuluniformen hereinspazierten. Er kannte die beiden als die Starkellnerinnen des Cafés, die als hübsche Kundenmagneten dienten.
»Alle Besorgungen erledigt, Chef«, sagte die Schwarzhaarige der beiden, noch während sie in den Personalbereich des Cafés verschwand. Ihr Name war Takina Inoue. Sie hatte einen aufrechten Gang und eine gefasste, ruhige Ausstrahlung – und hübsch war sie auch. Nicht auf so eine Art, dass man sofort von ihr verzaubert wurde, doch hatte man sie erst einmal ins Auge gefasst, konnte man den Blick nicht mehr von ihr lösen. Sie hatte einen ganz eigentümlichen Charme.
»Ach, sieh einer an! Willkommen zurück, Toku-san! Worum geht’s denn gerade? Oh, haben wir euch etwa unterbrochen?!«, sagte die andere Kellnerin namens Chisato Nishikigi, die hinter Takina hereintänzelte. Sie hatte blondes Haar mit wunderschönem Rotschimmer und trug dazu eine attraktive rote Schleife, mit der sie ihre Haare auf der linken Seite zusammengebunden hatte.
Chisato lehnte sich sogleich mit ihren Armen gegen die Theke und musterte Mika und Kazuhiko abwechselnd. Mizuki kam auch zu den dreien und bellte laut: »Tokuda-san will Mika gerade ein Liebesgeständnis machen!«
»Nicht im Ernst?! Ich dachte ja schon, dass du leidenschaftlich bist, aber … wow! Du weißt wie immer zu überraschen, Sensei!«, kam von Chisato an Mika mit einem Ton, der fast so vertraut klang, als würde eine Tante mit ihrem Neffen sprechen. Sie gesellte sich direkt neben Kazuhiko und schlug fordernd mit der Hand auf die Theke vor ihr.
Chisato erinnerte an einen Welpen, wie sie mit ihrer schnellen Art immer ganz geschäftig und ohne Umschweife einfach auf jeden zuging. Dabei versäumte sie es nie, neugierige Fragen zu stellen und in den Angelegenheiten anderer herumzuschnüffeln. Im Gegensatz zu Takina gab es niemanden, der so viel Aufmerksamkeit auf sich zog wie sie.
Kazuhiko kam jedoch nicht um den wiederkehrenden Gedanken herum, dass er in seiner Jugend sicher eine Menge Spaß mit jemandem wie Chisato in seinem Umfeld gehabt hätte.
»Beherrsch dich, Chisato. Ich glaube nicht, dass es hier um so etwas geht«, fügte Mika tadelnd an, woraufhin Chisato sichtlich enttäuscht war.
Im selben Moment fiel Kazuhiko das erste Mal auf, dass nur Chisato Mika mit »Sensei« ansprach. Was wohl der Grund dafür war?
»Ach, na gut. Worum gehtʼs dann? Etwa um … einen Auftrag?«
»Du hast es erfasst«, wandte Kazuhiko ein. »Es geht um einen Auftrag.«
Ein etwas gequältes Lächeln verirrte sich auf seine Lippen, da er nicht erwartet hatte, von Chisato direkt durchschaut zu werden. Woher sie es wohl gewusst hatte? Wahrscheinlich konnte sie einfach gut zwischen den Zeilen lesen.
»Ist es dringend? Ah, Takina, warte noch mit dem Umziehen! Stop – come back, baby!«, rief Chisato zu Takina hinüber, die gerade schon auf dem Weg in den Personalbereich des Cafés gewesen war. Sie hielt sofort an und warf Chisato einen finsteren Blick zurück.
»Ich habe es schon beim ersten Mal verstanden. Es geht um einen Auftrag«, gab sie scharf zurück.
Plötzlich waren alle Blicke im Café auf Kazuhiko gerichtet. Sogar Kurumi hatte ihre Brettspielvorbereitungen unterbrochen und beobachtete die Szene aufmerksam.
Eine eigentümliche und angespannte Stille breitete sich über den Anwesenden aus, die Kazuhiko so gar nicht vom Ambiente des Cafés kannte.
»Lassen Sie uns die Details hören«, forderte Mika Kazuhiko auf. Nervös öffnete dieser seinen Mund und begann zu sprechen: »Es ist so … Ich möchte Ihr Café gerne in unserem Magazin vorstellen und eine Reportage darüber schreiben.«
Für einen Moment war es totenstill. Dann wandten sich alle Bediensteten mit einem Mal ab und prusteten los.
»Wie, was, wo? Darum gehtʼs also? Ich kann nicht mehr! Das haben Sie aber spannend gemacht«, kam von Chisato, die Kazuhiko lachend an den Schultern rüttelte. Takina verschwand indes im hinteren Bereich des Cafés und auch Kurumi nahm ihre Brettspielvorbereitungen wieder auf.
»Äh … Was ist denn? Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Kazuhiko verdutzt. Er hatte keine Ahnung, was diese eigenartige Reaktion zuvor ausgelöst haben könnte.
Das gesamte Café hatte sich auf einmal wie ein völlig anderer Ort angefühlt, als ob hier ganz andere »Aufträge« angenommen werden würden. Aber das war doch eine abstruse Vorstellung.
»Tokuda-san, sind Sie etwa ein Verleger? Deshalb Ihre Anfrage, was? Ah ja, jetzt versteh ich endlich! Ja, so sehen Sie auch aus!«, kam dann von Mizuki, die ihre Zexy zuklappte. Sie musterte Kazuhiko ausgiebig, während sie das sagte.
»Ah, nein, ich bin nur ein bescheidener freiberuflicher Zeitschriftenautor, und ich hatte meinen Kollegen bei der Redaktion den Vorschlag gemacht, eine Sonderausgabe über Cafés herauszubringen. Deshalb bin ich hergekommen und wollte mit Ihnen sprechen.«
»Also sind Sie kein Angestellter in einer großen Verlagsfirma?«, fragte Mizuki mit leicht enttäuschter Miene.
