Rachetreiben - Thomas Gerl - E-Book

Rachetreiben E-Book

Thomas Gerl

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Beschreibung

In Hamburg treibt ein Racheengel sein Unwesen. "Der Rosenmörder", titelt eine große Boulevardzeitung. Die Polizei tappt im Dunkeln. Ausgenommen, Rolf Burger, Erster Hauptkommissar des Hamburger Polizeipräsidiums. Er weiß um die Hintergründe des unheimlichen Täters, die ein Geheimnis seiner Jugend betreffen. Ein Ereignis, das er dachte, längst zurückgelassen zu haben. Als der Rosenmörder auch auf einer kleinen Nordseeinsel zuschlägt, reist der dort zuständige Kommissar Saller mit Sack und Pack nach Hamburg, um dem Täter das Handwerk zu legen. Bald geraten er und sein Sohn Laurenz zwischen die Fronten aus Rache und düsterer Vergangenheiten.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Teil 5
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Schluss

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:

 

© 2024 Thomas Gerl

Lektorat von: Dorothea Gerl und Monika Kleinau

Umschlagfoto: Joe Belanger/Shutterstock.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Thomas Gerl, Brunnenstr. 3,

71701 Schwieberdingen, Germany.


 

 

 

 

 

 

Thomas Gerl

 

 

Rachetreiben

 

 

Thriller

 

 

 

 

Besuchen Sie mich im Internet:

www.thomasgerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist die Liebe,

die nicht zum Denken verführt,

sondern zum Handeln.

 

Teil 1

 

 

Michael Thielemann

1

Michael Thielemann stand vor dem Spiegel. Er prüfte seine smarten Gesichtszüge, lächelte und kontrollierte den Sitz seiner Krawatte. Gewöhnlich kein Kleidungsstück für einen Achtzehnjährigen. Heute schon. Heute war Abifeier und Michael würde eine Rede halten. Er war Schülersprecher und naturgemäß dafür ausgewählt worden, mit vielleicht einem kleinen Unterschied zu anderen Jahrgangsstufen. Michael mochten irgendwie alle.

Sein Notendurchschnitt überragend und dennoch nie als Streber geächtet. Er war unsportlich, sah auch nicht besonders gut aus und trotzdem galt er in gewisser Weise als eine Art Idol am Gymnasium. Die Krönung seiner Unvollkommenheit: Das gute Verhältnis zu fast allen Lehrern. Michael Thielemann konnte sich das erlauben. Wenn man an seiner Schule jemanden nach dem Grund seiner großen Beliebtheit gefragt hätte, wäre man nur auf einstimmiges Schulterzucken gestoßen. Michael flog eben unter dem Radar. Viele Dinge, die von ihm ausgingen, geschahen im Verborgenen. Er stand nicht gerne im Vordergrund, aber wenn er seine Deckung verließ, war er gut vorbereitet und alle fanden das dann cool. Cool, ein Wort, das man schon seinerzeit gebrauchte und damals genau wie heute für ein tiefes, ehrliches Gefühl der Bewunderung stand. Cool war natürlich auch, dass Michael, seit er sechzehn war, mit einer Fünfziger Enduro zur Schule kam und noch viel länger eine Freundin hatte. Michael und Marlene. M und M. Jeder auf der Schule wusste, wer gemeint war. Der schüchterne, aber beliebte Michael und seine unbekümmerte Marlene. Rote Haare, Sommersprossen. Niemand konnte sich an eine Zeit erinnern, in der es anders gewesen war.

Und genau diese Zeit endete heute Abend. Das Idol seiner Ära würde zur Legende werden.

Neben sein Gesicht schob sich ein anderes. Rote Haare, Sommersprossen. Im Spiegel trafen sich ihre Blicke. Marlene lächelte. Ihr Mund, der so rot war, dass er keines Lippenstiftes bedurfte, bildete einen perfekten Kontrast zu der weichen, weißen Haut und Michael würde seinen Blick nie von den Grübchen abwenden können, die bei Marlenes Lachen zum Vorschein kamen.

»Du siehst fabelhaft aus!«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Findest du?«

Marlene legte ihre Hände an sein Gesicht und drehte seinen Kopf zu ihr herum. Sie küsste ihn. Ihre Finger glitten mit zärtlicher Absicht in sein Haar.

»Nicht Marlene!« Er klang vorwurfsvoll. »Jetzt kann ich wieder von vorn anfangen!«

Immer noch lachend, ließ Marlene von ihm ab und sich gleichzeitig auf sein Bett fallen. Sie beobachtete ihn, wie er seine Frisur zurück in die richtigen Bahnen lenkte.

Michaels Blick fiel auf seine Freundin. Seine hübsche Marlene, die noch nie einen anderen gewollt hatte als ihn. Er beugte sich über sie und hielt schnell ihre Hände fest, die erneut seine Haaren angreifen wollten. »Du siehst auch toll aus!«, hauchte er und gab ihr den Kuss zurück. Dann löste er sich und zog Marlene in die Senkrechte.

»Seid ihr so weit?« Es war die Stimme von Michaels Mutter.

»Ja!«, riefen beide zurück, während Marlene gespielt verlegen ihr Kleid glattstrich.

Die Stimme von Michaels Mutter klang nicht so fröhlich, wie sie früher immer geklungen hatte. Marlene warf ihrem Freund deshalb einen bitteren Blick zu. Michaels Vater würde nämlich nicht mitkommen, um den großen Tag zu begehen. Er war zu schwach dafür. Seit dieser blöde Krebs zurückgekommen war, ging es ihm immer schlechter.

Sie alle waren nicht mehr so glücklich wie früher, aber gemeinsam würden sie es schaffen.

2

»… Manche von uns werden sich also nie wiedersehen. So ist der Lauf des Lebens. Was bleibt, sind Erinnerungen. Erinnerungen an unsere Unbekümmertheit, unsere Träume und daran, dass wir nur an morgen dachten. Genau das wünsche ich uns allen. Erinnern wir uns ab und zu daran, wie wichtig es ist, den Augenblick des Lebens zu genießen. Nehmt ein bisschen eurer Verspieltheit mit in euer weiteres Leben. Es wird ziemlich ernst Leute, da kann das bestimmt nicht schaden. Macht das Beste aus euch, ohne dabei allzu spießig zu werden!«

Mit einer angedeuteten Verbeugung signalisierte Michael das Ende seiner Rede. Frenetischer Jubel brach aus. Er hatte es geschafft.

Die ersten Worte waren unsicher gewesen. Lauernde Blicke hatten zu ihm heraufgesehen. Ihn angestarrt, nur darauf gewartet, dass er sich verhaspelte, vergaß, was er eigentlich sagen wollte. Mit jedem Satz hatte er dann mehr und mehr verdrängt, im Focus zu stehen. Hatte nur noch geredet und war brillant dabei. Witzig, wortgewandt und scharfzüngig, aber nicht respektlos. Hatte niemanden bloßgestellt, dennoch angeprangert. Jeder hatte ihn verstanden, keiner war ihm böse.

Michael kam erst wieder zu sich, als ihm Marlene um den Hals fiel. »Mit solchen Reden wirst du bestimmt mal Bundeskanzler«, sagte sie strahlend.

»Lieber Staatsanwalt«, gab Michael grinsend zurück, ohne allerdings seinen Stolz zu verbergen. Er würde niemals Bundeskanzler werden, weil er nicht in der Öffentlichkeit stehen wollte und auch als Staatsanwalt würde er sich um Fälle kümmern, die für das allgemeine Interesse nicht von Belang wären. Aber Staatsanwalt, das würde er werden. Dessen war er sich sicher. Er liebte es, für Gerechtigkeit einzustehen.

Der Jubel legte sich. Bettina Kolb trat an das Mikrofon. Sie war Verbindungslehrerin. Sie lächelte Michael an. »Vielen Dank, dass du mir die Hürde für eine Rede in den Himmel gehängt hast!«, begann sie.

