Mädchenmörder Brunke - Thomas Brasch - E-Book

Mädchenmörder Brunke E-Book

Thomas Brasch

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Beschreibung

Eine eigenartige Entdeckung macht D. H., der Architekt aus dem Westteil Berlins, als er nach der Wende im Osten Deutschlands das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter erbt.

Er stößt auf Aufzeichnungen über den Banklehrling Karl Brunke, der in seinem kurzen Leben als verletzter Liebhaber, vorgeblicher Kopfkranker, verhinderter Marineoffizier und verhinderter Theaterschriftsteller, vergeblicher Erfinder einer Liebesmaschine und zuletzt verurteilter Doppelmörder zu einer tragischen Figur des jungen 20. Jahrhunderts wurde. D. H., von einer »wundersamen Besessenheit« ergriffen, gibt seinen Beruf auf, trennt sich von seiner Lebensgefährtin, isoliert sich von seiner Umgebung und kennt nur noch ein Ziel: den Lebenshergang Brunkes während sieben Tagen und Nächten ohne Schlaf und Nahrung zu rekonstruieren. Dies, bis seine eigene Existenz entweder völlig in der Brunkes aufgeht oder aber, sollte dies nicht gelingen, er sich von dieser Welt verabschieden muß.

Thomas Brasch zeichnet auf einfache, klare, unprätentiöse Weise das poetische Bild zweier tragischer Gestalten, deren Berufungen sie hoch hinaus führen und tief fallen lassen.

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Seitenzahl: 81

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Thomas Brasch

Mädchenmörder Brunke

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3195.

© 1999, Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-75268-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

Ein unglückliches Beginnen

Ich für meine Person

Vorbemerkung

Die Kunst der Fuge im Kopf

Das erste Modell

Die Neue Heilige Familie

Der Herrliche Herbst

Wort und Totschlag

Nachbemerkung

Als falle eine Zeit, die mir schon für immer vergangen schien, plötzlich wieder über mich her, wie ein großes Lachen aus einem längst zerfallenen Haus. Wie eine riesige Faust, aus einem unbekannten Wasser auftauchend und nach mir greifend, als wolle sie mich in die Tiefe und ins Weite ziehen, wo du mich lehren wirst, was ich immer lernen wollte, das Lieben und das Lassen:

Ich war offensichtlich an den Folgen jenes Unglücks gestorben, das ich erwartet hatte, seit mir das Lieben abhanden und ich mir auf diese Weise vor Jahren vollständig abwesend geworden war.

Als mir mein Ableben plötzlich beendet schien, erhob ich mich und begab mich auf den Weg zum Bahnhof Zoologischer Garten. Die Leute, denen ich auf der Straße und dem Bahnsteig begegnete, konnten mich nicht sehen: Anders konnte ich mir den Umstand nicht erklären, daß mir keiner für meine beginnende Abwesenheit gratulierte, schlimmer noch, mir sein Bedauern darüber mitteilte. Ich mußte äußerlich nicht mehr sichtbar sein. Auf dem Bahnsteig stand ein Zug, sichtbar für die Lebendigen, zwischen denen andere umhergingen, die wie ich äußerlich nicht sichtbar waren. Diese Passagiere stiegen mit mir zusammen ein, jeder in das Abteil, an dem sein Name vermerkt war.

Der Zug setzte sich in Bewegung, und wir gelangten in eine leerer werdende Landschaft. Der Schaffner trat ein und erklärte mir, daß alles halb so schlimm sei, denn wie ich schließlich jetzt bemerke, gäbe es auch nach dem Sterben eine Bewegung. Ich würde mich schon bald mit allem abfinden.

Er verließ mein Abteil, als wir in einer völlig baum- und pflanzenlosen Gegend waren. Der Zug hielt, alle stiegen aus, und jeder begab sich in ein Haus, das aus weicher geballter Luft gebaut zu sein schien. Einerseits war ich erleichtert, daß wir endlich angekommen waren, aber auch voller Furcht oder Angst (ich weiß nicht mehr, welches Wort ich benutzte, und auch nicht, was der Unterschied zwischen den beiden Worten bedeutet), daß von jetzt an alles so ohne Berührung stattfinden sollte.

Nach einigen Tagen oder Jahren, Sekunden oder Lidschlägen würde mehreren Passagieren erlaubt, zu einem Besuch in die Stadt zu fahren. Nachdem ich würdelos darum gebettelt hatte, mitfahren zu dürfen, bekam auch ich eine Fahrkarte.

