Machine of Death -  - E-Book

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Beschreibung

Ihr werdet alle sterben!

Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt, machen einen Bluttest und eine Maschine spuckt daraufhin einen kleinen Zettel mit der Art Ihres Todes aus. Keine Einzelheiten, kein Zeitpunkt – die einzige Information, die man erhält, ist: Tod durch Ertrinken oder Verhungern oder Alter.

Gleich dem Orakel von Delphi verhängt die Machine of Death ihr Urteil über die Menschen, und die Autoren dieser einzigartigen Storysammlung schildern auf ironische, humorvolle und berührende Weise, was passiert, wenn man versucht, seinem Schicksal aus dem Weg zu gehen ...

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Seitenzahl: 656

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MACHINE OF DEATH

34 Geschichten über Menschen, die wissen, wie sie sterben werden

Herausgegeben vonRyan North, Matthew Bennardo & David Malki !

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

Machine Of Death – A Collection Of Stories About People Who Know How They Will Die

Deutsche Übersetzung von Jörn Morisse

Deutsche Erstausgabe 04/2012

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2010 by Bearstache Books, Venice CA

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: Justin Van Genderen

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-07188-2

www.heyne-magische-bestseller.de

Vorrede

Im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern entstand dieses Buch durch einen beiläufigen Kommentar eines scharfsinnigen grünen Tyrannosaurus Rex. Dieser ungewöhnliche Dinosaurier ist die Hauptfigur in Ryan Norths Dinosaur Comic, und ein paar Seiten zuvor konnte man ihn dabei beobachten, wie begeistert er von seiner Idee für eine Geschichte war.

Und er war bei weitem nicht der Einzige! Nachdem der Comic veröffentlicht wurde, in dem Ryans T-Rex das Konzept der Todesmaschine schon angelegt hatte, begannen die Leser sofort damit, Vermutungen über diese Maschine und die Welt, in der sie sich befindet, anzustellen. Also starteten wir einen offenen Aufruf und forderten Autoren auf, sich über das Thema Gedanken zu machen und es nach Belieben zu verarbeiten. Nun, ein paar Jahre später, präsentieren wir unsere dreißig Lieblingstexte sowie vier von uns, die sich mit dem Thema beschäftigen. Es stellt sich heraus, dass T-Rex Recht hatte: Die Maschine ist wirklich ein fantastischer Ausgangspunkt für eine Erzählung.

Natürlich handeln einige der ältesten Geschichten der Welt von der Gefahr, zu viel über die Zukunft zu wissen, und viele insbesondere davon, wie die Menschen sterben werden. (T-Rex würde vielleicht zu bedenken geben, dass er Shakespeare und den alten Griechen 65 Millionen Jahre voraus gewesen ist, aber wir warten noch auf den mit Datum versehenen Nachweis, um diese Version zu stützen.)

Bemerkenswerterweise sind diese Geschichten immer auf die eine oder andere Weise fesselnd. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir insgeheim alle gern wenigstens irgendwas über die Zukunft erfahren würden – ganz gleich, wie oft wir es abstreiten. Aber wir haben in dieser Angelegenheit sowieso nichts zu melden. Wir werden niemals vor einem Orakel oder einer Blutuntersuchungsmaschine stehen und uns zwischen Wissen und Nicht-Wissen entscheiden müssen.

Vielleicht enden deswegen viele dieser Geschichten meistens schlecht für die Personen, die nichts über ihre Zukunft erfahren möchten. Umfassende Auskünfte über die Zukunft sind nicht zu erhalten, deswegen denken wir uns Geschichten aus, um uns selbst zu versichern, dass wir nach diesem Wissen lieber nicht streben sollten. Die Trauben hängen zu hoch.

Aber glaub ja nicht, dass dieses Buch voller Erzählungen über Menschen ist, die auf paradoxe Weise ihrem Verhängnis begegnen. Ein paar handeln davon, das stimmt. Aber der überwiegende Teil der Geschichten nimmt die Prämisse als Einladung, alle möglichen erstaunlichen Welten zu erforschen. Insgesamt haben wir 675 Einsendungen von Autoren aus fünf Kontinenten, von Amateuren ebenso wie von Berufsschriftstellern erhalten, die sich mit den Bereichen Abenteuer, Horror, Mystery, Fantasy, Science Fiction, Humor und einigen neuartigen Genres beschäftigen.

Man könnte glauben, dass uns nach dem Lesen der ersten 500 Texte jeder Aspekt des Themas bekannt gewesen wäre, aber noch bis ganz zum Schluss entdeckten wir Kleinode – neue Erkenntnisse, neue Charaktere, neue Welten, neue überraschende Wendungen.

Unsere schwierigste Aufgabe als Herausgeber war es, die Geschichten herauszusuchen, die nicht nur exzellent geschrieben (das war leicht) waren, sondern die zusätzlich noch die wahre Vielfältigkeit der Ideen und Herangehensweisen der anderen Einsendungen repräsentierten.

Also lehn dich zurück und nimm dir einen Moment Zeit, um den Blick über die Inhaltsangabe schweifen zu lassen. Fang am Anfang an oder such dir die Geschichte heraus, deren Titel dir am interessantesten erscheint. So oder so, es lässt sich nicht genau voraussagen, was du bekommen wirst. Sei darauf vorbereitet, dass dir die Tränen kommen werden, dein Puls sich beschleunigt, dir Schauer über den Rücken gejagt werden, du verblüfft sein wirst, deine Lachmuskeln strapaziert werden oder dein Herz erwärmt wird. Oder besser noch, stell dich darauf ein, überrascht zu sein. Denn sogar wenn man genauestens über die Zukunft Bescheid weiß, lässt sich doch nie exakt vorhersagen, wie am Ende alles ausgehen wird.

Ryan North, Matthew Bennardo & David Malki !

Einleitung

Die Maschine wurde vor ein paar Jahren erfunden: Eine Maschine, die anhand einiger Tropfen Blut herausfindet, wie man sterben wird. Man bekam kein genaues Datum und auch keine Einzelheiten genannt, nur einen Streifen Papier, auf dem in Großbuchstaben sorgfältig die Wörter »ERTRUNKEN« oder »KREBS« oder »ALTER« oder »AN EINER HANDVOLL POPCORN ERSTICKT« gedruckt waren. Die Maschine ließ die Menschen wissen, wie sie sterben werden.

Leider wusste niemand so genau, wie sie funktionierte, was kein Problem gewesen wäre, wenn die Maschine so gut gearbeitet hätte, wie wir es uns gewünscht hätten. Aber die Maschine war in ihren Vorhersagen frustrierend schwammig, geheimnisvoll und schien Spaß an der Vieldeutigkeit der Sprache zu haben. »ALTER«, wie sich bereits herausstellte, konnte zum einen bedeuten, eines natürlichen Todes zu sterben, oder aber auch von einem bettlägerigen Mann bei einem Einbruch erschossen zu werden. In der Maschine vergegenständlichte sich die altertümliche Ironie des Todes: Man weiß vielleicht, wie es passiert, aber wird trotzdem überrascht sein, wenn es so weit ist.

Dass wir nun darüber Bescheid wussten, wie wir sterben werden, veränderte die Welt: Die Menschen wurden gleichzeitig sowohl ängstlicher als auch mutiger. Es gibt keinen Grund, sich vor dem Fallschirmspringen zu fürchten, wenn »LEBENDIG BEGRABEN« auf deinem Papierstreifen steht. Allerdings führte die Erkenntnis, dass die Vorhersagen voller Überraschungen waren und gerne alle Erwartungen auf den Kopf stellten, bald zu Ernüchterung. Die Vorhersagen wurden dadurch unberechenbarer: Natürlich sollte Fallschirmspringen ungefährlich sein, wenn man irgendwann lebendig begraben wird, aber was, wenn man in einer Kiesgrube landete? Vielleicht würde man nicht in Erde lebendig begraben werden, sondern in etwas ganz anderem? Und würde eingeschlossen in einem einstürzenden Gebäude noch unter »lebendig begraben« fallen? Für jede Option, die die Maschine ausschloss, schienen sich gleichzeitig viele weitere unterschiedlich plausible Möglichkeiten zu eröffnen.

Bis dahin war die Maschine natürlich schon kopiert und nachgebaut worden, auch weil ihre inneren Prozesse eher simpel zu rekonstruieren waren. Und jawohl, wir fanden ungefähr zur selben Zeit wie alle anderen heraus, dass die Vorhersagen der Maschine nicht so eindeutig waren, wie wir am Anfang dachten. Wir haben sie getestet, bevor wir es bekanntgaben, aber die Tests waren langwierig – zu langwierig, wir mussten ja warten, bis die Leute starben. Nachdem vier Jahre vergangen waren und drei Leute auf die Art und Weise gestorben waren, die die Maschine vorausgesagt hatte, lieferten wir sie aus. Es gab nun Maschinen in jeder Arztpraxis und in kleinen Kabinen in Einkaufszentren. Man musste dafür bezahlen oder bekam die Vorhersage umsonst, aber das Ergebnis war immer dasselbe, egal wohin man ging. Zumindest war die Maschine konsistent.

Brennender Marshmallow

ICH BIN SO VERDAMMT AUFGEREGT, ich kann es kaum aushalten.

Morgen. Morgen ist mein Geburtstag, der Geburtstag. Der Geburtstag, auf den alle warten und warten, und solange man noch nicht sechzehn ist, hasst man einfach alle anderen älteren Freunde, die sie schon bekommen haben und man die Einzige ohne ist, und manchmal denkt man, verdammt nochmal, werde ich denn niemals sechzehn, aber dann ist es so weit.

