Machtmenschen - Torunn Siegler - E-Book

Machtmenschen E-Book

Torunn Siegler

4,8

Beschreibung

Torunn Siegler präsentiert in ihrem dystopischen Gesellschaftsroman "Machtmenschen" eine perfekt inszenierte arische Urlaubsidylle im kolossalen Kraft-durch-Freude-Seebad auf Rügen. Zumindest wird dies den 20 000 Gästen suggeriert. Genießen sie sie wirklich? Und welche Positionen nehmen die Heerscharen von Angestellten, Arbeitsmaiden und Ostarbeitern in diesem Gefüge ein? Der Blick auf fünf Einzelschicksale zeigt die Abgründe dieser Gesellschaft: nah, verstörend und unausweichlich. Akribisch recherchiert, fundiert und bis ins Detail ausgearbeitet, wird der Leser tief in eine postfaktische Welt hineingezogen, die gleichzeitig bekannt wirkt und befremdet. Macht ist immer ambivalent: einerseits konstruktiv und unabdingbar, anderseits destruktiv, wenn sie in Gewalt umschlägt. Die Folgen der Macht erleben diese Menschen in der germanischen Führerdiktatur im Jahr 2017 tagtäglich am eigenen Leib. Sie bestimmt nicht nur das gesellschaftliche Miteinander und die Arbeitswelt, sondern auch das Private und das Familienleben. Wie Getriebene suchen die Menschen nach einem sicheren Ort. Heidrun aus München will auf Rügen ihren Sohn besuchen. Doch die Reise ist von Vorahnungen überschattet, die in einer Katastrophe enden. Nicht anders ergeht es Bernhard, ihrem Sohn und SS-Offizier, Waltraud, der Arbeitsmaid, und Bogdan, dem Ostarbeiter. Die Führerin Hedwig will in einer epochalen Rede einen strategischen Wechsel in der Politik der Nationalsozialisten ankündigen, wird dabei von den Ereignissen überrollt. Das spannende und brandaktuelle Buch stellt die Lebensentwürfe jedes Einzelnen in Frage. Wo die Grenzen legitimierter Macht aufhören und Machtmissbrauch anfängt, da entstehen immerwährende Fragen. Im Lichte aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen sind sie von jedem Einzelnen immer wieder neu zu beantworten.

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Inhalt

Schönheit des Lebens

Triumph des Willens

Segen des Glaubens

Kraft der Schöpfung

Kampf der Kreatur

Glossar

Es ist warm und leicht. Leicht und licht. Licht nähert sich, durchdringt, zieht weiter. Blaue Schatten drehen sich im Kreis und pulsieren zu grünen Wellen. Darüber ruht in Wärme das Abbild, es wird zu Licht und zieht weiter.

Leicht und licht, wellen und wärmen in unendlicher Weite. Nur die Ruhe durchbricht die Wogen der vollkommenen Tiefe.

Schemen ziehen durch den Ozean, der eine Welt umfängt. Lebewesen in Form und Farbe zart und gepanzert, ziehen pfeilschnell in aller Ruhe vorbei. Nur ein sanfter Strahl erhellt von Zeit zu Zeit die mannigfaltigen Geschöpfe. Perlmutt glänzt auf Schwärmen von schwebenden Gehäusen, die rückwärts dem Ziel entgegen gleiten. Tief unter ihnen wimmelt es von Getier zwischen Korallen, Tentakeln und Schwämmen, alles streckt sich empor und wiegt in Wärme und Licht. Rastlos regt es sich, ein unüberschaubares Streben in der matten Stille – bis die Wogen zerbrechen, alles emporheben in gleißende Höhen, das Leben an Land werfen – Schicht für Schicht eine Ruhestätte der Ungezählten und Unzählbaren.

Schönheit des Lebens

1

Eine Frau steht an der Reling und blickt nach innen. Ihre alterslose schlichte Schönheit gleicht einem ewigen griechischen Standbild. Trotz ihrer konventionellen Kleidung – sie trägt eine Bluse und einen knielangen, enganliegenden Rock – hebt sich ihre Gestalt deutlich von all den Menschen ab, die um sie herumwimmeln. Es ist aber eigentlich nicht ihre äußere Erscheinung, die sie aus der Masse heraushebt; denn diese unterscheidet sich nur in ihrer Vollkommenheit von den Mitreisenden. Die gedeckten Farben ihrer Garderobe, das flachsblonde Haar, die strahlend blauen Augen und die schlanke, aufrechte Gestalt: Alles fügt sich nahtlos ins Heer der restlichen Passagiere ein. Was sie aber heraushebt, ist ihre Haltung, welche Ruhe und Besinnlichkeit, gleichzeitig jedoch eine zarte Verlorenheit ausstrahlt.

Im Gegensatz zu ihr sind die anderen Passagiere nicht müßig, sondern eifrig damit beschäftigt, sich mit dem Nachbarn zu unterhalten, große Mengen von Getränken und Süßigkeiten in den Schiffsbüdchen zu ergattern oder die neusten Nachrichten auf ihrem Volksempfänger1 abzuhören. Als unvermittelt und in infernalischer Lautstärke die neusten Informationen zu Sehenswürdigkeiten aus den Lautsprechern schallen, richten sich unter vielen Ohs und Ahs alle Körper mit ihren Köpfen in Richtung Küste aus.

Diese gleichgeschaltete Bewegung lässt die Frau mit einem Schlag aus ihrer inneren Versenkung aufschrecken.

»Na toll, jetzt bin ich schon wieder abgeschweift, anstatt einfach die Fahrt zu genießen … oder zumindest etwas über unsere einmalige Natur zu lernen.«

Diese Worte sind der innere Widerhall unzähliger Ermahnungen ihrer Lehrer, Kommentare ihrer Mitmenschen oder Neckereien ihres Mannes. Eine deutsche Frau ist tatkräftig und lebensbejahend: Sie grübelt nicht, sinniert nicht. Umgehend, aus einer Gewohnheit, die ihr beinahe inneres Gesetz ist, reißt sie sich zusammen, gefolgt von einem fast unmerklichen Zittern ihres gesamten Körpers. Mit einer Drehung um die eigene Achse taucht sie für einen Augenblick in die Gemeinschaft ein, doch ohne echten inneren Anteil, der sie mit der Realität verbindet, entschwebt ihre Fantasie wie ein schnurloser Ballon. Die Schultern schwenken traumwandlerisch zurück und ihre Haltung ist wieder dieselbe, wie zu Beginn der Bewegung.

Ein Traum hält sie gefangen, ein Traum der letzten Nacht, der ihr wirklicher war als manches Ereignis bei Tage. Warm und wohlig spürt sie noch immer die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, wo das Licht durch das Wasser bis zu ihr gedrungen war. Sie war Teil eines urzeitlichen Meeres, ihre Seele in unendlicher Ruhe und unendlich beruhigt und eins mit dem vollkommenen Ozean. Nun aber ist sie seltsam erregt, fast bestürzt.

»Dafür gibt es doch gar keinen Grund«, schießt es ihr in den Sinn, als ihre Gedanken an der Oberfläche Luft holen. Es ärgert sie, dass sie sich in diesem besonderen Moment so wenig im Griff hat und ihn nun auf so sinnlose Art und Weise vergeudet, obwohl sie eben diesen Moment doch seit Monaten herbeigesehnt hatte.

»Na, träumst du schon wieder? Hier, dein Wasser.«

»Ach nein, ich schaue mir nur die Küste an«, antwortet sie betont gleichgültig. Ihr Mann sieht ihr aber auch alles gleich an. »Hast du dein Bier bekommen?«

»Irgendwas Lokales.« Er hakt seinen Ellenbogen um ihren Hals und küsst sie sehr feucht auf die Stirn.

Sie erwidert seine etwas ungestüme Zuwendung mit einer zarten Geste, indem sie seinen Oberarm leicht drückt, und versucht dann, sich vorsichtig aus dem Haken herauszuwinden, den sein Arm gebildet hat. Aber ihr Mann gibt sie im selben Moment frei, um sein Bier aufmachen zu können. Dabei erspäht er einen entfernten Kollegen von BMW.

»Wer hätte das gedacht, da ist ja der Wolfgang! Bin gleich zurück, Schatz!« Und schon entfernt er sich mit federndem Schritt in Richtung seiner Beute.

Das Münchener Ehepaar, Heidrun2 und Horst3, ist ein Musterbeispiel einer erfolgreichen germanischen Eheanbahnung. Beide von auffallend makelloser arischer Schönheit und in Liebe und unbedingtem Vertrauen dem Vaterland und der Partei ergeben.

Er: tatkräftig, unermüdlich, eine Stütze für seinen Betrieb, seine Familie und sein Volk.

Sie: ruhig, bescheiden, dem Mann Kameradin, der Familie Herzstück. In manchem sehr verschieden und gerade darum die perfekte Ergänzung.

Heidrun blickt ihrem Gatten liebevoll nach: »Was für ein schöner Mann er immer noch ist – von innen und außen!« Natürlich hat auch er seine Fehler, etwa seinen brutal ausgeprägten Gemeinschaftssinn. Wahrscheinlich haben sie in ihren dreißig Ehejahren noch keine fünf Minuten allein zusammen verbracht. Sie muss leicht schmunzeln – schön wie Balder4 hat er ausgesehen, als sie sich kennengelernt haben. Es war eigentlich nicht besonders romantisch auf jener KdF5-Reise gewesen, die speziell für erbgesunde Familiengründer mit Ahnenpass6 der Klasse I ausgerichtet worden war.

Aber es war Liebe auf den ersten Blick, wie es die Gebote zur Gattenwahl vorhergesagt hatten: Gleiches Blut führt zu einem Gleichklang der Seelen. Bereits im ersten Ehejahr kam Bernhard7 auf die Welt. Nur der Gott des reinen Lichts4 hatte so ein Kind zeugen können – ein Ebenmaß an Wuchs wie an Gesichtszügen und ein Charakter von einwandfreier nordischer Prägung. Wie hat sie dieses Kind geliebt, besonders die Augen! – ruhige graue Augen, die so sanft in die Welt blickten. Danach bekam sie noch drei weitere wunderbare Kinder, aber Bernhard blieb immer ihr Lieblingskind; unauflöslich durch unsichtbare Bande mit ihr verbunden.

