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Es ist schon wieder passiert! Menschen verschwinden spurlos auf der Nordseeinsel. Diesmal wird eine junge Frau vermisst. Nicht nur die örtliche Polizei begibt sich auf die Spuren des Killers. Spuren, die es eigentlich nicht gibt. Doch Jakob, der mit einigen anderen als Ferienjobber auf die Insel gekommen ist, lässt sich von den Geschichten, die ihm die Einheimischen erzählen, nur allzu empfänglich in den Bann ziehen. Zu spät erkennt er, dass er mit seiner Neugier dem Täter viel zu nahe kommt. Nicht nur das! Die tödliche Gefahr lauert bereits mitten unter ihnen und die Zeit läuft. KLAPPENTEXT: Sie wollten nur einen Ferienjob auf der Insel und bekamen ein Monster, das ihr Leben für immer verändern würde. Es tat ihm nicht leid. Sie hatten verdient, was mit ihnen passiert war. Nichts ist für immer, dachte er und konnte schon wieder lächeln. Hinter jeder Tür mochte ein dunkler Schatten kauern. Ein Schatten, der sich mit der Nacht vereint. Sie schickte ihn fort, um Jagd zu machen. Der Schatten allein bestimmte, wer ihm zum Opfer fiel. Er fragte sich, wie er das früher hatte anders sehen können.
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Es tat ihm nicht leid.
Sie hatten verdient, was mit ihnen passiert war.
Nichts ist für immer, dachte er und konnte schon wieder lächeln.
Thomas Gerl
Mädchen in der Grube
Thriller
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© 2023 Thomas Gerl
Lektorat von: Lenne Lektorat, www.lenne-lektorat.de
Umschlagsgestaltung: Thomas Gerl
Druck und Distribution im Auftrag des Autors.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Thomas Gerl, Brunnenstr. 3,
71701 Schwieberdingen, Germany.
»Bring nicht wieder diese Milchbrötchen. Die kann keiner essen!«
»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt«, rief Mats lachend aus seinem Zimmer in der Ferienwohnung zurück.
Sein Vater schmunzelte. Mats war selbstbewusst. Genau so hatte er ihn erzogen. Hoffentlich brachte er trotzdem keine Milchbrötchen. Vermutlich tat er es jetzt mit Absicht. Vaters Schmunzeln wurde breiter. Sein Mats! Er freute sich auf den heutigen Tag. Später würden sie mit den Fahrrädern auf die Insel übersetzen. Eine Tour machen. Mit dem Gegenwind, der hier überall herrschte, war es eine Herausforderung. Neben Mats mitzuhalten war es die aber ohnehin. »Ziehst du nicht dein neues Shirt an?« Sein Vater wunderte sich, als Mats im Türrahmen auftauchte. »Du fandest es gestern doch so cool im Laden!«
»Es ist megacool«, bestätigte Mats. »Aber ich will es lieber noch ein bisschen schonen.«
Das liebte sein Vater an ihm. Er schlug Mats selten einen Wunsch ab, weil es schlicht kaum notwendig war. Es machte Spaß, Mats zu beschenken. Er war eher genügsam und wusste es wertzuschätzen, wenn er etwas bekam.
Laut krachend schlug die Tür hinter ihm zu. Das war auch eine Marotte von Mats. Jeder hat eben seine Schwächen, schmunzelte sein Vater in Gedanken.
Mats ging im Urlaub jeden Morgen Brötchen holen. Freiwillig! Er nutzte den Gang zum Bäcker für eine kurze Joggingrunde. Der Tag würde sonnig werden. Na ja, so sonnig, wie es an der Nordsee eben werden konnte. Ein paar Wolken würden schon auftauchen und viel Wind natürlich. Mats genoss die frische Luft. Zu Hause konnte er nur zwischen parkenden Autos, einer Horde Fußgänger und Wegen mit wenig Grün seinen Morgenlauf absolvieren. Hier war es klasse. Er zog das Tempo an. Ein kleiner Trainingseffekt sollte schon dabei sein. Mats war stark und sportlich. Sport war seine Leidenschaft. Dort vorne konnte er über den kurzen Feldweg, zwischen den Maisfeldern, hindurchlaufen. Schon bog er ein.
Seine Deckung war gut gewählt. Er sah ihn bereits von Weitem kommen. Genau wie gestern und dem Tag zuvor. Dem Tag, an dem er ihn durch Zufall getroffen hatte. Jo hatte ihn sofort wiedererkannt. Er hatte eine gute Stelle gesucht und ihn sich genau angesehen, um sich zu vergewissern. Natürlich musste er sichergehen und er war sich sicher. Es gab keinen Zweifel. Er war es. Heute Nacht hatte er im Versteck alles vorbereitet. Es war perfekt. Er musste ihn nur noch hinbringen.
Jetzt war es nicht mehr weit. Er könnte einen zusätzlichen Umweg laufen, überlegte Mats. Es fühlte sich gut an heute Morgen. Seine Tritte machten keine Geräusche auf dem weichen Untergrund. Er lief auf der Grasnabe in der Mitte des Weges. Das war gut für die Gelenke. Sein Atem war lauter als das Tappen seiner Schuhsohlen. Eine gute Atmung war wichtig beim Laufen. Plötzlich kam er aus dem Tritt, stolperte. Was war das denn? Hatte er etwas übersehen? Im Fallen versuchte er zurückzublicken. Konnte nichts erkennen. Hart schlug er auf dem Boden auf. Gerade noch brachte er die Hände unter den Körper, um sich abzustützen. Verwirrt rappelte er sich hoch. Jemand war über ihm. Wo kam der so plötzlich her? Mats wollte ihm sagen, dass er sich nicht verletzt hatte, öffnete die Lippen.
»Hallo Pete«, sagte der Fremde. Seine Stimme klang komisch. Irgendwie monoton, ganz gleichgültig. »Erkennst du mich nicht?«
Mats wollte den Kopf schütteln, sagen, dass er Mats war, nicht Pete, aber da war schon dieses feuchte Tuch in seinem Gesicht. Er wollte sich wehren, schreien, um sich treten. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Die Umwelt verschwand. Mats bekam nicht mehr mit, wie er weggeschleppt wurde.
Sein neues Shirt würde er nie anziehen.
»Kommst du endlich? Das Taxameter läuft!« Isi steckte ihren Kopf durch die offene Haustür und rief die schmale Treppe hinauf. In ihrer Stimme klang kein Ärger, eher Ungeduld, gepaart mit viel Vorfreude. Sie kannte Jakob gut genug, um zu wissen, dass er nicht abreisefertig am Gartentor auf sie warten würde. Dafür war er generell viel zu tiefenentspannt. Es war außerdem nicht die erste Reise, die sie miteinander unternahmen, auch wenn es sich bisher nur um Schulausflüge, Jugendfreizeiten oder Trainingslager mit dem Sportverein gehandelt hatte. Jakob war kein einziges Mal zur verabredeten Zeit startbereit gewesen. Immer waren sie die Letzten am Bus, aber auch immer gerade noch rechtzeitig und immer gemeinsam.
»Kein Stress!« Grinsend tauchte Jakob an der obersten Stufe auf. So, wie er es immer tat – seitdem sie sich kannten. Mit einem kleinen Unterschied. Früher hatte er locker auf die schmale Treppe des Reihenhauses gepasst. Jahr für Jahr hatte sich das geändert. Inzwischen musste er den Kopf einziehen. Jakob schien der Veränderung nicht gewahr zu sein. Er hatte sich einen riesigen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Keine gute Idee.
Isi versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, dass ihr Freund tatsächlich reisefertig war.
»Da staunst du, was?« Jakob schmunzelte. Er wusste Isis Blick genau zu deuten. Sie konnte sich nur schlecht verstellen und er kannte sie mindestens genauso gut, wie sie sich selbst. Zumindest glaubte er das. Auf jeden Fall wusste er, wie panisch sie wurde, wenn sie sich auf etwas freute und befürchtete, dass er ihr alles kaputtmachen würde, auch wenn das noch nie vorgekommen war. Er wähnte ihre Gedanken exakt, obwohl Isi das nie zugeben würde.
Polternd fiel ein Bild auf die Stufen. Sein Rucksack war – genau wie Jakob – für das schmale Treppchen viel zu breit und viel zu hoch. Klirrend ging das Glas kaputt, als es auf den Boden krachte.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Mama, das war ja keine Absicht!«
Jakobs Mutter stand – ohne dass er bemerkt hatte, woher sie gekommen war – neben Isi und blickte zu ihm nach oben. Seine Mutter war eine zierliche Frau. Jakob hatte sie bereits vor seinem zwölften Geburtstag überragt, was sich zweifellos auf das rein körperliche beschränkte. Ihre unscheinbare Gestalt hatte sie nie davon abgehalten ihren Sohn, so gut es ging, auf den rechten Weg zu bringen. »Vielleicht ist er manchmal ein bisschen temperamentvoll, aber er ist ein guter Junge«, pflegte sie zu sagen, wenn sie mal wieder das Gefühl überkam, sie müsse sich für etwas entschuldigen, was ihr Jakob angestellt hatte. Sie war aufbrausend, streng und unendlich verständnisvoll. Vor allem, was ihren einzigen Sohn betraf.