Zuerst habe ich Angst, dass ich nicht einschlafen kann. Ich lösche das Licht, aber nachdem ich eine halbe Stunde im Dunkeln gelegen habe, schalte ich es wieder ein. Mein Blick fällt auf den Kalender, der über meinen Bett hängt. Ich greife nach oben, mache ihn mit einer Hand vom Nagel los, schlüpfe mit ihm wieder unter die Bettdecke und fahre mit dem Finger die vielen roten Kreuze entlang, mit denen alle vorangegangenen Tage durchgestrichen sind. Es ist ein bisschen kalt, und wenn ich eins nicht will, dann ist es eine Scheiß-Erkältung in der Woche, in der ich Geburtstag habe, also kuschele ich mich noch tiefer in die warme Flanelldecke. Ich weiß, dass es dieses Wochenende viele Partys gibt, und ich will dabei sein.

Darauf habe ich all die Monate gewartet. All die Jahre, schätze ich, obwohl es mir eigentlich überhaupt nicht wichtig gewesen ist, bevor meine Freunde ihre bekamen. Früher waren wir alle total ahnungslos.

Morgen nun werde ich mich zugehörig fühlen.

Morgen werde ich erfahren, wie ich sterbe.

»Carolyn, yo, Alte, warte mal.«

Ich drehe mich um, als ich meinen Namen höre. Es ist Patrice. Sie kommt über den Schulhof auf mich zugelaufen. Ihr superlanges Haar ist heute zu Zöpfen geflochten, und sie wippen wie zwei wütende Schlangen mit Schleifchen an den Schwänzen.

»Hey Patrice«, sage ich und drücke meine Bücher noch fester an die Brust. Ich versuche ein bisschen schneller zu gehen und hoffe, dass sie das Signal versteht. Tut sie nicht.

»Heute ist der große Tag, oder?«

Ich nicke.

Sie wendet ihren Kopf ab und beißt sich auf die Lippe. »Glückspilz«, sagt sie.

Ich zucke mit den Achseln, werde noch schneller. Es ist nicht mein Problem, dass sie einer der smartesten Schüler in unserer Klasse ist und vor ungefähr vier Jahren eine Klasse hochgestuft wurde. Es ist nicht meine Schuld, dass sie noch ein Jahr ahnungslos bleiben wird.

Aus dem Augenwinkel sehe ich Brad Binder. Er ist so verdammt cool – er ist ein Brenner, sagt man. Das ist echt geil, denke ich, und dann muss ich lachen.

»Was ist so lustig?«, fragt Patrice. Wir sind bei meinem Garderobenschrank angekommen, und ich balanciere meine Bücher mit einer Hand auf meinem Knie, während ich mit der anderen versuche, mein Zahlenschloss zu öffnen. Ich tue so, als ob ich sie nicht höre, aber sie merkt, dass ich Brad Binder heimlich Blicke zuwerfe.

»Nicht der«, sagt sie und verdreht die Augen. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Psst!« Ich will, dass sie den Mund hält. Ich wünschte, ich hätte irgendwelche abgefahrenen Superkräfte oder so. Ich wünschte, dass ich mich nur ganz stark konzentrieren müsste, um sie loszuwerden.

Brad Binder holt sein Letter Jacket aus seinem Schrank, der so nah an meinem liegt, dass drei andere Mädchen schon mit mir Schränke tauschen wollten. Er schlüpft mit seinen perfekten – so verdammt perfekten! − Schultern in die Jacke und holt dann ein schlichtes Ringbuch heraus, an dem ein Stift befestigt ist. Kein Notebook, keine Bücher, kein Nichts. Das ist so verdammt cool. Er ist ein Brenner.

Als Brad weggeht, starrt Patrice mich an. »Er ist gar nicht so toll, musst du wissen. Ich hab gehört, er küsst wie eine tote Eidechse.«

Das hätte ich mir denken können, dass du darüber Bescheid weißt, hätte ich beinahe gesagt, aber ich kann mich noch bremsen. Ich will mich nicht auf ihr Niveau herablassen, das wäre kindisch. Ich bin heute sechzehn geworden, und nach der Schule fährt mein Dad mit mir ins Einkaufszentrum, um dieses Stück Papier zu besorgen, und dann werde ich wissen, wo ich wirklich hingehöre. Stattdessen zucke ich wieder mit den Achseln, und ihre Bemerkung gleitet an mir ab wie ein Spiegelei auf einer Teflonpfanne. »Er ist ein Brenner«, sage ich. »Die sind ziemlich cool.«

Patrice prustet los. »Du weißt, was auf seinem Zettel steht? ›Brennender Marshmallow‹. Das hört sich für mich nicht wie eine wahnsinnig tolle Brenner-Todesursache an, ganz gleich, was er sagt. Er sollte stattdessen lieber mit den Erstickern rumhängen. Dann würdest du nicht mehr denken, er wäre so ein toller Typ.«

Ich hatte genug von Patrice. »Du hast doch keine Ahnung«, sage ich zu ihr und gehe in den Geometrie-Unterricht. Vielleicht ist Cindy Marshall heute nett zu mir, jetzt, da ich so kurz davor bin, meine Todesbescheinigung zu bekommen. Vielleicht bin ich ja letzten Endes doch ein Unfall, wie sie.

Schön wär’s.

Ich komme fast zu spät in den Unterricht. Mrs. Tharple schaut mich ziemlich sauer an, aber das interessiert mich überhaupt nicht. Pünktlich zum Klingeln rutsche ich in meinen Stuhl und ziehe Cindy Marshalls Aufmerksamkeit auf mich. Ich lächle.

»Wag es nicht, mich nur anzuschauen, du Ahnungslose«, flüstert sie mir zu, während Mrs. Tharple den unangekündigten Test austeilt. Die beiden Mädchen, die hinter ihr sitzen, kichern. Ich kann ihre schneidenden Blicke scharf wie Wieselzähne auf meiner Haut spüren.

»Ich habe Geburtstag«, sage ich.

Sie dreht sich um und sieht mir nun direkt ins Gesicht. Ich versuche, ihren Blick zu deuten, aber es gelingt mir nicht. Es ist, als ob sie mir etwas total Offensichtliches zu verstehen geben möchte, etwas, das eindeutig auf der Hand liegt, über das ich schon längst Bescheid wissen müsste.

Ich komme mir saublöd vor.

Mrs. Tharple tritt zwischen uns und legt die Fragen mit der Schriftseite nach oben vor uns auf die Tische, steuert die nächste Reihe an und geht dann zurück nach vorne.

Ich sehe mir die Geometrie-Fragen an, versuche mich zu konzentrieren und die Hitze in meiner Brust, in meinen Ohrläppchen und im Nacken zu ignorieren.

»He du«, zischt Cindy Marshall.

Ich schaue hoch.

»Und, hast du deinen Zettel schon bekommen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nach der Schule«, lasse ich sie wissen.

Sie kneift die Augen zusammen. Ich spüre, dass die beiden anderen Mädchen mich beobachten, beides Unfälle, aber ich bleibe cool, hoffe ich.

Sie nickt. »Wenn du deine Todesbescheinigung bekommst und es ist ein Unfall, egal ob mit Auto, Fahrrad, Flugzeug oder einem verdammten Heißluftballon oder so – dann kommst du nochmal zu mir. Morgen.«

Ich muss mir auf die Wangen beißen, um nicht zu lächeln. Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass dies das schönste Angebot des gesamten Vormittags ist. Ich versuche, mich knallhart zu geben. Ich will Unfall-kompatibel sein, ich will es wirklich.

»Morgen«, sage ich, und sie nickt noch einmal.

Für den Rest des Unterrichts ignorieren die Mädchen meine Anwesenheit, das ist mir egal. Ab morgen wird alles anders sein.

Morgen kann mein Leben beginnen.

Zum Mittagessen gibt es nicht das, was ich mir gewünscht habe.

Die ganze Zeit habe ich voller Erwartung auf meinen Geburtstag hingefiebert und dachte, dies ist der Tag, an dem alles anders wird, aber so ist es gar nicht. Ich komme mir zwar nicht mehr so ganz ahnungslos vor, aber streng genommen weiß ich immer noch nicht Bescheid. Da ich noch nicht achtzehn bin, muss ich von einem Elternteil oder Erziehungsberechtigten begleitet werden, um meinen Zettel zu bekommen. Wenn es nach mir ginge, hätte ich das Mittagessen stehen gelassen, wäre sofort ins Einkaufszentrum gegangen und hätte alles hinter mich gebracht. Stattdessen muss ich warten, bis mein Dad von der Arbeit kommt. Das ist so unfair.

Und selbst wenn ich meinen Zettel heute bekomme, wird bis morgen niemand außer mir meine Todesursache kennen. Na ja, meine Eltern erfahren es, und mein kleiner Bruder, schätze ich. Und vielleicht ruft Patrice an und ich erzähle es ihr, aber warum sollte ich? Ab morgen habe ich neue Freunde. Aber heute stecke ich noch im Tal der Ahnungslosen fest.

Ich schnappe mir mein Tablett und rutsche auf die Bank am Tischende. Patrice winkt mich rüber zu sich, aber ich tue so, als ob ich sie nicht sehe. Ich lege acht Packungen Senf vor mir in eine Reihe, reiße eine nach der anderen auf und verteile die scharfe, gelbe Masse langsam auf meinen künstlichen Proteinen und die in Quaderform gepressten Gemüsestückchen.