Umso bitterer war die Trennung, als er ihr mit zwölf Jahren entrissen wurde, um auf die Adolf-Hitler-Schule8 zu gehen. Dies war zwar eine hohe Ehre, die ihrem Sohn jedwede Karriere in Partei und Staat eröffnete, doch in den folgenden Jahren sah sie ihn nur noch in den Ferien und auch diese waren angefüllt mit Schulungen, Veranstaltungen und Parteiabenden. Die schönen grauen Augen blickten immer noch sanft, aber mit jedem weiteren Jahr prägte sich in ihnen ein melancholischer Zug aus, der so gar nicht zu seinem arischen Gemüt passen wollte.

Und ebenso wuchsen über die Jahre die Sorgen seiner Mutter und hängen nun wie ein unheilvoller Schatten über ihrer Reise. Keine Mutter kann sich unbeschwert des Lebens freuen, wenn sie um das Wohl ihres Kindes bangt – wenn auch hoffentlich zu Unrecht. Heidrun fühlt sich innerlich zerrissen.

Ihr Verstand sagt ihr zwar, dass es ihrer Familie, und das schließt auch Bernhard ein, gut geht und dass sie deshalb diese Reise genießen darf, ja sollte. Doch ihre Gefühle sprechen eine andere Sprache und in dieser sagen sie auch etwas ganz anderes. Beklemmung und Albdruck steigen immer wieder in ihr hoch, und dann noch dieser seltsame Traum. Auf keinen Fall will sie jedoch ihre Lieben beunruhigen oder belasten. Sie beschließt, ihre Ängste für sich zu behalten. Äußerlich wird sie weiterhin ein Ebenbild an deutscher Gemütsruhe sein.

Sprachfetzen dringen undeutlich zu ihr herüber und beenden ihr Kopfzerbrechen.

»NS-Musterbetrieb – ich habe selbst das betriebliche Vorschlagswesen verziffert9 – Preis erhalten – Reise geehrt.« Ja, sie hatten die Reise tatsächlich als Anerkennung für den Einsatz ihres Mannes im Leistungskampf10 um den NS-Musterbetrieb11 von BMW bekommen. Noch mehr als die Reise als solche hat sie jedoch die Aussicht erfreut, Bernhard wiedersehen zu können, denn dieser ist in der Zwischenzeit SS-Propagandaleiter im KdF-Bad Rügen geworden. Ihre Hoffnung, was den Umfang seiner Freizeit angeht, ist nicht allzu groß – aber die wenige Zeit mit ihm will sie nutzen, um all ihre Bedenken zu zerstreuen, und jede Minute mit ihm will sie wie einen Schatz in ihrer Seele aufbewahren. Ein Fanfarenstoß lässt das Schiff erzittern und wieder wenden sich alle Gesichter, in Vorfreude getaucht, nach rechts.

»Heil Hitler, liebe Volksgenossen, Sie sehen auf Ihrer rechten Seite eine einmalige deutsche Kulturlandschaft, die in der Welt ihresgleichen sucht. Das Volkserbe-Zentrum Königsstuhl hat mit seinem Meer, der Kreideküste und den Alten Buchenwäldern schon unsere Vorfahren zum Bleiben eingeladen und zu ersten Kulturleistungen inspiriert – im heroischen Ringen mit Eiszeiten und Sturmfluten. Danach haben ungezählte Künstler wie Caspar David Friedrich, Johannes Brahms und Theodor Fontane die Fahne ergriffen und das Banner der deutschen Kultur weitergetragen. Bitte kontrollieren Sie auf ihrem Volksempfänger (VE), ob Sie im Kulturthing12 für einen Tag mit genauer Uhrzeit eingeteilt wurden. Seit über elftausend Jahren haben genau hier die ersten Herrenmenschen deutschen Boden geformt. Die Hundertschaften ihrer Hünengräber sind beredtes Zeugnis ihres Opferwillens. Tauchen Sie ein in die historischen Stätten unserer Volksseele und nehmen Sie dies als Maß Ihres täglichen Strebens für das Vaterland. Wir werden nun in wenigen Augenblicken in die Prorer Wiek einlaufen, wo Sie einen ersten überwältigenden Eindruck des KdF-Bades Rügen erhalten. Das erste Volksbad der Welt, noch vom Führer persönlich in Auftrag gegeben für sein geliebtes Volk, der Grundstein eigenhändig von ihm gelegt. Wir werden in circa 15 Minuten anlegen, bitte erweisen Sie der Liebe des Führers Respekt, kontrollieren Sie den anständigen Sitz der Uniform. Es folgt die Erste Sinfonie, op. 68, von Johannes Brahms, die er hier vollendet hat. Ein wahres arisches Genie. Heil Hitler!«

Unter dem opulenten großartigen Finale der Sinfonie setzt eine Kakofonie der Aktivitäten ein: Mütter rufen ihre Kinder, Männer suchen ihre Frauen, Uniformen werden glatt gestrichen, Frisuren kontrolliert. Die Posaunen erhöhen derweil das Tempo und die Klarinetten setzen ein. Kontrollwütige bestätigen ihre Termine im Volksempfänger und fast scheint es, als erzeugte das Orchester der Tippenden und Wischenden den Klang der Streichinstrumente. Auch Horst hetzt zu seiner Frau zurück.

»Sitzt bei mir alles? Ich hätte doch meine Uniform als Betriebsobmann anziehen sollen! Schau dich um, fast alle sind in Uniform!« Gequält blickt er Heidrun an.

»Ach Schatz, deine Leistungen und deine Liebe zum Volk sind dein Ehrenkleid! Die anderen brauchen vielleicht eine Uniform, um stolz und edel zu wirken, doch dir ist der Adel auf den Leib geschrieben. – Außerdem hast du doch die wichtigsten Orden am Revers«, beruhigt ihn Heidrun und kontrolliert dabei mit einer liebevollen Geste deren Befestigung.

»Sitzt denn meine Frisur noch? Ich habe mir extra die Haare wie unsere Führerin geflochten.«

Ihr blondes Haar ist tatsächlich zu drei dicken Zöpfen geflochten, die so um den Kopf gewirkt sind, dass sie das Gesicht wie eine Krone umrahmen. Sie wirkt dadurch noch erhabener als sonst.

»Du siehst wunderschön aus – wie Kriemhild13! Aber wo ist denn dein Ehrenkreuz als deutsche Mutter?«

»Ach, ich habe doch nur vier Kinder«, entgegnet Heidrun und blickt betreten zu Boden, »warum deswegen das Kreuz anstecken?« »Du hast mit unseren vier Kindern mehr zur Verbesserung des Rassekerns beigetragen als manche mit acht! Darauf kannst, nein, darauf musst du stolz sein!«

Mit einem Seufzer nimmt sie den Orden aus der Handtasche und ihr Mann befestigt ihn an ihrer Bluse, nicht ohne sie noch so fest zu drücken, dass das Kreuz einen tiefen schmerzhaften Abdruck in ihrer Haut hinterlässt. Ein kräftiger Stoß aus dem Schiffshorn beendet das allgemeine Treiben: Vor ihnen liegt Prora.

2

In einem makellosen Bogen öffnet sich die Bucht und gibt eine Szenerie frei, wie sie ein Urlaubsprospekt kaum idyllischer ausmalen könnte: Ein bilderbuchartiger Sandstrand rahmt das gesamte Areal ein. Wogende Kiefernwälder setzen grüne Akzente im Spiel von Weiß und Blau. Linker Hand schmiegt sich ein kleines pittoreskes Städtchen an den Meeresbusen, das aber kaum Beachtung findet. Alle Blicke werden magisch von dem monumentalen Lindwurm angezogen, der sich auf der schmalen Heide niedergelassen hat, um seine Schätze zu bewachen. Nur Eingeweihte und Gläubige dürfen ohne Reue verweilen, jedweder Eindringling würde dagegen durch Drachenblick in Stein verwandelt und selbst zu einem Teil der Wohnstatt. Es scheint, als ob ganze Armeen bereits bei solchem Versuch gescheitert wären – denn die Anlage ist gewaltig. Der Lindwurm hat seinen gesamten Leib parallel zur Küste ausgestreckt, auf fast fünf Kilometern reckt sich die Hauptfront des KdF-Bades dem Besucher herausfordernd entgegen. Tausende Fenster und Glasfronten glänzen wie Schuppen eines Drachenpanzers im Sonnenlicht. Wie Klauen greifen zwei riesige Seestege nach dem Schiff. In der Mitte thront die gigantische Festhalle, umgeben vom Festplatz. Hier schlägt das Herz der Volksgemeinschaft, denn hier kommt sie zusammen. Zu beiden Seiten umfassen die Halle vier Flügel mit Wohnhäusern und Gemeinschaftsräumen, die Schiffen gleichen, welche vor langer Zeit hier angelandet sind und nun eine amphibische Brücke zwischen Meer und Land bilden. Das Auge des Ungeheuers blickt vom 85 Meter hohen Turm ewig prüfend und unbestechlich. Dutzende von hünenhaften roten Hakenkreuzfahnen wiegen sich majestätisch im Wind, wie riesige Adern durchziehen sie das gesamte Areal, schmerzlicher Blutzoll der Unwillkommenen. Menschenmaterial bewegt sich ameisengleich an Stränden, Kaimauern und Gehwegen; angetrieben von einem Willen, hypnotisiert vom unbarmherzigen Auge der Bestie, gehorsam, zur Tat bereit. Stein gewordene Verkörperung eines Glaubens.

Heidrun fühlt sich selbst bereits wie versteinert, fasziniert und beeindruckt kann sie ihren Blick nicht abwenden. Fast kann sie spüren, wie das Auge auf ihr ruht. Ist sie willkommen? Wer hat bereits vor ihr bluten müssen? Wieder steigt eine Vorahnung in ihr auf, der sie kaum Herr wird.

»Das ist ja recht hübsch, aber geradezu mickrig im Vergleich zu unserer Reichskanzlei«, posaunt ein fast zwei Meter großer Hüne in grauer Uniform, die an neuralgischen Punkten bereits erschreckend spannt, herablassend heraus.