Lachen schwappte durch den Saal. Michael zog einen Stuhl heran und setzte sich zwischen seine Mutter und Marlene. Bettina Kolb wartete, bis sich die Unruhe wieder gelegt hatte. Sah ins Publikum und dann auf ihr Manuskript, obwohl sie es zu dem, was sie jetzt sagen wollte, nicht gebraucht hätte.

»Bevor ich meine Rede beginne, möchte ich einem bewundernswerten Schüler danken, der mich sieben Jahre begleitet hat. Manchmal habe ich mir während dieser Zeit die Frage gestellt, wer von uns beiden der Lehrer ist. Dabei spreche ich nicht von seinem unstillbaren Wissensdurst, der dazu führte, dass ich mit ihm Unterrichtsinhalte auf Augenhöhe diskutieren konnte. Ich spreche von seinen charakterlichen Eigenschaften.« Jetzt legte Bettina Kolb ihren Blick auf Michael Thielemann. »Lieber Michael, ich war immer sehr beeindruckt, von deinem Mut deinen eigenen Weg zu gehen. Deinem Geschick, die Menschen für dich zu begeistern und Schwächeren beizustehen, ohne dabei mit den Alphatieren …« Bettina Kolb blickte über ihre Lesebrille hinweg im Saal herum. Es gab einzelne Lacher, von denen manche etwas verlegen klangen. »Also mit stärkeren Schülern aneinanderzugeraten.« Jeder im Raum – die meisten Eltern ausgenommen – wusste, was die Verbindungslehrerin damit meinte.

Zwei Jahre zuvor hatte es einen Zwischenfall mit einer Mitschülerin gegeben. Sie war über lange Zeit gemobbt worden. Am Anfang war es nicht richtig offensichtlich gewesen, doch Michael Thielemann wurde darauf aufmerksam und er begann ihr zu helfen. Michael begriff die Ausweglosigkeit, in der das Mädchen steckte und begab sich dabei auf sehr dünnes Eis. Sich auf die Seite von Außenseitern zu stellen, konnte schnell zu einem Bumerang werden. Besonders wenn man selbst nicht sonderlich cool wirkte und der Kleinste in der ganzen Jahrgangsstufe war. Angriffspunkte gemobbt zu werden, lieferte Michael Thielemann genug. Das perfekte Opfer, wenn seine Klassenkameraden gewollt hätten. Aber Michael war längst über den Berg, was eine solche Gefahr anbelangte. Michael mochten sie. Niemand stellte sich gegen ihn. Stattdessen ließen sie sich von ihm dazu bewegen, ihre Attacken auf das Mädchen zu beenden. Später kam heraus, dass es fünf vor zwölf gewesen war. Das Mädchen hatte bereits einen Abschiedsbrief geschrieben.

Im Saal des Abschlussballes war es dementsprechend still geworden.

»Es gehört sich eigentlich nicht, bei einem solchen Anlass einen einzelnen Schüler hervorzuheben, aber du hast in deiner Schulzeit viele von uns vor großen Dummheiten bewahrt. Ich denke, mir wird keiner Böse sein, wenn ich dir dafür besonderen Dank ausdrücke und sage, dass ich unsere gemeinsame Zeit auf dem Gymnasium nie vergessen werde.« Wieder brandete Applaus durch den Saal. »Vielen Dank also«, rief Bettina Kolb gegen den Lärm an, »und alles Gute für deinen Vater!«

Michael war es heiß geworden. Er spürte Marlenes Hand in seinem Nacken, die ihn sanft streichelte und er sah zu seiner Mutter, die sich Tränen aus den Augen wischte. Vielleicht, weil sie so stolz auf ihren Sohn war oder vielleicht, weil Bettina Kolb seinen Vater erwähnt hatte? Vermutlich beides.

Michael konnte der Rede seiner Lehrerin nicht weiter folgen. Seine Gedanken schweiften durch Zeit und Raum. Sie schweiften durch seine Vergangenheit und seine Zukunft. Eine Zukunft, die er sich nur ausmalen konnte. Auch die Rede seines Rektors verfolgte er unkonzentriert, und die des Bürgermeisters.

Dann kam der gemütliche Teil.

 

***

 

Alles in allem war es ein toller Abend. Er hatte mit Marlene getanzt und ein letztes Mal mit seinen Freunden gefeiert. Dann war es vorbei gewesen. Nicht nur dieses Fest. Das Ende von Michaels Abschlussball stand als Symbol für das Ende seiner Kindheit. Jetzt würde ein neues Kapitel aufgeschlagen. Eines, das ihn zum Mann machen würde.

Michael konnte nicht wissen, dass er nur noch wenige Augenblicke in seinem Leben vor sich hatte, die er würde genießen können.

3

»Hier rüber!«, Rolf Burger winkte seinem Busenfreund Walter zu.

In der kurzen Zeit ihres ersten Semesters an der Uni hatten sich die beiden bereits eine Sonderstellung erarbeitet. Weniger auf Grund ihrer Leistungen, als des rüpelhaften Verhaltens. Rolf Burger, Sohn eines Rechtsanwaltes, bekannt als der Typ, mit dem roten Sportcabrio und sein blonder Kumpel mit der sonnengebräunten Haut, der eher wie der Sohn eines Filmschauspielers wirkte, und nicht wie ein Student der Rechtswissenschaften. Die Unnahbaren wurden sie genannt. Jungs, von denen man sich lieber fernhielt. Entweder, weil sie ohnehin eine Nummer zu groß für eine Freundschaft waren, oder, weil sie einen anwiderten, mit ihrem arroganten Gehabe. In den meisten Fällen deshalb, weil sie allzu deutlich zeigten, wenn sie jemanden für Dreck hielten.

»Verzieht euch mal«, herrschte Rolf Burger zwei Mädchen an, die an einem der kleinen Tische des Campus-Cafés saßen.

Die Mädchen sahen ihn verwundert an. Sie hatten Bücher vor sich ausgebreitet und waren angesichts der Störung nicht sehr begeistert.

»Wirds bald!« Rolf Burger schnappte eines ihrer Bücher am Einband und ließ es quer über den Boden der Aula schlittern, die sich, durch einige Blumenkübel abgegrenzt, an das Café anschloss. Er stemmte die Arme, mit zu Fäusten geballten Händen, auf die Tischplatte und fixierte die Mädchen. Die Augenbrauen als Drohgebärde erhoben. Widerwillig standen die beiden Studentinnen auf. »Na also!« Rolf Burger stieß einem der Mädchen gegen die Schulter. Unabsichtlich, dennoch von ihm provoziert, stolperte sie und stürzte. Äußerlich unverletzt fühlte sie sich vor allen Augen gedemütigt, wollte diesem groben Kerl die Meinung sagen.

Sein Blick gab ihr das Zeichen, lieber das Weite zu suchen. Rolf Burger ließ sich zufrieden auf einen der Stühle sinken. Die Mädchen waren verschwunden, noch bevor sich die vielen Augenpaare wieder ihren eigenen Dingen zuwandten. Blicke von Menschen, die empört aufgesehen und dann doch nichts unternommen hatten. Rolf Burger blies Luft aus. »Bitch!«, sagte er verächtlich zu seinem Freund Walter Kubick, der sich jetzt ebenfalls einen Stuhl an dem soeben frei gewordenen Tisch zurechtrückte.

»Musste das sein? Wir hätten auch den da hinten nehmen können« Walter Kubick deutete auf einen freien Tisch etwas abseits. »Oder uns zu ihnen setzen!« Walter war der Einzige, der Rolf sagen konnte, was er dachte.

Rolf verdrehte die Augen. »Streberinnen wie die bringen’s doch nicht«, sagte er herablassend.

Geräuschvoll wurde ein weiterer Stuhl unter dem Tisch hervorgezerrt. »Was geht, ihr Flachwichser?«

»Könnte sein, dass ich gleich jemandem die Fresse poliere!«, gab Rolf Burger zurück und dem Dritten der Runde einen heftigen Schlag an den Oberarm.