Verstohlen lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und frage mich, wo ich ab morgen wohl sitzen darf. Wo werde ich mit offenen Armen empfangen werden? Alles hängt von meiner Todesbescheinigung ab.

Hinten in der Ecke gibt es Krawall. Natürlich sind es wieder die Brenner-Kids, die durchdrehen und mit Essen um sich werfen. Die Brenner, die Ertrinker, die Unfälle, die Stromschläge und die Stürze – also alle gewaltsamen Unglücksfälle – sitzen kunterbunt durcheinander an den beiden Tischen hinten in der Ecke. Das ist die coolste Ecke, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich morgen dort auch sitzen werde, oder wenigstens in der Nähe.

Ein paar Tische weiter wäre auch nicht so schlecht. Dort sind die Medizinischen, die Schnitte, und die Patronen – hauptsächlich Arztfehler und Mord, oder? −, einige Kids schleichen sich dort ein, die wohl eigentlich zu den Selbstmorden drüben gehören. Ich kann sie von hier sehen, alle in Schwarz und mit bleichen Gesichtern. Wie sie an ihrem Essen picken, gleichen sie einem Schwarm Krähen.

Auf keinen Fall will ich an einem der beiden letzten Tische enden: Krankheit und Altersschwäche. Bäh! Sogar beim Mittagessen sehen sie alle langweilig aus. Wenn ich an ihrem Tisch sitzen müsste, wäre meine Todesbescheinigung: Zu Tode gelangweilt.

»Herzlichen Glückwunsch, Carolyn.«

Ich bin so überrascht, dass ich eins von den Senfpäckchen zu fest drücke und alles vorne auf mein Kleid spritzt. Ich versuche den Senf abzutupfen, aber dabei verschmiere ich die gelben Batzen nur zu gelben Flecken.

»Es … es tut mir so leid, Carolyn … verdammt. Ich … ich …«

Jamie steht vor mir. Wir waren mal Freunde, vor langer, langer Zeit. Er wohnt die Straße runter, und früher fuhren wir jeden Tag zusammen mit dem Fahrrad herum. Ich kann immer noch die Sonne und den Staub des Sommers auf meiner Zunge schmecken, wenn ich ihn nur ansehe. Nachdem seine Eltern dem Anti-Maschinen-Verein beitraten, hörten wir auf, miteinander rumzuhängen. Manchmal, wenn ich von der Schule auf dem Weg nach Hause bin, sehe ich seine Mutter mit einem Schild und einem umgehängten Sandwich-Board vor dem Einkaufszentrum demonstrieren. »Das Leben ist zum Leben da« steht drauf. An anderen Tagen »Bürger gegen die Maschinen des Todes« oder sogar »Nichts fragen, nichts wissen – es ist deine Entscheidung!«.

Jamie ist fast achtzehn, und er ist immer noch ein Ahnungsloser. An seiner Stelle würde ich mich zu Tode schämen.

»Schon in Ordnung, Jamie«, sage ich zu ihm. »Mach dir nichts draus.«

Er hat ein paar Servietten in der Hand, die er in ein Wasserglas taucht und mir hinhält. Er will schon auf meiner Brust herumtupfen, aber gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, dass das vielleicht keine so gute Idee wäre.

Ich versuche die plötzlich aufkommende Erinnerung daran zu verdrängen, wie wir uns bei den Mülltonnen hinter dem Mini-Markt geküsst haben. Ich war vielleicht zwölf oder dreizehn, und er war vierzehn oder so; kurz bevor seine Eltern dem Verein beigetreten sind. Ich weiß noch, dass er nach Erdbeeren schmeckte.

Hoffentlich merkt Jamie nicht, dass meine Ohren und mein Hals rot werden. Er ist einer der wenigen Menschen, die mich zu gut kennen, um es verbergen zu können.

»Holt dich deine Mom nach der Schule ab?«, fragt er.

Ich reibe weiter und schüttle den Kopf. »Mein Dad.«

Er nickt und beobachtet meine Handbewegungen, wie ich mit den feuchten Servietten auf meinem Schoß und an meinen Rippen herumscheuere, aber er sieht mich dabei gar nicht richtig an.

»Tut mir leid«, sagt er noch mal, und ich glaube nicht, dass er den Senf meint.

Als Dad mich dann endlich abholt, bin ich völlig fertig.

Er küsst mich auf den Kopf, als ich ins Auto steige. »Hey, Mädchen. Alles Gute zu deinem Festtag.«

»Danke.«

Ich schmeiße meine Sachen auf den Rücksitz und schnalle mich an.

Dad schaut mich mit einem schiefen Grinsen an. »Willst du vielleicht zuerst ein Eis?«, sagt er. »Oder Pizza? Oder ins Kino?«

Wie kann er so verdammt ahnungslos sein? Ich will ihm sagen, was für ein Trottel er ist, aber als ich ihn ansehe, fühlt es sich so an, als ob mir seitlich etwas in den Bauch rutscht. Ich schaue diesen über vierzigjährigen Mann mit der Brille, den Stoppeln auf der Wange und dem hässlichen Pulli an und erkenne zum ersten Mal meinen Dad nicht mehr.

Ich meine, natürlich erkenne ich meinen Dad; ein Medizinischer (versehentliche Überdosis) mittleren Alters mit überteuertem Eigenheim und langweiligem Job und zwei Kindern und einem zwei Jahre alten Gebrauchtwagen mit hohem Kilometerstand, den er im letzten Jahr billig geleast hatte …

Aber ich sehe auch jemanden, der mich so sehr liebt, dass er es nicht mal in Worte fassen kann. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass der Tag, an dem ich meinen Zettel bekomme, für ihn eine große Sache sein könnte. Er sieht müde aus, denke ich. Noch müder als sonst.

Ich strecke meine Hand nach seiner Hand aus, die das Lenkrad festhält.

»Na klar, Dad«, sage ich. »Was du willst.«

Er legt seine andere Hand auf meine Hand, meine Finger liegen nun wie bei einem Sandwich zwischen seinen. Einen Moment lang strahlen seine Augen, aber ich komme zu dem Schluss, dass ich es mir nur einbilde, und er schiebt meine Hand wieder zurück in meinen Schoß, lässt den Wagen an und fährt vom Bordstein.

Ich sehe die Schule im Seitenspiegel kleiner und kleiner werden, als wir uns entfernen.

Dad und ich essen unsere letzte Kugel Eis auf, wir wischen unsere klebrigen Hände an Reinigungstüchern ab und schmeißen sie dann weg. Ich stehe vom Tisch des Food Courts auf und sammle all meine Tüten zusammen. Dad hat mir neue Schuhe gekauft, zwei Bücher und einen Hut, der mir, wie er findet, gut steht, aber den ich nie im Leben, nicht in einer Million Jahren nochmal aufsetzen werde, das weiß ich jetzt schon. Jetzt fehlt mir nur noch der Vogel im Pfirsichbaum.

»Was nun, Geburtstagskind? Brauchst du neue Handschuhe? Musik? Du warst doch früher von dem CD-Laden so angetan?«

Er geht rüber zum Plan des Einkaufszentrums und studiert die Liste der Läden. Ich folge ihm, stelle meine Bücher- und Schuhtüten ab und ziehe ihn am Arm. »Dad«, sage ich, »es ist Zeit.«

Er schaut mich nicht sofort an. Er nimmt seine Brille ab und putzt sie mit einem Zipfel seines Pullovers. Ich kann sehen, wie sie dabei immer schmieriger und fusseliger wird, also nehme ich sie ihm weg, reinige sie stattdessen mit der Innenseite meines Kleids, und als ich sie ihm zurückgebe, ist sie deutlich sauberer. Ich nehme meine Einkaufstüten und mache mich auf in Richtung Zettel-Büdchen. Auf den Plan muss ich dafür nicht schauen; ich weiß genau, wo es ist. Es gibt wohl keine Fünfzehnjährige im ganzen Land, die nicht weiß, wo sich die nächstgelegene Maschine befindet. Ich kenne ihre Betriebszeiten (normale Einkaufszentrums-Öffnungszeiten von 10.00 bis 21.00 Uhr), ich weiß, wie viel es kostet (19,95 plus Steuern), ich kenne sogar die Marke (Death-O-Mat von DigCo.: »Bei uns erhalten Sie dasselbe Ergebnis – günstiger!«).

Ich weiß nur nicht, was auf dem Zettel steht, der aus dem Schlitz fällt.

Es ist schon spät, und das Einkaufszentrum schließt bald. Die meisten Läden sind leer. Morgen ist Schule, deswegen ist auch niemand in meinem Alter mehr unterwegs. Man sieht nur müde aussehende Verkäufer mit schmerzenden Füßen und Mütter mit strähnigen Haaren, die schwere Kinderwagen schieben.

In einer dunklen Ecke drüben bei den Toiletten steht die Maschine.

Der Hausmeister hat was zwischen die Tür zum Damenklo gelegt, damit sie offen bleibt, und obwohl ich ja eigentlich ganz dringend muss, habe ich nicht den Mut, am Hausmeister und seinem stinkenden Mopp vorbeizugehen. Außerdem will ich die Sache jetzt nicht noch länger aufschieben. Ich muss Bescheid wissen.

Dad hält inne, als wir die Maschine erreichen, fummelt an seiner Brieftasche herum und holt seine Ausweis- und Kreditkarten heraus. Er räuspert sich, sagt aber nichts und schaut mich auch nicht an.