Ihrer Gutmütigkeit war es auch zu verdanken, dass Jakob mit Isi nach bestandenem Abitur ein Jahr Auszeit nehmen konnte. Sein Vater hätte dem nie zugestimmt. Auch er liebte seinen Sohn, nur eben auf andere Weise. Dazu gehörte ohne Frage, dass er ihn zu einem fleißigen und vollwertigen Mitglied der Gesellschaft erziehen wollte. Eine gute Ausbildung, einschließlich einer soliden Berufswahl standen ganz oben auf der Liste – ein Faulenzerjahr sicher nicht. Da sein Vater sich in die Erziehung seiner Frau jedoch nicht einmischte und Jakob für die Reise außerdem eine Möglichkeit entwickelt hatte, alles selbst zu finanzieren, hatte er ohne großes Lamento klein beigegeben.
Jakob bückte sich, um die Scherben seiner Unachtsamkeit zu beseitigen. Er fand es immer total kitschig, dass seine Mutter den Treppenaufgang in eine Art Ahnengalerie verwandelt hatte. In diesem Moment spürte er, dass es gerade solche Kleinigkeiten waren, die das bescheidene Häuschen seiner Eltern zu einem Heim gemacht hatten. Zu seinem Zuhause, in dem er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, und das er jetzt ein komplettes Jahr nicht sehen würde. Plötzlich kam ihm das seltsam vor. Es war sein Zufluchtsort. Das Zuhause, das ihm Schutz geboten hatte. Natürlich zusammen mit seinen Eltern, aber hierher war er jeden Tag zurückgekehrt, ob sie da waren oder nicht. Es hatte immer auf ihn gewartet, unumstößlich. So sicher wie das Amen in der Kirche. Das Bild, das er in Händen hielt, zeigte ihn auf seinem ersten Fahrrad. Also das erste Fahrrad, nach dem Fahrrad mit den Stützrädern, vom Flohmarkt. Er lächelte stolz in die Kamera, war etwa acht Jahre alt und hatte ein Bein lässig über dem Oberrohr hängen. Das Knie seiner schicken Cordhose zierte ein cooler Superman-Aufnäher, auch wenn er das Wort ›cool‹ damals noch nicht kannte. Der Fahrradrahmen war bereits für die Zukunft gekauft. Er reichte ihm bis zur Hüfte. Das Sattelrohr war ganz darin verschwunden, damit er die Pedale überhaupt erreichen konnte. Seltsamerweise erinnerte er sich gut daran. Er erinnerte sich sogar, wie er es mit seinen Eltern gekauft hatte. Er sah den Laden genau vor sich. Wie sie ihn betraten und plötzlich dieses tolle Fahrrad vor ihm gestanden hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mit keinem anderen Rad der Welt wäre er nach Hause gegangen. Sein Pa war gegen den Kauf, obwohl der Verkäufer beteuerte, dass so ein Fahrrad ewig halten würde und sein Sohn sicher schnell groß genug dafür wäre. Ma überzeugte seinen Vater endgültig, indem sie dem Verkäufer recht gab und Pa daran erinnerte, wie rasend schnell Jakob in letzter Zeit gewachsen war. »Besser, es ist jetzt etwas zu groß, als in einem Jahr viel zu klein«, beschwor sie ihn. Das hatte Vater umgestimmt. Ma wusste einfach, wie sie mit ihm umgehen musste. Jakob lächelte, beim Gedanken an sein schönes Fahrrad und darüber, dass sie trotzdem im nächsten Jahr wieder in dem Laden gestanden hatten. Irgendwie war der Drahtesel bei Jakob schneller gealtert, als vom Verkäufer versprochen. Es war so lange her und doch so präsent in seiner Erinnerung. Warum erinnerte er sich gerade an diese Situation? Weil das Bild all die Jahre hier gehangen hatte? Was beeinflusste sein Gehirn, zu entscheiden, was in Erinnerung blieb und was nicht?
»Lass das liegen!« Seine Mutter holte ihn zurück in die Gegenwart. Gedankenverloren hatte er begonnen die Glassplitter einzusammeln, die sich auf dem Teppich und dem Holz der Treppenstufen verteilt hatten. »Du schneidest dir nur in den Finger und ihr verpasst noch den Zug.«
Jakob gehorchte, so wie immer – na ja, fast immer – wenn seine Mutter eine Ansage machte und wischte mit seinem ausladenden Gepäck ein weiteres Bild von der Wand, bevor er die unterste Stufe erreicht hatte. Er musste sich zu seiner Mutter hinunterbeugen, um sie in den Arm zu nehmen, und geriet dabei in Gefahr vornüber zu kippen.
»Habt eine schöne Zeit«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Melde dich manchmal, ja? – Ihr!«
»Ist doch Ehrensache. Du musst nicht weinen«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ich bleib ja nicht für immer auf der Insel – versprochen!«
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte sie, als er sich aus ihrer Umklammerung löste.
»Ich weiß!« Er presste die Lippen aufeinander. »Ich dich auch, Mama.«
»Dann raus mit euch!« Jakobs Mutter schob die beiden über die Schwelle. »Pass auf dich auf und bring auch Isi gesund wieder zurück!«, waren die letzten Worte, die in Jakobs Kopf nachhallten, als die Taxitür zuschlug.
1
»Kannst du mal lüften! Deine Bude riecht echt erbärmlich!« Nils Schwester stand nur mit T-Shirt und Slip bekleidet in seiner Zimmertür. »Du bist kaum zu Hause und es stinkt, als hättest du tote Tiere unterm Bett.«
Sie sagte es schmunzelnd, schließlich verstand sie sich gut mit ihrem kleinen Bruder. Selbst als sie noch Kinder waren, hatte es selten Streit zwischen ihnen gegeben. Neckereien ständig, aber keinen Streit. Das lag vor allem daran, dass Nils seine Maja verehrte. Schon immer hatte er zu seiner großen Schwester aufgesehen – sie bewundert. Er hatte daraus nie einen Hehl gemacht.
… Nils legte seinen Bleistift zurück ins Schulmäppchen und lauschte. Er hatte richtig gehört. Sofort sprang er auf und tapste auf Strümpfen hinunter ins Wohnzimmer. Dort stand das Klavier, dessen Klänge er in seinem Zimmer vernommen hatte. Während er näher schlich, beobachtete er Maja, wie sie mit aufrechtem Körper ihre Hände über die Tastatur gleiten ließ. Sie sah so schön aus dabei. Anmutig und stolz. Für Nils grenzte es an ein Wunder, wie sie dem Instrument diese zarten Töne entlockte. Er schlich so leise er nur konnte zum Sofa hinüber.
Sein Kopf ruhte bequem auf einem Kissen. Jede ihrer Bewegungen beobachtete er, hörte jeden einzelnen Ton, den sie flink hervorbrachte. Er staunte, wie seine Schwester es schaffte, die Tasten so zu berühren, dass die Resonanzen nicht nur als Folge klingender Töne zu hören waren, sondern auch ihr Gefühl darin mitschwang. Vielleicht gefiel ihm das am meisten. Er selbst wusste nie, wie er ehrliche Gefühle vermitteln konnte. Seine Schwester tat es einfach, indem sie Klavier spielte. Jemand, der so Musik machte, musste ein gutes Herz haben. Deshalb konnte er auch nie lange sauer auf sie sein, wenn sie sich stritten. Er wusste genau, dass sie es immer gut mit ihm meinte. Er lauschte und versuchte, stets ganz leise zu sein, um sie nicht zu stören. Schließlich wollte er nicht riskieren, dass sie ihn aus dem Raum schickte.
Nach einer Weile beendete Maja ihr Üben und drehte sich lächelnd zu ihm. Er hatte keine Ahnung, wie sie ihn bemerkt hatte.
»Hat’s dir gefallen?«
Nils nickte stürmisch. »Hab ich dich gestört?«
»Natürlich nicht. Ich frag mich echt, was du an der Musik findest?«
»Nicht an der Musik.« Nils grinste. »Weil du sie spielst.«
Maja schüttelte lachend den Kopf. Sie sah auf die große Wohnzimmeruhr. »Hast du nicht Fußballtraining?«
Erschrocken sah auch Nils hinauf. »Verdammt, ja.« Er sprang vom Sofa, hielt aber inne. »Kommst du zusehen?«
»Nur, wenn ich bei dir mitfahren darf.«
»Logo!«, sagte Nils und rannte aus dem Zimmer. Er sprintete die Treppe nach oben, kramte seine Fußballschuhe, Trikot und Hose zusammen und war im nächsten Moment schon wieder unten. »Kommst du?«, rief er durchs Haus, weil Maja an der Haustür nicht wartete.