Roger Ewald lachte nur darüber. Er hatte keine Angst vor Rolf. Nicht einmal Respekt. Den hatte er vor niemandem. Der einzige Grund, warum Rolf Burger ihn in seiner Clique duldete, war dessen Hartnäckigkeit. Anders als die vielen anderen Nullen ließ Roger sich einfach nicht abwimmeln. Rolf Burger hätte ihn totprügeln müssen, hätte er mit letzter Konsequenz verhindern wollen, dass Roger zu ihnen gehörte. Dafür allerdings war Roger zu amüsant. Mit ihm konnte man wirklich Spaß haben.

Warum Steffen und Martin dazu gehörten, wusste Rolf Burger dagegen nicht so genau. Wahrscheinlich war es eine Art von Mitleid, die ihn dazu gebracht hatte, die beiden zu akzeptieren. Martin hatte ständig über seine Witze gelacht und sich angebiedert. Rolf fand das normalerweise abstoßend, wäre da nicht ein Spruch seines Vaters gewesen, den er sich schon früh eingeprägt hatte. Menschen, die dich bewundern und selbst kein Rückgrat besitzen, sind äußerst nütze im Leben. Der Satz passte perfekt auf Martin und weil Ernst Burger schon immer ein großes Vorbild für seinen Sohn Rolf gewesen war, hatte der die Idee gehabt, einen solch rückgratlosen Speichellecker in sein Umfeld aufzunehmen. Martin gab es allerdings nur im Doppelpack. Steffen, den sie alle nur Steff nannten, war Martins Kumpel und damit eben dabei. Rolf konnte sich nicht erinnern, dass Steff jemals ein Wort in seiner Gegenwart gesprochen hatte. Genau in dieser Haltung kamen sie jetzt an ihren Tisch. Martin setzte sich, krampfhaft damit beschäftigt cool zu wirken. Sein Freund Steff bemühte sich umgekehrt, nicht aufzufallen. Er zog sich leise einen Stuhl heran und stellte ihn hinter Martin, weil die Lücke am Tisch nicht mehr groß genug für ihn war.

»Sieh dir den an!« Martin zeigte auf einen Studenten, der ein Stück entfernt, allein an einem Tisch saß. Er wirkte linkisch und verloren, wie völlig am falschen Ort. Martin lachte und schüttelte den Kopf, als wäre dieser Typ das peinlichste überhaupt.

Rolf Burger sah hinüber. Er wusste nicht, warum Martin auf diesen Dösbaddel aufmerksam geworden war, aber vielleicht würden sie wirklich noch ihren Spaß mit ihm haben. Im Moment allerdings hatte er etwas anderes im Sinn. Er beugte sich geheimnisvoll über den Tisch und senkte die Stimme.

»Habt ihr schon mal ne echte Waffe gesehen?«

Alle am Tisch erstarrten, außer Roger. »Geil Mann, hast du eine? Zeig her!«

Rolf schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. »Hör auf, so rumzuschreien!«

»Dann fang halt nicht davon an, wenn du keine Eier hast!«, gab Roger beleidigt zurück. Seine Augen glänzten immer noch.

»Woher?« Walter Kubick schwankte zwischen Neugierde und Abwehr.

»Meinem Alten aus dem Schreibtisch geklaut.« Verschwörerisch stand Burger auf. »Ich zeig sie euch draußen!«, raunte er seinen Freunden zu. Er hielt Walter am Arm zurück, der sich bereits erhoben hatte. Finster sah er der Reihe nach jeden an. »Wenn einer von euch quatscht, kann er seine Einzelteile aus der Elbe fischen, ist das klar?«

Keiner antwortete, sie hatten verstanden.

4

Michael Thielemann hatte sich in seinem Leben nie zuvor so fremd gefühlt. Noch nie so unsicher. Er sah sich im Campus Café um. Niemand nahm Notiz von ihm. Das war gut. Keiner der anderen wirkte so jung wie er. Manche hielten ihn womöglich für einen Superstreber, der von der siebten Klasse direkt auf die Uni gewechselt war. Genauso musste er nämlich wirken, mit seinem T-Shirt und seinen Shorts. Er selbst würde sich höchstens für vierzehn halten. Er dachte an seinen Vater, der schwer krank zu Hause lag und an Marlene, die ihn heute Abend ganz bestimmt zu seinem Tag an der Uni löchern würde. Er sah auf die Uhr. Bis zu seiner ersten Vorlesung waren noch zwei Stunden Zeit. Er könnte in die Bibliothek gehen und sich ein paar Bücher ausleihen, die für sein Studium nützlich wären. Nein, heute am Debütantentag nicht. Er würde lieber ein bisschen den Campus entdecken und in den Park gehen, der sich fast direkt daran anschloss.

Er wollte los, zögerte aber. Einige Tische weiter waren gerade ein paar Jungs aufgestanden. Dieselben, die vorher die beiden Mädchen lautstark vertrieben hatten. An seinem alten Gymnasium hätte Michael ihnen sofort geholfen, die Rüpel zurechtgewiesen – aber hier. In der neuen Umgebung war er viel zu feige gewesen. Und immer noch waren Michael diese Kerle nicht geheuer. Ganz sicher wollte er nicht auf sie treffen, wenn er hinausging.

Jetzt hielt der riesige, kräftige Typ, das Alphatier der Gruppe – wie sich Frau Kolb ausgedrückt hätte – seinen blonden, sonnenstudiogebräunten Kumpel noch mal am Arm fest und redete ernst, fast bedrohlich, auf ihn ein. Michael musste trotz seines Bauchgrummelns schmunzeln. Er dachte an die Abschlussfeier und Frau Kolb, als sie das mit dem Alphatier gesagt hatte. Tier! Ja, das war der richtige Ausdruck für so Typen wie den da drüben.

Der hatte seinen Kumpel wieder losgelassen. Den fand Michael sogar fast sympathisch. Im Gegensatz zu dem anderen, der später gekommen war. Der wirkte wie ein Verrückter auf Michael. Lachte andauernd und seine Bewegungen waren fahrig.

Wegen der beiden Schlusslichter, die vorhin als Letzte erschienen waren, hätte Michael nicht gezögert. Wieder musste er grinsen. Schlusslichter war gut, in diesem Fall nur nicht besonders helle. Sie waren ganz klar Mitläufer. Das waren die Schlimmsten, fand Michael. Im Normalfall harmlos, aber in der Gruppe völlig unkontrollierbar. Sie taten dann manchmal unglaubliche Dinge. Das mussten sie, um den Stärkeren zu zeigen, dass sie auch dazu gehörten. Wobei es in diesem Fall wohl nur auf einen von ihnen zutraf. Der andere sah eher unbeteiligt aus, als würde er nur darauf warten, dass die Begegnung endlich vorbeiging.

Michael blieb also sitzen und erst als er die fünf Windbeutel durch die Glastür nicht mehr sehen konnte, machte er sich daran, das Café zu verlassen. Mit seinem zerschlissenen Rucksack, den er schon in seiner Schulzeit verwendet hatte und im Moment das einzig Vertraute für ihn war, schlenderte er hinüber zum altehrwürdigen Vorlesungsgebäude. Beinahe zeremoniell öffnete er eine der riesig wirkenden Türen und betrat den mächtigen Stahlbetonbau. Alles hier war so viel größer als an seinem Gymnasium. Einschüchternd. Früher hatte er jeden Schüler gekannt – zumindest vom Sehen – fast alle beim Namen. Hier kannte er niemanden und es waren viele, die ihm entgegenkamen. Na ja, das wird sich sicher bald ändern, sagte er sich, während er auf den Belegungsplan der Vorlesungssäle schaute. Leichter als gedacht, sich darauf zurechtzufinden. Michael war schließlich nur verunsichert und nicht verblödet ob der neuen Umgebung. Er entschied, dass er die verbleibende Zeit, wie geplant, im Park verbringen konnte. Dem ›Planten un Blomen‹ einem bekannten Hamburger Stadtpark.