Es kam mir so vor, als ob Dads Hände ein wenig zitterten, als er die Karten in die dafür vorgesehenen Schlitze steckte und seine und meine Sozialversicherungsnummer sowie die sonstigen Angaben eintippte, aber ich bin mir sicher, dass es nur Einbildung war. Wahrscheinlich schwirrte mir nur der Kopf. Als ob alle Windungen und Krümmungen und Falten meines Gehirns voll mit kleinen Bienen sind oder mit elektrischen Strömen. So fühlt es sich in meinem Kopf gerade an. Aber ich schätze mal, Gehirne sind so. Voller elektrischer Ströme, meine ich, nicht voller kleiner Bienen.

Die Maschine leuchtet grün, und ein Pfeil weist auf eine kleine glänzende, selbstreinigende Stelle im ansonsten matten Metall. Ich setze meine Tüten ab und strecke langsam meinen Finger aus.

»Carolyn!«

Ich zucke zusammen und sehe Dad ins Gesicht.

Er schiebt seine Brille zurück auf seinen Nasenrücken, fummelt ein bisschen daran herum und blinzelt.

»Ähm … für fünf Dollar mehr nennt sie dir deine Blutgruppe, deinen Blutzuckerwert und ob du schwanger bist oder nicht.« Er zeigt auf die Tabelle, die an der Vorderseite der Maschine hängt. Dann zieht er verunsichert die Stirn in Falten. »Hey, du bist doch nicht schwanger, oder?«

Ich rücke ganz nah an ihn heran und schlinge meine Arme um seinen Oberkörper. Er umarmt mich auch, und wie ich so in diesen warmen muffigen Pullover meines Vaters atme, überkommt mich eine Sekunde lang das Gefühl, das Wertvollste und Wichtigste im ganzen Universum zu sein.

Ohne Vorwarnung und ohne ihn loszulassen, greife ich hinter ihn und stecke meinen Finger in das glänzende kleine Loch. Dad zuckt zusammen und drückt mich fester an seinen Oberkörper.

Ein kurzer Schmerz rast durch meinen Finger, und nachdem die Maschine Schmerzmittel und Desinfektionsmittel versprüht, setzt ein Gefühl der Taubheit ein.

Ich entwinde mich aus der Umarmung, Dad räuspert sich und lässt mich los.

Die Maschine gibt Dads Karten frei, und aus dem Schlitz unten fällt mein Zettel heraus. Dad und ich greifen beide danach, aber als ich stoppe, zieht er zurück. Das ist meine Angelegenheit, und er weiß es. Also entnimmt er seine Plastikkarten und steckt sie in seine Brieftasche, während ich den Zettel entfalte und zu lesen beginne.

Ich lese ihn dreimal, viermal. Ich will ihn gerade zum fünften Mal lesen, als Dad, der sich auch nicht mehr beherrschen kann, ihn mir behutsam aus den erstarrten Fingern nimmt und laut vorliest.

»Millenniumsweltraumentropie«, sagt er.

»Aber …«

Dad nimmt mich in die Arme und wirft mich in die Luft, wie er es nicht mehr getan hat, seit ich sehr, sehr klein war. Meine Arme kann ich immer noch nicht bewegen, aber meine Beine und mein restlicher Körper werden schlaff, und Dad wirbelt mich freudig lachend herum.

Schließlich setzt er mich ab, und ich muss mich mit einer Hand an der Maschine abstützen, um das Gleichgewicht wiederzugewinnen. Ich bin ein bisschen benommen. Benommen und durcheinander.

»Millenniumsweltraumentropie«, sagt Dad und schüttelt den Kopf, faltet den Zettel auseinander und liest ihn noch mal. »Das ist toll, Carolyn. Fantastisch! Du wirst bei der nächsten Jahrtausendwende fast tausend Jahre alt sein! Überleg mal, ständiger medizinischer Fortschritt, erheblich verlängerte Lebenserwartung … Es wäre möglich, mein Schatz. Es könnte wirklich passieren.«

Dad zieht mich grinsend wieder an seine Brust, und irgendwo tief drinnen kann ich das Rumoren seines Glücks hören. »Ich möchte nur, dass du ein langes und glückliches Leben hast, Carolyn. Ein sehr, sehr, sehr langes und glückliches Leben.«

»Aber Dad«, sage ich in die kratzige Wolle seines Pullovers hinein, »wo soll ich mich denn nun morgen beim Mittagessen hinsetzen?«

Erzählung von Camille Alexa

Illustration von Shannon Wheeler

Schoko-Fudge

Den vielen vorbeiströmenden Kunden wäre der Kuss nicht weiter aufgefallen. Länger als ein flüchtiger Kuss, klar, aber nicht exzessiv oder übertrieben lang. Er schien nichts Besonderes zu sein. Aber für Rick war es vollkommen anders. Jedes Mal, wenn er Shannon berührte, versank er ganz in dem Moment, wurde hineingesogen wie der Hauptdarsteller in einem kitschigen Liebesfilm.

»Tschüss, Baby«, sagte sie und winkte ihm zu. »Gib nicht zu viel Geld aus!«

»Aber auch nicht zu wenig«, gab er zurück, und sie musste grinsen, dann warf sie ihre Haare zurück und ging weg. Als sie sich entfernte, bemerkte er, dass noch mehr Leute ihr nachsahen, aber daran hatte er sich gewöhnt. Wenn man mit einer schönen Frau verlobt ist, gehört es einfach dazu. Das Beste ist, es als Kompliment aufzufassen, denn am Ende ging sie immer noch mit ihm und nicht mit irgendjemand anderem nach Hause.

Ihre vollen Terminkalender hatten ihnen keine andere Möglichkeit gelassen, als so kurz vor Weihnachten ins Einkaufszentrum zu fahren. Und es gelang ihm, in den darauffolgenden Stunden ein paar Sachen zu finden, die er unter ihren Baum legen konnte: ein Flakon ihres Lieblingsparfüms, dessen Duft ihn genau an den richtigen Regionen stimulierte; ein Paar Ohrringe mit Saphiren, die zu ihren Augen passten; einen grünen Wuschelschlafanzug mit Füßen, in denen sie sexier aussehen würde als im durchsichtigsten Negligé; ein exzellentes Küchenmesser, rasiermesserscharf, damit beschenkte er sich auch selbst, denn er kochte gerne. Ein flüchtiger Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass die Zeit, in der jeder für sich unterwegs war, bald zu Ende ging, und er machte sich auf den Weg zu dem Brunnen, wo sie sich wiedertreffen wollten.

Sein Blick fiel auf ein Schild, das im Schaufenster eines großen Süßwarengeschäfts hing. Auf schwarzem Grund verkündete es in großen weißen Buchstaben: »DIE MASCHINE IST DA!«

Rick blieb abrupt stehen, ging dann langsam zum Schaufenster und spähte hinein. Sie hatten eine Maschine? Eine Todesmaschine?

Er war nicht gerade mit den Einzelheiten vertraut − hatte einen Artikel im Sunday Times Magazine überflogen, nachdem er wieder mal am Kreuzworträtsel gescheitert war –, aber die wichtigsten Punkte waren wohl, dass man seinen Finger in ein Loch in der Maschine steckt, wo dann eine Blutprobe genommen wird. Man stelle sich den Typen vor, der freiwillig den ersten Test gemacht hat! Dann spuckt sie einen Zettel mit ein paar Wörtern oder vielleicht auch nur einem Wort aus. Wenn die Geschichten wahr waren, dann steht auf diesem Zettel, wie man sterben wird. Nicht wann, nicht wo, sondern die Umstände, bei denen man sein jähes Ende finden wird, obwohl der Autor des Artikels noch diffus angemerkt hatte, dass scheinbar immer so etwas wie eine gewisse Grauzone existierte.

Außerdem gab es Webseiten, die sich mit einer Besessenheit den einzelnen Vorhersagen widmeten, die schon ans Makabre grenzte, und Rick war nicht so überheblich, dass er leugnete, einigen gelegentlich einen Besuch abgestattet zu haben. Wenn man akzeptierte, dass ein lebloses Objekt zu so etwas fähig war, musste man zugeben, dass die Maschine einen gesunden Sinn für Ironie hatte. Auf dem Zettel eines Mädchens stand beispielsweise »BOOT«, woraufhin es umgehend keine Seereisen mehr unternahm. Allerdings half ihr diese Maßnahme kaum, als sich zwei Jahre später ein Lastwagen, der ein Kajütboot transportierte, vor ihr auf dem Freeway querstellte. Dann war da noch der Typ, der »BASEBALL« bekam und anfing, einen Bogen um jedes Baseballspiel zu machen, aber er fand erst heraus, was damit genau gemeint war, als er einen Baseballschläger vom Ehemann der Frau, mit der er eine Affäre hatte, gegen den Kopf bekam. Am meisten Aufmerksamkeit erhielt aber natürlich die Geschichte von dem Junkie, bei dem »KOKS« herauskam. Er schaffte es, von seiner Kokainsucht loszukommen, wurde clean, fand einen Job und begann ein neues Leben. Eines Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, wurde er von einem Kohlen-Lieferwagen überfahren. So oder so ähnlich wird die Geschichte jedenfalls erzählt.