»Schon da!« Sie kam aus der Küche und stopfte ihm eine Flasche Wasser in die Tasche.
»Danke«, sagte Nils verlegen, der sein Trinken wieder vergessen und spätestens nach der Hälfte des Trainings seine Mitspieler hätte anbetteln müssen. Er wusste es nicht, aber er liebte diese Momente, wenn seine Schwester für ihn da war.
Unter dem Carport zog er sein Fahrrad hervor und legte das Bein über die Stange, damit Maja auf den Gepäckträger steigen konnte. »Festhalten«, zelebrierte Nils jedes Mal, wenn er sie irgendwohin mitnahm. »Die wilde Fahrt beginnt.«
Der Sportplatz lag am Ende einer Deichstraße. Während des Trainings konnte man das Meer rauschen hören. Nils verschwand wortlos in der Umkleidekabine. Maja setzte sich abseits des Spielfeldes auf die Treppe, die hinauf zu der kleinen Anzeigentafel führte, deren Ziffern von Hand ausgetauscht werden mussten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Jungs auftauchten. Nach einer Weile kam auch Nils. Sein Trikot halb in der Hose, feixte er mit einigen seiner Mannschaftskameraden. Maja kam nicht nur hierher, weil sie ihr Bruder darum bat. Es gefiel ihr. Diese Sportart war genau das, was Jungs ausmachte. Das Spiel war hart, manchmal sogar roh, aber es war ein Spiel. Nebenbei waren die meisten hier gut in Form, auch Nils. Eben hatte er noch wie ein Lämmchen ihrem Klavierspiel gelauscht und jetzt rannte er abgekämpft über den Rasen, behauptete sich gegenüber seinen Mitspielern und scheute keinen Zweikampf. Manchmal zuckte sie zusammen, wenn Nils gefoult wurde und sich danach schmerzverzerrt im Gras wälzte. Dennoch liebte sie diese zwei Seiten an ihrem Bruder. Er war einfühlsam, zuweilen fast schon sensibel und trotzdem konnte er sich durchsetzen …
Inzwischen war Nils nur mehr selten zu Hause. Er studierte und hatte eine Bude in der Nähe der Uni gemietet. Sein Zimmer auf der Insel war jedoch unverändert. Genau genommen hatte es sich nicht mehr verändert, seit er mit zwölf neue Möbel bekommen hatte. Ein paar Jahre später war die Einrichtung noch so neu, dass seine Eltern nicht schon wieder Geld ausgeben wollten, und als sein Vater meinte, man könne gerne Mal ins Möbelhaus fahren, fand Nils, dass es sich nicht mehr lohnte. Er hatte früh entschieden, auf dem Festland zu studieren. Insgeheim hoffte er, dass seine Eltern ihm als Ersatz für neue Möbel Geld für eine Studentenbude gaben. Was sich auch bewahrheitete. In den Semesterferien – im Heimaturlaub sozusagen – wohnte er folglich im Retrojugendzimmer und genau jetzt lag er in seinem Retrokinderbett, mit den bunten Sammelbildchen auf dem Rahmen.
»Musst ja nicht reinkommen«, antwortete er grinsend auf Majas Beschwerde über die Geruchsbelästigung – die scheinbar von ihm ausging – schwang sich aber von der Matratze und ging zum Fenster. Gut möglich, dass sie recht hatte. Er war den ganzen Tag noch nicht aus dem Bett gekommen. Die Insel machte ihn die erste Zeit immer etwas müde. Vielleicht steckten ihm aber auch einfach die langen Studentennächte in den Knochen.
»Du wirkst richtig süß in deinem Kinderzimmer«, lächelte sie und kam herein.
»Kann ja nicht jeder einen Traum im Landhausstil bewohnen.« Feixend warf sich Nils zurück auf sein Bett, das bedenklich knarzte.
Seine Schwester hatte nach der Schule eine Lehre im hiesigen Supermarkt gemacht. Mittlerweile arbeitete sie in einer Boutique und verkaufte exquisite Kleider an Urlauberinnen oder die feinen Damen der Insel. Das hatte schnell dazu geführt, dass auch Maja ihren Geschmack veränderte. Sie hatte nicht den Drang auszuziehen. Das sparte Geld, das sie mit Vorliebe in ihr Äußeres und ihr Zimmer investierte. Deshalb bewohnte sie inzwischen den von Nils erwähnten Traum im Landhausstil.
Sie setzte sich zu ihm aufs Bett, so, wie sie es schon immer getan hatte. Nils musterte sie. »Wenn du nicht meine Schwester wärst, könnte man glatt schwach werden.«
Maja überlegte, ob er sie wegen ihres T-Shirts, das nur wenig sexy wirkte, aufzog oder es sich womöglich um ein ernsthaftes Kompliment handelte. Sie entschied sich für Letzteres. »Magst du heute Abend mitkommen und mir ein bisschen erzählen, wie es an der Uni so läuft? Ich muss doch sehen, ob es meinem kleinen Bruder auch gut geht.«
»Mitkommen?« Nils sah sie argwöhnisch an.
»Na ja, mit Bentje halt.« Maja sagte es möglichst beiläufig. Bentje war ihre beste Freundin. Nils hatte zwar nicht wirklich ein Problem mit ihr, aber sie war manchmal etwas ausgeflippt und schwer zu ertragen. Nicht gerade das, was Nils an anderen Menschen schätzte. Er machte meist einen Rückzieher, wenn er ihren Namen hörte.
Nils grinste. »Lass mal. Ich will mich erst akklimatisieren.« Er zwinkerte seiner Schwester zu, die genau wusste, dass es an Bentje lag.
»Na gut, dann morgen!«, sagte sie ausgelassen, hüpfte von seinem Bett herunter und stieß sich dabei das Schienbein am Holzrahmen. Wild fluchend humpelte sie ins Badezimmer davon.
… »Kannst du das nicht nachher machen? Ist echt eklig.« Maja stand vor dem Badspiegel, während Nils hereingekommen war und sich an ihr vorbei beugte, um einen Pickel auszudrücken, den er eben entdeckt hatte.
»Nein, das kann ich nicht nachher machen. Wenn man den nicht gleich ausdrückt, kriegt er Freunde und mir reicht der eine.«
Maja musste heftig lachen. »Wer erzählt denn so nen Blödsinn.« Sie kriegte sich fast nicht mehr ein.
Nils war es egal. Kritisch betrachtete er die Stelle, ob sie rot geworden war. »So was Blödes«, ärgerte er sich. »Ausgerechnet …« Er hielt im Satz inne.
»Ausgerechnet, was?« Maja sah ihn provokant an.
»Nichts!« Nils verdrückte sich lieber zurück in sein Zimmer.
»Hast du etwa nen Schwarm?« Maja ließ nicht locker. Sie war ihm gefolgt und lehnte am Türrahmen seines Kinderzimmers. »Das musst du mir doch sagen«, grinste sie und klang gespielt vorwurfsvoll.
»Lass mich in Ruhe«, motzte Nils.
Maja zwinkerte ihm zu, drehte sich dann aber ab.
»Maja?«
Maja lächelte, ohne dass Nils es sehen konnte, bemühte sich schnell um einen ernsten Gesichtsausdruck und wandte sich ihm erneut zu.
»Ja, Bruderherz?«
Er stellte seine Frage nicht gleich. Starrte Maja an, als müsse er überlegen, ob er es wirklich wagen konnte. »Findest du, dass unbedingt der Junge den ersten Schritt machen muss?«
Maja sah ihn an. Es machte sie stolz, dass er ihr diese Frage stellte. Er hatte Vertrauen zu ihr. Sie würde ihn nicht enttäuschen und nahm seine Frage ernst. Langsam begann sie zu nicken. »Ich kann nur für mich sprechen, aber ich finde es schon toll, umschwärmt zu werden. Allerdings – manchmal stößt es mich auch ab. Wenn du es genau wissen willst: Ich finde nicht, dass unbedingt der Junge den ersten Schritt machen muss. Andererseits, wenn du ein Mädchen nett findest, solltest du auch nicht darauf warten, dass sie dich anspricht, nur weil du selbst zu feige bist!«
Nils verzog das Gesicht. Maja wartete ab.
»Und wenn sie mich blöd findet, oder hässlich?«
Nun musste Maja doch schmunzeln. »Hör mal. Du bist doch nicht hässlich. Aber natürlich kann es sein, dass du nicht ihr Typ bist. Das ist das Risiko. Da musst du dann halt durch.«
Nils verzog abermals das Gesicht, signalisierte mit einem tiefen Seufzer, dass er verstanden hatte.