»Nein, bin ich nicht …«
Sie wandte sich ab, um in ihrer Zexy weiterzulesen. Kazuhiko hatte ja schon viel erleben müssen, aber dass ihm jemand sein Desinteresse so unmissverständlich bekundete, war sogar für ihn neu.
Wäre er ein Angestellter bei einem großen Verlag gewesen, hätte er sich mit seinem Gehalt bereits in seinen 40ern ein eigenes Heim in Tokyo leisten können. Für einen freiberuflichen Zeitschriftenautor wie ihn blieb so ein Traum jedoch nur Schaum.
»Na also, sagen Sie mal, Toku-san, wie haben Sie sich diese Sonderausgabe des Magazins denn so vorgestellt?«, fragte ihn Chisato gespannt. Sie schien die Einzige geblieben zu sein, die überhaupt noch Interesse an seiner Unterbreitung hatte.
»Es soll eine Sonderausgabe über Cafés in Kinshichou werden, und ich möchte die Vorstellung dieses Cafés hier gerne als zentrales Element dabei in Szene setzen.«
»Ach was! Das ist doch genial! Sie meinen sicher wegen unseres leckeren Kaffees und der japanischen Leckereien und natürlich wegen der süßen Kellnerinnen hier, oder?! Na klar! Ist ja auch das Beste vom Besten! Da werden uns die Kunden das Haus einrennen!«, sprudelte es aus Chisato heraus, die ihr Grinsen gar nicht mehr zügeln konnte. Kazuhiko kam sich vor wie eine Sonnenblume im Sommer, die gerade so richtig aufgeblüht war und nur so vor Lebenslust sprühte. Das war eindeutig etwas, das Chisato konnte – so aufzuleben, dass sie sogar alle anderen Menschen in ihrem Umkreis mit einem Lächeln ansteckte.
Eigentlich hatte Kazuhiko eher daran gedacht, seine Vorstellung des Cafés mit Mika im Mittelpunkt zu gestalten und eine elegante und geschmackvolle Ausgabe herauszubringen. Doch was Chisato da gerade vorgeschlagen hatte, war ebenfalls keine üble Idee. Die hübschen Kellnerinnen konnten als Aufhänger für die Leser genauso funktionieren.
»Das ist doch super, Sensei!«, wandte sich Chisato erst an Mika und dann zu Kazuhiko. »Und was ist mit Fotos? Es kommt doch sicher ein Fotograf, oder?«
»Sobald ich die Erlaubnis bekomme, werde ich den für einen Tag organisieren, an dem alle Zeit haben.«
»Oje, ich mache lieber direkt einen Termin beim Friseur!«
»Also, was sagen Sie? Geben Sie Ihre Erlaubnis?«, fragte Kazuhiko direkter.
»Natürlich haben Sie d…«, kam schon von Chisato, doch Mika unterbrach das freudige Planen abrupt: »Ich fürchte, ich muss leider ablehnen.«
Chisato und Kazuhiko verstummten abrupt.
»Du weißt doch, dass wir das nicht dürfen, Chisato. Was würde passieren, wenn wir auf einmal Werbung machen?«, meldete sich nun auch Kurumi zu Wort, die ihren Blick weiterhin auf das Brettspiel vor ihr richtete.
Chisato stürmte zu ihr in den Tatami-Sitzbereich hinüber und wandte ein: »A-aber! Es wäre doch wundervoll, wenn das Café bekannter werden könnte! Das wäre nicht nur super fürs Geschäft, sondern würde mich wirklich glücklich machen! Und vielleicht angeln wir uns damit sogar Fans aus dem ganzen Land! Das wäre die Chance, oder nicht? Komm schon, Ku-ru-mi!«
»Genau deshalb geht es nicht, das weißt du. Unsere Arbeit würde darunter leiden.«
»Es tut mir sehr leid«, meldete sich Mika wieder mit einem bescheidenen Lächeln zu Wort. »Wir freuen uns sehr, dass Sie so über unser Café denken, doch wir haben strenge Regelungen, was unsere Medienpräsenz angeht.«
»A-aber … Sie sind doch auch in den sozialen Medien aktiv, oder irre ich mich? Das Café ist doch keineswegs ein Geheimnis, oder?«, fragte Kazuhiko verdutzt.
»Das ist eher für … sagen wir … unsere Stammgäste gedacht. Und die Accounts gibt es nur, weil dieses Mädchen hier das so wollte«, sagte Mika und warf einen vielsagenden Blick auf Chisato in der Tatami-Ecke, wo sie gerade feurig auf Kurumi einredete und sie von der öffentlichen Vorstellung des Cafés im Magazin überzeugen wollte.
»Ich … verstehe. Das ist wirklich bedauerlich. Sie haben ein wundervolles Café.«
»Es freut mich sehr, dass Sie das so sehen«, lächelte Mika sanft, bevor er fortfuhr: »Aber damit das so bleibt, müssen wir uns leider bedeckt halten und dürfen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
»Na ja, den wichtigsten Grund hast du ihm aber nicht gesagt.« Mizuki mischte sich ein, ohne den Blick von ihrer Brautzeitschrift abzuwenden. Kazuhiko sah fragend zu Mika hinüber und erwartete eine Erklärung, die jedoch ausblieb. Mika tat so, als hätte er Mizuki nicht gehört, und machte sich wortlos an seine Arbeiten in der Küche.
Für Kazuhiko wirkte es fast, als gäbe es hier ein unausgesprochenes Geheimnis, von dem niemand erfahren durfte. Etwas, das nie an die Öffentlichkeit gelangen durfte …
Doch er befand sich hier ja nicht in irgendeinem Manga. Er tat es als substanzlose Paranoia ab und schüttelte seine Zweifel mit einem Kopfkratzen ab, während er seine Tasse Kaffee zum Mund führte.