Er ließ sich von den vielen Studenten, vermutlich war gerade eine Vorlesung zu Ende gegangen, nach draußen treiben. Michael bildete sich ein, dass ihn einige verwundert anblickten. Mach dich mal locker.Du bist achtzehn und gehörst hierher, wie jeder andere auch. Genaugenommen würde er mit seinem Notendurchschnitt und dem Interesse für Rechtswissenschaften den Anforderungen besser gerecht werden, als die meisten von ihnen. Dieser Gedanke formte ein Lächeln auf seine Lippen. Er sah in den Himmel, der ein paar warme Sonnenstrahlen zu ihm herunterschickte und damit den bisher regnerischen Herbsttag angenehmer erscheinen ließ.

Der Platz vor dem Unigebäude leerte sich schnell. Niemand hielt sich hier länger auf als notwendig. Die Studenten begaben sich zu ihren Vorlesungen, zur Mensa oder nach Hause, was nicht selten eine kleine Studentenbude bedeutete. Jetzt, da die Sonne herauskam, gingen sie aber vielleicht auch an den Jungfernstieg beziehungsweise in eines der vielen Lerncafés, die im Bereich der Uni betrieben wurden. Michael folgte einer Traube Studenten über die Straße, Richtung U-Bahn. Im Durchgang zu den Gleisen leerte sich der Weg. Michael stieg nicht wie alle anderen zu einem der Bahnsteige empor, sondern ging einige Meter weiter, allein durch das große Tor des Stadtparks.

Der ›Planten un Blomen‹. Früher hatte er hier öfter Zeit verbracht. Zuerst mit seinen Eltern, die ihm solche Tage immer mit einem Eis versüßten und später mit Marlene. Obwohl Marlene ihm die Besuche nie mit Eis versüßte, waren sie doch schöner als mit den Eltern. Vor allem in der Anfangszeit ihrer Zuneigung, als beide spürten, dass etwas Geheimnisvolles zwischen ihnen passierte, sie aber nicht wussten, was man sagen oder tun konnte, ohne es zu zerstörten. In dieser Zeit waren die vielen Bänke inmitten von Sträuchern und Hecken der richtige Ort gewesen, an dem ihre Zweisamkeit und Gefühle keine Worte oder Taten brauchten, sondern einfach wachsen konnten. Marlene liebte die vielen Blumen und Kräuter vor allem im Apothekergarten und Michael liebte Marlene.

Der Apothekergarten! Michael machte sich auf den Weg dorthin. Auch ohne seine Freundin würde er es dort genießen und ein wenig an sie denken können.

Vor ihm kam die Freilichtbühne in Sicht. Nicht weit davon war sein Ziel. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet und der Park war wie ausgestorben. Sogar den Kies konnte er unter seinen Schuhsohlen knirschen hören – und Stimmen. Wahrscheinlich ein paar Gärtner, die irgendwo ihrer Arbeit nachgingen. Obwohl es ihn nicht interessierte, warf er einen suchenden Blick in die Richtung, aus der er sie gehört hatte. Mehr aus Langeweile, als aus Neugierde, wich er vom direkten Weg ab und bog hinter der Freilichtbühne auf einen schmäleren Pfad ein. Ein Schild wies zu den Wasserkaskaden. Nur ein kurzer Umweg, der an der Rückseite des Musikpavillons vorbeiführte.

Zwischen Bäumen und Büschen lag ein unauffälliger Bereich zu einer Tür. Vermutlich ein Raum hinter der Bühne, in dem Utensilien für die Veranstaltungen gelagert wurden oder in dem sich Künstler aufhalten konnten. Vielleicht war es auch ein Lager für die Gärtner. All das ging Michael durch den Kopf, als er ein paar Bewegungen zwischen den Bäumen ausmachte. Wieder einige flüsternde Laute.

Mit einem Mal schwang Michaels Sorglosigkeit in Erregung um. Schlagartig schwelte eine Bedrohung über ihm. Eine dunkle Wolke, die nur er sehen konnte, die sich jedoch kalt und unbehaglich herabsenkte, seine Eingeweide infizierte und seine Sinne lähmte. Dort inmitten der Büsche hatte er jemanden erkannt.

Es war der blonde, braun gebrannte Student aus der Mensa. Michael spürte seinen Herzschlag beschleunigen, das Blut durch seinen Körper jagen. Er war normalerweise kein ängstlicher Mensch. Allerdings musste er feststellen, dass er bisher in einem schützenden Kokon gelebt hatte. Einer Welt, die bar jeder Gefahr gewesen war. In der er sich völlig furchtlos hatte bewegen können. Michael entdeckte nun eine neue Welt. Eine Welt, die ihn einschüchterte. Sieh vorwärts und nicht hinter dich! Michael Thielemann atmete tief ein. Seine Brust hob sich. Zufrieden nickte er und wandte sich ab. Sollten sie dort tun, was sie wollten. Ihn ging das nichts an.

Er zögerte. In den Händen dieses Labans war etwas aufgeblitzt. Michael warf einen abschätzenden Blick hinüber. Keine Neugierde. Ein Reflex das Unerkannte doch noch zu identifizieren. Was er sah, ließ ihn sein Zögern bereuen. Bloß weg hier! Neben dem Blonden stand das Alphatier.

Plötzlich war da wieder die Mensa. Das Mädchen! Auf den Boden gestoßen, von diesem bösartigen Lackaffen. Es war mehr eine Ahnung als eine bewusste Erkenntnis. Sein Urinstinkt schrie Flucht. Michael Thielemann zögerte, gab den Signalen seines Körpers nicht nach. Dann war es zu spät. Ihre Blicke hatten sich gekreuzt.

»He, Kleiner!«

Lauf los! Seine Beine gehorchten nicht. Die Stimme hatte sich in seine Ohren gebohrt und breitete sich eisig in seinem Körper aus. Erstarrt musste er zusehen, wie der Typ sich in Bewegung setzte. Selbst wenn Michael jetzt losrannte, wäre er nicht mehr schnell genug. Sein Körper fühlte sich schwer und unbeweglich an. Gerade so, als hätte sich die Gravitation der Erde mit einem Schlag vervielfacht. Alles an Michael zog ihn zu Boden. Nur mit Mühe konnte er dagegen ankämpfen. Lass sie deine Angst bloß nicht spüren! Michael schwieg. Das Zittern seiner Stimme hätte ihn verraten. Er drehte sich um und lächelte. Versuchte unbeteiligt zu wirken. Seine Mundwinkel vibrierten, also hörte er auf zu lächeln.

Der Gesichtsausdruck dieses Kerls war wie eine Mischung aus unehrlicher Freundlichkeit und offen zur Schau gestellter Bedrohung.

»Komm mal her!«, herrschte der Lulatsch ihn an.

Wie ferngesteuert folgte Michael der Aufforderung. Die dunklen Wolken, die nur Michael sah, begleiteten ihn, genau wie das Magnet im Boden, das ihn unerbittlich nach unten ziehen wollte. Sein Herz pochte wie verrückt, obwohl es nur von dem eisigen Blut gespeist wurde, das durch seine Adern floss. Michael sah sehnsüchtig um sich, hoffte, es würde ihm jemand zu Hilfe kommen. Doch da war niemand. Wo sind diese beschissenen Jogger und Spaziergänger, wenn man sie mal braucht?

Hinter dem Koloss und dem Blonden tauchten noch drei andere auf. Sie waren also alle da. Das Alphatier, der Schönling, der Verrückte und die beiden nicht so hellen Schlusslichter.

Der Weg, der zwischen ihm und der Gruppe Studenten lag, war viel zu kurz. Michael hatte keine Zeit, sich einen Ausweg zu überlegen. Sein Gehirn waberte im Takt der dunklen Wolken, konnte nicht arbeiten, war nicht vorbereitet auf das hier.

»Wie heißt’n du?« Der Typ, der Michael verrückt vorgekommen war, trat an die Seite des Alphatieres und zeigte seine Zähne. Sein Lachen war genauso einfältig, wie seine Sprache.

»Michael.« Es war eingetreten, was er befürchtet hatte. Seine Stimme zitterte.