»Die Welt wird davon nicht untergehen!« Maja hielt inne. »Ein Mädchen, das dich zuerst fragt, wäre sowieso nicht die Richtige«, sagte sie, bevor sie ihn endgültig alleine ließ. »Und mach dir keine Sorgen wegen deines Pickels. Wenn sie das stört, dann pfeif auf sie!« Ihr Kopf war doch noch mal im Türrahmen erschienen.
Jetzt musste Nils lachen. Er nahm sein Kopfkissen und warf es in ihre Richtung. »Ich werd’s ausrichten«, sagte er …
Nils griff zu einem Büchlein auf seinem Nachttisch. Es war der Leitfaden für den Job eines Touristenführers auf einer Hallig. Er hatte sich für die Ferien als solcher dort beworben und war mit Begeisterung genommen worden. Die Konkurrenz war zugegebenermaßen nicht sehr groß. Für die Stellen als Ferienhelfer innerhalb der Insel bewarben sich viele, die meisten kamen von außerhalb. Auf einer Hallig sah das schon anders aus. Kaum einer in Nils’ Alter wollte den Sommer über auf einer Sandbank festsitzen, auf der die packendste Attraktion ein paar Wattwürmer waren. Nils liebte Wattwürmer. Samstag würde es losgehen. Er freute sich darauf, auch wenn das hieß, dass er seine Familie in den Ferien kaum zu Gesicht bekam. Die Station, die es dort gab, war klein, was bedeutete, dass er häufig auf sich allein gestellt war. Genau sein Ding. Er konnte einerseits zeigen, was er drauf hatte, andererseits redete ihm niemand dazwischen. Für sich in der Natur zu sein liebte er allemal. Vielleicht hatte er das von seinem Vater. Auch der war kein Mann der großen Worte. Als Kind war Nils häufig durch die Dünen gezogen. Hatte sich irgendwo hingesetzt und einfach dem Meer zugesehen, oder er war ins Watt hinausgelaufen, um Tiere zu beobachten. Stundenlang konnte er in der Hocke darauf warten, dass sich Schnecken im Sand eingruben oder Krebse inspizieren. Ihn faszinierte der Gedanke darüber, dass genau dort, im Watt, der Beginn der Nahrungskette entstand. Mikroorganismen, die das Meer sauber hielten und gleichzeitig den kleinsten Arten von Lebewesen als Nahrung dienten. Nils war nie ein richtiger Einzelgänger oder gar Außenseiter, ganz im Gegenteil. Dennoch genoss er auch die Zeit ohne Menschen. Am liebsten waren ihm Leute, die wenig redeten, aber Wort hielten, wenn sie etwas sagten. Er tat sich schwer damit, sich auf Verabredungen zu freuen, die dann ins Wasser fielen, weil andere es nicht ernst genommen hatten. Es störte ihn umgekehrt nicht, wenn sich jemand monatelang nicht meldete, wenn er nur wusste, dass es eine gute Zeit würde, falls doch. Ein bisschen lag es vielleicht daran, dass er selbst nur schlecht Kontakt halten konnte. So hatte er auch mit niemandem Nachrichten ausgetauscht, dass er in den Semesterferien auf der Insel war. Es würde sich etwas ergeben oder eben nicht. Er wusste ja zum Glück immer, wo das Meer – sein Meer – zu finden war.
Das Studium seines Leitfadens hatte er fast geschafft, als sich die Badezimmertür wieder öffnete.
»Wie sehe ich aus?«
Er blickte auf. Maja posierte fertig gestylt im Flur.
»Mit T-Shirt hast du mir besser gefallen.« Er konnte sich nicht verkneifen, sie ein wenig aufzuziehen. Es war sowieso klar, dass seine Schwester auf eine solche Frage keine ehrliche Meinung hören wollte, sondern einfach so viele Komplimente wie möglich. »Du weißt, dass du gut aussiehst, was fragst du überhaupt?«
An seinen Augen konnte Maja sehen, dass er es ehrlich meinte. »Man kann es eben nie oft genug hören!«
… »Bis du wach?« Maja schlich in aller Frühe in Nils’ Zimmer. Er bewegte sich nicht. Erst, als sie sich ans Fußende in sein Bett setzte, blinzelte er unter der Bettdecke hervor.
»Was ist denn los? Jemand gestorben?«, fragte er verschlafen.
»Ja, Markus«, antwortete Maja, die sogleich einen Weinkrampf bekam.
Nils richtete sich auf und nahm seine Schwester in den Arm. Er sagte nichts. Streichelte ihr einfach über den Rücken und hielt sie fest, bis ihr Körper aufhörte zu zittern. Er wusste, dass Markus Majas Freund war. Sie musste sich entsetzlich fühlen.
»Das tut mir leid! Wie ist es denn passiert?« Nils entließ seine Schwester aus seiner Umarmung und legte sich zurück in sein Kissen. Beharrlich beobachtete er sie. Im Schneidersitz saß sie vor ihm und sah unendlich traurig aus.
»Er ist nicht wirklich gestorben. Nur für mich!«, verbesserte sie sich. »Dauernd fängt er von meinem Busen an, dass er größer sein könnte und meine Nase dafür kleiner. Ich blöde Kuh fand es auch noch witzig. Gestern hat er sogar vor den anderen damit angefangen. Später hab ich ihm gesagt, dass er das nicht machen kann.«
Nils hörte jedes Wort in seinem Kopf nachklingen. Er beobachtete ihre Lippen, wie sie sich bewegten. Er liebte es, ihr zuzuhören. Sein Blick fiel instinktiv auf ihre Brüste und auf die Nase. Beides war perfekt.
»Sorry«, sagte Maja. »Ich will dich mit meinem Kram nicht nerven.« Sie wollte aufstehen.
Nils griff nach ihrer Hand. »Du nervst mich nicht. Sag mir, wie er reagiert hat.«
»Er hat gesagt, dass es doch stimmen würde, und dann dürfe man auch darüber reden,« schluchzte sie.
Nils fixierte seine Schwester. »Vergiss den Dummkopf. An dir ist alles perfekt. Er hat dich nicht verdient.« Er sagte es ruhig und ganz selbstverständlich. »Ich kann ihm aber auch eine reinhauen, wenn du willst.« Er sah sie verschmitzt an. Sofort hörte sie auf zu weinen.
»Danke!«, sagte sie und beugte sich für eine Umarmung zu ihm.
»Also soll ich?«
»Danke fürs Zuhören«, stellte Maja richtig.
Nils verzog den Mund. »Gerne!«
Maja war sicher, dass seine Enttäuschung nur gespielt war. Ihr Bruder hatte sich noch nie geprügelt …
Nils hob die Augenbrauen und schüttelte grinsend den Kopf. »Wie schaffst du es eigentlich, noch immer keinen festen Freund zu haben?«, fragte Nils, was ein viel größeres Kompliment war, als alles, was er über ihr Aussehen hätte sagen können.
»Vielleicht, weil ich mit dem liebevollsten Bruder der Welt aufgewachsen bin, und dieser Umstand meine Messlatte für zu akzeptierende, männliche Charaktere in utopische Höhen befördert hat.«
»Du übertreibst«, lachte Nils.
Maja taxierte ihren Bruder. »Bei dir muss ich ja nicht fragen. Du hast immer noch keine gefunden, die sich neben dich in den Sand setzt, um aufs Meer hinaus zu starren, nehme ich an?«
»So ist es nicht.« Nils redete sich immer ein, dass das nicht stimmte. In seiner Fantasie war es jedoch eine schöne Vorstellung. »Aber morgen hast du Zeit, ja?«, lenkte er vom Thema ab.
»Wenn ich es sage, ist es sicher. Das weißt du doch.«
Sie ging zu ihm, gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand.
Das Letzte, was er von ihr sah, war der blonde Haarschopf, der aus dem Zimmer schwebte.
2
Seit Stunden lauschte Jakob dem monotonen Rattern der Zugräder. Isis Kopf lehnte an seiner Schulter und schaukelte im Takt des Zugwaggons. Gleich nach dem letzten Umsteigen hatte sie sich an ihn gelehnt und war kurz darauf eingeschlafen. Jakob war selbst erschöpft von der langen Reise. Er würde jedoch nicht einschlafen können, solange er Isi ansehen konnte. In vierzig Minuten würden sie ihren Endbahnhof erreichen. Von dort war es noch mal eine Stunde mit dem Katamaran auf die Insel. Das meiste hatten sie aber geschafft. Vor den Fenstern flog die Landschaft an ihnen vorbei. Irgendwie war es anstrengend, einen Punkt zu fixieren. Jakob kam es vor, als würde das Leben da draußen genauso schnell an ihm vorüberziehen, wie die Jahre seiner Kindheit. Isis Stimme drang an sein Ohr.