Das Aroma des Kaffees war perfekt abgerundet. Ein leichter Caffé Americano, der aber nicht wegen der Streckung mit gekochtem Wasser dünn geworden war, sondern seine wundervoll runde Note durch die schonend gerösteten Kaffeebohnen erhalten hatte.
Für Kazuhiko war es, als würde ihm gerade jeder kleine Schluck des Heißgetränks Trost spenden. Als würde ihm der Kaffee mit seiner Unbeschwertheit »Nimm es locker« sagen.
Plötzlich drang ihm noch ein weiterer wundervoller Duft in die Nase, der ihm jede weitere Last von den Schultern zu nehmen schien. Er vernahm zusätzlich ein leises Knistern, als ob irgendetwas fast wie Popcorn aufspringen würde. Als er aufblickte, um herauszufinden, woher die Geräusche kamen, sah er, wie Mika gerade etwas über einem Gitter in der Küche röstete.
Gerade als sich Kazuhiko noch fragte, womit Mika da hantierte, hatte jener schon flink süße Anko-Bohnenpaste zwischen die angerösteten mysteriösen Scheiben geschmiert und alles auf einem Teller angerichtet, den er sogleich vor Kazuhiko stellte.
Das Ergebnis waren zwei angeröstete, mit süßer Bohnenpaste gefüllte Waffeln, die er Monaka nannte. Eine delikate Entschuldigung seitens Mikas an seinen Gast.
»Da wir Ihren Vorschlag ablehnen mussten, werden Sie wahrscheinlich nicht mehr hierherkommen, nicht wahr?«, fragte er.
»Aber was reden Sie denn da«, wandte Kazuhiko ein. »Ich wollte doch nur die ganze Welt von diesem Café hier wissen lassen, weil ich es hier so wundervoll finde. Deshalb würde ich sehr gerne auch weiterhin hierherkommen, wenn Sie gestatten.«
»Das ist aber eine erfreuliche Nachricht«, antwortete Mika mit einem Lächeln. Als Kazuhiko den stämmigen Mann so ansah, fühlte er sich wieder in seine Jugendzeit zurückversetzt. Es war ihm, als wäre er wieder jung und ein Erwachsener hätte ihn gerade für etwas gelobt. Er hatte ein echtes Erfolgserlebnis. Gerade so, als hätte man ihm gesagt, dass er immer willkommen sei.
Klingeling – ertönte wieder das Glöckchen an der Tür, und ein neuer Besucher kam herein.
Während Mika und die anderen ihre Blicke sofort in Richtung der Eingangstür richteten, streckte Kazuhiko erst einmal seine Hand nach einer der für ihn zubereiteten Monaka-Waffeln aus.
Das Monaka war wie ein Röllchen geformt, die Außenhülle noch ganz heiß und goldbraun gebacken. Hier und da waren durch die direkte Flammeneinwirkung beim Rösten auch dunkelbraune Stellen entstanden. Ein Zeichen dafür, dass es selbst gemacht war.
Als Kazuhiko die Süßspeise zum Munde führte und zum Abbeißen ansetzte, fühlte er sich fast wie die Bösewichte aus alten Mafiafilmen, die ganz stereotypisch eine Zigarre zwischen den Zähnen hielten.
Die Monaka-Waffeln hier hatten eine wirklich interessante Form, die man sonst nicht so oft sah. Auf den ersten Blick vermutete man einfach eine Art schicke Neuinterpretation des traditionellen Konfekts, aber nach dem ersten Bissen war einem sofort klar, dass die Röllchenform eine spezielle Funktion erfüllte.
Bei gewöhnlichen Monaka blieben einem beim Abbeißen normalerweise immer einige Stücke der zerbrochenen Außenhülle um die Mundwinkel kleben. Wenn man dies aber zu unterbinden versuchte und man sich langsam mit kleinen Bissen an die Außenhülle heranwagte, war beim Geschmackserlebnis aber kein Gleichgewicht mehr zwischen der Hülle und der süßen Fülle darin vorhanden – ganz zu schweigen davon, dass es einfach eine mühselige Prozedur war.
Doch bei diesen Röllchen war das anders. Kazuhiko war sich sicher, dass diese Idee von einer Frau gekommen war. Seiner Eingebung nach war entweder Mizuki, Chisato oder Takina dafür verantwortlich gewesen. Nur Kurumi traute er die Idee nicht unbedingt zu. Aber weil sich das Café außerdem in Kinshichou befand, hätte es auch leicht sein können, dass einer der anderen Cafébesucher aus einem der umliegenden Nachtklubs diese speziellen Waffeln hier vorgeschlagen hatte.
Doch egal, von wem die Idee ursprünglich stammte, sie zeigte Wirkung.
Genau solche raffinierten Details waren es, die einen sogar noch während des Verspeisens Vorfreude auf jeden Bissen verspüren ließen.
Und mit genau so einer Vorfreude führte Kazuhiko die Monaka-Waffel zum Mund, wie man sie nur hat, wenn man die Verpackung eines Geschenks öffnet.
Knusper, kracks.
Bei jedem neuen Bissen stieg Kazuhiko ein unbeschreibliches Aroma in die Nase. Das Geschenk des Feuers machte sich bemerkbar, das sich dank des Röstens über der Flamme auf die Waffel übertragen hatte.
Dann war da noch die intensive Wärme, die auf den Lippen und der Zunge zu spüren war und sich beim gründlicheren Kauen zu einer kühlen Masse wandelte und sich im ganzen Mund ausbreitete. Es war ein wunderbares Zusammenspiel zwischen der warmen, knusprigen Waffel-Außenhülle und der kalt gestellten süßen Bohnenpaste als Füllung.
In diesem Konfekt waren durch die zwei Temperaturen im Kontrast zwei völlig neue Geschmackserlebnisse entstanden. Und da das Mus aus der Azuki-Bohne in Form von Tsubuan hergestellt war, schmeckte man ab und an auch die weichen, ganzen Bohnen heraus.