»Mal wieder typisch! Unsere lieben Brüder aus Germania14 meinen, sie wären die Größten«, raunt Heidrun ihrem Mann missbilligend zu. »He, Volksgenosse, ihr habt vielleicht die größten Bauten, aber das Braune Haus15 steht in München und die Hauptstadt der Bewegung16 bleiben wir! Ich finde es nicht gerade angemessen, wenn du so despektierlich von Hitlers ureigensten Bauten sprichst!« Horst baut sich eindrucksvoll vor dem SS-Mann auf. Ein zustimmendes Murmeln dringt von den Umstehenden zu ihnen. Der Germanier blickt dem Münchner missmutig direkt ins Gesicht, dann entspannen sich seine Gesichtszüge und es folgt ein kehliges Lachen.

»Wohl gesprochen, Genosse, manchmal werden wir etwas übermütig und glauben, wir sind die Größten – aber keiner von uns wäre etwas ohne den anderen!«, spricht er zu allen, dabei legt er Horst wohlwollend die Hand auf die Schulter.

Die Musik ist während des Disputs verklungen. Wie auf ein Kommando versuchen nun fast alle die Panoramafunktion der Kamera ihres Volksempfängers zu aktivieren, um die knappe Zeit, bis zum Anlegen, für ein Foto zu nutzen; nur von der Seeseite ist ein ganzes Bild des kolossalen Seebades möglich. Jeder will Freunde, Bekannte, Kollegen, Volksgenossen unmittelbar und umfassend teilhaben lassen und so werden eifrig Bilder und Texte ins Sippenbuch17 und in die Grußrune18 eingestellt. »Wir empfehlen Ihnen, die KdF-Bad-Rune auf Ihren VE herunterzuladen, neben Informationen und Plänen finden Sie auch eine Auswahl der besten Bilder und Filme«, plärrt es derweil aus dem Lautsprecher.

Erleichterung. Unverstellter Blick auf das Seebad.

Als das Schiff am längeren Steg anlegt, schallt ihnen bereits eine leicht unmelodische Marschmusik entgegen. Eine Jungenschaft von Pimpfen19 müht sich redlich mit ihren Instrumenten; in ihren Ehrenkleidern sehen sie allerliebst aus. Besonders ragt der Fahnenträger heraus: Seine heldenhafte Pose verleiht seinem kindlichen Gesicht eine alterslose Miene. Es kommt zu einem kleinen Stau an der Stiege, obwohl jedem per VE eine alphabetische Reihenfolge zum Aussteigen zugeteilt wurde. Heidrun und Horst haben den Buchstaben H, was Horst für ein gutes Omen hält und über beide Ohren grinst. Heidrun sieht es nicht. Sie beobachtet die Möwen, die scheinbar mühelos über ihren Köpfen schweben. Das Sonnenrad auf dem Schornstein leuchtet, angetrieben von den Sonnenstrahlen scheinen sich die vier propellerartigen Auswüchse der Svastika20 zu drehen. Das Rad löst sich vom Schlot, rollt nach links vom Schiff und verschwindet in Richtung Küste.

Da vibrieren die VE von Heidrun und Horst und die von weiteren achtundvierzig Volksgenossen: Das Signal zum Aufbruch. Auf dem Steg werden sie zunächst von Maiden begrüßt, die alle ihre Haare zu Schaukelzöpfen geflochten haben, mit roten, schwarzen und weißen Bändern. Den rechten Arm zum Deutschen Gruß erhoben, erklingt ein glockenhelles »Heil Hitler!«. Jeder Gast bekommt eine Kette aus Kamillenkränzen umgehängt. Hinter den Mädchen nähern sich bereits die Ostarbeiter, um das Gepäck auf Wägen rasch in die Unterkünfte zu bringen. In ihrer einfachen dunkelgelben Arbeitskleidung sind sie sofort zu erkennen.

»Alles blendend organisiert«, lobt Horst.

Am Übergang zum Kai stehen zwei Vertreter der zuständigen NSDAP-Ortsgruppe und begrüßen jeden Besucher höchstpersönlich.

»Liebe Volksgenossin, ich wünsche Ihnen eine erholsame Zeit auf Rügen, damit Sie gestärkt an Leib und Seele weiter für unser Volk wirken können. Bei Fragen können Sie sich jederzeit an uns wenden oder an das Amt für Information in der Empfangshalle hinten rechts. Selbstverständlich können Sie auch direkt in der KdF-Bad-Rune ihre Fragen eingeben«, informiert sie eine sympathische junge Frau in Parteiuniform. Sie hat sich vornehmlich zu Heidrun gewandt, der sie während ihrer Grußworte ausgiebig die Hand schüttelt.

»Vielen Dank, liebe Volksgenossin, ich hätte tatsächlich schon eine Frage: Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich meinen Sohn, Bernhard Wittgenstein, Leiter der Propagandaabteilung, finde?«

»Sehr gern! Die Propagandaabteilung ist direkt vor ihnen im ersten Stock der großen Festhalle. Sie können sehr stolz auf ihren Sohn sein, ich kenne kaum einen Mann, der dem Idealbild eines Ariers näher käme!«

Am liebsten möchte Heidrun sofort, jedenfalls so schnell wie möglich, zur Propagandaabteilung – ihre Sorgen zerstreuen, Gewissheit gewinnen, um dann endlich den Urlaub in vollen Zügen genießen zu können, unbeschwert. Horst verspürt natürlich nicht den gleichen mütterlichen Drang, doch er hat auch nichts gegen einen kurzen Abstecher zu seinem Sohn einzuwenden – wenn sie ihn nicht bei der Arbeit stören. In dem Fall wollten sie lieber auf seinen Anruf warten. Auf dem Weg zur Propagandaabteilung kreuzen sie die Uferpromenade, überlebensgroß erhebt sich die Festhalle vor ihnen, hell erstrahlt sie im Licht. Möwen fliegen kreischend zwischen ihren Säulen, der Geruch von Salzwasser, Sand und Kiefern umschmeichelt die Sinne. Eine leichte Brise streichelt durch das Haar und über das Gesicht. Du bist nichts. Dein Volk ist alles. Die Inschrift der Halle. In Ewigkeit. Sieg Heil!

Es herrscht ein reges Treiben auf der Promenade, vor der Festhalle, überall. Darunter sieht man viele Uniformen, die Farbe Braun dominiert, aber alle Schattierungen von Grau bis Grün lassen sich ausmachen, nur Schwarz ist selten. Immer eng am Leib, die Leiber immer aufrecht, gestählt und selbstsicher. Schöne Menschen, die in besten Umständen aufgewachsen sind und für die Sport und Disziplin Alltag sind. Viele Paare, oft Gruppen. Formationen von Mädels und Jungs, Frauen und Männern marschieren in Schaften und Scharen wichtigen Aufgaben entgegen. Niemals allein. Von der rechten Seite nähert sich ein einzelner hochgewachsener SS-Offizier. Obwohl Heidrun von der Sonne geblendet wird, kann sie nicht umhin zu bemerken, wie die Menschen ihm selbstverständlich Platz machen. Männer und Frauen blicken ihm bewundernd nach. Dieser Mann ist in geradezu banalem Sinne schön: blonde Haare, die Haut und die Augen hell, schlanker aufrechter Wuchs. Ein edler Charakter lässt diese Züge von innen noch heller erstrahlen. Man sieht sofort: Dieser Körper wurde für Ertüchtigungen geboren, hat sie erfahren und ist an ihnen gewachsen. Eine natürliche Eleganz macht ihn bemerkenswert, an der Haltung erkennt man sofort den geborenen Führer und doch versprechen die warmen, sanften Augen einen Menschenfreund.

»Liebe Mutter, willst du gar nicht deinen einzigen Sohn begrüßen?«

Heidruns Knie beben leicht und unsichtbar unter ihrem Rock. Äußerlich gefasst, tritt sie nah an ihn heran, nur ihre feuchten Augen verraten sie. Die Stimme versagt ihr und voller Liebe legt sie ihre rechte Hand vorsichtig auf sein Herz. Mit der linken Hand beschirmt sie ihren eigenen Hals, sichtlich um Fassung ringend. Bernhard berührt die stille Freude seiner Mutter. Er umfasst ihre Hand, sein rechter Arm umfängt ihre Taille, während sich seine Stirn an die ihre senkt. So stehen sie für einen Herzschlag da. Fern der Welt. Nah der Unendlichkeit.

»Junge, Junge, die Leute hier scheinen ja eine Menge Respekt vor dir zu haben.« Bernhard wendet sich aus der Tiefe seinem Vater zu und die Männer begrüßen sich mit Handschlag, dann zieht Horst spontan seinen Sohn zu sich heran und umarmt ihn kurz, aber voller Liebe.

»Am liebsten würde ich die ganze Zeit über bei euch bleiben, aber erstens habt ihr ein paar Pflichtveranstaltungen … und dann ist auch noch ein unvorhergesehener Umstand eingetreten.« Er senkt seine Stimme: »In zwei Wochen wird die Führerin hier in der Festhalle eine Rede halten. Ihr könnt euch ungefähr ausmalen, was das an Vorbereitungen bedeutet. Aber ich habe euch schon Sitze in der ersten Reihe reserviert!« In normaler Lautstärke fährt er fort: »Ich habe für euch immer die besten Plätze und die besten Angebote gebucht. Morgen habe ich leider keine Zeit, aber übermorgen können wir im Drehrestaurant des Turms gemeinsam zu Abend essen, da nehme ich mir frei. Wann immer ich mir etwas Zeit verschaffen konnte, habe ich es in euren Erholungsplan unter Abstimmung Propagandaleiter eingetragen. Guckt euch jetzt am besten erst mal alles in Ruhe an und richtet euch in eurem Zimmer ein. Ich melde mich dann später über die Grußrune.«

In tiefer Dankbarkeit beobachtet Heidrun ihren Sohn: Er sieht erfreulich gesund aus, auch macht er einen aufgeräumten Eindruck. Wegen der Schirmmütze kann sie den Ausdruck in seinen Augen nicht so gut erkennen, aber die körperliche Nähe und die liebevolle Begrüßung haben ihre schlimmsten Befürchtungen vertrieben. Alles andere wird sich finden. Bei ihren folgenden Treffen. Sie atmet auf.