»Meinst du, wir können uns nach dem Sommer immer noch leiden?« Sie war aufgewacht und sah ihn verschmitzt an.
»Hast du schlecht geträumt, oder wie kommst du auf so was?« Der Gedanke, dass sich ihre Wege im Streit trennen könnten, machte ihn fassungslos. Er kannte Isi seit seinem ersten Tag im Kindergarten. Sie war ganz allein an einem der Spieltische gesessen. Er hatte sich einfach zu ihr gesetzt und danach jeden Tag. Später, in der vierten Klasse, trieb ihn nichts anderes an, als gut genug zu sein, um mit Ihr aufs Gymnasium wechseln zu können. Sie besuchten sämtliche Leistungskurse gemeinsam, musizierten zusammen im Schulorchester und waren sogar in ein und demselben Judo-Verein. Isi war sein bester Kumpel, seit er denken konnte. Sie waren so kompatibel zueinander, dass sich jeder um sie herum wunderte, dass sie nicht längst ein Paar waren. Sie selbst wussten es nicht so recht. Vielleicht hatten sie einfach vergessen, rechtzeitig den ersten Schritt zu wagen, und gingen inzwischen davon aus, dass sie der andere jeweils zwar cool fand, aber eben nicht mehr.
Jakob allerdings spürte da viel mehr. Das war ihm in den letzten zwei Stunden wieder bewusst geworden, in denen er Isis Geruch hatte einatmen und ihre Ausstrahlung bewundern können.
»Schlecht geträumt hab ich echt irgendwie«, sagte Isi nachdenklich.
»Wirklich? Du hast gar nicht so ausgesehen.«
Isi richtete sich in ihrem Sitz auf. Mit einer eleganten Kopfbewegung rückte sie ihre Haare zurecht und versuchte draußen, hinter dem Zugfenster, etwas zu erspähen, aus dem sie erkennen würde, wo sie sich gerade befanden. Sie sah dunkle Wolken, Regentropfen auf der Scheibe, eine endlos flache Landschaft – die ihr signalisierte, dass sie bald da sein würden – und Jakobs Spiegelbild. Er schien sie zu beobachten. Sie war froh, dass er bei ihr war. Als er gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm ein Jahr abzuhauen, hatte sie sofort ja gesagt. Sie hatte sich erhofft, etwas von der Welt zu sehen. »Viel zu stressig«, war Jakobs Meinung dazu gewesen. »Lass uns irgendwo ans Meer und dort bleiben. Ich hab keinen Bock, ein Jahr lang nen Rucksack durch die Gegend zu schleppen.«
Schließlich kam Jakob mit diesem Work-and-Travel-Angebot um die Ecke. Damit war es endgültig entschieden. Das Ziel: Ostfriesland (was Isi zuerst für einen Scherz gehalten hatte). Ein Campingplatz mitten auf einer Insel (immerhin), mit Strandbar (auch immerhin). Ein Jahr am selben Ort war zwar nicht Isis Vorstellung von ›Work-and-Travel‹, aber sie freute sich trotzdem. Gerade jetzt spürte sie das Gefühl von Freiheit, dass sie sich für ihr Abenteuer ersehnt hatte. Insgeheim hoffte sie, dass Jakob in ein paar Wochen doch noch dazu bereit war, die Reise fortzusetzen.
»Ist was?« Sie drehte sich zu ihm.
Er starrte sie immer noch an und begann jetzt zu lächeln. »Nein, ich find’s nur toll, dass du mitgekommen bist, trotzdem ich so ein fauler Hund bin und dir nur Ostfriesland und nicht die ganze Welt zu Füßen lege.«
Jetzt konnte dieser armselige Aufreißer sogar schon Gedankenlesen, dachte Isi. »Weil’s so leicht ist, wenn du dabei bist.« Sie griff nach seiner Hand und legte sie in die ihre. Erneut kuschelte sie sich an ihn.
Zufrieden genoss er ihre Nähe und lehnte sich in seinen Sitz zurück. So saßen sie bis zur Ankunft – lauschten dem Rattern des Zuges – und verpassten wieder einmal den entscheidenden Moment.
Der Katamaran pflügte durch die aufschäumende See. Die Wolken hingen dunkel am Horizont. Der Wind schnitt Jakob und Isi kalt ins Gesicht. Trotzdem wollte Jakob die Überfahrt draußen an Deck verbringen.
»Ohne mich!« Isi zitterte und verzog sich in einen der bequemen Sitze nach drinnen. Selbst hier war das Meer zu hören und die Gewalt der Wellen zu spüren. Obwohl sich die technischen Einzelheiten des Katamarans im Eingangsbereich nicht annähernd so entrückt lasen, wie Isi an ihrem Platz empfand, würde er sie wie in einem behaglichen Kokon ans andere Ufer tragen.
Jakob hingegen trotzte den Naturgewalten und sah auf die beachtliche Bugwelle hinunter, die der Katamaran am Heck aufschäumte. Tödlich, überlegte er.
Am diesseitigen Fähranleger war ihre Reise beendet. Erschöpft verließen sie das Boot. Isi erfasste erneut eine ungemütliche Kälte, die durch ihren Körper strömte – teils wegen der Müdigkeit, vor allem aber, weil sie viel zu dünne Sachen angezogen hatte. Obwohl es der dreißigste Juni war, wehte ein eiskalter Wind. Sommer hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt. »Wollten die uns nicht abholen?« Enttäuscht sah sie sich auf dem leeren Vorplatz um. So spät am Abend schien hier nicht allzu viel los zu sein. Die anderen Passagiere des Bootes hatten sich schnell in alle Himmelsrichtungen zerstreut, und weil sie mit der spätesten Verbindung eingetroffen waren, gab es für andere Menschen keinen Grund, sich hier herumzutreiben.
»Ich hab denen gestern extra gemailt, dass wir heute mit dem letzten Katamaran ankommen«, beteuerte Jakob.
»Lass uns ein Taxi nehmen. Und wenn wir dafür ne Woche lang arbeiten müssen. Mir ist es zu kalt, hier ewig rumzustehen.«
»Ich glaube, das ist nicht nötig.«
Der letzte Bus hatte den Platz verlassen und gab den Blick auf eine kleine Pferdekutsche frei. Sie war hellblau gestrichen, was unter dem wolkenverhangenen Himmel eher wie grau aussah, und trug einen leidlich mit Pinsel aufgetragenen Schriftzug ›Deich-Camping‹. Ein einzelner Klepper stand davor, aus dessen Nüstern feine Dampfschwaden aufstiegen. Seine Vorderhufe scharrten ungeduldig über das Pflaster. Auf dem Kutschbock saß ein Mann im gelben Ostfriesennerz, von dessen Gesicht nichts zu erkennen war. Das Gespann wirkte wie aus einem Horrorfilm. Jeden Moment würde sich das Pferd oder der Kutscher zu ihnen drehen und ihre wahre, mörderische Gestalt preisgeben.
»Sieht ja gruselig aus.« Isi fröstelte sofort wieder bei dem Anblick.
Jakob hingegen war begeistert. Er beschleunigte seinen Schritt und zerrte Isi hinter sich her. »Komm, ich wollte schon immer mal Kutsche fahren«, rief er.
Auf den Bänken lagen ein paar Decken. Die oberste war klamm vom Regen, aber darunter fanden sich trockene und somit wärmende Exemplare. Jakob wickelte Isi so dick darin ein, dass sie zu zittern aufhörte, während er sich mit seiner Jacke begnügte. Isi konnte der abendlichen Fahrt dennoch wenig Positives abgewinnen. Trotz der Decken war es windig und ihr Rücken hatte sich, nach neun Stunden Zugfahrt, etwas anderes herbeigesehnt, als in einer ungefederten Pferdedroschke über löchrige Deichstraßen zu brettern. Mit der Zeit ging ihr das Holpern und Rumpeln mächtig auf die Nerven.
»Hattet ihr eine gute Reise?«, rief der Mann auf dem Kutschbock gegen den Wind an.
Isi zuckte zusammen, weil der unheimliche Kutscher bisher kein Wort gesprochen hatte. Seine Stimme war rau und das Profil seines Gesichtes, das er ihnen kurz zuwandte, jagte ihr Angst ein. Unter der gelben Kapuze hervor fixierte die beiden ein Auge, das tief in der Höhle saß. Das Weiße strahlte unwirklich hell, was eventuell daran lag, dass der Rest des Gesichtes in Schatten und einen dunklen Bart gehüllt war.
Bis zu dieser bescheuerten Kutsche schon, wollte Isi sagen, verkniff es sich aber.