Während des Kauens wurden all diese anfänglichen Texturen durcheinandergemischt und ergaben ein einzigartiges Geschmackserlebnis aus abgestimmten Temperaturen und Konsistenzen, in dem sich langsam eine süße Note entfaltete.
»Oh? Hahaha!«, entwich Kazuhiko ganz reflexartig ein Lachen.
Der Duft, die Temperatur, die Konsistenz – mit nur einem Bissen vereinten sich all diese Sinneseindrücke. Doch allem voran blieb der Geschmack. Die Monaka-Waffel war einfach köstlich.
Das Verspeisen selbst war eine einzige Freude und dann schmeckte es auch noch.
Alles in diesem Café hatte eine feine Extranote, war mit größter Sorgfalt zubereitet und durchdacht.
Einfach wundervoll, dachte Kazuhiko. Die gesamte Aufmachung dieses Lokals, das Personal und dann noch das Angebot an Getränken und Desserts – alles war fantastisch. Dass er nicht der sein würde, der dieses Café der Welt vorstellen dürfte, betrübte ihn zutiefst.
Doch obwohl ihm sein Wunsch nicht gewährt wurde, konnte er nicht anders, als zu lächeln.
Ob das wohl an der Magie der süßen Leckereien lag? Oder an der Monaka-Waffel selbst? Wahrscheinlich war der Grund nicht von Belang. Kazuhiko genoss dieses Gefühl einfach.
Er nahm einen Schluck seines Kaffees und stellte fest, dass auch dieser eine unerwartet perfekte Ergänzung zum japanischen Konfekt bildete.
Kapitel 1: »Süßes für die, deren Leben kürzer wird«
Klingeling.
Gleich als der eintretende Mann – Yoshiharu Doi – den Fuß in die Tür setzte, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er einen Fehler gemacht hatte, sodass er beinahe unverblümt mit der Zunge geschnalzt hätte.
Obwohl er schon viele Jahre in Kinshichou gearbeitet hatte, hatte er noch nie etwas von dem kleinen Café gehört, das sich im dicht bewohnten Stadtteil verborgen hielt. Aber als er eintrat, war ihm bewusst geworden, dass er hier als über Fünfzigjähriger und auch noch allein wahrscheinlich nicht hingehörte.
Zwischen der modern aufgemachten Inneneinrichtung wuselten überall junge Frauen und Kinder herum. In einem Tatami-Sitzbereich sah Yoshiharu ein Mädchen sitzen, das sich gerade emsig mit einem Brettspiel auseinandersetzte. Er konnte jedoch nicht sagen, ob sie eine Kundin oder doch vielleicht die Tochter des Besitzers war. Neben ihr fläzte sich ein weiteres Mädchen in der Uniform irgendeiner Oberschule.
Das einzige Personal, das er ausmachen konnte, war eine Frau in den späten Zwanzigern, die aber auch aussah, als wäre sie gerade aus einem Hostess-Club oder Ähnlichem gekommen. Und dann war da noch ein Schwarzer Mann in der Küche hinter der Theke, der der Einzige war, dem Yoshiharu zutraute, eventuell der Lokalbesitzer zu sein.
Außer ihnen war nur noch eine Person anwesend: ein junger Kerl, der an der Theke saß und genüsslich eine Monaka-Waffel verspeiste.
Es war jedenfalls kein Ort, an dem sich jemand wie Yoshiharu entspannen könnte. Offenbar gab es nicht mal einen Raucherbereich. So ein Lokal war es eben nicht. Er war sicher, dass dieses Café eher auf Kundschaft abzielte, die im Internet aktiv war und besonders gerne Bilder in den Sozialen Medien postete.
Um das auch noch zu veranschaulichen, war der Besitzer des Cafés in einen Ganzkörperkimono gehüllt, während die einzige Kellnerin ihren Kimono eher lose trug und die traditionelle Etikette nicht so genau zu nehmen schien. Jedenfalls machte ihr Aufzug einen recht schmuddeligen Eindruck, was Yoshiharus Einschätzung noch einmal untermauerte, dass er hier in einem waschechten Themencafé gelandet war.
Yoshiharu entwich ein leiser Seufzer, der so leise war, dass er in seinem Mund gleich wieder verstummte, damit die Angestellten nichts davon bemerkten.
Und jetzt? Yoshiharu wollte am liebsten gleich wieder gehen, aber das gehörte sich nicht. Sollte er davor vielleicht noch einen Tee bestellen und davon trinken?
Erneut ließ er seinen Blick durch das ganze Café wandern, um einen geeigneten Sitzplatz zu finden. Da war die Theke, der etwas erhöhte Tatami-Sitzbereich, und es schien außerdem noch Tische im oberen Zwischengeschoss zu geben. Da im Tatami-Sitzbereich schon das kleine Mädchen saß und es ihm zu anstrengend war, extra zu den freien Stühlen im Zwischengeschoss die Treppe hochzugehen, entschied er sich letztlich für einen Sitzplatz an der Theke. Das war am wenigsten Aufwand für ihn.
Yoshiharu setzte sich an den Platz, der am weitesten von dem der schmuddeligen Kellnerin entfernt war. Sie hatte immerhin nicht einmal Anstalten gemacht, für einen gerade eingetroffenen Kunden aufzustehen.
»Sie sind das erste Mal hier, hab ich recht? Werfen Sie einen Blick in die Karte und … Mizuki, an die Arbeit!«, mahnte der Besitzer mit einer strengen Stimme. Die Frau namens Mizuki erhob sich daraufhin von ihrem Platz und ließ ein verdrossenes »Ich mach ja schon« verlauten.