»Ich freue mich so, dich zu sehen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach gesehnt habe. Ich bin so gespannt darauf zu hören, wie es dir geht und was du alles erlebt hast – das wird ein ganz wunderbarer Abend.«

Dank der Karte in der KdF-Bad-Rune können sie ihr Zimmer problemlos finden. Bei 10.000 Zimmern und endlosen, verschachtelten Gängen war das in den Anfängen des Bades sicher deutlich mühsamer. Die Technik hat eben vieles vereinfacht: Ein Code öffnet die Tür. Die Zimmer sind schlicht und einfach eingerichtet, das Bad ist außerhalb des Zimmers in rückwärtsgewandten Anbauten, die über die gesamte Höhe gehen. Die Anlage ist zwar seit ihrer Eröffnung im Jahr 1938 überholt worden, doch an den Standard neuerer Bäder kann sie nicht heranreichen. Immerhin hatten alle Zimmer von Anfang an Zentralheizung und sind konsequent zum Meer hin ausgerichtet. Ihr Zimmer befindet sich im obersten, im sechsten Stock. Die Aussicht ist fantastisch: Die ganze Bucht liegt in ihrer Schönheit vor ihnen, eingerahmt von den Kreidefelsen zur Linken und den alten Wäldern zur Rechten. Der Blick geht über das Meer ungehindert bis zum Horizont, Schiffe und kleine Segelboote kreuzen in der Bucht, unten tummelt sich das Volk beim Baden und Promenieren.

Beide lassen sich aufs Bett fallen. Horst nimmt seine Frau in den Arm. »Bist du glücklich?«

»Sehr!«

»Was für einen prächtigen Sohn du großgezogen hast.«

Als Antwort schmiegt sie sich an ihn.

»So, jetzt genug gefühlsgeduselt, guck mal auf unseren Plan«, fordert Horst sanft, aber bestimmt.

»Ah, es rommelt21 wieder…«, seufzt Heidrun und kramt ihren VE dann doch folgsam aus der Tasche hervor. »Wieso eigentlich ich? Guck du doch! Wir haben doch bestimmt ohnehin nicht immer dasselbe Programm.«

Trotz ihres soeben geäußerten Unwillens tippt sie allerdings schon eifrig herum; sie will vor allen Dingen sehen, wann und wie oft sie Bernhard treffen kann.

»Fang mit heute an«, bittet sie Horst, entspannt auf ihren VE blickend.

»Hm, heute ist Eingewöhnungs- und Orientierungszeit, abends dann ein romantisches Mehrgängemenü auf der offenen Terrasse unseres Restaurants.«

»Und danach?«

»Ehezeit!«

»An so etwas kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Was machen wir denn da?«, prustet Horst. Heidrun schaut ihn mit großen Augen an und beide müssen herzlich lachen.

»Wie wäre es mit etwas Vor-Ehezeit?« schlägt Horst verschmitzt vor.

»Daran kann ICH mich gar nicht erinnern«, kontert Heidrun und springt vom Bett auf. Horst setzt ihr nach und wenige Minuten später liegen sie eng umschlungen.

Während ihr Mann noch seelenruhig schläft, schlüpft Heidrun aus dem Bett, wirft sich etwas Bequemes über und schaut aus dem Fenster. Wie schön alles ist! Sie fühlt sich leicht und verjüngt. Die Freude über das Wiedersehen mit Bernhard taucht alles in das erfreulichste Licht. Sie malt sich aus, was sie ihn alles fragen wird oder wie sie einfach stumm und vertraut beieinandersitzen. Sie will jetzt erst einmal den Urlaub genießen, das schuldet sie ihrem Mann und sich selbst. Keine überflüssigen Befindlichkeiten mehr! Wie um zuzustimmen, schnarcht ihr Mann in diesem Moment laut auf. Sie führen eine gute Ehe! Nach so vielen Jahren noch regelmäßig Sex zu haben – und auch noch guten –, das ist ein Segen. Sie haben ja überhaupt ein gutes Leben: vier wunderbare Kinder großgezogen, nie materielle Sorgen gehabt. Die Partei sorgt für eine geräumige Wohnung, Ausbildung, Krankenversicherung, Urlaub, Auto – einfach für alles. Horst liebt seine Aufgabe bei BMW, er wird von den Kollegen respektiert und sie haben viele Freunde, mit denen sie ins Theater gehen, in Konzerte, auf Wanderungen, zum Sport – alles aufs Beste organisiert vom Reich. Ihre Großmutter hat früher manchmal noch von den alten Zeiten erzählt – mit Hunger und Arbeitslosigkeit, wo sie jeden Tag um das Lebensnotwendige und ein bisschen Würde kämpfen musste; das kennen sie nicht mehr. Jetzt wird nur noch für den Endsieg gekämpft, aber nicht auf deutschem Boden, sondern weit entfernt im Atlantik. Sie blickt in die Ecke, ja, alle Koffer da und daneben ihr Urlaubspaket mit allem, was man so braucht. Sie geht hinüber und fingert ein wenig darin herum: Jogginganzüge mit Rügenaufdruck, Sonnenmilch, Sonnenschirm, Strandmatte, Handtücher mit dem Leitspruch aller KdF-Bäder: Sonnenbaden für den Endsieg.

Na, daran soll es bestimmt nicht scheitern.

3

Um 6:30 Uhr schallt der Morgenappell durch die Zimmer. Wegen der großen Entfernungen innerhalb des Bades und der unterschiedlichen Ausdehnung der Räume wirkt es, als breiteten sich die Informationen kaskadenartig durch die gesamte Anlage aus. Sie kriechen unter den Türrahmen hindurch, dringen in jede Ritze und besetzen jeden Spalt. Es entsteht eine Vielstimmigkeit, welche wieder überlagert wird von einer Flut an Reaktionen. Zuerst erklingt wieder die Sinfonie von Bach, darauf folgt eine unnatürlich frohgemute Frauenstimme: »Freut euch des Lebens! Liebe Volksgenossen, wir wollen diesen wunderbaren Tag willkommen heißen und möchten euch bitten, euch zur körperlichen Ertüchtigung an der Promenade einzufinden, gemäß unserem heutigen Motto: Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper. Bitte sammelt euch direkt danach in eurem Restaurant und folgt dann den Anweisungen eures VE.« Lichtschalter klicken, Bodengetrappel, Türen schlagen. Unter allgemeinem Gemurmel und Gestöhne erwacht der Lindwurm und sein Leib erbebt. Vereinzelt hört man Lachen und das Gesumme der VE.

Während sich Heidrun bereits am Waschbecken frisch macht, versucht ihr Mann, noch halbblind und schläfrig, seine Kurzhosen anzuziehen.

»Was machst du denn da?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Du musst den hiesigen Jogginganzug anziehen; man könnte meinen, dies wäre dein erster Urlaub.«

»Entschuldigung! Nachdem ich die Nacht damit verbracht habe, die entscheidende Eheschlacht zu führen, bin ich noch nicht ganz Herr meiner Sinne«, mault Horst und versucht sich ungelenk von seinen Hosen zu befreien.

Heidrun zwickt ihn neckend in die Seite und legt die Sportbekleidung neben ihn. »Beeil dich! In fünf Minuten müssen wir an unserem Exerzierplatz sein!«

Viereinhalb Minuten später steht ein sehr unzufriedener Horst vor seiner Frau.

»Was soll das denn sein?!«

»Anscheinend haben sie noch deine Jugendmaße. Vielleicht wollen sie dir damit auch etwas sagen«, kichert Heidrun mit Tränen in den Augen. »Hitler sei Dank, ist das ein elastisches Material und nun aber hopp, hopp.«

Die Promenade füllt sich von allen Seiten und Schlag 6:45 Uhr stehen 20 000 Arier in Reih und Glied. In Einheiten zu je fünfzig Genossen dehnen sie unter den Klängen des Horst-Wessel-Liedes ihre prachtvollen Leiber. Die Männer sind in Dunkelblau, die Frauen in Hellblau gekleidet. Alle haben das Sonnenrad mit dem Aufdruck des KdF-Bades Rügen auf dem Rücken und darunter steht: Glauben, Gehorchen, Kämpfen.

Nach exakt einer halben Stunde ist der Morgensport beendet und die Herrenmenschen strömen ungeduldig zu ihren reservierten Plätzen in den vorgegebenen Restauranteinheiten. Heidrun und Horst haben einen Tisch direkt an der bugartigen Fensterfront und den Eindruck, sie säßen im Meer. Um sie herum schwirren wieder die Ostarbeiter in dunkelgelber Kleidung, bringen Essen und Getränke, und versuchen auch sonst jeden Wunsch umgehend zu erfüllen.

»Ist alles frisch zubereitet, aus biologischen Zutaten. Probier mal das Binzer Brot, ist wirklich ausgezeichnet. Hier müssen riesige Bäckereien auf dem Gelände sein.« Heidrun ist außerordentlich beeindruckt.