Gute Lektüre für die Mittagspause, aber Rick war sich nicht ganz sicher, wie sehr er diesen Internet-Erzählungen glauben konnte. Trotzdem war er immer vom Konzept der Todesmaschine fasziniert gewesen, aber zu faul und schamhaft, um einen Termin beim Arzt zu vereinbaren. Als er auf den Laden zuging, bemerkte Rick eine übersichtliche Warteschlange in der hinteren Ecke des Raumes. Ein Schild verkündete: »Die Maschine! $ 20!«

Zwei Mädchen lösten sich vom Anfang der Schlange. Die Kleinere der beiden wurde von schrillen Kichern geschüttelt, ihre dünne Freundin dagegen war kreideweiß. Als sie an Rick vorüberkamen, atmete die Kichernde tief ein und sagte dann: »Oh, Robin! Nimm es nicht so ernst! Es stimmt vielleicht gar nicht!«

Rick beobachtete, wie das andere Mädchen sich die Augen rieb. »Aber wenn doch?«, sagte sie. »Ich kann nicht glauben, dass er …« Dann waren beide außer Hörweite.

Noch jemand kam ihm aus der Ecke entgegen, ein groß gewachsener Mann, ungefähr in seinem Alter. Als er Rick bemerkte, setzte er ein verlegenes Grinsen auf, zuckte die Achseln und wedelte ganz unaufgeregt mit seinem Zettel. »Zum fünften Mal mache ich den Test, und zum fünften Mal bekomme ich dasselbe Resultat.« Sein Lächeln verschwand, und seine Miene verfinsterte sich. »Allerdings weiß ich immer noch nicht, was es bedeutet.«

Bevor Rick irgendwas entgegnen oder einen Blick auf die Vorhersage werfen konnte, was er ehrlich gesagt gerne getan hätte, war Mr. Fünfmal an ihm vorbeigeeilt und wurde vom Strom der Passanten im Einkaufszentrum verschluckt. Jetzt war der Laden fast leer bis auf zwei Kids, die Jellybeans in eine Tüte füllten, und zwei Gestalten unter dem Schild, das auf die Maschine hinwies. Die eine Person, vermutlich ein Angestellter, hatte einen Haufen Geldscheine in der Hand; die andere war eine Frau mittleren Alters, die an ihrem Zeigefinger lutschte. Ein paar Augenblicke später senkte sie ihren Kopf, trat ein Stück zur Seite und gewährte Rick so zum ersten Mal einen Blick auf die Maschine.

Sie sah … niedlich aus, das war das richtige Wort. Niedrig, stabil, mit kurzen dicken Beinen. Das Loch, in das man den Finger reinsteckte, war größer, als er erwartet hatte, und durch dessen Anordnung in der Mitte des Geräts sah die Maschine wie ein metallisch graues Schweinchen aus.

Er konnte sich nicht verkneifen, die Frau anzuschauen, als sie ihren Zettel las. Einen Moment lang weiteten sich ihre Augen, bevor sie das Papier in die Tasche steckte und in die Abteilung mit der Schokolade ging. Rick vermutete allerdings, dass auf dem Zettel nicht »SCHOKO-FUDGE« stand. Er folgte ihr mit seinem Blick und konnte sehen, wie sie stehen blieb, ihre Vorhersage noch einmal herausholte und sie betrachtete, als ob sie sich vielleicht in den letzten Sekunden geändert haben könnte. Sie zog die Stirn in Falten und tippte sich mit einem Finger selbstvergessen gegen das Kinn, die Augen in weite Ferne gerichtet.

»Zwanzig Dollar.«

Die ungeduldige und gelangweilte Stimme des Angestellten machte Ricks Observation ein Ende. »Hä?«

Ein gereiztes Aufstöhnen: »Zwanzig Dollar, für die Maschine. Oder wollen Sie hier stehen bleiben und die Schlange aufhalten?«

Dermaßen in Verlegenheit gebracht, stellte Rick seine Tasche ab, griff nach seiner Brieftasche und drehte sich um, um sich bei den Leuten hinter ihm zu entschuldigen. Keiner da. Die Warteschlange bestand zur Gänze aus ihm.

Er fingerte ein Trio von Fünfern und einige Einernoten heraus – zwar hatte er eine Zwanzig-Dollar-Note, aber der Kerl hatte ihn verärgert –, streckte sie ihm hin und sagte: »Sehr witzig. In welchen Comedy-Clubs treten Sie mit Ihrem Programm auf?«

Der Bursche machte ein finsteres Gesicht und riss das Geld an sich; man konnte sehen, wie dabei seine unreine Haut sich rötete. »Egal, Mann. Ich habe die Nase voll von Leuten, die den ganzen Tag vor der Maschine herumlungern und sich nicht entscheiden können, ob sie mitmachen sollen oder nicht.«

»Ja, das muss ziemlich nervig sein. Ich wette, Sie selbst haben keinen Augenblick gezögert und waren sofort dabei.«

»Ich? Ich werde mir dieses Ding nicht antun, niemals.« Er schüttelte den Kopf und schaute mit vollkommener und äußerster Verachtung zur Maschine hinüber. »Ich meine, es ist cool, dass die Leute mich bezahlen, damit sie sich dann aufregen können, aber ich will es gar nicht wissen, okay?« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Das Geld wird nicht zurückerstattet.«

»Dazu besteht auch keine Veranlassung«, antwortete Rick knurrig, mittlerweile durchaus verärgert über dieses Benehmen. »Ich habe keine Angst.«

»Dann treten Sie bitte vor«, war die Antwort, nachdem seine Scheine zu einem ziemlich großen Notenbündel hinzugefügt worden waren. Bei der Todesmaschine waren keine Kreditkarten zugelassen, so schien es. Der Typ steckte das Geld ein und schaute ihn fragend an. »Wollen Sie heute noch, oder soll ich Ihnen einen Gutschein ausstellen?«

Es reichte. »Okay, ich möchte den Geschäftsführer sprechen.«

»Ha, den gibt es nicht.«

Rick schaute hinüber zu dem Mädchen hinter der Ladentheke, das Süßigkeiten verkaufte. »Was ist mit ihr? Ist sie Ihre Vorgesetzte?«

Diese Frage gab ihm erneut Anlass zu höhnischem Gelächter. »Ich bin der Chef. Das ist meine Maschine. Ich habe nur den Stellplatz vom Laden gemietet. Sie möchten also eine Beschwerde aufgeben? Ich verspreche Ihnen, dass ich sofort meine besten Leute darauf ansetzen werde.«

»Ihnen gehört diese Maschine? Und funktioniert die überhaupt?«

»Ja, die funktioniert, und ja, sie gehört mir. Ich habe sie direkt von der Firma gekauft, die sie herstellt, müssen Sie wissen. Das kann jeder. Ich hatte keine Lust mehr, Rasen zu mähen und Hamburger zu braten.« Er lehnte sich gegen die Wand und lächelte. »Das war das Smarteste, was ich jemals gemacht habe.« Nach ein paar Sekunden schwand der selbstzufriedene Ausdruck aus seinem Gesicht. »Hören Sie, Sie sollten jetzt wirklich mal in die Gänge kommen oder eben weitergehen. Hinter Ihnen warten jetzt wirklich Leute.«

Rick merkte an dem Gemurmel hinter ihm, dass der Mann recht hatte, also steckte er ohne ein weiteres Wort zu verlieren seinen Finger in die Schweineschnauze, tief ins Innere der Maschine.

Augenblicklich fing sie an zu brummen. Es war nicht so kalt, wie er erwartet hatte, sondern eher verstörend warm und weich, als ob an seinem Finger gesaugt wurde. Dieses wohlige Gefühl wurde von einem plötzlichen Einstich unterbrochen, mit dem ihm Blut abgenommen wurde. Die Vibrationen wurden stärker, und Rick bemerkte mit Erschrecken, dass er den Finger nicht mehr herausziehen konnte. Aber bevor er in Panik ausbrechen konnte, kam die Maschine zum Stillstand und gab seinen Finger frei.

Ein Stück Papier wurde von einem Schlitz an der Seite ausgegeben, und ohne groß darüber nachzudenken, nahm Rick den Zettel und trat beiseite. Dabei stieß er mit dem Bein tollpatschig seine Tasche um. Er konnte spüren, wie der Maschinenbesitzer ihn anschaute, aber Rick gönnte ihm nicht die Genugtuung eines Blickkontakts.

Er sammelte seine Einkäufe zusammen und verließ den Laden, den Zettel weiterhin fest umklammert und ungelesen in der Hand.

Draußen kämpfte er sich durch einen unvermittelt enorm angeschwollenen Strom von Einkaufenden und schaffte es bis zu einer Gruppe von Tischen in der Mitte des Ganges. An einem dieser Tische saß eine junge Frau, die versuchte, ihrem schreienden Baby die Flasche zu geben. Rick ging zu dem von ihr am weitesten entfernten Tisch, ließ sich in einen Stuhl fallen, der es ihm ermöglichte, den Laden im Auge zu behalten, aus dem er gerade gekommen war. Er hatte das Gefühl, als müsse er sich vor einem Überraschungsangriff der Maschine in Acht nehmen, die mit ihren albernen kleinen Stummelbeinchen hinter ihm hertrampelte, um noch eine Blutprobe zu nehmen, diesmal eine viel größere.

Das durchdringende Heulen des Kindes nebenan riss Rick aus seinen Gedanken, und auf einmal bemerkte er, dass er das Stück Papier in seiner Faust zerdrückt hielt. Er stellte seine Tasche ab und starrte seine geschlossene Hand an. Es wäre ganz einfach, ja fast mühelos, jetzt allen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen. Wirf das Stück Papier einfach in den nächsten Mülleimer. Verdammt, es einfach auf den Boden zu schmeißen reichte schon. Er hatte schon für weitaus absurdere Dinge zwanzig Dollar ausgegeben, was wäre schon dabei?