»Ich hab’s schon im Griff, Chef«, hörte Yoshiharu dann eine weitere Person aus dem hinteren Bereich des Cafés sagen. Ein Mädchen in blauem Kimono und mit langen schwarzen Haaren, die zu je zwei Zöpfen links und rechts zusammengebunden waren, erschien. Sie wirkte wie eine Oberschülerin. Auch ihr Kimono war im Vergleich zu dem von Mizuki straff gebunden. Sie sah wirklich hübsch aus, wenn sie so aufrecht ging, doch übermäßig viel Charme versprühte sie nicht. Genau deshalb fand Yoshiharu aber, dass sie eine gewisse Eleganz ausstrahlte. Er war sicher, dass sie in weiteren zehn Jahren zu einer wahren Schönheit heranreifen würde. Im Moment war sie jedoch einfach nur ein Kind.
Das Mädchen brachte eilig die Karte. Yoshiharu überflog sie einmal und war erstaunt über das, was er da las. Was ist das denn für ein Laden?
Es gab eine Auswahl an Desserts wie Parfaits und anderen Süßspeisen, obwohl man sich anscheinend auf japanisches Konfekt spezialisiert hatte. Das war ja in Ordnung. Die Getränkeauswahl war das Problem.
Natürlich waren da ein paar Teesorten verzeichnet, da sie ja so viele japanische Süßspeisen im Angebot hatten, aber grundsätzlich schien sich hier alles um Kaffee zu drehen. Eine Mischung aus japanischem und westlichem Café also – und eine grauenvolle noch dazu.
Für gewöhnlich wurde selbst in Cafés mit japanischer Aufmachung – das Interieur, die Teller und die Tassen miteingeschlossen – Kuchen zum Kaffee serviert.
In Yoshiharus momentaner Situation war das Angebot aber gar nicht so übel. Da er fand, dass es sich bei einer Teebestellung gehörte, auch ein Konfekt dazu zu bestellen, hätte er mehr Umstände damit gehabt als bei einer einfachen Kaffeebestellung.
»Hmm … Dann nehme ich den Blend, bitte«, ließ Yoshiharu verlauten.
Das Mädchen nahm die Bestellung auf. »Sehr gern. Möchten Sie noch etwas zu essen dazubestellen?«
»Nein, das war alles.«
»Kommt sofort«, antwortete die schwarzhaarige Kellnerin mit klarer Stimme, die ihrem tadellosen Aussehen in nichts nachstand.
Yoshiharu überkam der Gedanke, dass er sie sicher angesprochen hätte, wäre sie doch nur ein bisschen eher geboren worden und er ein wenig jünger gewesen.
Als sie im hinteren Bereich verschwand, klingelte das Glöckchen an der Eingangstür erneut, um einen neuen Gast einzulassen. Zu Yoshiharus Überraschung erschien ein Mann mittleren Alters in der Tür, der sogar so grimmig wirkte, dass er ihn als einen der Kerle einschätzte, die ihre Zeit normalerweise beim Südausgang des Kinshichou-Bahnhofs verbrachten. Er sprach mit dem anwesenden Personal so, als würde er es kennen. Sogar das Mädchen im Tatami-Sitzbereich nannte er liebevoll »Kurumi-chan« und gesellte sich sogleich zu ihr an den Tisch mit dem aufgebauten Brettspiel. Der ist wohl öfter hier, dachte sich Yoshiharu.
Gleich darauf kamen noch eine geraume Anzahl weiterer Erwachsener durch die Tür, die Yoshiharu hier nicht erwartet hätte. Darunter ein Mann, der deutlich älter war als Yoshiharu selbst, eine Hausfrau mit ihrem Baby im Arm, eine eigenartig erschöpft wirkende Dame mittleren Alters mit einem Tablet und eine Mittelschülerin in Matrosenuniform ihrer Mädchenschule, welche man in dieser Gegend nicht oft zu Gesicht bekam – Leute allen Alters und verschiedenster Lebenswege fanden sich nach und nach beim Tisch ein, auf dem Kurumi das Spiel vorbereitet hatte. Und sie alle sahen aus, als wären sie nicht zum ersten Mal hier.
»Hier, Ihr Blend«, unterbrach der Ladenbesitzer Yoshiharus Gedanken und schob eine Tasse mit heißem Kaffee über die Theke zu seinem Platz. »Mittlerweile ist es hier ja um einiges lebendiger geworden – ich entschuldige mich im Voraus für den Lärm.«
»Aber nein, das ist in Ordnung. Ich hatte mir das Café hier nur ganz anders vorgestellt.«
»So ist es mir auch gegangen!«, ließ der Mann neben ihm mit einem Kichern an der Theke verlauten, der indes mit dem Verspeisen seiner Monaka-Waffel fertig geworden war. »Erst habe ich gedacht, dass ich ein schickes Lokal entdeckt hätte, das einfach sehr versteckt gelegen ist. Aber als ich es dann betreten hatte, merkte ich, wie aufgeweckt und freundlich hier alle sind und wie bunt es hier ist – im besten Sinne des Wortes.«
Während ihres kurzen Gesprächs waren bereits viele weitere Gäste aller Generationen zur Tür hereingekommen und hatten sich einen Platz gesucht. Darunter Pärchen oder andere Gäste, die wie Yoshiharu allein hier waren, um ihren Kaffee zu trinken und wie in früheren Zeiten in Pferderennzeitschriften zu blättern, und sogar jüngere Erwachsene, die eifrig Fotos von den Desserts mit ihren Handys schossen.
Dass es hier bis vor einem Moment noch so leer gewesen war, musste ein Zufall gewesen sein, wie sich Yoshiharu nun dachte.
Sogar die Schülerin, die ebenfalls in der Tatami-Sitzecke Platz genommen hatte, schien eine der Kellnerinnen zu sein. Sie war mit einem Mal aufgesprungen und hatte ihre Schuluniform blitzschnell gegen ihren Kimono getauscht, in dem sie nun zwischen den Gästen im Café herumwuselte und Bestellungen aufnahm.
Langsam fand auch Yoshiharu, dass das Café, in das er zufällig einen Fuß gesetzt hatte, sogar für Leute wie ihn etwas bereithielt. Er verstand nun, was der Monaka-Waffel verspeisende Mann vorhin gemeint hatte. Der war allerdings schon wieder weg gewesen, bevor es so voll geworden war.