Jakob kam ihr ohnehin zuvor. »Ging ganz gut. Danke der Nachfrage!«, rief er ausgelassen zurück. Ihm gefiel es jetzt schon auf der Insel. Der Sommerhitze, die er die letzten achtzehn Jahre ertragen musste, weinte er keine Träne nach. Er liebte es eher schattig. Ausnahmsweise war er da genau wie sein Vater.
Längst lagen die Lichter der Häuser hinter ihnen. Nur noch spärliche Straßenlampen erhellten den schmalen Weg, der entlang eines grasbewachsenen Deiches führte. Das einsame Klappern der Pferdehufe und das Rauschen des Windes waren inzwischen die einzigen Geräusche, die an ihre Ohren drangen. Unvermittelt bog die Kutsche in eine Einfahrt. Vor einer geschlossenen Schranke blieben sie stehen. Der Mann in seinem gelben Ostfriesennerz stieg vom Kutschbock, öffnete den Schlagbaum und sprang erstaunlich behände zurück auf seinen Platz.
»Willkommen im letzten Jahrhundert«, flüsterte Jakob belustigt, darauf bedacht, dass ihn der Mann nicht hören konnte. Es lag Jakob nichts daran, ihn zu diskreditieren. Er war ja keineswegs etwas Besseres, nur weil die Schranken elektrisch funktionierten, da wo er herkam.
Kurz nach dem Schlagbaum war der Bahnhofstransfer beendet. »Alles aussteigen!« Der Mann verzog seinen Mund zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte. »Von hier geht es zu Fuß weiter. Ist schließlich schon Nachtruhe«, sagte er, griff nach Isis Rucksack und verschwand in der Dunkelheit.
»Wir sollen wohl folgen.« Jakob sah auf seine Uhr. Tatsächlich war es bereits zehn durch. Er zwinkerte Isi zu, nahm sie bei der Hand und beeilte sich, ihren Lotsen nicht aus den Augen zu verlieren.
»Hier ist es.« Schon kurze Zeit später blieb er vor einer Reihe Wohnwagen stehen. »Ihr seid die Letzten«, sagte der Mann. »Ist nur noch dreizehn und sechzehn frei.«
Er deutete auf die beiden äußeren Trailer. Die Kapuze hatte er inzwischen abgenommen. Seine Haare standen kraus von seinem Kopf ab. Man konnte nicht erkennen, wo der Bart aufhörte und die Kopfhaare anfingen.
Die Nummern waren mit schwarzer Farbe neben die Türen gemalt.
»Sind offen. Den Schlüssel gibts morgen an der Anmeldung. Hajo wartet dort um acht auf euch.« Mit diesen Worten machte der Mann kehrt und verschwand.
Da standen sie also. Es war dunkel und der Wind pfiff ihnen um die Ohren. Endlich am Ziel. Freude wollte nicht so recht aufkommen. »Acht Uhr? Hat sie der noch alle?«, wetterte Jakob los. »Nach der langen Reise könnte er uns doch wenigstens ausschlafen lassen.«
»Erster Juli«, schmunzelte Isi. »Arbeitsbeginn. Hätten wir einen Tag früher fahren müssen.«
»Welchen willst du?«, murrte Jakob. Wenn schon der Zuspruch für seinen Unmut ausblieb, wollte er wenigstens schleunigst in die Koje.
»Auf keinen Fall dreizehn!« Isi gab Jakob einen schnellen Kuss auf die Wange. »Schlaf gut!«, sagte sie, und verschwand in Richtung des Trailers mit der großen Sechzehn neben der Tür.
Achim kehrte zu seiner Kutsche zurück. Von Weitem hörte er das Schnauben der alten Mähre. »Braves Mädchen!« Liebevoll tätschelte er den Hals des Rosses, was das mit einem Nicken zu beantworten schien. Im Licht der schummrigen Lampe der Einfahrt glänzte sein Fell. Von seinem Körper stieg feiner Dampf in die Abendluft. Achim löste die Lederriemen von der Deichsel und führte sein Pferd in einen kleinen Stall, am äußersten Rand des Campingplatzes. Dort rieb er den warmen Körper gemächlich trocken. Es machte ihm nichts aus, dass er sich so spät noch um sein Pferd kümmern musste. Gewissenhaft versorgte er es mit Futter und Wasser, bevor er den Stall wieder verließ. Die Kutsche schob er zur Seite und brach zu einem Spaziergang auf. Er liebte die Nächte am Deich.
Jakob betrat sein Zuhause der nächsten zwölf Monate. Ein modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Darunter mischte sich der Gestank von totem Tier. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob es womöglich doch Spaß machen könnte, auch andere Länder zu bereisen. Er fand einen Lichtschalter und drückte ihn. Der Trailer wurde von einer einzigen Lampe schummrig erleuchtet. Sie reichte aus, um sich umzusehen. Die integrierte Küche war alt und vergilbt, schien allerdings penibel sauber. Dahinter erspähte er ein Bett, mit frischen, weißen Bezügen. Links davon befand sich eine Sitzgruppe. Samtpolster in Retrobraun mit orangenen Ornamenten. »Hübsch«, murmelte er spöttisch. Auf dem Tisch standen eine Kerze und eine kleine Vase mit einer einzelnen Lilie darin. Jakob wischte den Gedanken der Weltreise weg, warf seinen Rucksack vor das Bett und sich selbst in die Laken. Im gleichen Augenblick klopfte es an die Tür. Das Geräusch durchbrach die Stille so plötzlich, dass er zusammenzuckte. Es war keine Angst, aber größtmögliche Unsicherheit, die er spürte. Zögernd öffnete er. Nur einen Spaltbreit. Davor stand Isi mit Kopfkissen und Bettdecke. Ihre Haare wurden ihr ins Gesicht gewirbelt. Der Sturm war stärker geworden.
Verlegen lächelte sie ihm zu. »Kann ich die erste Nacht bei dir schlafen?«, flötete sie. »Ist ein bisschen gespenstisch.«
Mit einem breiten Grinsen – das auch seine eigene Anspannung wegwischte – stieß Jakob die Tür auf und nahm ihr die Bettdecke ab.
Ein prächtiger Tag lag vor ihm. Vor ihm und vor seinem Vater. Endlich war es so weit. Vater hatte eine neue Frau gefunden und heute würde sie bei ihnen einziehen. Er vermisste seine Mama unendlich, seit sie vor zwei Jahren so plötzlich starb. Obwohl er noch richtig klein gewesen war, erinnerte er sich an sie. An ihr Lachen, ihre Umarmungen und den Duft ihrer Haare. Manchmal roch er sie irgendwo und dann drehte er sich nach allen Seiten um. Aber nie war sie da. Natürlich nicht. Sie war ja tot. Jo wusste, was das bedeutete. Er war schließlich kein Baby mehr. Mama würde nie wieder kommen. Sie war im Himmel. Er glaubte seinem Vater, obwohl der nie richtig erklären konnte, wo das genau war. Am meisten Angst hatte er davor, dass die Erinnerung verblassen würde. Schon jetzt wusste er manchmal nicht, ob er sich an ihr Gesicht wirklich erinnerte, oder es ihm nur wegen des Bildes im Gedächtnis blieb, das er jeden Abend vor dem Schlafengehen aus seiner kleinen Kiste zog und so lange anschaute, bis er einschlief. Nichts auf der Welt würde seine Mama ersetzen können, aber seit sein Vater die neue Frau kannte, war der wieder viel fröhlicher. Dieser Umstand kam auch ihm zugute. Die neue Mama war manchmal etwas komisch, übertrieben freundlich, aber Vater war glücklich und Jo würde der neuen Frau in ihrem Leben eine faire Chance geben. Das Tollste an der Sache war, sie hatte Kinder. Eine Tochter und einen Sohn. Das Mädchen war um einiges älter als er. Sie würde wahrscheinlich nicht viel von ihm wissen wollen. Trotzdem war es schön, eine Schwester zu bekommen, und vor allem war da ja noch Pete. Der war nur zwei Jahre älter als er und sie verstanden sich prima. Pete war trotz der kurzen Zeit schon ein richtiges Vorbild für ihn geworden. Ein echter großer Bruder eben.
Jo spürte nach langer Zeit wieder etwas wie wahre Freude und der Tag hielt alles, was er sich davon versprochen hatte. Während sein Vater und seine neue Mutter ein paar Möbel und ihre Kleider verstauten, half er Pete, dessen Zimmer zu beziehen. Clara bekam ebenfalls ein eigenes Zimmer und ließ sich erst wieder blicken, als es am Nachmittag Kuchen gab. Das Schönste war, dass er mit Pete im Garten spielen konnte, bis es dunkel wurde und der nicht irgendwann nach Hause musste. Sie aßen gemeinsam zu Abend, sahen fern, gingen ins Bett und würden gleich am nächsten Morgen wieder zusammen sein. Nicht nur für ein paar Tage oder Monate, sondern für immer. Es fühlte sich herrlich an.