Er legte die Knöchel aufeinander, verschränkte die eine Hand in der anderen. Wenn an den Geschichten was dran war, käme beim nächsten Mal genau dasselbe Ergebnis heraus, auch wenn er den Zettel einfach wegwerfen würde. Es gab also keinen Grund, sich jetzt hineinzusteigern. Er sollte wirklich Shannon finden und ihre vollen sinnlichen Lippen küssen, ein paar unanständige Bemerkungen darüber machen, was sie später miteinander anstellen könnten, wenn sie nach Hause kommen, und anstatt beleidigt zu reagieren, würde sie das Angebot mit etwas noch Besserem übertreffen. Rick merkte, wie er lachen musste. Warum wollte er überhaupt wissen, wie er sterben würde, wenn er eine Frau wie sie in seinem Leben hatte? Da musste man nicht lange überlegen. Eine einfache Entscheidung.

Aber stattdessen öffnete er erst seine Faust und entfaltete dann das Papier.

Es gab keine besondere Schriftart, ohne Rahmen, keine Farbe. In einfachen schwarzen Buchstaben stand geschrieben: »LIEBE.«

Rick drehte das Papier um, um zu sehen, ob er etwas übersehen hatte. Nichts als Liebe. Er runzelte die Stirn und schüttelte verstört den Kopf. »Was zum Teufel soll das denn heißen?«

Er schaute sich um, konnte aber keine Antworten finden, nur die Mutter, die ihr mittlerweile beruhigtes Kind liebkoste. Wie konnte man an Liebe sterben? Zu viel Liebe? Zu wenig? War vielleicht die Liebe von jemand anderem gemeint, zum Beispiel der verrückte Exfreund von Shannon? Er hatte gedroht, Rick in den Arsch zu treten, falls sie sich begegneten – wie viel oder wie wenig wird nötig sein, dass dieser Spinner ein Messer nimmt. Oder was war mit dieser verrückten Tussi, mit der Shannon zusammengewohnt hat, als sie und Rick sich kennenlernten, wie hieß sie nochmal? Kerry? Kara? Sie heulte sich damals die Augen aus, als Shannon ihr die Schlüssel zurückgab, und verstand überhaupt nichts mehr. Durchbohrte Rick die ganze Zeit mit ihren Blicken. Ganz bewusst schlug er höflich ihre Einladung zum Kaffee aus. Lauerte sie hier irgendwo auf ihn?

Oder vielleicht hatte es auch gar nicht mit jemand anderem zu tun. Meinte die Maschine überhaupt Liebe im emotionalen Sinne? Vielleicht würde es beim Sex passieren. Oder Shannon und er würden eine so schmerzhafte Trennung durchmachen, dass er nur am Ende eines Stricks Trost fände? Vielleicht wünschte sich der Verlassene auch einen dramatischeren, irrationaleren, brutaleren Abschluss?

LIEBE. Rick sah noch einmal in seine Zukunft, auf seinen Tod, bevor er den Zettel zusammenknüllte und auf den Boden warf. Er war ein Mann, kein Kind, und sein Leben würde nicht von irgendeiner lächerlichen Vorhersage einer Maschine bestimmt werden, über die er nichts wusste und die irgendeinem Klugscheißer gehörte, der wahrscheinlich Spaß daran hatte, andere Leute um den Verstand zu bringen. Rick und Shannon hatten eine gute Beziehung, eine starke Beziehung, die beste aller Zeiten. Kein Möchtegern-Orakel würde das ändern. Sie musste nichts davon erfahren, und er würde ihr nichts erzählen. Die Angelegenheit war abgeschlossen, wenn es nach ihm ging. Ihr gemeinsames Leben konnte wie bisher weitergehen, ein Stück Himmel auf Erden, zwei Menschen, die füreinander gemacht waren.

Wie aufs Stichwort umschlangen ihn von hinten zwei Arme und hüllten ihn in einen vertrauten Duft, während ihre Haare auf seine Schultern fielen.

»Na, du Hübscher«, säuselte ihm Shannon ins Ohr. »Ganz alleine?«

Sie beendete ihre Frage mit einem Kuss in seinen Nacken.

Rick erschauderte.

Erzählung von Kit Yona

Illustration von Vera Brosgol

Von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werden

»Liebe Mrs. Murphy, Sie sollten wissen, dass ich von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werde.«

Simon Pfennig war sich darüber im Klaren, wie sonderbar er klingen musste.

Er hatte keine Wahl. Es war zu aufregend, um es nicht mit jemandem zu teilen.

Eine erschrockene Stille am anderen Ende der Leitung folgte. Nachvollziehbar, dachte Simon.

Er stellte sich vor, wie sie in ihrem Salon saß (hatten die Leute überhaupt noch »Salons«?) und dem Vertreter am anderen Ende der Leitung zuhörte, der über die schönen neuen Lebensversicherungen von Assekuranz XY für Bürger über Fünfzig schwadronierte, darüber, wie abgesichert die Angehörigen wären, falls man irgendwann mausetot aus den Latschen kippte, und wie froh man sein würde, dass man wenigstens zu keiner großen finanziellen Belastung geworden sei, wenn der letzte Vorhang fiele, und plötzlich, Peng!, aus heiterem Himmel, lässt er so einen Satz fallen. Verdammt richtig, dass sie sprachlos war.

»… Entschuldigung?«, brachte Mrs. Murphy schließlich hervor.

»Ich«, sagte Simon, »werde von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werden.«

»Tut mir leid«, sagte Mrs. Murphy, »haben Sie nicht gerade noch mit mir über Versicherungen gesprochen?«

»Habe ich. Jetzt rede ich über Löwen.«

»Oh«, sagte Mrs. Murphy und war offensichtlich unschlüssig, was sie von der ganzen Sache halten sollte.

»Wussten Sie, dass ein ausgewachsener Löwe bis zu vierunddreißig Kilo Fleisch auf einmal fressen kann? Und dass diese Mahlzeit oft bis zu einer Woche reichen muss?«

»Wusste ich, äh, nicht.«

»Das wären dann insgesamt zwei ganze Mahlzeiten, die man aus mir herausbekommen könnte!«, sagte Simon. »Grobe Schätzung, denn ich bestehe ja nicht nur aus Fleisch.«

»Na ja, wer tut das schon?«, antwortete Mrs. Murphy mutig.

»Eben. Zum einen sind da die Knochen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel meine Knochen wiegen. Löwen mögen keine Knochen, sie überlassen sie den Hyänen. Aber, liebe Mrs. Murphy, das macht mir nichts aus. Denn ich werde von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werden, nicht von Hyänen.«

»Das sagten Sie bereits.«

»Ich werde schon lange tot sein«, sagte Simon, »bevor die Hyänen mich überhaupt zu fassen bekommen.«

»Aha.«

»Obwohl ich natürlich nicht damit rechne, dass ich ganze zwei Wochen reichen werde. Ganz und gar nicht! Schließlich, wie Sie wissen, werde ich von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen, Plural, nicht von ›einem Löwen‹. Männliche Löwen streifen selten in Rudeln durch die Savanne, wenn sie keine Junggesellen mehr sind.« Simon lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, betrachtete das einsame Neonlicht, das über seiner kleinen Arbeitskabine angebracht war, und stellte sich einen Moment lang vor, es wäre die glühende Sonne der Serengeti.

»Nein«, fuhr er fort, »wahrscheinlich werde ich von Löwinnen in Stücke gerissen und aufgefressen, von einer Gruppe Jägerinnen, die fest entschlossen sind, ihren Patriarchen was zu essen mit nach Hause zu bringen.«

»Ach … so.«

»Wie Sie sich vorstellen können«, fuhr Simon fort, »habe ich mir bereits meine Gedanken darüber gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das Wort ›Löwen‹ sich nicht ausschließlich auf die männlichen Tiere der Art bezieht. Das ist eine gute Nachricht für mich, wissen Sie, denn zugegebenermaßen habe ich doch eine romantische Vorstellung von meinem Ende.«

Mrs. Murphy lächelte ins Telefon; man konnte es an ihrer Stimme hören. »Sie haben heute Ihre Vorhersage bekommen, nicht wahr?«

»Eigentlich«, sagte Simon, »habe ich sie schon seit sieben Wochen.«

»Oh«, sagte Mrs. Murphy.

»Aber, Entschuldigung, Sie haben Recht. Wir sollten wohl wieder über Lebensversicherungen sprechen.« Simon räusperte sich, richtete seine Krawatte und schaltete seine Verkäuferstimme wieder ein. Er hatte eine wohlklingende Verkäuferstimme, eindringlich und mitreißend, aber sie wies furchtbar wenig Ähnlichkeit mit der Stimme auf, mit der er sein ganzes bisheriges Arbeitsleben bestritten hatte − bis zu dem Tag vor fast zwei Monaten, den Simon mittlerweile gern den »Von-Löwen-in-Stücke-gerissen-und-aufgefressen-Tag« nannte.