Egal, wer man war – sobald man in dieses Café kam, war man willkommen und fand seinen Platz.
Frauen und Männer allen Alters tranken hier genüsslich ihren Kaffee, schmatzten munter beim Verspeisen der Desserts oder vergnügten sich beim Brettspiel im Tatami-Sitzbereich, während die Kellnerinnen alle fleißig bedienten.
Und obwohl jeder etwas anderes machte, fand man überall lächelnde Gesichter, wohin man auch sah. Es war eine durch und durch fröhliche Atmosphäre.
Yoshiharu war wie geblendet von der Freude um ihn herum, von dem Café und den anderen Gästen, auf die er bis vor Kurzem wahrscheinlich noch herabgesehen hätte.
Doch was war mit ihm? Er schaute in den Rest Kaffee in seiner Tasse und betrachtete die Reflexion seines Gesichts darin. Früher hatten ihm die Leute noch gesagt, er sähe ein bisschen wie der berühmte Schriftsteller Ryuunosuke Akutagawa aus. Nun waren seine klaren Gesichtskonturen verblasst und er hatte ein wenig Speck angesetzt. Ähnlich sah er ihm jedenfalls nicht mehr.
Daran war jedoch nicht nur das Gewicht schuld. Er hatte jetzt schon fast zwanzig Jahre länger als Akutagawa gelebt, was mit Sicherheit auch dafür verantwortlich war, dass seine Ähnlichkeit zu ihm in immer weitere Ferne gerückt war.
Yoshiharu wurde alt. Er sah außerdem älter aus, als er war. Heute war das um einiges deutlicher sichtbar als vor drei Jahren, als er noch gearbeitet hatte. Doch seither waren eben drei Jahre vergangen, und die hatten ihre Spuren hinterlassen.
Er war müde geworden. Und das fand er wirklich eigenartig. Obwohl er keine großen Unternehmungen machte, fühlte er sich von Tag zu Tag älter.
Und wurde man von so dunklen Gedanken eingenommen, war es natürlich schwer, so ausgelassen zu lächeln wie die anderen. Was sich dann wiederum wohl auch in seinem Aussehen widerspiegelte.
Ganz zu Beginn seiner Frühpension hatte er anfangs noch der vielen Zeit, die er nun endlich haben würde, freudig entgegengesehen. Doch dann war alles ganz anders gekommen. Ehe er sich’s versehen hatte, waren die ausgiebigen Spaziergänge ins ziellose Herumstreifen ausgeartet, und die Filme und TV-Serien, die er unbedingt hatte sehen wollen, waren zum sinnlosen Zeitvertreib geworden. Damit er seine Tage so schnell wie möglich hinter sich bringen konnte, frönte er täglich dem Alkohol. Dafür fühlte sich dann jede Nacht wie die Ewigkeit an.
Als er noch jung war und im Arbeitsleben steckte, hatte er sicher auch noch so gestrahlt wie diese Leute hier. Er wusste natürlich nicht, ob das stimmte, aber zumindest glaubte er, damals auch noch so etwas wie sie gehabt zu haben. Etwas, das seinen Enthusiasmus entfachte und ihm ein Lächeln bescherte.
Doch wissen konnte er das nicht und er erinnerte sich auch nicht. Vielleicht war es für ihn so gewesen, vielleicht aber auch nicht.
Er wusste nur, dass er in seiner verbleibenden Zeit auf dieser Welt niemals wieder so strahlen würde wie all die Leute hier.
1
Chisato rannte, wie von der Tarantel gestochen.
Im heutigen Japan gab es für Jungspunde wie sie eigentlich keine besonderen Gründe mehr, so durch die Straßen zu hetzen. Außer natürlich … man war zu spät dran.
Und dass sie überhaupt in so eine unglückliche Situation gekommen war, hatte zahlreiche Gründe.
Da war zum Beispiel, dass sich ihr Pony einfach nicht so hatte legen wollen, wie sie es vorgesehen hatte, oder auch, dass sie in ihrem Chaos von Unterwäsche einfach nicht rechtzeitig das richtige Höschen gefunden hatte. Außerdem musste sie letztendlich statt ihrem Morgentoast eine Makrele grillen, weil ihr ein Gast aus dem Café ziemlich leckeren Reis aus Niigata mitgebracht hatte. Eventuell lag es auch daran, dass die Blu-ray des von ihr heiß ersehnten albernen Hollywood-Actionstreifens Dynamite Police 2 – eine Filmfortsetzung, auf die sie fünfzehn Jahre gewartet hatte! – endlich geliefert worden war und sie sie sofort hatte schauen müssen. Inklusive des ersten Teils der Filmreihe, weil sie ihn nach dem zweiten unbedingt hatte sehen wollen.
Welche Gründe von all diesen nun wirklich unmittelbaren Einfluss auf ihre Verspätung genommen hatten, wusste Chisato nicht. Sie war aber zumindest davon überzeugt, dass es ein unvermeidbares, ja gar unüberbrückbares Unglück war, das durch die Überlappung vieler verschiedener Ereignisse entstanden war und mit dem sie sich nun eben herumschlagen musste.
Sie rannte und rannte, bis sie endlich die Umrisse des Cafés LycoReco erkennen konnte, das absichtlich an einem eher unscheinbaren Ort im Wohnviertel errichtet worden war.
Ihr über alles geliebter Arbeitsplatz. Als sie endlich vor der Eingangstür ankam, schritt sie ohne zu zögern hindurch und meldete sich zum Dienst: »Hallihallo, alle zusammen! Eure lang erwartete Chisato ist hier!«
»Lang gewartet haben wir wirklich!«, plärrte ihr eine verärgerte Stimme entgegen.