»Mach dich locker!« Das Alphatier zog ihn ruckartig zwischen die Büsche und klopfte ihm hart auf die Schulter.

Beinahe wäre er stolpernd zu Boden gegangen. Es kostete Michael Mühe, überhaupt zu atmen. Die Gruppe komplimentierte ihn an der Rückseite der Freilichtbühne entlang ins Dickicht. Sie lachten hämisch.

»Verpfeifst du uns?«

Michael wusste nicht, von wem die Frage gekommen war. Unwichtig. Was sollte man darauf schon antworten.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja gar nicht …« Wieder zitterte seine Stimme.

»Ob du uns verpfeifst, wollte ich wissen?«

Diesmal hatte Michael gesehen, wer sprach. Seine Theorie stimmte. Die Mitläufer mussten sich aufspielen, um sich vor den anderen groß zu tun! Trotz der Erkenntnis kam sich Michael unendlich klein vor.»Lasst mich gehen. Ich hab nichts gesehen.« Seine Antwort klang wie Flehen. Im selben Moment fiel sein Blick auf die Hand des Blonden und was er eben gesagt hatte, war nicht mehr die Wahrheit. Der Schönling hielt eine Knarre fest umschlossen, den Zeigefinger am Abzug.

Das Alphatier zeigte sein drohendes Grinsen, als Michael aufsah. »Also? Verpfeifst du uns?«

Michael konnte nicht antworten. Die Worte steckten in seinem Hals fest. Nicht einmal sein Mund ließ sich öffnen.

»Er soll sie anfassen«, gackerte der Verrückte dazwischen, »dann ist er auch mit dran, wenn er’s rumposaunt!«

Alle außer Steffen lachten. Michael wusste seinen Namen nicht, aber seine stumme Miene stach zwischen den aufgeregt feixenden Gesichtern der anderen heraus. Diesem Jungen schien es unangenehm, was hier passierte. Vielleicht dachte er, dass eine Grenze überschritten war. Wohl nicht weit genug, um eingreifen zu müssen.

Der Blonde klopfte Michael auf die Schulter. »Na, machst du’s? Sag lieber ja, sonst müssten wir anders dafür sorgen, dass du die Fresse hältst!«

Michael sah ihn ängstlich an, versuchte, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen, seine Beine zu beherrschen. »Ich will sie nicht …« Die Worte hatte er mit aller Kraft herausgepresst. Sie verließen seinen Mund in einem einzigen kehligen Laut. Dann waren seine Lippen wieder verschlossen.

»War das ein Ja?«, wollte der Mitläufer wissen. Der andere. Nicht der, dem es unangenehm zu sein schien.

Michael nickte. Was sollte er sonst tun. Seine Angst hinderte ihn, weiter zu widersprechen. Wenn er tat, was sie verlangten, würde es am schnellsten vorbei sein.

Michael sah, wie sich die Hand des Blonden durch den dunklen Schleier schob, der um ihn waberte. Er sah, wie sie näher kam und ihm das stählerne Ding reichte. Es glänzte nicht mehr, weil die Sonne ihre Strahlen nicht durch den grauen Schleier dringen lassen konnte. Michael wusste nichts über Waffen. Nicht einmal, ob es sich um eine Pistole oder einen Revolver handelte. Er hatte keine Ahnung, warum sie wollten, dass er das Ding anfasste. Wahrscheinlich ergötzten sie sich an seiner Angst. Sie lachten darüber, dass sie ihm eine Knarre geben konnten und er trotzdem Angst hatte. Er könnte sie alle abknallen, stattdessen hatte er Angst. Unbeschreiblich große Angst.

»Wie wäre es mit einem Spielchen? Du weißt doch, was Russisch Roulette ist, oder?«

Die Worte drangen in Michael Thielemanns Gehörgang und von dort direkt weiter in seine gelähmten Extremitäten. Den Worten folgte bedrückende Stille. Sogar das Rascheln der Bäume war verschwunden, ganz so, als hielte die Erde den Atem an.

»Mach keinen Scheiß, Rolf!«

Michael hörte den Widerspruch nicht, sah nur wie sich die Hand – in der noch immer die Knarre lag – aus dem grauen Schleier zurückzog.

»Gib sie ihm!« Die Stimme des Alphatiers war so schneidend, dass sie die Welt wieder in Bewegung brachte.

Die Hand brach erneut durch den Schleier und das Rauschen der Bäume war zurückgekehrt. Vielleicht war es auch nur ein Rauschen in Michael Thielemanns Ohren.

Er schluckte. Seine Kehle war so trocken, dass der Speichel keinen Weg hindurch fand. Er hustete. Waren die total irre? Sein Geist geriet in Aufregung. All die Energie, die sein starrer Körper nicht verbrauchen konnte, wurde in seine Gedanken umgeleitet. Michael wusste, was Russisch Roulette bedeutete. Aber das machte man nur in Filmen. Filme, die Michael nicht einmal besonders gut fand. Niemals spielte man das im wahren Leben und schon gar nicht hier im Gebüsch hinter der Freilichtbühne im ›Planten un Blomen‹.

Michael bemerkte nicht, wie die Waffe plötzlich in seine Hand gekommen war. Seine Finger hatten sich bereits um sie gelegt, als er es registrierte. Sie waren durch das eisige Blut in seinen Adern zu steif, um sie einfach wieder zu öffnen und die Waffe fallenzulassen. Michaels Gedanken kreisten um das Unfassbare. Sechs Kugeln im Magazin, oder? Umgekehrt! Eine Kugel und fünf Mal die Chance auf Leben. Nein, sie spielen nicht ehrlich. Sie sind fünf. Keine Chance für mich!

Michael versuchte, seinen Puls zu beruhigen. Nur ein Spiel. Dieser Rolf, wie sie ihn genannt hatten, würde niemanden umbringen. Er war ein Aufschneider, aber kein Krimineller.

»Und, kennst du’s?«, herrschte Rolf ihn an.

Michael nickte. Nicken war einfacher, als zu sprechen, auch wenn er den Widerstand seines Körpers spürte, der sich gegen jede Bewegung sträubte.

Der Verrückte lachte. »Wie der Schiss hat!«, grölte er.

»Halt’s Maul«, fuhr ihn der Blonde an. »Du schreist den ganzen Park zusammen.«

»Du fängst an«, sagte das Alphatier zu Michael.

Die Gruppe grinste. Alle außer Steffen, obwohl auch er wusste, dass Rolf sämtliche Kugeln aus dem Magazin genommen hatte. »Ich laufe doch nicht mit einer geladenen Waffe durch die Gegend«, hatte er gesagt und ihnen das leere Magazin gezeigt. Jeder hatte die Pistole anfassen dürfen. Sie auf irgendetwas gerichtet und fachmännisch in der Hand gewogen. Keiner hatte gewagt, abzudrücken, obwohl sie wussten, dass die Waffe nicht geladen war. Sie alle wussten es, nur der Kleine nicht, wie Rolf ihn nannte.

Steffen war klar, dass sie mit dem Jungen nur spielten. Er wollte es nicht. Er hatte Mitleid. Leider nicht den Mut, um einzuschreiten. Dann hörte er Roger lachen.

»Der hat sich angepisst, der Schlappschwanz!«

Peinlich, den warmen Urin am Bein zu spüren, umso erniedrigender, diesen Verrückten rufen zu hören.

Steffen konnte nicht lachen.

Anders sein Freund Martin. Der grölte lauthals mit den Übrigen mit. Steffen erschrak darüber, weil Martin sonst ein richtig netter Typ war. Ein super Kumpel. Nur eben nicht, wenn diese Idioten ihre Schatten auf ihn warfen.

Michael sah auf die Waffe in seiner Hand. Er konnte das Öl riechen, mit der sie gereinigt worden war. Einen Geruch, den er eigentlich mochte. Den er auch manchmal im Technikunterricht wahrgenommen hatte. Er hatte immer gerne an etwas herumgebastelt, obwohl sein Ding eher die Geisteswissenschaften waren.