»Liebe Mrs. Murphy«, begann der neue, enthusiastische Simon, »wussten Sie, dass im Falle eines plötzlichen, unerwarteten Todes diverse Kosten auf Ihre Familie zukommen könnten von …«

»So, so«, sagte Mrs. Murphy, »tut mir leid, darauf habe ich nur gewartet, junger Mann. Ich werde an Darmkrebs sterben, nicht von einem Moment auf den anderen an einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Mir bleibt genug Zeit, um meine Angelegenheiten zu regeln.«

So etwas bekam er heutzutage öfter zu hören. Aber Simon kannte den Leitfaden der Firma:

»Ehrlich gesagt, das erzählen uns viele unserer potenziellen Kunden, liebe Mrs. Murphy«, sagte Simon, »aber auch wenn Sie denken, dass Sie aufgrund Ihrer Vorhersage über die Art Ihres Ablebens im Bilde sind, können die genauen Umstände oft überraschend sein. Sowohl für Sie als auch für die Ihnen nahestehenden Personen.«

Mrs. Murphy kicherte. »Ich bitte Sie«, sagte sie, »ist Ihnen jemals zu Ohren gekommen, dass jemand über die Straße geht und schlagartig von Darmkrebs dahingerafft wird?«

Simon musste zugeben, dass er so etwas noch nie gehört hatte.

»Ich bin ziemlich sicher, dass es mir vorherbestimmt ist, friedlich in einem Krankenhausbett zu sterben, junger Mann«, sagte Mrs. Murphy. »In Weiß gehüllt und im Kreise meiner Familie. Vermutlich werde ich auch Schmerzen haben, aber das ist unausweichlich.«

»Liebe Mrs. Murphy, wenn ich …«

»Junger Mann«, sagte Mrs. Murphy, »genau wie Sie habe ich auch meine Idealvorstellung. Und ich bin nicht bereit, sie mir von Ihnen nehmen zu lassen, weil es vielleicht möglich wäre, dass die Würfel doch anders fallen.« Ihre Stimme lächelte wieder. »Auch Sie haben ja Ihre ganz eigene Vorstellung. Und wenn Sie darüber nachdenken«, sagte sie, »werden Sie mich verstehen.«

Simon dachte darüber nach. Und er verstand.

»Tja«, sagte er nach einem Moment, »dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.«

»Für Sie auch«, sagte Mrs. Murphy, »Gott schütze Sie. Und grüßen Sie die Löwen von mir.«

»Wird gemacht, liebe Mrs. Murphy«, sagte Simon. Es klickte in der Leitung, als sie auflegte, danach war ein tiefes, langgezogenes Summen zu hören.

Pflichtbewusst wählte die automatische Wählvorrichtung eine neue Nummer.

»Mann«, sagte Scott, der Typ in der Arbeitskabine nebenan, »du musst damit aufhören. Armbruster wird ausrasten, wenn er dich irgendwann dabei erwischt.«

Simon rückte mit dem Stuhl näher an den Schreibtisch heran und wollte seinen Wandnachbarn wie üblich ignorieren. Schließlich hatte er Versicherungen zu verkaufen.

»Dieser Todesmaschinen-Schwachsinn sollte nicht dein Leben bestimmen, Mann«, fuhr Scott unverdrossen fort, während Simon darauf wartete, dass jemand seinen Anruf entgegennahm. »Ich meine, herrje, schau dich doch mal an. Seit dieser Sache mit der Vorhersage bist du total übergeschnappt. Mit dem Anzug und der Krawatte und …«

Ein Anrufbeantworter ging ran. Kurz ließ er das Headset auf die Schultern sinken und fuhr mit seinem Schreibtischstuhl herum.

»Die Kunden hören die Krawatte, Scott«, sagte Simon, »genauso wie sie ein Lächeln hören.«

»Ach ja«, sagte Scott, »du glaubst also wirklich, dass sie auch diesen kleinen Fleck hier auf meinem Hemd hören können?«

»Das glaube ich«, sagte Simon.

»Wow«, sagte Scott mit gespieltem Erstaunen.

»Das müssen ja ziemlich feine Ohren sein, Simon.« Er kicherte und drehte sich ein paarmal in seinem Stuhl. »Mann, du bist echt durchgeknallt«, sagte er.

Simon zog seinen Stuhl wieder an den Schreibtisch heran und setzte die Kopfhörer auf, gerade rechtzeitig, um zu hören, wie der Anrufbeantworter sich abschaltete. »Jeder«, sagte er mit angemessener Gelassenheit, »so wie er es mag.«

»Wie bitte?«, sagte Scott. »Ich habe dich nicht verstanden, Mann. Zwischen meinem Fleck und deiner Krawatte ist es einfach verdammt nochmal viel zu laut.«

Simon schüttelte den Kopf, und die automatische Wählvorrichtung ließ wieder ihre Zauberkräfte walten, um ihn mit einer weiteren einmaligen Gelegenheit zu verbinden. Es lohnte sich nicht, sich über Scotts kleine Sticheleien aufzuregen. Schließlich, dachte Simon, war er wahrscheinlich gelangweilt und ein wenig deprimiert und versuchte daher seinen Frust an den Leuten um ihn herum abzureagieren. Im Grunde war er ein guter Kerl. Er brauchte vielleicht nur eine Perspektive im Leben, oder zwei; das würde ihm guttun.

Simon hatte es auf jeden Fall gutgetan. Er selbst hatte zwei Ziele im Leben: (1) in Stücke gerissen und (2) aufgefressen werden, von Löwen.

Und das hatte schon viel ausgemacht, wirklich.

Der Vormittag verflog mit einer Reihe höflicher Zurückweisungen. Und bald war es Zeit für die Mittagspause. Als er neben der Mikrowelle im Aufenthaltsraum stand, staunte Simon, wie schnell der Tag verging. Es sollte eine kurze Mittagspause werden; Simon hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie man den Verkaufsleitfaden der Firma verbessern konnte, und da die automatische Wählvorrichtung ihm wenig Zeit ließ, während der Arbeitszeit daran weiterzuarbeiten, wollte er einen Teil seiner Pause dieser Aufgabe widmen.

»Hey, Simon«, sprach ihn einer seiner Kollegen von hinten an. Brad. Blond, blauäugig und ein bisschen pummelig. Er und Simon waren ungefähr zur selben Zeit eingestellt worden, und Brad hatte ihn sich ziemlich schnell als Ansprechpartner ausgewählt. Das machte Simon nichts aus. Auch Brad war im Grunde ein guter Kerl. »Ich bin gerade auf dem Weg zu Mickey’s. Soll ich dir ein paar Pommes oder irgendwas anderes mitbringen?«

»Heute nicht, Brad!«, antwortete Simon und hantierte mit einer leeren Packung herum, deren einstiger Inhalt sich nun in der Mikrowelle aufwärmte. »Heute gibt es Rosmarinhähnchen und Gemüse.«

»Rosmarin«, sagte Brad und runzelte die Stirn, »sind das Kräuter oder so?«

»Allerdings«, antwortete Simon.

Brad dachte einen Moment darüber nach. »Du isst also jetzt Kräuter?«, sagte er schließlich.

»Jawohl«, sagte Simon. »Das gehört sich so, schätze ich. Immerhin ist man das, was man isst. Oder, Brad?«

»Dann bin ich wohl inzwischen eher ein dreifaches Roastbeef-Sandwich mit geschmolzenem Käse.«

»Wahrscheinlich«, sagte Simon diplomatisch. »Aber für mich wäre das nichts.«

Simon lächelte in sich hinein, sein Blick ging in die Ferne. »Nein, Brad, von jetzt an möchte ich mich ganz besonders, sogar ausnehmend gesund vorbereiten. Und wenn möglich«, ergänzte er, » mit Kräutern.«

Brads Augen verengten sich. »Warte mal«, sagte er, »hier geht’s doch nicht schon wieder um diese Geschichte mit den Löwen, oder?«

»Es wird immer um diese Geschichte mit den Löwen gehen, Brad. Von jetzt an, bis es passiert.«

»Du bist besessen, Mann.«

Simon grinste. »Kann sein«, sagte er.

»Absolut!«, rief Scott von seinem Ecktisch. Spöttisch lächelte er sie mit vollem Mund an

»Hey, halt’s Maul«, sagte Brad.

»Komm doch rüber, Dickerchen«, antwortete Scott. Dann warf er ein Stück Zwiebel nach ihm.

»Kleiner Scheißkerl«, murmelte Brad und pflückte die Zwiebel aus seinen Haaren.

»Schau mal, Simon«, sagte er und legte seine Hand auf Simons Schulter. »Kleiner Tipp unter Freunden. Lass dich nicht von der Maschine des Todes versklaven. Du darfst dich nicht von ihr unterdrücken lassen. Benutze sie, um dich zu befreien.« Brad breitete seine Arme aus und zeigte seinen beträchtlichen Oberkörper. »Ich meine, schaut mich an.«

»Geht nicht«, sagte Scott und schluckte seinen letzten Bissen hinunter. »Du füllst unser gesamtes Blickfeld aus.«

»Hmpf«, machte Brad, streckte seine beiden Doppelkinne selbstgefällig in die Höhe und drehte Scott seinen Rücken zu. »Simon, schau mich an. Ich werde bei einem Autounfall oder so sterben. Also bereiten mir die Roastbeef-Sandwichs kein Kopfzerbrechen mehr. Über Getränke-Refills denke ich nicht mehr nach. Und dass ich Chili und Käse auf meine Pommes nehme, anstatt mich gesund zu ernähren und lieber mal darauf zu verzichten, ist mir egal.« Er lächelte freundlich. »Siehst du?«, sagte er. »Hat sich gar nicht viel geändert. Ich weiß, dass es egal ist, was ich esse, also esse ich, was ich will. Und mir geht’s besser dabei.«

Brad schüttelte den Kopf und sagte dann: »Aber du, Simon, du denkst mittlerweile rund um die Uhr an diese Sache. Das ist nicht gut für dich.«

»Ich will die ganze Zeit daran denken, Brad«, sagte Simon ernst. »Du kannst es dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue.«

»Oh Mann, Simon«, sagte Brad. »Warum bloß?«

»Weil«, antwortete Simon, und in seinen blassbraunen Augen konnte man die Weite der Steppe selbst sehen, »es das Aufregendste sein wird, das mir jemals passiert.«

Brad zuckte mit den Achseln. »Wie du willst«, sagte er. »Aber ich habe in diesem Ratgeber, den mir meine Mutter gegeben hat, gelesen, dass man sein Leben im Hier und Jetzt nicht aufgeben sollte, nur weil man es nicht erwarten kann, irgendwann in der Zukunft von einem Haufen Löwen aufgefressen zu werden.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Simon, »ich gebe meine Gegenwart nicht auf. Ich bin glücklicher, fühle mich lebendiger und lebe gesünder als jemals zuvor.« Er lächelte. »Die Sache ist die, Brad«, sagte er, »alles, was ich für meine Löwen tue, verbessert auch mein Leben.«

Vom Eingang des Aufenthaltsraums war ein Räuspern zu vernehmen. Simon schaute auf.