Weder Applaus noch laute Jubelrufe, vor Freude in die Höhe geworfene Sitzkissen und Blumensträuße oder Konfetti empfingen sie, aber natürlich hatte Chisato ja auch gar nicht so viel erwartet. Na gut, ein bisschen Freude über ihr Erscheinen statt des unerwarteten Gemaules, das sie da gerade von Mizuki hatte vernehmen müssen, hatte sie sich schon erhofft. Ihre Kollegin war gerade eifrig dabei, mit Tellern in den Händen die Kundschaft im Café zu bedienen.
Nanu? Chisato sah sich im Café noch einmal gründlich um. Wie durch Zauberhand waren alle Plätze belegt, sie hatten ein volles Haus. Und zwischen den ganzen Gästen wuselten Mizuki, Takina und heute sogar Kurumi herum wie Honigbienen um die Blumen.
Allerdings hatte es sich Mizuki nicht nehmen lassen, trotz aller Geschäftigkeit ihren Ärger gegenüber Chisato und ihrer Verspätung auszudrücken. Auch Takina würdigte sie nur eines eiskalten Blickes. Kurumi fixierte Chisato dafür mit einem schon fast flehenden Ausdruck in den Augen.
»Ahahaha … Sorryyy«, entschuldigte sich Chisato verlegen bei ihren Kolleginnen.
»Chisato, zieh dich sofort um«, bemerkte Mika streng, als er gerade Kaffee an der Theke anrichtete und ihr dabei nicht mal einen flüchtigen Blick schenkte.
Normalerweise ermahnte er sie in so einer Situation, die Hintertür zu benutzen – doch bei dem heutigen Kundenaufkommen hatte er wohl nicht mal für so eine Bemerkung Zeit gehabt.
Mit einem unterwürfigen »Verstandeeen« nahm sie Mikas Tadel zur Kenntnis und begrüßte noch ein paar der Stammgäste, als sie auch schon in den Personalbereich des Cafés verschwand.
Unter diesen Stammgästen waren Leute aller Altersgruppen und der unterschiedlichsten Lebenswege: Da war zum Beispiel Kana, die noch in die Mittelschule ging und in ihrer Schuluniform gekommen war, oder auch Herr Gotou, der aussah, als ob er jeden Moment seine Rente antreten würde. Eine bunte Mischung. Chisato machte da allerdings nie einen Unterschied. Sie hieß wie immer jede Person mit dem gleichen Enthusiasmus und lauter Stimme willkommen.
Für Chisato war jeder Gast hier der beste überhaupt – unabhängig von Alter oder Persönlichkeit.
Auch Yoshiharu Doi, der mittlerweile öfter hierherkam und den Sitz am äußeren Rand der Theke als seinen Stammplatz auserkoren hatte, begrüßte sie freudig.
Wann immer sie ihn ansprach, hob er seinen sonst gesenkten Kopf und blickte grimmig zurück. Er sah Chisato immer nur kurz an und senkte seinen Kopf dann wieder zur Tasse vor sich. Wie er da immer so saß, sah er ein bisschen aus, als würde er sein Spiegelbild im Kaffee vor sich ganz genau betrachten.
In der Umkleide angekommen, hörte Chisato auf einmal durch den Trubel im Café ein lautes Scheppern, gefolgt von lautem Gelächter und Gequassel.
Ihrer Einschätzung nach war Kurumi wahrscheinlich ein Missgeschick mit einer der Tischdecken passiert.
»Hihihi«, kicherte Chisato. Sie stellte sich das ganze Durcheinander im Café in Gedanken vor und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
Als sie ihre rote Uniform ablegte – das Symbol einer First Lycoris – stieß plötzlich eine sehr verärgerte Takina zu ihr in die Umkleide. Ihr Arbeitskimono war völlig mit Kaffee durchtränkt.
»Ach! Dann ist dir wohl das Missgeschick passiert, Takina«, bemerkte Chisato überrascht.
»Nein. Kurumi ist fast gestolpert und ich bin schnell hin, um ihr zu helfen … da hat sie den Kaffee auf mich geschüttet«, erklärte Takina, während sie sich eifrig ihrer Arbeitsuniform entledigte und in ihren Ersatzkimono schlüpfte. »Ach ja, Chisato, hast du schon gesehen? Yoshiharu Doi ist wieder gekommen.«
»Er geht schon fast als neuer Stammgast durch! Das freut mich wirklich«, antwortete Chisato, nun bereits in ihren Arbeitskimono gehüllt, und warf Takina noch einen kurzen Blick zu. »Aber er schaut immer so böse und bestellt dann nur einen Blend. Ich frage mich, ob ihn irgendetwas bedrückt, über das er nicht reden will … Was das wohl sein könnte?«
»Mizuki meinte ja, er wäre so einer, der auf einen Schlag viel Geld gemacht hat und dann in den Ruhestand gegangen ist«, antwortete Takina.
Auch Chisato erinnerte sich daran, dass Mizuki ihm einmal einen neckischen Ellbogenstoß verpasst und gemeint hatte, er wäre ja auch nur wegen seines ganzen Geldes reizvoll. Aber er hatte sie nicht einmal eines Blickes gewürdigt.
»Vielleicht weiß er nur nicht, wofür er sein ganzes Vermögen ausgeben soll.«
»Wer weiß … Ich glaube, es ist irgendetwas anderes … Na ja«, nuschelte Takina, die nicht sehr überzeugt von Chisatos Idee schien. Sie blickte nachdenklich zu Boden.
»Hm? Was meinst du?«, drängte Chisato, während sie ihre Kimonoärmel hochband und den Kopf schieflegte. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Kollegin ihr gerade hatte sagen wollen.
»Hey, Chisato, Takina! Seid ihr immer noch nicht fertig?! Wir brauchen hier Verstärkung! Sofort!«, drang es von außerhalb der Umkleide zu ihnen.
»Wir kommen gleich!«, rief Chisato hinaus. »Ich geh schon mal vor, Takina!«
Und schon verschwand sie aus dem Umkleideraum. Doch es ließ sie immer noch nicht ganz los, was Takina mit ihrer Aussage gemeint haben könnte.