Den Geruch verband er bisher nicht mit Todesangst. Künftig schon.

Die Waffe lag unscheinbar in seiner Hand. Nur ein Stück Metall. Es waren die Projektile in ihr, die Michael Angst einjagten. Die Patronen, die mutmaßlich dort lauerten und auf ihre Entlassung warteten. Nur sie verliehen diesem mechanischen Verbund aus Bolzen und Federn die Macht, den Tod zu bringen.

Michael wollte diese Mächte nicht herausfordern. Natürlich hatte er sich auch nicht anpinkeln wollen und gehofft, dass seine Peiniger es nicht merken würden. Sein Körper hatte einfach entschieden die wenigen verbleibenden Kräfte an anderer Stelle zu benötigen. Wenigstens war er dadurch noch nicht vor ihnen in den Dreck gefallen.

»Was ist?«, schrie Rolf.

Bitte mach, dass es endlich vorbei geht. Michaels Blick fiel auf Steffen, dessen Namen er nicht kannte. Seine Augen waren genauso wässrig wie Michaels, der sich weiter einredete, dass sie ihn ganz sicher nicht umbringen wollten. Die Waffe ist nicht geladen, Michael, sei kein Feigling.

Michaels Finger waren steif. Er hatte nicht genug Kraft, um abzudrücken. Seine Hand zitterte vor Schwäche und Erregung. Vor Angst, als er sich den kalten Lauf an den Kopf hielt. Seine Lippen bebten, seine Finger verkrampften. Plötzlich bewegte sich der Abzug.

 

KA-WUMM

 

Der Schuss donnerte, verstärkt durch die Akustik der Freiluftbühne, durch den Park. Vögel stoben auf und flohen panisch davon. Wie versteinert starrte die Clique auf den Jungen, der die Waffe sinken ließ. Sein Blick war leer geworden. Speichel stand in dem halb geöffneten Mund, seine Mimik zu einer überraschten Fratze verzogen. Keiner, der gerade noch so großmäuligen Burschen, war in der Lage, etwas zu tun, überhaupt zu denken. Sie glotzten auf die Schläfe des Jungen, der für einen Moment vor ihnen stand, wie ein wahrgewordener Zombie. Seine Haut blutleer, die Augen vorwurfsvoll auf sie gerichtet. Das runde Einschussloch neben der Stirn prangte als Mahnmal ihrer Schuld. Dann, ganz langsam – zumindest kam es ihnen so vor, als würde alles wie in Zeitlupe geschehen – beugten sich seine Knie. Die Hüfte folgte, danach der Oberkörper. Die Rückseite des Musikpavillons säumte eine schmale Umrandung aus Steinplatten. Sein Kopf gab einen dumpfen Laut von sich, als er darauf aufschlug. Ein Geräusch, als wäre ein großer Stein zu Boden gefallen.

Dort lag Michael nun vor ihnen. Der Junge, dessen Namen sie bereits wieder vergessen hatten.

Rolf war der Erste, der zur Besinnung kam. »Abhauen!«, schrie er und rannte los. Die anderen folgten. Steffen und endlich auch Martin hatten Tränen in den Augen.

Michael Thielemann ebenfalls.

5

Marlene stützte die Frau an ihrer Seite, die bitterlich weinte. In dem abgedunkelten Raum half sie ihr hinüber zum Sofa. Dort sackte Waltraud Thielemann schluchzend in sich zusammen. Marlene ging zum Fenster. Sie zog die schweren Baumwollvorhänge zur Seite. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen, die ins Zimmer fielen. Sie warf einen Blick zu Michaels Mutter, die auf dem royalgrün gepolsterten Veloursledersofa kauerte. Die einst stolze Frau wirkte elendiglich klein zwischen den ausladenden Kissen. Ihre eigentliche Aufmerksamkeit richtete sie jedoch auf das Krankenbett, das an der gegenüberliegenden Wand des Raumes stand, direkt unter der Durchreiche zur Küche, dort wo früher die Essecke gewesen war.

Michael Thielemann starrte ausdruckslos zur Decke. Sechs Wochen war es jetzt her, dass er sich in den Kopf geschossen hatte. Schreckliche sechs Wochen zwischen Heulkrämpfen und stillem Flehen. Tag und Nacht saßen sie an seinem Bett, schliefen nur wenige Stunden. Froh waren sie gewesen, als die Ärzte sagten, dass Michael Glück gehabt hatte, da die Kugel wie durch ein Wunder keine größeren Blutgefäße verletzt hatte, erschüttert, als sie mitteilten, dass wichtige Teile des Gehirns geschädigt seien. Marlene schwebte zwischen Hoffen und Bangen, Trauer und Wut. Am Ende hatte Michael überlebt und doch nicht. Seine Mutter hatte seit dem Tag, als ihr Sohn nach Hause gekommen war, nicht mehr gesprochen. Mit niemandem. Wenn Marlene zu Besuch kam, öffnete Waltraud Thielemann die Tür und ließ sich von ihr in den Arm nehmen. Waltraud Thielemann konnte nicht darüber sprechen. Weder über das Schicksal ihres Mannes, noch dem ihres Sohnes. Zwei Wochen, nachdem Michael nicht von der Universität zurückgekehrt war, wurde Heinrich Thielemann vom Notarzt abgeholt. Die Metastasen hatten ihn heillos zerstört. In der Klinik konnte man nichts mehr für ihn tun. Starke Schmerzmittel halfen ihm dabei loszulassen, wegzugehen von dieser Welt und seinem Sohn.

Fast zeitgleich mit dem Tod Heinrich Thielemanns wurde Michael nach Hause entlassen. Die Ärzte konnten nichts weiter für ihn tun. Alle Vitalfunktionen, die Michael brauchte, um zu leben, funktionierten auch ohne Maschinen. Sonst funktionierte fast nichts an Michael. Er konnte mit den Augen zwinkern, ganz langsam als müsse er dabei tonnenschwere Lasten bewegen und manchmal spürte Marlene, dass sein Daumen zuckte, wenn sie seine Hand hielt.

Das mit dem Augenzwinkern war allerdings gar keine so schlechte Sache. Marlene konnte ihn fragen, ob ihm das Wasser angenehm war mit dem sie ihn wusch, oder ob sie noch bleiben sollte.

Wenn er zwinkerte, bedeutete das Ja.

»Ich glaube, du hättest es gemocht«, wisperte Marlene in Michaels Ohr.

Sie flüsterte normalerweise nie. Aber diesmal wollte sie nicht, dass seine Mutter hörte, wie sie von der Beerdigung seines Vaters sprach. Nichts davon hatte Waltraud Thielemann in die Wege geleitet. Sie war zwar dabei gewesen, zum Beispiel als die Frau vom Beerdigungsinstitut gekommen war, hatte zugehört, als Marlene mit ihr die Details besprach. Marlene wusste nicht, ob Waltraud die bedrückenden Blicke wahrnahm, die die Frau auf Michael warf. Waltraud nahm auch am Gespräch mit dem Pfarrer teil und sie hatten gemeinsam einen Grabstein ausgesucht. Bei all dem sagte Waltraud kein einziges Wort. Die Feier war also von Marlene ausgerichtet worden. So, wie sie es schön fand.

Marlene legte ihre Hand in Michaels. Heute war einer der Tage, an dem sie spürte, wie sein Daumen versuchte zuzudrücken. Ihm gelang nur ein schwaches Zucken, aber Marlene wusste, was es bedeutete. Sie nahm das Bild von Michaels Nachttisch.

Es stand dort neben einer einzelnen weißen Rose. Sie symbolisierte Unschuld, Reinheit und Treue. Das traf sowohl auf Michael, als auch auf Marlene selbst und ihre gemeinsame Liebe zu. Marlene fand die Symbolik zutiefst befriedigend. Das Bild lag so in ihren Händen, dass Michael es sehen konnte. Sie hatte ihn bereits gefragt, ob es ihn zu sehr belastete, wenn es dort stand und sie es ihm ab und zu zeigte. Er hatte nicht geblinzelt. Also störte es ihn nicht.