Das Gefühl blieb zwei Wochen. Clara, seine neue Schwester, war manchmal etwas seltsam, aber das würde sich schon geben. Mit Pete war die Zeit klasse. Wenn sie mit den Schulaufgaben fertig waren, verbrachten sie jede freie Minute miteinander.
Dann ging sein Vater zum ersten Mal für längere Zeit auf Dienstreise. Damit verwandelte es sich. Zunächst nahm Jo die kleinen Meckereien und Bestrafungen gar nicht richtig wahr, dennoch spürte er, dass sich die Stimmung änderte. So wie die Luft anders roch, bevor der große Regen kam, die dunklen Wolken am Himmel aber noch dichthielten.
Eine Woche später begannen die Herbstferien. Die Wolken, die sich unsichtbar im Haus ausgebreitet hatten, öffneten ihre Schleusen und unter Jo tat sich die Hölle auf.
Mit einer Hand drückte sie den Kragen ihrer College-Jacke fest an den Hals. »Schietwetter«, schimpfte sie und beschleunigte ihren Schritt. Sie musste sich gegen den Wind stemmen, um vorwärtszukommen. Böen zerrten an ihr und drohten sie umzuwerfen. So wie die Mülltonne, die mit einem lauten Krach zu Boden fiel. Plastiksäcke wurden herausgewirbelt und über den Asphalt geweht. Wenn der Sturm nur ein bisschen weiter zunahm, würden noch ganz andere Dinge durch die Luft segeln. Sie musste sich beeilen. Zum Glück war es nicht weit. Wenn sie endlich angekommen war, würde sie den restlichen Abend keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Sie war zwar hier aufgewachsen, aber an dieses miese Wetter würde sie sich nie gewöhnen. Von der Hauptstraße bog sie auf den Weg der Landpromenade. Er lag windgeschützt zwischen dichten Büschen. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie hier nachts entlang lief, aber die sorgte sich ohnehin zu sehr. Es war stockdunkel auf dem Pfad. Da vorn waren schon wieder Straßenlampen. Sie musste nur darauf zugehen.
Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Er lächelte nicht. Es war nichts, was ihm Freude bereitete, aber es musste getan werden. Das Monster musste verschwinden. Es gab kein zurück. Für ihn nicht und für seine Schwester schon lange nicht mehr. Sie musste lernen, ihre Schulden zu begleichen. Er würde ihr dabei helfen – sie zwingen. Der Sturm war perfekt für sein Vorhaben. Ein weiteres Zeichen dafür, dass er das Richtige tat. Bei diesem Wetter waren nicht viele Menschen unterwegs. Ein Zufall, dass er sie ausgerechnet heute entdeckt hatte. Auch ein Zeichen. Das Geheul des Sturms würde die Schreie übertönen. Unauffällig schlich er ihr nach. Immer in der Deckung. Hier in der Straße konnte er nichts unternehmen. Zu viele Fenster, aus denen zufällig jemand heraussehen konnte. Ihn beobachten. Er durfte nichts übereilen. Er hatte es schon einmal getan. Es war ganz leicht, wenn man ruhig blieb dabei. Geduldig auf den richtigen Moment wartete.
Eine Silhouette war hinter ihr gewesen, als sie sich umgesehen hatte, um die Straße zu überqueren. Ein dunkler Schatten, nur für einen Moment, dann war er verschwunden. Sie hatte sich noch zweimal umgedreht. Nichts mehr. War es Einbildung? Nur eine Mülltonne, die der Wind verweht hatte? Ein Schattenspiel? Das hätte nun auch nicht sein müssen. Sicher eine Sinnestäuschung. Das unheimliche Geheul des Sturms beeinflusste ihre Wahrnehmung. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte. Ganz unbewusst. Ihr Herz schlug schneller. Tief im Inneren spürte sie eine Unruhe. Mach dich nicht verrückt. Es ist alles okay. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Obwohl sie nicht ängstlich war, kribbelte es nun doch ein bisschen. Sie lächelte, über sich selbst, und ein wenig, um sich Mut zu machen. Kam der Schatten hinter ihr her?
Sie hatte den Kopf gedreht. Natürlich hatte sie das, sie musste schließlich die Straße überqueren. Wie dumm von ihm! Er verharrte hinter einer Hecke. Hatte sie ihn gesehen? Schon war sie auf dem Pfad verschwunden. Vermutlich also nicht. Aber er musste auf der Hut sein. Sie war ein Monster. Wahrscheinlich fürchtete sie sich einfach nicht – hielt sich für unverwundbar – plante womöglich etwas. Das stachelte ihn an. Zwei lange Schritte, und er war selbst auf dem Pfad. Vorsichtig spähte er durch die Zweige. Es dauerte einen Moment, um die Situation zu erfassen. Es war dunkel. Der Umriss ihres Körpers, kaum zu erkennen. Sie hatte bereits einen kleinen Vorsprung. Er musste sich beeilen. Hier musste es geschehen. Hier auf dem Pfad!
Sie beschleunigte ihren Schritt. In Zukunft würde sie bei Dunkelheit auf der Straße bleiben, so wie Mutter es wollte, schwor sie sich. Sie strengte ihre Augen an, um nach der Gestalt Ausschau zu halten. Jetzt war sie sich doch sicher, dass da jemand war. Sie hatte ihn deutlich an der Hecke gesehen. Im Licht der Straßenlaterne war eine Bewegung gewesen. Die Person war aus ihrem Blick geraten. War sie auf der Straße weitergegangen? Hatte sie sich versteckt? Bestimmt suchte sie nur Schutz vor den Windböen. Kein Grund, um nervös zu werden. Ihre Schritte wurden langsamer. Sollte sie zurückgehen und den Umweg über die Hauptstraße in Kauf nehmen? Der Wind blies ihr unerbittlich ins Gesicht. Aber sie hatte das Ende des Weges ja schon fast erreicht. Da vorne war bereits das Licht. Sie beeilte sich erneut, darauf zuzugehen. Drehte sich um. Niemand war hinter ihr. Das beruhigte sie. Außerdem war sie auf ihrer Insel. Vor wem sollte sie sich schon fürchten. Sie hörte das Pfeifen des Windes. Das war unheimlich. Vielleicht war der andere umgedreht. Womöglich weil er auch Angst bekommen hatte. Angst? Sie hatte keine Angst. Nur ein ungutes Gefühl. Es raschelte. Ganz nah bei ihr. Der Wind! Dennoch beschleunigte sie noch mal ihren Gang. Zu spät. Schon spürte sie eine Berührung. Zunächst fast unbemerkt, beinahe zärtlich, dann ein fester Griff. Eine Hand drückte in ihre Muskulatur. Zog sie nach unten. Sie wollte aufschreien vor Schmerz. Es ging nicht. Etwas presste sich auf ihr Gesicht, ihre Lippen. Ihr Schrei blieb ein gedämpfter Laut. Das Tuch, das ihr auf die Nase gedrückt wurde, hatte einen eigenartigen Geruch. Nur eine kurze Schrecksekunde. Sie hatte zu lange gezögert, nicht realisiert, was passierte. Ein armseliger Versuch, sich zu befreien. Ihr Oberkörper wurde umklammert. Ein schwacher Tritt nach ihrem Angreifer, geradezu lächerlich. Mehr gelang ihr nicht. Ihre Beine erschlafften, genau wie ihr ganzer Körper. Ohnmächtig fiel sie in die Arme des Schattens.
Es war gelungen. Niemand hatte ihn gesehen, als er sie weggebracht hatte. Er spürte keinen Triumph. Sie war seine Schwester. Er wollte nur, dass das Monster endlich verschwand. Angekommen legte er sie vorsichtig im Gras ab, halb unter den Büschen, damit sie im Dunkel der Nacht nicht zu erkennen war. Er musste sich erst überzeugen, dass niemand mehr herumschlich. Unwahrscheinlich um diese Uhrzeit und bei dem Wetter. Allerdings: Sicher war sicher. Er durfte auf keinen Fall gesehen werden.