»Pfennig«, sagte Paul Armbruster (Vizepräsident und verantwortlich für besondere Presseanfragen) und beugte sich in den Raum. »Wenn Sie einen Moment hätten. Bitte in mein Büro.«

Stille. Simon zwang sich zu lächeln. »Natürlich, Sir«, sagte er, warf die Verpackung seines Fertiggerichts in den Abfalleimer und schritt zur Tür.

»Nach der Mittagspause reicht vollkommen«, sagte Mr. Armbruster. Die Enden seines Schnurrbarts reckten sich in die Höhe zu einer kleinen Grimasse, als ob jemand mit einer Pipette Zitronensaft auf sie geträufelt hätte.

»Aber bald. Wir müssen über Ihre … Performance sprechen.«

Simons Lächeln ließ nicht nach. »›Performance‹ im Sinne von ›meine Arbeitsleistung im Verhältnis zur erforderlichen Quote‹?«

»Nein«, sagte Mr. Armbruster und saugte nachdenklich an seiner Zunge. »›Performance‹ im Sinne von ›Oh, schau mal, dieser Tanzbär auf dem kleinen Einrad‹. Diese Art von Performance. Insbesondere«, fügte er hinzu, »Ihre Performance heute Morgen, Pfennig.«

»In Ordnung«, sagte Simon, immer noch eisern lächelnd. »Nach dem Essen dann?«

»Ja«, sagte Armbruster, »wenn ich darum bitten dürfte«, und verschwand von der Bildfläche.

Die anschließende Stille wurde nur von Scotts leisem Gekicher in der Ecke unterbrochen.

Brad lächelte Simon verlegen an.

Die Mikrowelle klingelte.

»Pfennig«, sagte Mr. Armbruster und deutete mit der einen Hand auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch, während er mit der anderen heroische Versuche unternahm, seine Haare über der Glatze zu fixieren. »Nehmen Sie bitte Platz.«

»Sie wollten mich sprechen, Sir?«, sagte Simon und setzte sich.

»Das ist in der Tat der Grund, warum Sie sich jetzt gerade in meinem Büro befinden«, sagte Mr. Armbruster.

Einen kurzen Moment lang saugte Armbruster wieder an seiner Zunge. Dann beugte er sich vor, holte eine kleine Messingschale hinter einer extravaganten hölzernen Schreibtischuhr hervor und reichte sie Simon.

»Schokokugel?«, fragte er.

»Dazu sage ich nicht Nein«, sagte Simon und griff mit Freude zu.

Armbruster beobachtete Simon, wie er dasaß und geräuschvoll kaute. »Sie wissen vielleicht«, fing er an, »warum Sie heute hier sind.«

»Ich glaube schon«, sagte Simon und schluckte die Schokoladenkugel herunter. »Es gibt schlechte Nachrichten.«

Armbruster seufzte. »Simon«, sagte er. »Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich mit Ihrem neuen Enthusiasmus, wie entschlossen Sie Versicherungspolicen am Telefon verkaufen, sehr zufrieden gewesen bin. Sie zeigen ein Engagement, das, nun ja, sagen wir, in diesem Haus ungewöhnlich ist. Sie erinnern mich ein bisschen an mich selbst, als ich in Ihrem Alter war.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte Simon.

»Dies vorausschickend«, sagte Armbruster und beugte sich noch weiter nach vorn, »müssen Sie damit aufhören, unseren potenziellen Kunden in grauenvoller Ausführlichkeit zu erzählen, dass Sie vorhaben, nach Afrika zu fahren und sich von einem Löwen auffressen zu lassen.«

»Von mehreren Löwen«, berichtigte Simon höflich.

»Das ändert nichts«, sagte Armbruster, »am Kern meiner Ausführungen.«

»Verstehe«, sagte Simon und biss sich auf die Zunge. »Aber ›in grauenvoller Ausführlichkeit‹, Sir?«, fragte er. Und dann: »Kann sein, dass ich darüber vielleicht manchmal ein Wort zu viel verloren habe, aber …«

Armbruster griff unter seinen Schreibtisch und holte ein Diktiergerät hervor. Er drückte einen Knopf. »… Innereien!«, tönte Simons Stimme. »Nicht so geschätzt wie Muskelfleisch, das oft vom dominanten Männchen des Rudels beansprucht wird, aber nichtsdestotrotz voller guter, nahrhafter …«

Armbruster drückte auf Stopp.

Die Uhr auf dem Tisch tickte.

»Nun ja«, sagte Simon. »Ich verstehe, worauf Sie möglicherweise …«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen die Ernsthaftigkeit der Lage ausreichend klargemacht habe, Simon«, unterbrach Mr. Armbruster. »Lassen Sie mich ein für alle Mal klarstellen, dass ich kein Interesse daran habe, dass Consolidated Amalgamated Mutual als ›die Firma mit diesem Typen, der die ganze Zeit über Löwen redet‹ bekannt wird. Ich warne Sie. Ich werde Ihnen so ein Verhalten wirklich definitiv nicht mehr durchgehen lassen. Haben wir uns verstanden, Mister Pfennig?«

»Mhhm«, sagte Simon fröhlich.

Armbruster kniff seine Augen zusammen. »Ich versuche es noch mal anders«, sagte er und nahm einen Stift, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Es geht um Ihren Job, Simon. In dieser Wirtschaftslage heutzutage arbeitslos zu werden ist kein Zuckerschlecken. Nicht in dieser Stadt, glauben Sie mir.«

Simon nickte vergnügt. »Ich verstehe, Sir«, sagte er.

»Sieht nicht so aus, als ob Sie verstanden hätten«, sagte Mr. Armbruster. »Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit wäre wohl angebracht.«

Simon dachte einen Moment nach. »Sir, ich bitte um Erlaubnis, offen mit Ihnen sprechen zu dürfen.«

»Wir sind hier nicht beim Militär, Simon«, sagte Mr. Armbruster.

»Nun ja,«, sagte Simon. Er riss sich zusammen. »Nun, Sir, es fällt mir ziemlich schwer, mich darüber aufzuregen, dass ich meinen Job verlieren könnte, Sir.«

Er hob seine Hand, um Armbrusters Einspruch vorzubeugen. »Aber so meine ich es gar nicht«, fuhr er fort. »Ich werde von jetzt an versuchen, den Kunden nicht mehr von meinen Löwen zu erzählen. Nur was passiert, wenn ich es nicht schaffe …?«

Simon zuckte mit den Schultern. »Na ja, irgendein anderer Job wird sich schon ergeben. Irgendwie muss ich meine Afrika-Safari ja finanzieren.« Er lächelte. »Das sind nicht nur vage Hoffnungen und Träume, Mister Armbruster«, sagte er. »Es ist Teil meines Schicksal.«

Armbruster betrachtete Simon einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. »Sie sind ein komischer Kauz«, sagte Armbruster. »Wenn Sie nicht so ein guter Verkäufer wären, hätte ich schon längst Ihre Kündigung aufgesetzt, Ihren Arsch eigenhändig aus diesem Gebäude hinausgeleitet und Stacy beauftragt, eine Rechnung für das Schokobällchen aufzusetzen. Aber für jede Löwengeschichte, die ich aufgenommen habe, gibt es zwei oder mehr Fälle, bei denen Sie einfach nur durch Ihre Art widerspenstige Kunden herumgekriegt haben. Und das ist die Einstellung, die wir hier brauchen. Dringend.«

»›Dringend‹, Sir?«, hakte Simon nach.

Armbruster pochte ein paarmal mit seinem Stift auf den Tisch. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mit Ihnen darüber reden sollte«, sagte er. »Laut der letzten Aufsichtsratssitzung läuft es nicht gut für Consolidated Amalgamated Mutual. Die Situation ist nicht besorgniserregend«, fügte er schnell hinzu, »aber wenn man den Absatz des ersten Quartals mit dem vor zwei Jahren vergleicht, nun ja, ist es ernüchternd, gelinde gesagt. Und das betrifft den ganzen Konzern, Simon. Nicht nur Targeted Media Solicitation. In allen Bereichen.«

Er seufzte tief und feuerte seinen Stift zurück in die kleine Tasse auf dem Schreibtisch. »Alles wegen dieser Maschine des Todes, Simon«, sagte er. »Unser Geschäft ist die Unsicherheit. Wir können nur anbieten, die Welt gegen die bedrohliche unvorhersehbare Zukunft abzusichern.