Seine Pupillen waren auf das Foto gerichtet, genau wie Marlenes. Waltraud hatte es am Abend des Abiballes geschossen, kurz bevor sie losgegangen waren. Michael in seinem schicken Anzug, in dem er ein bisschen wie ein Konfirmand aussah und Marlene in einem weißen Kleid mit Blumen darauf. Zärtlich strich sie mit dem Zeigefinger über Michael auf dem Bild und berührte danach mit demselben Zeigefinger seine Lippen. Die Realen. Sie waren warm und weich. Ein spürbares Zeichen dafür, dass er wirklich noch lebte.

Eine Träne kroch still und heimlich aus Michaels Augenwinkel, lief über die Schläfe, dort wo die Narbe zu sehen war, und tropfte auf das Kissen. Marlene erhob sich. Sie küsste ihn auf die Stelle, wo die Spur der Träne zurückgeblieben war. Es schmeckte salzig wie dieser Augenblick. Salzig wie jeder Augenblick, seit dem Tag vor sechs Wochen.

Marlene ging hinauf in Michaels Zimmer. Inzwischen war es auch ihr Zimmer geworden. Manchmal schlief sie hier, wenn es zu spät geworden war, weil Michael sie nicht gehen lassen wollte oder weil Waltraud einen ihrer Zusammenbrüche hatte. Sie schlief in Michaels Bett. Anfangs fühlte es sich sonderbar an. Vor allem solange sein Geruch noch daran haftete. Inzwischen waren die Gedanken darüber verschwunden. Ausgelöscht wie so viele Dinge, die früher ihr Leben beherrschten.

Sie nahm die Zeitung von Michaels Schreibtisch und legte sich damit auf sein Bett, das genauso gut ihr Bett war. Sie las den Artikel, den sie bereits tausend Mal gelesen hatte. Fünf junge Männer waren festgenommen worden, die für das Verbrechen an Michael verantwortlich gemacht wurden. Es gab ein Video aus einer Überwachungskamera. Einer Kamera, die man an der Tür bei den Künstlerzugängen der Freilichtbühne angebracht hatte, nachdem es dort immer wieder zu Einbrüchen und Drogendelikten gekommen war. Eine kleine Genugtuung für Marlene. Michael brachte das natürlich nicht zurück ins Leben, aber vielleicht, so hoffte Marlene, würde er das irgendwann von selbst schaffen.

6

Ernst Burger hatte sich einiges vorgenommen. Heute war der Tag, an dem es darauf ankam. Die Chancen standen nicht schlecht, wähnte er. Die Verhandlung fand vor dem Jugendschöffengericht statt. Ernst Burger machte sich weniger Sorgen um den Richter. Der war Jurist. Ihn würde er mit den Fakten der Rechtslage niederringen können. Die Schöffen hingegen mussten von der Unschuld überzeugt werden. Nicht nur kraft Gesetzes, sondern auch menschlich. Sie würden den Richter im Strafmaß entscheidend beeinflussen. Burger sah in den Spiegel. Ihm blickte ein stilvollendeter, charismatischer Anwalt entgegen. Hart, aber nicht unnahbar. Freundlich, dennoch nicht schmierig. Er würde es schaffen, sagte er sich. Jeder der Freunde seines Sohnes, Rolf, hatte einen eigenen Verteidiger. Die Anwälte hatten sich untereinander geeinigt, dass Ernst Burger die Vertretung der Angeklagten anführen würde. In der Verhandlung für die Untersuchungshaft hatte der Richter die jungen Leute auf freien Fuß gesetzt. Das Video war dabei eher Segen als Fluch für Ernst Burger gewesen. Es war deutlich darin zu erkennen, dass sich Michael Thielemann die Waffe selbst an die Schläfe gehalten und er auch selbst abgedrückt hatte. Dennoch standen für die jungen Männer heute Freiheitsstrafen auf dem Spiel. Es ging um Nötigung zum Suizid und um unterlassene Hilfeleistung. Beide Anklagen konnten Gefängnis bedeuten. Das größte Risiko war dieser Steffen Jülich. Er war labil. Ein Mitläufer. Wenn er umkippte, konnte er die anderen schwer belasten. Ernst Burger musste dafür sorgen, dass man ihn nicht in die Zange nahm. Ohnehin hatte er die jungen Männer darauf eingeschworen, so wenig wie möglich auszusagen. Sie konnten gerne die leidenden Opfer spielen, kurz vorm Zusammenbruch. Obwohl, spielen mussten sie das eigentlich nicht. Die Sache hatte alle schwer mitgenommen, sogar diesen Verrückten, wie Rolf ihn nannte, Roger Ewald. Selbst von ihm war nicht zu erwarten, dass er durch ein zu lockeres Verhalten, den Unmut des Gerichts auf sich ziehen würde.

Ernst Burger hatte einen klaren Vorteil. Er war seit Jahren als angesehener Anwalt tätig. Seine Verfahrenstaktik war als stets unantastbar bei Gericht bekannt. Er galt als ehrenwerter Verteidiger, der auch Mandate ablehnte, wenn er sich der Ehrlichkeit seines Klienten nicht sicher war. Aus den Akten ging außerdem hervor, dass drei der Angeklagten Rechtswissenschaften und zwei Medizin studierten. Berufe, die einerseits ein reines Führungszeugnis erforderlich machten aber auch Berufe, die in aller Regel von Personen ausgeübt wurden, die sich dem Wohl und der Gesundheit der Gesellschaft verschrieben hatten. Das war es, was Ernst Burger den Schöffen klarmachen musste: Hier saßen junge Leute auf der Anklagebank, die helfen und heilen wollten. Keine Verbrecher oder gar Mörder. Junge Leute, die in eine Situation geraten waren, mit der sie aufgrund ihres jugendlichen Alters schlicht und einfach überfordert gewesen waren.

Und es gab noch einen Umstand, auf den er seine Verteidigung stützen konnte. Die Waffe, die ihm sein Sohn aus dem Schreibtisch gestohlen hatte, war nicht registriert. Ernst Burger hatte sie von einem Mandanten sichergestellt, der kurz darauf bei einem Straßenkampf ums Leben gekommen war. Es gab vor dem Zwischenfall mit Michael Thielemann nur eine einzige Akte, in der eine Kugel aus dieser Waffe auftauchte. Ein Vorfall, bei dem sein Mandant einen Drogenkurier getötet hatte, lange bevor sie sich kennenlernten. Ernst Burger hatte ihm die Pistole nach einem weiteren Mord schließlich abgenommen. Er wollte sie für seinen Klienten verschwinden lassen. Den Plan hatte sein Sohn gründlich durchkreuzt. Zunächst glich dieser Umstand einer Katastrophe, die sogar seine Zulassung als Rechtsanwalt in Gefahr bringen konnte. Das Video aus der Überwachungskamera an der Freilichtbühne brachte ihn auf eine Idee, die all seine Probleme in Luft auflöste, sofern ihm das Gericht glauben würde und die jungen Männer nicht umfielen. Das äußere Erscheinungsbild und die Integrität eines Anwalts wie Ernst Burger, stimmten eben nicht immer mit dem überein, was hinter den Kulissen wirklich stattfand.

 

***

 

Für Steffen hörte sich die Anklageschrift schrecklich an. Ihnen wurde vorgeworfen, Michael Thielemann eine geladene Waffe überlassen und ihn anschließend genötigt zu haben, sich damit selbst zu töten, in Tateinheit mit unterlassener Hilfeleistung. Die Stimme des Staatsanwaltes drang so laut und klar an Steffens Ohren, als würden sie von einem Lautsprecher in seinem Kopf kommen. Das Schlimme daran war, jedes dieser Worte entsprach der kaltblütigen Wahrheit. Auch wenn er nur dabeigestanden hatte. Die Vorwürfe trafen zu. Er hatte nichts getan, um Michael Thielemann abzuhalten. Er hatte ihm die Waffe nicht aus der Hand genommen und er war, genau wie alle anderen, einfach weggelaufen. Es war nur gerecht, dass sie hier saßen. Er würde seine Strafe annehmen und danach nie wieder etwas mit Rolf, Walter, Roger und auch nicht mit Martin zu tun haben wollen. Ohnehin würde er sein restliches Leben damit verbringen, diese schreckliche Sache zu vergessen. Er war jung genug, um sich einzureden, dass es gelingen konnte.