2
»Takina war komisch?«, fragte Mika mit gehobenen Brauen.
Nach Ladenschuss hatte Chisato endlich entschieden, sich den anderen anzuvertrauen und ihnen zu sagen, was nun seit Tagen an ihr genagt hatte. Ihrer Einschätzung nach war dies der einzig richtige Zeitpunkt, da Takina an diesem Tag ihre Schicht früher beendet hatte, um rechtzeitig zu ihrer Untersuchung zu kommen.
Mika unterbrach den Abwasch, legte das noch nasse Geschirr zur Seite und begab sich zu Chisato an die Theke.
»Was heißt denn ›komisch‹ in diesem Fall, Chisato?«, erkundigte er sich.
»Sie war doch immer schon eigen«, bemerkte Mizuki. Sie hatte jetzt schon eine Sakeflasche in der einen und ein Glas in der anderen Hand, obwohl gerade noch alle beim Aufräumen waren. Kurumi, die sich mit ihrem Laptop auf dem Schoß im Tatami-Sitzbereich in Rückenlage fläzte, nickte zustimmend.
»Man kann keine Lycoris so wirklich normal nennen, glaube ich«, fügte Mizuki an. »Vielleicht diese Sakura Otome, die öfter mal hier vorbeigeschaut hat. Sie war wahrscheinlich noch die normalste.«
Ein etwas gequältes Lächeln verirrte sich auf Mikas Lippen. Wahrscheinlich hatte Mizuki mit dem Namen eine Erinnerung an seine Vergangenheit als Lycoris-Ausbilder heraufbeschworen.
»Aber nein, das meine ich ja gar nicht!«, ärgerte sich Chisato. »Sie hat nur so was durchscheinen lassen, wisst ihr. Vor ein … zwei … drei … ähhh, keine Ahnung, wann es genau war, aber es war der Tag, an dem ich zu spät gekommen bin.«
Kurumi antwortete: »Ach, du meinst den Tag, an dem ich Takina versehentlich mit Kaffee übergossen hab?«
»Genau den!«
»Und was genau hat sie da durchscheinen lassen?«, mischte sich Mizuki wieder ein und leerte ein Glas mit der transparenten Flüssigkeit in einem Zug.
»Es ging um Doi-san. Sie meinte, dass er sie irgendwie beschäftigt«, erklärte Chisato, woraufhin alle um sie herum erstarrten und die Atmosphäre im Café gefror.
Eine Sekunde darauf wuselte Mizuki, das Glas noch in der Hand, gemeinsam mit Kurumi eilig zu Chisato hinüber, die an der Theke saß.
»Ist sie vielleicht auf sein Geld aus?«, fragte Mizuki mit gedämpfter Stimme.
»Ich glaube nicht, dass Takina der Typ dafür wäre«, antwortete Kurumi flüsternd. Aus irgendeinem Grund verhielten sie sich nun, als würden sie etwas ganz Fürchterliches besprechen müssen und steckten alle die Köpfe zusammen, um sich tuschelnd zu unterhalten.
Auch Mika kam nun näher und schloss sich der Geheimniskrämerei an: »Takina also … Na, ich will nicht sagen, es wäre unerwartet, das wäre unhöflich. Aber … sich zu verlieben ist ja nichts Schlechtes.«
Chisato entgegnete: »Ah, nein, er hat sie nicht deshalb beschäftigt – sie meinte eher wegen seines finsteren Gesichtsausdrucks, den er immer hat, und sagte so Sachen, als würde sie sich um ihn sorgen.«
»Heutzutage gibt es einen Haufen Männer mit finsteren Gesichtern«, merkte Mizuki an.
»Unter unseren Stammgästen sind auch welche von der Sorte, oder? Wie dieser Schriftsteller, Yoneoka«, meinte Kurumi dann.
Der Stammgast, auf den sich Kurumi gerade bezogen hatte, war ein vierzigjähriger Autor, der es immer gerade noch so schaffte, seine Existenz zu sichern. Man konnte sagen, bei ihm brannte der Hut in vielerlei Hinsicht. Siebzig Prozent der Zeit, die er im Café verbrachte, war er ziemlich aufgeschlossen und fröhlich, doch die verbleibenden dreißig Prozent saß er mit in Sorgenfalten gelegter Stirn auf seinem Platz und hämmerte von früh bis spät in seine Laptoptasten.
Einmal war Chisato ein Aberglaube zu Ohren gekommen, demzufolge Cafés, in denen Autoren immerwährend arbeiteten, Pleite gehen würden, und es war ein kleiner Streit zwischen ihr und den anderen entbrannt – doch das war wieder eine ganz andere Geschichte.
Das Wichtige an der Geschichte war jedoch, dass Takina – soweit sich Chisato richtig erinnerte – ihr damals geraten hatte, das Ganze zu ignorieren.
Mizuki stellte eine neue Hypothese auf: »Und was sagt ihr zu dem Altersunterschied? Steht Takina auf Typen in ihren Fünfzigern?«
»Hmm …« Mika legte nachdenklich die Hand auf sein Kinn. »Wenn ich so darüber nachdenke, haben wir gar nicht so viele Leute in ihren Fünfzigern unter unseren Gästen. Eigentlich überraschend. Gotou-san ist schon über sechzig und Yamadera-san ist in den späten Vierzigern.«
»Moment mal, das muss mir einer erklären!«, unterbrach Chisato. »Kann man sich wirklich nur wegen des Alters in jemanden verlieben?«
»Solche Scheißkerle gibtʼs, glaub mir! Besonders solche, die nur so junge Mädels, die gerade mal zwanzig geworden sind, als potenzielle Ehefrau nehmen würden! Geh nur mal in eine Vermittlungsagentur, da gibtʼs die zuhauf!«, dröhnte es von Mizuki herüber.