»Logisch, und nicht nur Bäckereien, bei fünf Mahlzeiten am Tag, denk mal an die Menge an Essen, die da zusammenkommt – und die Menge an Arbeit. Hier sind bestimmt mehrere Tausend Ostarbeiter beschäftigt, dazu kommen noch die Leute vom Arbeitsdienst und die Parteiorganisation. Ich glaube, in Richtung Landesinnere stehen die Arbeiterbaracken. Was steht eigentlich heute für uns an?«

»Lass mal sehen, also:

8:30 Uhr – Einführung in die Geschichte Rügens und des KdF-Bades, Führung durch die Anlage

9:30 Uhr – Wanderung nach Binz, Stadtführung, Einkehr, Rücktransport mit der Kleinbahn

14:00 Uhr – Zuweisung Strandkorb und Nutzung

16:00 Uhr – Fliegendes Kaffeebüffet am Strand

17:00 Uhr – Strandvolleyball

19:00 Uhr – Gemeinschaftsabendessen

»Das hört sich doch alles sehr gut an! Meinst du, wir haben in Binz etwas Zeit zum Einkaufen? Ich würde gerne Geschenke für die Mädchen besorgen. Hoffentlich sitzen abends an unserem Tisch nette Leute. Sollen wir los?«

»Eine Sekunde, ich will kurz noch die Nachrichten in der Rune des Völkischen Beobachters überfliegen.«

»Und, was Interessantes dabei?«

»Das Übliche: Die Eckpunkte des Vierjahresplans bereits übererfüllt, Ausbau der Kernindustrien geht weiter, der amerikanischen Plutokratie22 konnte an der Börse Einhalt geboten werden. Reichsbauerntag in Goslar bekennt sich zur biologischen Ausrichtung der Landwirtschaft, zur Hebung der Volksgesundheit. Das Kolonialpolitische Amt hat eine Ausweitung der Luft- und Flottenstützpunkte beschlossen. Die Krim hat sich unter den ehemaligen Südtirolern zum größten KdF-Standort entwickelt. Die Hohen Frauen23 haben im Walhall24 die Sommersonnenwende zelebriert. 50 000 Menschen wohnten der Zeremonie bei. Der Anteil der nordischen Rasse am deutschen Volkskörper liegt aktuell bei 74 %, eine Steigerung um drei Prozentpunkte zur letzten Erhebung. Die Vereinigung der Zuchtwarte25 berichtet vom erfolgreichen Einsatz der pränatalen Diagnostik und der Keimselektion. Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt, die Joseph Goebbels, mit Platz für 6 500 Passagiere, wurde gestern persönlich von der Führerin in Hamburg eingeweiht. Die ersten Hundert Reservierungen gehen an die Bestplatzierten im Leistungskampf. Die Nominierten für den Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft werden vorgestellt. Hier endlich – Bayern München hat gestern gewonnen! Wusste ich es doch!«

»Na, dann dreht sich die Erde ja weiter.«

Nach Ableistung der ersten zwei Punkte ihres Tagesplans begeben sich die beiden nun an den Strand, wo man sich zur angesetzten Wanderung nach Binz trifft. Mittlerweile sind alle in Freizeitkleidung – dem KdF-Protokoll entsprechend. Der Weg nach Binz verläuft am Meeresufer. Die meisten gehen barfuß am Strand entlang und genießen den unmittelbaren Kontakt zu Mutter Natur. Ende Juni ist es zwar schon warm, aber noch nicht heiß. Ein angenehm frischer Wind bläst alle trüben Gedanken fort, manche bücken sich zwischendurch nach Muscheln oder blicken neidisch auf die Badenden. In der Gruppe werden die Gespräche lebhafter, man ist neugierig aufeinander und vereinzelt bahnen sich die ersten Urlaubsfreundschaften an. Auch Heidrun wird von einer jungen Mutter aus Nürnberg angesprochen. Sie tauschen sich anfangs über ihre Kinder aus, dann berichtet Ida26 von ihrer Vorfreude auf den diesjährigen Reichsparteitag27 und den umfangreichen Vorbereitungen, die quasi jeden Bürger in Nürnberg und Umgebung für ein halbes Jahr beschäftigen. Besonders die Treuegelöbnisse haben es ihr angetan.

»Ich bin einfach so stolz, eine Nürnbergerin zu sein und dazu beitragen zu können, dass dieser Parteitag ein Erfolg wird. Alle arbeiten Hand in Hand und die Begeisterung der anderen steckt einen nur noch mehr an. Jeder Einzelne aus meinem Block, alle Geschäfte, Firmen, Verbände engagieren sich – wir sind dann wirklich wie eine einzige große Sippe. Wunderbar! Mein Mann nimmt jedes Jahr an den Kampfspielen28 teil, leider nicht sehr erfolgreich, er ist eher ein Arbeiter der Stirn. Haben Sie auch an der Abstimmung über das Motto teilgenommen? Gewonnen hat überragend mit 65 % ein Vorschlag aus dem Gotengau29: Triumph des Glaubens. Ist der Glaube nicht das Wichtigste?«

Der ununterbrochene Redeschwall ermüdet Heidrun ein wenig, am liebsten würde sie sich einfach still an der Landschaft erfreuen und ihren eigenen Gedanken nachhängen. Der gestrige Tag war so wunderbar, jede Minute wäre es wert, nochmals durchlebt zu werden – besonders das herzliche Wiedersehen mit ihrem Sohn, wie er so unerwartet vor ihnen stand. Gleichzeitig berührt sie das unverstellte Mitteilungsbedürfnis der Frau; ihre Redseligkeit erinnert Heidrun an Horst, ihre Jugend an ihre eigenen Töchter. Daher hört sie geduldig und wohlwollend zu, auch wenn der Glaube und die Bewegung sicher nicht das Wichtigste in ihrem Leben sind. Natürlich hat sie immer alle Pflichten gegenüber ihrem Volk und der Partei uneingeschränkt und gerne erfüllt, aber wirklich geliebt hat sie nur ihre Mutterpflichten, ihre eigene kleine Familie. Nichts, was jenseits dieses engen Kreises lag, vermochte sie je wirklich zu interessieren. Warum Ida gerade sie angesprochen hat, fragt sich Heidrun, als sie erkennt, dass sie eigentlich kaum Gemeinsamkeiten haben. Es passiert ihr regelmäßig, dass Menschen ihre Nähe suchen, weil sie ihnen den Eindruck von Gleichgesinntheit vermittelt. Wahrscheinlich ist es ihr einnehmendes Äußeres, das die anderen vermuten lässt, sie habe ein besonders großes Verständnis und schöne Gedankengänge. Meistens übertragen die Genossen jedoch bloß ihre eigenen Vorstellungen auf sie, das ist dann erstens anstrengend und zweitens nicht besonders wertschätzend ihr gegenüber. Ihre wirkliche Meinung, ihre eigene Haltung scheint für viele entweder nicht von Interesse oder zumindest nicht von großem Wert zu sein. Aufgrund dieser Gedanken fühlt sich Heidrun im Gespräch zunehmend unwohl und nimmt sich vor, es bei der nächsten passenden Gelegenheit zu beenden. Als sie nach dieser Springflut von Worten in Binz vor dem Kurhaus ankommen, entzieht sich Heidrun schließlich unter dem Vorwand, dringend etwas aus dem Rucksack ihres Mannes zu benötigen. Während ein Student in der hiesigen Tracht einen kurzweiligen Vortrag zur Geschichte des Ortes hält, beobachtet Heidrun unauffällig die anderen Gäste.

»Das Kurhaus wurde nach der Revolution des Volkes den parasitären jüdischen Händen entrissen und dem Volkseigentum zugeführt, kurze Zeit später war Binz daher als eines der ersten deutschen Bäder judenfrei.«

Bemüht dezent, doch mitten in den melodischen Redefluss des Führers, flüstert Heidrun zu ihrem Mann: »Ich weiß gar nicht, was die immer von Juden sprechen, ich habe noch nie einen gesehen. Gibt es die überhaupt noch?«

»Du hast wohl in der Schule nicht aufgepasst?« erwidert Horst in gedämpftem Ton.

»Mich haben andere Dinge eben mehr interessiert – und trotzdem bin ich ja wohl eine gute Hausfrau und Mutter geworden. Spiel also nicht den Oberlehrer, beantworte lieber meine Frage.«

»Schon gut. Die letzten leben jetzt in Madagaskar. Meist meinen die Leute eigentlich gar nicht die Juden, wenn sie von ihnen sprechen, sondern nutzen sie nur als Synonym für Menschen oder Rassen, die keine hehren Ziele für die Gemeinschaft verfolgen. Solche, die bloß nach ihrem eigenen Profit streben, die Wucher betreiben zulasten der Mehrheit und die damit dem Kapitalismus, der Bonzokratie30 und der Hochfinanz den Boden bereiten. Der Nationalsozialismus hat diesem unsittlichen Treiben endlich ein Ende bereitet! Er hat die Bank- und Börsenfürsten enteignet und in ganz Europa31 diverse Kontrollmechanismen eingeführt.«

»Wie schön, so einen klugen Mann zu haben«, bemerkt Heidrun so betont dankbar, dass es ironisch klingt. »Mir scheint, dass du schon mehrere Vorträge zu dem Thema im Betrieb gehalten hast; eine kurze Antwort hätte mir auch gereicht. Ich würde aber immer noch gerne, ganz eigennützig, Geld für meine Kinder ausgeben, ohne damit dem Kapitalismus den Boden zu bereiten. Falls das möglich wäre?«

»Meine kurze Antwort, speziell für die allerbeste Ehefrau, lautet: Selbstverständlich!«

Inzwischen neigt sich der offizielle Vortrag dem Ende zu und die Gruppe bewegt sich gemächlich in Richtung Zentrum. Der Ort ist sehr übersichtlich und beschaulich, besonders die schön renovierten Holzhäuser im nordischen Stil sorgen für eine heitere und offene Atmosphäre. Auch das Mittagessen findet in einer dieser Katen statt, es besteht fast ausschließlich aus frischem heimischen Meeresgetier. Horsts Begeisterung hält sich in sehr engen Grenzen.