Steffen Jülich hörte zu, wie Ernst Burger darüber sprach, dass an besagtem Tag eine Verkettung unglücklicher Umstände zusammengekommen war. Wie er ausführte, beim Vorwurf, die jungen Studenten hätten Michael Thielemann vorsätzlich in eine Falle gelockt oder ihn gar zum Suizid gedrängt, handele es sich um unhaltbare Vermutungen. Er hörte zu, wie Ernst Burger erklärte, dass keiner der fünf Angeklagten Michael Thielemann gekannt und somit auch kein Interesse gehabt haben konnten, ihn, zu was auch immer, zu drängen. Reine Mordlust könne den Beschuldigten ebenfalls nicht unterstellt werden, da sie Studenten humanitärer Berufsziele seien und sich noch nie etwas hatten zuschulden kommen lassen. Daraus war gleichzeitig zu schließen, dass keiner der Männer Gesinnungen nachhinge, die sich aus niederen Beweggründen nähre. Auch den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistungen dürfe man nicht aufrechterhalten, da sie sich nach dem völlig unerwarteten Akt dieses Suizidversuches in einem tiefen Schockzustand befunden hätten und ihre Handlungen nicht kontrollieren konnten. Selbst wenn sich der Zustand, indem sich die jungen Männer befunden hatten, im Nachhinein medizinisch nicht mehr als gerichtsverwertbarer Schockzustand beweisen ließe, wäre doch davon auszugehen, dass sie sich aufgrund ihres jungen Alters und ihrer behüteten Kindheit einer solchen Situation völlig hilflos und unvorbereitet gegenübersahen. Man stelle sich nur einmal vor, wie verstörend eine ähnliche Lage für einen Erwachsenen sein würde und wie verzweifelt erst die Studenten gewesen sein mussten. Von niemandem könne man erwarten, einer derartigen Anforderung uneingeschränkt gewachsen zu sein, also erst recht nicht von jungen Burschen, die gerade ins Leben gestartet waren.

Auf das Nachbohren des Richters, dass die Situation womöglich nicht ganz so überraschend gewesen sein konnte, wenn der Angeklagte Rolf Burger eine Waffe bei sich getragen habe, beantragte Ernst Burger die Einvernahme des einzigen Zeugen: Dem Video aus der Überwachungskamera.

Steffen Jülich standen Tränen in den Augen, als das Bild aufflammte. Sie alle waren zu sehen, wie sie sich in dem vermeintlich abgeschiedenen Bereich der Freilichtbühne herumdrückten. Es war zu sehen, wie Rolf Burger die Waffe aus seinem Hosenbund nahm, wie er sich nach ihr bückte, weil sie ihm vor Aufregung aus der Hand gefallen war, und wie er sie anschließend herumreichte. Man sah, wie sich das Geschehen an den Rand des Bildes verlagerte, weil Michael Thielemann von Rolf in den Schutz der Büsche gezogen wurde, er ihm dort auf die Schulter klopfte und auf ihn einredete. Wie sie alle auf ihn einredeten. Dann sah man, wie Walter Kubick die Pistole an Michael Thielemann gab. Man sah, wie der zögerte, wie Roger Ewald lachend mit dem Finger auf Michael Thielemann zeigte und wie alle anderen mitlachten. Zum Glück sah man auch, dass Steffen nicht lachte. Er empfand deshalb keine Erleichterung. Er hatte nicht eingegriffen, das blieb, aber wenigstens hatte er nicht gelacht. Dann sah man, wie sich Michael Thielemann die Waffe an die Schläfe legte und man sah, wie er abdrückte. Vieles davon erkannte jedoch nur Steffen, weil Bild und Wirklichkeit miteinander verschmolzen. In Wahrheit waren eine Menge Details nicht so gut zu erkennen, wie in seiner ehrlichen Wahrnehmung.

Im Gerichtssaal herrschte völlige Stille. Außer den Prozessbeteiligten war niemand anwesend. Die Verhandlung erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das bedeutete für Marlene, dass sie dem Prozess nicht beiwohnen konnte. Sie wartete mit Michaels Mutter auf dem Flur. Waltraud Thielemann wäre alleine nicht in der Lage gewesen, überhaupt aufrecht zu sitzen.

Das Video bewies einfach alles, war sich Steffen sicher. Er blickte zum Richter und zu den Schöffen, aus deren Augen er dasselbe entnahm.

In aller Ruhe ließ Ernst Burger das Video erneut starten. An der Stelle, als sein Sohn die Waffe aus dem Hosenbund zog, sie fallen ließ und sich danach bückte, ließ er das Video anhalten. »Ich möchte den Angeklagten Rolf Burger dazu befragen, was das Video hier zeigt.«

Mit einem Wink bestätigte der Richter, dass ihn das ebenfalls interessierte.

Rolf Burger erhob sich. »Ich habe vor meinen Füßen eine Waffe liegen sehen und sie neugierig aufgehoben.« Er hatte den Blick gesenkt. Seine Stimme war jedoch deutlich zu verstehen.

»Haben Sie die Waffe nicht aus Ihrem Hosenbund gezogen, fallen lassen und wieder aufgehoben? Das ist es, was ich auf dem Video sehe!«, gab der Richter zurück.

Rolf Burger schüttelte den Kopf. »Ich habe mich nur am Bauch gekratzt und dabei die Waffe auf dem Boden entdeckt«, insistierte er.

Der Richter wollte nun selbst die Szene wiederholen lassen. Danach sah er Ernst Burger scharf an. »Die Waffe ist nicht einmal richtig zu erkennen«, sagte er konsterniert.

Tatsächlich war das Bild der Kamera nicht besonders deutlich und aus einiger Entfernung aufgenommen worden. Es war nicht zu ermessen, ob die Waffe in Rolf Burgers Hosenbund gesteckt hatte. Rolf Burger hätte genauso gut sein neues Handy herumgehen und bewundern lassen können. Nur dass sich Michael Thielemann mit einem Handy nicht in den Kopf hätte schießen können.

Ob die Erklärung Rolf Burgers nun also glaubwürdig gewesen war oder nicht, sie war nicht zweifelsfrei zu widerlegen.

Es war der Moment, an dem Ernst Burger einen weiteren Trumpf ziehen konnte. »Ich mache in diesem Zusammenhang auf den Bericht der Ballistik aufmerksam, aus dem hervorgeht, dass die Waffe einer Straftat aus dem Drogenmilieu zuzuordnen ist. Da aktenkundig keiner der Angeklagten Kontakte zum Drogenmilieu unterhält, unterstützt dieser Umstand die Aussage des Angeklagten, Rolf Burger, die Waffe gefunden, und nicht bereits besessen zu haben.«

Das Video lief weiter. Michael Thielemann trat zu der Gruppe. Er griff nach der Waffe und betrachtete sie. Auf dem Video war nicht zu erkennen, ob Michael die Hand danach ausgestreckt, oder Walter Kubick sie ihm hineingelegt hatte.

Ernst Burger wandte sich an den Angeklagten Roger Ewald. »Warum zeigen Sie in dieser Szene auf Michael Thielemann und lachen über ihn?«

Roger Ewald erhob sich bedächtig. Er musste nicht nachdenken über das, was er sagen würde. »Na ja, ich glaube, keiner von uns hat den richtig ernst genommen. Er sah ja total jung und unschuldig aus. Ich habe gelacht, weil ich dachte, er würde einen Witz machen, als er sagte, er würde sich damit das Gehirn wegblasen.« Roger hielt inne. »Mal ehrlich, wer glaubt denn so was?« Seine Augen waren wässrig geworden und seine Stimme zitterte während seiner Worte.

---ENDE DER LESEPROBE---