Alles war still. Er schloss das Büro auf und ging hinein. Vorsichtig, ohne auch nur das kleinste Geräusch zu verursachen, hob er das Wandregal zur Seite, das den Kellerabgang verbarg. Er achtete darauf, keine Schleifspuren auf dem Boden zu hinterlassen. Niemand sollte bemerken, dass das Regal zu bewegen war. Deshalb durfte auch nichts verändert werden, was sich darin befand. Nichts durfte umkippen oder vertauscht werden. Jemand anderer hätte das gar nicht geschafft. Das Regal mit all seinen Ordnern war schwer, aber er kräftig genug. Niemand durfte jemals hinter das Regal schauen. Das war das Wichtigste. Dann ging er hinaus und holte das Mädchen. Er spürte die Wärme ihres Körpers und die Atembewegungen ihres Brustkorbs. Gleich hinter der Kellertür legte er sie ab und ging zurück. Er verschloss die Bürotür und das Regal, dann erst machte er Licht. Er wusste, dass es nicht nach außen drang. Sachte, fast liebevoll, trug er sie die Stufen hinunter. Den Flur entlang, bis ganz ans Ende. Dort hatte er alles vorbereitet. Die Spuren vom letzten Mal bereits beseitigt. In den Abfluss gespült, der sich unter dem einzigen Stuhl im Raum befand. Er wusste, dass er direkt in einen offenen Kanal führte. Gleichzeitig war der Abfluss die Luftzufuhr für den Kellerraum. Er fragte sich immer noch, wie sein Stiefbruder so schnell hatte sterben können. Es kam doch genügend Luft in den Raum. Er war eben nur ein kleiner Schwächling gewesen. Einer, der nichts weiter konnte, als anderen die Schuld zu geben, um selbst vor dem Keller verschont zu werden. Er sollte es am eigenen Leib spüren. Nur um zu sehen, wie es ist. Gleich bei diesem einen Mal war er verreckt. Sein Bruder war selbst schuld, nicht er. Seine Schwester würde da sicher standhafter sein. Sie war schließlich ein Monster. Das würde ihr diesmal aber auch nicht helfen. Sie hatte ihre Lektion verdient. Dessen war er sich ganz sicher.
Noch einmal kontrollierte er die Fesseln, bevor er sie allein ließ. Zufrieden ging er zur Tür. Ihr Kopf war auf ihre Brust gesunken. Wahrscheinlich nur eine List. Jetzt sollte sie erst einmal den Keller spüren. Die Dunkelheit. Die Einsamkeit. Die Furcht und natürlich auch den Schmerz. Dann würde er zurückkommen.
Heute würde der Tag einen Verlauf nehmen, den er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte schlimmer ausmalen können. Wie auch. Man kann sich ja nur Dinge ersinnen, die wirklich passieren. Sachen, die man sich vorstellen kann. In den Keller gesperrt zu werden war für Jo nicht dabei. Nicht bis zu diesem Tag.
Beim Frühstück hatte ihn seine Stiefschwester plötzlich seltsam angesehen. Jo sah zu Pete, ob der es auch bemerkte. Das tat er, zuckte jedoch unwissend mit der Schulter.
»Ich will nicht, dass der bei uns ist!«, hatte Clara zu ihrer Mutter auf einmal gesagt und auf Jo gezeigt. Ganz so, als ob er ein Fremder wäre oder eine ansteckende Krankheit hätte.
Es klang seltsam, sie so reden zu hören, schließlich war sie es, die in seinem Haus wohnte. Na gut, im Haus seines Vaters, aber das war ja irgendwie dasselbe. Bis vor Kurzem hatte er hier noch ganz allein mit seinem Vater gelebt.
»Rede nicht so«, hatte seine Stiefmutter geantwortet. Ihr Ton war nicht sehr streng. Ihr Lächeln passte nicht so recht zu dem, was sie sagte.
In diesem Moment machte er sich noch keine Sorgen. Es wurmte ihn ein bisschen, dass er zum Mittagessen nicht mit am Tisch sitzen durfte, sondern in seinem Zimmer bleiben sollte. Andererseits kein Grund, sich darüber aufzuregen. Er mochte die beiden sowieso nicht besonders und mit Pete würde er danach wieder spielen können. Wenn Vater von seiner Reise zurück war, würde er alles erzählen. Von ihm würden sie ganz schön was zu hören bekommen. Das war in diesem Moment Trost genug.
Am Nachmittag schickte ihn seine Stiefschwester in den Keller, um ihr eine Brause zu holen. Er tat ihr den Gefallen, vielleicht half es ja und sie konnten doch noch Freunde werden. An ihm sollte es nicht scheitern. Er mochte es, nicht mehr allein in dem großen Haus zu sein, und er mochte es, wenn Vater lächelte. Was er nicht mochte, war, dass seine Schwester hinter ihm die Tür abschloss, als er in den Keller ging. Es war grausam. Er war noch nie gerne hier unten. Jeder wusste, dass sich Monster im Keller versteckten. Aber er wollte so tun, als hätte er keine Angst. Er setzte sich in eine Ecke, zog die Knie ganz nah an seinen Oberkörper und wartete. Sicher würde Pete ihn finden. Er suchte immer nach ihm. Aber wie lange würde es dauern? Vielleicht war das Monster schneller als Pete. Jo hatte eben doch Angst. Er machte sich noch kleiner. So klein es nur ging. Wenn ihn das Monster nicht sehen konnte, würde es ihm auch nichts antun können. Er rutschte unter die alte Werkbank. Ganz nach hinten, dort, wo es am dunkelsten war, wo nicht der kleinste Schimmer hingelangte, der durch die Kellerfenster hereindrang. Es machte ihm Angst und zugleich fühlte er sich dort am sichersten. Hier würde ihn das Monster vielleicht nicht finden. Er durfte nicht weinen. Vor allem durfte er nicht so laut schluchzen. Das Monster würde ihn sonst zwar nicht sehen, aber womöglich hören können. Er schluckte so oft seine Tränen hinunter und vermied es, zu schluchzen, dass seine Kehle wehtat. Es war Angst und Traurigkeit, die ihn plagten. Als Mama starb, war er auch traurig gewesen, aber er hatte nie gleichzeitig Angst gehabt. Papa war ja da. Jetzt war er beides und es war furchtbar. Es war so schlimm, dass er beinahe vergaß zu atmen. Er musste husten, presste sich die Hand auf den Mund. Er lauschte. Hatte er das Monster aufgeschreckt? Auf sich aufmerksam gemacht? Etwas knisterte. Schlich es sich schon näher? Noch konnte Jo es nicht entdecken. Er schloss die Augen. Er wollte das Monster nicht kommen sehen. Wenn, dann sollte es ihn ohne Vorwarnung fressen. Einfach so, schnell und schmerzlos. Ja, das war das Wichtigste. Er wollte keine Schmerzen spüren.
Das Monster kam nicht. Auch Pete kam nicht oder seine Stiefmutter. Erst recht nicht Clara. Ängstlich kroch er schließlich unter der Werkbank hervor. Er konnte dort nicht länger sitzen. Seine Beine waren steif und jeder Knochen tat weh. Durch den Kellerschacht drang kein Licht mehr zu ihm herunter. Er hatte auch keine Tränen mehr, die er weinen konnte und er hatte sich längst in die Hose gepinkelt. Das hatte er noch nie, aber er hatte sich einfach nicht getraut herauszukommen. Um ehrlich zu sein hatte er es nicht einmal bemerkt. Er schämte sich. Er war kein Baby mehr und dann so was. Hier unten war es kalt, besonders mit der nassen Jeans, die an seinen Beinen klebte. Er zitterte und fand doch noch ein paar Tränen, die er weinen konnte. Tiefe Seufzer bahnten sich ihren Weg durch die schmerzende Kehle. Er merkte nicht, wie er dabei vor Erschöpfung einschlief.
Vom Geräusch des Schlosses wurde er aufgeweckt. Pete tauchte im Türspalt auf. Draußen war es wieder hell geworden.
»Es tut mir leid«, sagte er voller Mitgefühl. »Ich durfte nicht früher kommen.«
Jo ging stumm an Pete vorbei. Er beeilte sich. Pete sollte seine nasse Hose nicht sehen. Ihre Blicke trafen sich nicht. Ohne nach links oder rechts zu schauen, stieg er die Treppen hinauf in sein Zimmer, warf die schmutzigen Klamotten auf den Boden und kroch nackt unter seine Bettdecke. Er würde ganz leise sein und hoffen, dass ihn dann heute niemand mehr finden würde.
Im Badezimmer von Magnus Saller war der Spiegel über dem Waschbecken beschlagen. Er tauchte den Kopf in das heiße Wasser der Wanne. Nur die Knie ragten aus der Schaumkrone. Die Wärme durchdrang jede Faser seines Körpers. Er spürte förmlich, wie sich seine Muskulatur entspannte. Der Duft der Badeessenz stieg ihm in die Nase und ließ seine Lebensgeister zurückkehren. Jene Lebensgeister, die ihn nach und nach während des letzten Jahres verlassen hatten. Sein Leben war gut gewesen – davor. Seine Frau Margret, die er unfassbar geliebt hatte, seine Tochter Lilli und sein Sohn Laurenz. Gemeinsam hatten sie eine harmonische Familie gebildet. Hatten tolle Urlaube verbracht, miteinander gestritten und sich wieder versöhnt. Waren durch dick und dünn gegangen. Sie hielten zusammen, auch wenn er der Familie oft und lange den Rücken kehren musste. Wegen seines Jobs – und zwar nur