»Ich kann dich denken hören! Was hast du erwartet, wenn wir Urlaub am Meer machen? Deinen ganzen bayrischen Schweinkram kannst du wieder essen, wenn wir zu Hause sind. Iss halt Salat, dann sitzt auch der Jogginganzug besser.«

Diese gut gemeinten Hinweise tragen seltsamerweise nicht zur Hebung von Horsts Stimmung bei. Heidrun hält ihren Mann für undankbar und kleingeistig, aber zumindest fügt er sich in das Unvermeidliche. Als Horst Hilfe suchend in die Runde blickt, kann er in den Gesichtern der meisten anderen Männer denselben Ausdruck erkennen – er ist also zumindest nicht allein mit seinen Befindlichkeiten. Heidruns Laune dagegen erreicht einen neuen Höhepunkt, als ihnen der Stadtführer erklärt, wo die kleine Bimmelbahn abfahren wird, die sie zurück nach Prora bringen soll. Es ist allerdings nicht die Aussicht auf die Bahnfahrt, die sie begeistert, sondern die Ansage, dass sie bis zur Abfahrt noch eine Dreiviertelstunde für einen kleinen Bummel in der pittoresken Einkaufsstraße haben werden. Wie auf ein geheimes Zeichen hin vertiefen sich die Frauen in ein kurzes Gespräch mit ihren Männern und es wird verabredet, sich an der Bahn zu treffen. Die Männer bleiben noch in der Gaststätte sitzen, um sich bei ein paar Absackern über das aktuelle Weltgeschehen auszutauschen, nur ein frisch verheirateter Jungspund verlässt das Lokal unter den hochgezogenen Augenbrauen seiner Kameraden, um seine Frau zu begleiten. Zwitschernd schwärmen die Frauen zum ersten vielversprechenden Geschäft, wo jeder infrage kommende Gegenstand ausgiebig befühlt, gedreht und gewendet wird; Meinungen werden ausgetauscht, Gegenvorschläge gemacht, Alternativen ausgelotet, mit der Verkäuferin diskutiert. Mit nur dreieinhalb Minuten Verspätung treffen die Frauen am Zug ein und setzen sich auf die freien Plätze neben ihren Männern. Alle sind inzwischen bestens miteinander bekannt, eine geheime Komplizenschaft unter den Männern einerseits und den Frauen andererseits sorgt in der gesamten Gesellschaft für heitere Ausgelassenheit. Unter den gutmütigen Glückwünschen der Ehemänner präsentieren die Damen ihre Einkaufstrophäen, allein der junge Mann sitzt still und ernüchtert auf seinem Sitz – ihm sind alle Objekte bereits zur Genüge bekannt und im Stillen hat er schon beschlossen, nächstes Mal bei den anderen Männern zu bleiben.

»Da werden sich die Mädchen aber freuen!«, ruft Horst betont begeistert aus, nachdem ihm Heidrun einen Überblick über die Mitbringsel verschafft hat.

»Nicht wahr? Bernstein ist doch ein schönes Geschenk, nicht umsonst waren ja schon unsere Vorfahren vom Bernstein fasziniert und sprachen ihm Heil- und Schutzkräfte zu. Ich habe für Hedda32 ein Armband, für Gerda33 Ohrstecker und für Sigrun34 eine Brosche gekauft. Schau mal, hier ist sogar eine klitzekleine Fliege eingeschlossen, wusstest du …?« Die zwanzig Minuten Rückfahrt zum Bad reichen leider nur für die Hälfte der Erklärungen aus, weshalb gerade dies die eigentlich unbezahlbaren Schmuckstücke für ihre allerbesten Töchter sind. Die Preziosen werden nach der Ankunft schnell aufs Zimmer gebracht. Geschwind ziehen sich Heidrun und Horst die Badesachen an, schnappen sich die Strandtasche mit den nötigen Utensilien und brechen wieder auf: Die Strandkorbeinführung ruft! Die Körbe der Gruppe stehen alle dicht beieinander, an einem von ihnen erklärt bereits ein junger Mann vom Arbeitsdienst die Bedienung, als die beiden eintreffen. Die Körbe lassen sich praktischerweise mit demselben Code öffnen wie die Zimmer, wobei die Komplexität der Positionen und Einsatzmöglichkeiten angenehm überschaubar ist – findet zumindest Horst, der schnell alles verinnerlicht hat und ab sofort selbst ernannter Experte rund um alle Fragen der Strandkorbbenutzung ist.

In drei langen Reihen sind die Körbe hintereinander aufgestellt. In dieser Formation halten sie den Großteil des Strandes besetzt, nur die erste Reihe gewährt einen unverstellten Blick auf das Meer. Kurz darauf sitzen Heidrun und Horst gemütlich in ihrem Korb. Auch hier haben sie, wie von ihrem Sohn versprochen, einen der besten Plätze: Unmittelbar vor ihnen wiegt sich der sanfte Wellensaum.

»Sollen wir mal ins Wasser springen?«, fragt Horst, während er versucht, die Rückenlehne tiefer zu stellen.

»Ich will nur kurz sehen, wie es den Mädchen geht. Ah, Gerda hat geschrieben. Heute Abend unternehmen sie einen Fackelzug zum See mit dem BDM35 und sie darf die Standarte tragen, weil sie gestern in der Schwesternausbildung als Einzige einen Luftröhrenschnitt an einer Leiche gewagt hat. Unsere Gerda! Sie fürchtet weder Tod noch Teufel.« Ein dankbares Lächeln erhellt ihr Gesicht. »Sigrun ist noch völlig erschöpft von der 30-Kilometer-Wanderung mit Marschgepäck, daher freut sie sich auf das Ende des Frauendienstes, wenn sie sich wieder voll auf ihr Studium konzentrieren kann. Die Arme! Hedda hat wie immer nicht geschrieben. Wie können wir nur drei so völlig unterschiedliche Mädchen haben?«, seufzt sie und lässt den VE auf ihren Schoß gleiten.

»Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung, vielleicht möchtest du mir etwas beichten?«, foppt Horst sein braves Eheweib und lässt die Bänder ihres zweiteiligen Badeanzugs gegen ihre Oberschenkel flitschen.

»Au! Lass mich lieber mal kurz schreiben!«

Es dauert jedoch noch eine gefühlte Ewigkeit, bis Heidrun all die Textnachrichten, Horchnachrichten und Bilder an ihre Kinder, Verwandte und Freunde verschickt hat.

»Jetzt aber!« Horst packt seine Frau am Arm und zieht sie unter den anfeuernden Rufen der Mitmänner zum Wasser. Auf den letzten Metern wirft er sie mit gespielter Leichtigkeit über die Schulter und lässt sie dann sanft, aber gnadenlos, ins kühle Meer gleiten.

Am Strand haben sie noch viel Spaß gehabt, besonders Horst hat sich hervorgetan: Das Kuchenbüffet hat er beinahe im Alleingang aufgegessen, nur um die überzähligen Kalorien dann beim anschließenden Strandvolleyball wieder komplett auszuschwitzen. Es war ein schöner, ausgefüllter Tag und eine erste leichte Bräune betont den Kontrast zu ihren blonden Haaren. Sonne, Wind und Meer haben ihr Blut in Wallung gebracht, trotz des kühlen Bades ist ein Feuer in Heidrun entfacht, das sie sichtbar von innen erleuchtet. Sie freut sich auf einen anregenden Abend mit neuen Urlaubsbekanntschaften. Denn nun steht der Höhepunkt der heutigen Agenda an: Das gemeinsame Abendessen, das im obersten Stockwerk ihres zugewiesenen Zentralkomplexes stattfindet. Der Raum ist leicht abgedunkelt, nur von Deckenflutern indirekt beleuchtet, dazu verbreitet ein Meer von Kerzen eine feierliche, fast magische Stimmung. Im ganzen Raum verteilt stehen runde Tische, an denen jeweils acht oder zehn Personen Platz finden. Alle Tische sind geschmackvoll eingedeckt. Die untergehende Sonne schickt durch die fortlaufende, breite Fensterfront ihre letzten Strahlen zum abendlichen Gruß, bald werden sie von den Lichtern abgelöst, die in den Dörfern und auf den Schiffen in der einbrechenden Dunkelheit aufzuleuchten beginnen.

Rechts neben dem Eingang hat man eine kleine Bühne aufgebaut, offenbar wird es ein Rahmenprogramm geben. Ein festlich gekleideter Ober begleitet sie zu ihrem Tisch, an dem bereits zwei Paare Platz genommen haben. Mit einem Paar haben sie schon Bekanntschaft gemacht: Der Hüne aus Germania sitzt mit seiner rothaarigen Frau am Tisch, neben ihnen ein junges Pärchen, das Heidrun und Horst noch nicht kennen. Nach und nach treffen alle Gäste ein, jeder stellt sich mit Vornamen, Beruf und Herkunftsort vor.

Neben Heidrun und Horst, dem Leiter für Qualitätsprüfung bei BMW, aus München sitzen noch am Tisch:

Sieglinde36 und Karl37, SS-Informationsamt38, aus Germania,

Gertraud39 und Otto40, Odalbauern41 in Ingermanland42,

Frauke43 und Baldur44, Kapitän zur See auf einem Flugzeugträger, der im Generalgouvernement45 Afrika stationiert ist.

»Wir sind ja ein richtiges kleines Abbild unseres Reiches: Altreich46 und Großreich47. Bauer, Arbeiter und Soldat. Jung und Alt. Mann und Weib!«, dröhnt Karl, der Hüne aus Germania. »Darauf lasst uns anstoßen!« Alle erheben ihr Glas. »Auf die Führerin!«

»Auf die Führerin!«, antwortet der gesamte Tisch und die anderen Runden im Saal stimmen überschwänglich mit ein.

»Wie läuft es denn im Osten?« fragt Karl an Otto gewandt. Und noch bevor dieser antworten kann, ergänzt Horst: »Wie hat es dich überhaupt dahin verschlagen?«

»Obwohl meine Eltern beide in Betrieben arbeiten, habe ich während meines Landjahres in der neunten Klasse meine Liebe zu unserem Boden entdeckt – und nicht umsonst heißt es ja Blut UND Boden. Ich war bald von dem Gedanken durchdrungen, dass das Bauerntum der ursprüngliche Lebensquell der nordischen Rasse ist und dass seine Keimzelle der Erbhof48 ist, der von einer Generation an die nächste weitergereicht wird – als ein unveräußerlicher Besitz, fernab von allen Gewinnsüchteleien. Ich wollte auch Gründer einer solchen Geschlechterfolge werden, daher habe ich dann später Agrarwissenschaft studiert und mich schon früh um einen Hof im Rahmen der Neubesiedelung beworben«, antwortet Otto ernst, doch freundlich. Kaum dreißig Jahre alt, wirkt er mit seiner stillen und entschlossenen Art deutlich älter. Er strahlt die ruhige Gefasstheit eines Menschen aus, der sein Leben einem Ideal verschrieben hat und es nun mit allen körperlichen und seelischen Kräften unbeirrt zu verwirklichen sucht.

»So ein eisenharter Wille ist vorbildlich! Solche Männer braucht unser Land! Lasst uns auf unsere Bauern trinken!«, begeistert sich Karl und alle heben wieder die Gläser.

»Auf die deutschen Bauern!«

Auch der Offizier der Marine brennt darauf, zum Gespräch beizutragen; als Einziger am Tisch trägt er seine blaue Uniform, die er jedoch nicht ganz auszufüllen vermag. Seinem Namensvetter aus der Göttersage macht er jedenfalls nicht viel Ehre, man gewinnt vielmehr den Eindruck, er fiele ohne seinen Harnisch augenblicklich in sich zusammen, wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt. Ungelenk ruft er etwas zu laut über den Tisch: »Sind die Auswahlkriterien nicht sehr hart, hattest du Beziehungen?«

Ein Schatten legt sich kaum merklich auf Ottos Gesicht, trotzdem fällt seine Antwort wieder sachlich, wenn auch sehr betont höflich aus.

»Nein, ich hatte keine Beziehungen. Ich habe mich allein durch mein Studium und diverse Einsätze in der Landwirtschaft empfohlen. Selbstverständlich wurden mir aber auch mein einwandfreier Ahnenpass und meine SS-Mitgliedschaft angerechnet. Jedenfalls hat nie jemand bezweifelt, dass ich sowohl technisch, völkisch als auch charakterlich bestens für meine Aufgabe geeignet bin«, führt er aus, während er seinen Blick ununterbrochen auf sein Gegenüber richtet.

»Das ist ja wirklich sehr beeindruckend. Was sagen sie denn dazu, meine Liebe? Hatten sie auch schon früher davon geträumt, eine Familie in Ingermanland zu gründen?«, versucht Heidrun die Situation etwas zu entkrampfen, indem sie sich an die unscheinbare Frau des selbstbewussten Bauern wendet. Diese hatte bislang nur zugehört, den Blick schüchtern auf ihren Mann gerichtet. Ihre aschblonden Haare sind zu einem schlichten Zopf gebunden, auch ihre Kleidung ist eher einfach und wirkt beinahe farblos. Ihrer Figur schmeichelt sie nicht, offensichtlich wurde sie rein nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählt. Bei ihrer zarten Gestalt kann man sich kaum vorstellen, wie diese Frau, bis zu den Knien im Morast stehend, die Taiga urbar macht.

Sie schaut ihren Mann hilfesuchend an, der daraufhin unterstützend ihre Hand nimmt.

»Nein, ich wusste in meiner Jugend noch nicht wirklich, was ich wollte. Mir war nur wichtig, im Rahmen meiner Möglichkeiten den besten Beitrag für unser Volk zu leisten. Und da mein Erbwert sehr hoch ist, wusste ich also nur, dass ich mit vielen erbgesunden Kindern den höchsten Nutzen stiften kann. Zur Schaffung des neuen deutschen Adels habe ich vom Sippenamt49 eine unbegrenzte Fortpflanzungsfreigabe erhalten. Eine Freundin wies mich dann auf eine Anzeige hin: Es sollte eine KdF-Schiffsreise mit der Robert Ley durch das Mittelmeer durchgeführt werden mit dem Ziel, aussiedlungswillige Frauen und Männer zur Eheanbahnung zusammenzubringen. Am Ende der Reise wurden wir direkt vom Kapitän getraut. Ich glaube, die Parteigenossen waren außerordentlich zufrieden, da die Ehequote sehr hoch war. Auch bekam man an Bord sofort Unterstützung bei allen Formalitäten, zum Beispiel konnten wir die Unterlagen für das Ehestandsdarlehen50 noch auf dem Schiff einreichen. Jetzt können wir mit unserem ersten Kind gleich auf 75 % der Summe reduzieren.«

»Soll das etwa heißen, dass du schwanger bist?« Ein scheues Nicken bestätigt Heidruns Vermutung. »Das ist ja wunderbar! Eine Familie ist doch das Wichtigste auf der Welt für eine deutsche Frau.«

»Auf unseren neuen Germanen, möge er der erste einer ewigen Ahnenreihe sein!« Wieder nimmt Karl das Thema dankbar zum Anlass für einen Toast. Während sich die Frauen mit allen möglichen Ratschlägen zu Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung an Gertraud wenden, interessiert sich Horst doch eher für die Gesamtlage.

»Wie sieht es denn vor Ort aus? Läuft die Neubesiedelung, funktioniert die Umvolkung51?«

»Nach dem Grundsatz der Rassenscheidung wurden in einem ersten Schritt viele nicht eindeutschungsfähige Russen nach Sibirien umgesiedelt, zum Arbeitseinsatz nach Germania geschickt oder zum Teil auch in rein russischstämmigen Dörfern angesiedelt, die getrennt von den deutschen Gemeinden liegen. Wir sind mit unserem Dorf eine wichtige Siedlungsmarke und bilden eine Volkstumsbrücke, bestehend aus einem Wehrwall von 40 Hofstellen, nach dem Prinzip des aufgelockerten Haufendorfes. Unsere Gemeinde umfasst ungefähr 350 Einwohner, davon sind 50 umgevolkte Bauern. Und ich kann sagen, dass diese sich oft deutschbewusster und artechter verhalten als so mancher Zuwanderer aus dem Altreich – kurz, die sind ein echter Gewinn für die Volksgemeinschaft. Dank der Investitionen in Straßen und Informationstechnologie sind die deutschen Gemeinden auch bestens miteinander vernetzt. Und das ist sehr wichtig. Denn wir gewinnen dort hochwertigsten Volksboden zurück und leisten einen essenziellen Beitrag zur Nahrungsfreiheit52 des Volkes. Der Lebensraum wächst, die Germanisierung schreitet unaufhaltsam voran.«

»Ähm«, räuspert sich Karl lautstark und hebt schon wieder ergriffen sein Glas.

»Ich würde jetzt gerne den Führer zitieren: Vor uns liegt Deutschland, in uns marschiert Deutschland und hinter uns kommt Deutschland. Auf den Endsieg!«

»Auf den Endsieg!«, schallt es siebenstimmig zurück.

»Es ist für mich auch eine Ehre, den mittelafrikanischen Ergänzungsraum53 und damit die Brücke nach Amerika zu schützen«, kräht der Marineoffizier, kaum dass sich die Gläser gesenkt haben. »Es ist schon erstaunlich, welchen Radius ein moderner deutscher Flugzeugträger abdecken kann – die Kampfjets machen es möglich!«

»Bei dem regen Schiffsverkehr auf den Seeverbindungen ist das auch absolut nötig! Ohne die Rohstoff- und Menschenreserven wären doch die Fortschritte in der Informationstechnologie gar nicht möglich gewesen. Ich habe gerade heute Morgen gelesen, dass die Luft- und Flottenstützpunkte noch weiter ausgebaut werden sollen«, ergänzt Horst eifrig.

Zum ersten Mal stellt nun Otto eine Frage: »Wie sieht es denn in den Kolonien aus? Gibt es dort auch Germanisierungserfolge?«

»Leider haben wir nur selten Landgang. Eine Eindeutschung ist in Afrika natürlich völlig unmöglich, die Einheimischen dort können niemals Reichsbürger werden. Es ist eben eine unabänderliche Tatsache, dass die Neger rassisch minderwertig sind und daher werden sie wohl immer Schutzbefohlene des Reiches bleiben. Nach bewährtem englischen Vorbild wurde also eine Kolonialverwaltung aufgebaut, sodass die zahlenmäßige Minderheit an Herrenmenschen – bestehend aus der Parteiorganisation, den Reichsorganen und den unzähligen Repräsentanten der großen deutschen Firmen – die Mehrheit an Untermenschen, zum Wohle aller, beherrschen kann. Natürlich gibt es hier und da Idealisten, die sich eine eigene Farm aufbauen wollen, aber die Kornkammer Afrika besteht zumeist aus den großen Agrarunternehmen.«

»Ich durfte einmal meinen Mann besuchen und wir konnten an der Küste im KdF-Bad Wüstenfuchs Urlaub machen: Die Traumstrände schlechthin! Und erst das Essen – himmlisch! Afrika ist wirklich unser Platz an der Sonne!«, berichtet Frauke mit einem Leuchten in den Augen.

»Ohne Zweifel sind wir zu einer Seemacht ersten Ranges aufgestiegen. Auf unsere Flugzeugträger, das Rückgrat jedes modernen Seekrieges, und die heroischen Männer, die den Blutzoll leisten!«

»Hört, hört!«, schon schwerfälliger heben sich erneut die Gläser, nur Baldurs Arm schießt noch genauso stolz und dienstbeflissen in die Höhe wie beim ersten Trinkspruch.

»Nun wollen wir aber erst mal essen! Wenn ich noch einmal anstoße, muss ich nämlich leider wegen Trunkenheit am Tisch frühzeitig ins Bett«, gemahnt Heidrun ihre Genossen auf charmante Art.

Horst schaut sie von der Seite an: Ein paar Locken haben sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und fallen in den Nacken, eine entspannte Sinnlichkeit geht von ihr aus. Zärtlich streichelt er über ihre Wange, woraufhin auch sie sich ihm liebevoll zuwendet.

Wenig später wird der erste Gang serviert und eine rege Betriebsamkeit setzt an allen Tischen ein. Servietten werden raschelnd auseinandergefaltet, Gläser klirren und von überall hört man das charakteristische Geräusch von Silberlöffeln, die sanft auf feinem Porzellan aufsetzen. Nach und nach ersterben die Gespräche, wie es nur passiert, wenn das Essen allgemeinen Anklang findet. Noch bevor alle ihren Teller geleert haben, tritt derselbe Ortsgruppenleiter auf die kleine Bühne, der die Gruppe gestern auf dem Steg begrüßt hat. »Kann es erst gestern gewesen sein?«, fragen sich die Gäste still, doch einmütig.

»Liebe Volksgenossen, schön euch alle so schnell und schon so erholt wiederzusehen! Der Ort besitzt wirklich heilende Kräfte, in dieser großartigen Natur kann jeder für kurze Zeit Urlaub vom Ich machen. Wir haben für morgen wieder ein besonderes Programm für euch zusammengestellt, das ihr auf eurem VE einsehen könnt. Und heute Abend möchten wir euch die Pausen zwischen den Gängen mit deutschem Brauchtum versüßen – deutsches Brauchtum, das unser starkes, selbstbewusstes Lebensgefühl widerspiegelt. Da Kunst aus dem Blute kommt, hört hier ein erstes Abbild der blutgebundenen Rassenseele, vorgetragen von einem wahren deutschen Mädel. Ich bitte um Applaus für Adelheid54!«

Ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen tritt barfuß auf die Bühne. In ihre langen blonden Haare, welche bis auf die Hüfte fallen, sind Bänder eingeflochten, dazu trägt sie ein schlichtes Gewand. Es ist lang und weiß und erinnert manchen Zuhörer unwillkürlich an das Märchen von den Sterntalern.

Eine klare und unerwartet kräftige Stimme schwebt mit einem Mal über den Versammelten und senkt sich langsam auf die Köpfe nieder. Sie dringt durch die Ohren in eines jeden Herz und Verstand.

Halte Dein Blut rein.

Es ist nicht nur Dein.

Es kommt von weit her.

Es fließt weit hin.

Es ist von tausend Ahnen schwer,

und alle Zukunft strömt darin.

Halte rein das Kleid

Deiner Unsterblichkeit.

»Weißt du noch, das Gedicht von Will Vesper55 hat Hedda auch bei ihrer Jugendfeier vorgetragen«, flüstert Heidrun ergriffen ihrem Mann zu. Sie sieht die glücklichen Gesichter ihrer Kinder vor sich: voller Vorfreude am Weihnachtsabend, ausgelassen mit Freunden an Geburtstagsfeiern und beseelt bei ihren Jugendweihen56. Wie wunderbar war diese Zeit, es ist kaum zu begreifen, wie sie so schnell vorübereilen konnte!

»Sei nicht traurig! Denk lieber daran, wie viel Spaß wir noch mit unseren Enkelkindern haben werden. Und das Beste daran: Die Arbeit haben die Kinder. Wir werden ihnen einfach die schönsten Fleckchen von Bayern zeigen und gemeinsam die tollsten Ausflüge unternehmen.«

Was hat sie doch für einen verständigen Mann, er findet immer die richtigen Worte, um sie aufzuheitern. Sie drückt seine Hand. Der restliche Abend vergeht wie im Flug. Das Essen ist Gang für Gang ausgezeichnet, die Stimmung am Tisch nicht minder. Immer wieder gibt es kleine völkische Einlagen, am Schluss singt der ganze Saal Am Brunnen vor dem Tore im Kanon. Fast. Fast alle. Einige leiern aufgrund fehlender Musikalität, Unkenntnis oder eines leichten Rausches falsche Textzeilen oder ganz andere Lieder. Aber die Inbrunst ist bei allen gleich – stark!

4

Als am nächsten Morgen um 6:30 Uhr wieder der Weckruf erschallt, fällt es den meisten schon etwas schwerer aufzustehen als am Vortag. Trotz des halbstündigen Frühsports sieht man beim Frühstück doch noch einige zerknautschte Gesichter. Heute steht ein Höhepunkt des gesamten Urlaubs an: ein Tagesausflug zum Volkserbe-Zentrum Königsstuhl. Geplant ist, mit dem Schiff nach Sassnitz überzusetzen, von wo aus es nach einer kleinen Stadtführung zu Fuß zum Volkserbe-Zentrum geht, mitten durch die dichten Buchenwälder. Vor Ort gibt es zunächst ein Mittagessen, dann findet der eigentliche Besuch des Zentrums statt. Am späten Nachmittag wird ein Bus die Gäste zurück zum Bad fahren. Der wahre Höhepunkt an diesem Tag ist für Heidrun jedoch das Abendessen mit ihrem Sohn. Sie weiß gar nicht, wie sie die Stunden bis dahin aushalten soll. Ihr Mann bemerkt ihre Unruhe und beobachtet sie amüsiert beim Packen des kleinen Wanderrucksacks.

»Er wird dir schon nicht davonlaufen, er ist schließlich dein Sohn. Wir werden während unseres Urlaubs noch viele Gelegenheiten haben, Zeit mit ihm zu verbringen.«

Heidrun antwortet nicht, ist ganz in sich versunken. Sie spürt wieder das warme Meer um sich herum, Lichtkegel tanzen auf ihrem Arm.

Auf der Fähre nutzen ein paar Gäste noch einmal die Gelegenheit, das Seebad in seiner ganzen monströsen Größe abzulichten. Die meisten aber haben sich bereits an die gigantischen Dimensionen gewöhnt und konzentrieren sich lieber auf neue Attraktionen. Eine Gruppe von Kormoranen hat es den Schiffsgästen besonders angetan, unzählige Male wird sie abgelichtet – wer freute sich nicht über ein Bild, das schwarze Punkte in Krähengestalt auf weißgraubraunen Bohlen zeigt?

Heidrun und Horst sind auf der Fahrt mit ihren neuen Urlaubsfreunden vom Vorabend zusammen, allerdings sitzt Heidrun schon eine ganze Weile gedankenverloren etwas abseits auf einer Bank. Horst kennt diese Seite seiner Frau und lässt ihr deshalb den nötigen Freiraum, um ihren Fantasien nachzuhängen – vermutlich malt sie sich gerade den Abend mit ihrem Sohn aus. Horst nutzt daher die Gelegenheit und geht zu Otto hinüber.

»Alles gut überstanden?«, fragt er ihn. Doch die Frage nähme er am liebsten gleich wieder zurück. Ottos Gesicht zeigt nämlich keinerlei Spuren von Ermüdung, er sieht eher so aus, als würde er in der nächsten Sekunde, Rübezahl57gleich, den Königsstuhl mit eigenen Händen umpflügen. Seine Frau hält jedenfalls einen Korb mit dem dazu benötigten Saatgut bereits in den Händen.

»Was ich dich noch fragen wollte: Ich habe eine kleine Schwäche für unsere Kriegerehrendenkmäler und die SS-Totenburg am Dnjepr soll ja besonders gelungen sein. Hast du sie schon einmal besucht?«

»Ja, selbstverständlich! Wir haben von der Gemeinde aus eine Wallfahrt dahin unternommen. Sicherlich das monumentalste Ehrenmal, das ich je gesehen habe. Es ist schon von Weitem zu erkennen und man braucht allein zwei Stunden zu Fuß, um es einmal zu umrunden. Auf dem Gipfel brennt die Ewige Flamme über der Inschrift: Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.

Darunter sind die Namen der Gefallenen des Großen vaterländischen Krieges eingraviert. Die Pilger fahren mit der rechten Hand die unteren Namen entlang, während sie das Mahnmal im Uhrzeigersinn umrunden; daher ist es dort völlig blank gescheuert. Am Fuße der Burg befindet sich ein großes Amphitheater, in dem die Hohen Frauen ununterbrochen die 2,2 Millionen Namen der Gefallenen laut vorlesen.«

Diese Informationen werden Horst bar jeglicher Emotion vorgetragen und die abwartende Stille, die danach einsetzt, lässt ihn frösteln. Offensichtlich hat Otto kein Interesse an einer Unterhaltung mit ihm. Er bedankt sich knapp und flieht zu seiner Frau. Im Augenwinkel sieht er noch, dass Gertraud ihrem Mann eine Flasche Wasser aus dem Korb reicht – doch kein Saatgut darin.

Am Ortsrand von Sassnitz führt ein schmaler Pfad langsam, aber stetig bergauf durch den uralten und unversehrten Buchenwald bis hinauf zu den Felsen, über denen das Volkserbe-Zentrum thront. Wer aufmerksam lauscht, kann die Bäume flüstern hören von Eiszeiten, Stürmen und den ersten Menschen. Der ganze Wald scheint von Mythen spinnenartig durchwoben. Wenn sie nicht in einer so großen Gruppe und tagsüber unterwegs wären – wer weiß, ob sich nicht ein Elfenflügel in diesem Schattenreich zeigte? Womöglich haben die Elfen schon manchen Wanderer im Zwielicht der undurchdringlichen Kronen oder im Bodennebel zu den weißen Klippen gelockt. Erst am nächsten Morgen wurde dann ein zerschellter Leib im Niemandsland zwischen Meer und Kreide gefunden.

Heidrun schwankt dahin, ihr Herz wiegt schwer. Je näher das Treffen rückt, desto stärker und bedrückender werden ihre Ängste. Sorgenschwangere Gedankenfetzen kreisen eitel in ihrem Geist, der sich zusehends verdüstert. Wie Geier stoßen sie immer wieder auf ihr wehrloses, verwundetes Herz nieder. Der Wald scheint ihr bedrohlich, überall lauert namenloses Unheil. Es fällt ihr schwer, sich auf den Weg zu konzentrieren, denn die mannigfaltigen Schattierungen von Grün und Braun verschwimmen ihr ständig vor den Augen. Sie schafft es nicht, ihre Gefühle zu kontrollieren, der Pfad durch das Unterholz führt sie nur immer tiefer ins Herz der Finsternis, bei jedem Schritt knackt der Boden unter ihrem Tritt. Käfer bohren Gänge in Rinden, Libellen surren todbringend durch die Luft, die erfüllt ist vom Geruch der Moose, der Pilze, des Totholzes. Es duftet nach Vergänglichkeit – und dem Meer. Immer wieder öffnen sich spektakuläre Blicke auf den Horizont, die Linien verschieben sich und bieten kaum einen Halt: nur ein gleißender Kontrast zwischen reinweißen Kreidefelsen und strahlendem Blau. Die Buchen recken ihre Zweige flehentlich zum offenen Meer, als gäbe es dort Erlösung von der Unendlichkeit. Heidrun beugt sich weit hinüber, dort wo ein Krüppelstrauch sich im Abhang festkrallt und um Leben ringt, zieht es sie magisch nach unten, zum Meer.

»He, he, was machst du denn da? Das ist kein fester Untergrund, der Boden kann jederzeit nachgeben!«

Karl aus Germania umgreift mit seinen Pranken Heidruns Hüfte und zieht sie erstaunlich sanft vom Steilhang weg. Karls Frau eilt hinzu und befreit Heidrun aus seinem Griff, beruhigend auf sie einredend.