In der Stadt fand ich mich in dem Foyer eines Theaters wieder, in dem meine Bücher auf einem Tisch lagen und wo an diesem Abend ein Lustspiel von mir aufgeführt werden sollte. Die Bücher schienen mir mit zu großer Hast geschrieben. Ich legte sie auf den Tisch zurück und betrat den leeren Zuschauerraum. Erst als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich in der ersten Reihe eine junge Frau sitzen, die lebendig schien.

Ich setzte mich neben sie und kam in ein Gespräch mit ihr, bis ich bemerkte, daß sie mich für einen anderen hielt. Ich versuchte sie über den Irrtum aufzuklären, bis mir klar wurde, daß ich tatsächlich in einen anderen eingesperrt war und sie meine Worte nicht hören konnte.

In diesem Moment befiel mich eine große Panik, die von der Frau mit Verachtung wahrgenommen wurde. Ich versuchte, mit ihr in eine Berührung zu kommen, doch als sie meine Person küßte und deren Hals umschlang und aus dem Kuß ein Biß, aus der Umarmung ein Würgen wurde, riß ich mich von ihr los.

Jetzt öffnete sich der Vorhang vor der Bühne, und das Spiel begann: Es handelte von einem K.B., dem ein Mensch verlorengegangen war oder nie begegnet, auf den er großen Wert zu legen schien. K.B. erfand sich auf irgendeine Weise im Verlauf der Handlung eine Künstliche Person oder verwandelte eine Abwesende in eine Anwesende Kreatur.

Als dies ihm nicht glückte, traten zwei Schwestern auf, die ihn baten, sie zu erschießen, was er umgehend erledigte. Am Schluß trat er an die Rampe und rief nach einer Öffentlichkeit, doch ich war sein einziger Zeuge, denn die Frau, die zuvor neben mir gesessen hatte, war ebenso verschwunden wie die Nebenfiguren seiner oder meiner Geschichte.

Mit mir jedoch konnte er als Zeuge nicht rechnen, denn meine Stimme war abgegeben und konnte sich für ihn nicht mehr erheben. So schloß er enttäuscht den Vorhang zwischen uns beiden.

Ich verließ das Theater. Auf der dunklen Straße begegnete ich dem Schaffner wieder, der jetzt die Uniform eines Kutschers trug und einen weißen Zylinder auf dem Kopf. Ich bat ihn, in Berlin bleiben, also in mein Leben zurück zu dürfen. Es kam zu einer Diskussion, in der ich ihn auf eine würdelose und anbiedernde Weise dazu überreden konnte. Mit einem Ultimatum gestand er mir die Rückkehr zu:

Wenn es mir nicht gelänge, die Hast aus meinem Leben und meiner Arbeit abzutun, würde mir in nächster Zeit jenes Unglück zustoßen, das ich am Anfang erwähnte, und alles, was nach meinem Fall geschehen sei, würde ohne die mildernden Umstände eintreten, die mir jetzt vergönnt waren.

Mit diesen Worten wies er auf eine Droschke, vor die ein Pferd gespannt war, wir stiegen ein, und er fuhr mich in die Eisenacher Straße 6, in der ich wohne, die aber nach meinem Tod in Monumentstraße umbenannt worden war. Vor der Hausnummer I überreichte er mir seinen Zylinder, den ich aufsetzte. Ich betrat das Haus und ging in den ersten Stock. Ich öffnete die Wohnungstür, an der ein Schild mit dem Namen Brunke befestigt war.

Im Flur versicherte ich mich im Spiegel, daß es mich gibt, und mit dem Zylinder sah ich aus wie ein Totengräber oder ein Ewiger Bräutigam.

Ich setzte mich in der Küche an einen Tisch, schob die Zeitungen des Jahres 1905 zur Seite und geriet in eine sonderbare Verfassung. Als würde ich aus einem Schlaf in einen anderen hinübergleiten, der mir vorgeschrieben war wie ein fremdes Buch, das ich Seite um Seite abschreiben mußte, um am Ende wieder aufwachen zu dürfen…

An dem hier beschriebenen Fall des Architekten D.H. aus Berlin, der Anfang der neunziger Jahre von einer wundersamen Besessenheit befallen wird, die ihn die Grenze zwischen Wünschen und Wissen, Heute und Damals, Lieben und Lassen und zwischen sich selbst und einem Fremden vollständig vergessen läßt, bis sie ihn in ein glückliches Sterben führt, soll kenntlich gemacht werden, wie nah die Gefahr bei der Lust wohnt, wenn sich einer auf der Suche nach dem Schönsten in das Schlimmste verläuft.

In den Morgenstunden des siebenundzwanzigsten August neunzehnhundertzweiundneunzig entdeckt eine Spaziergängerin in einem Waldstück im Osten Berlins einen männlichen Körper, der sich schon im Zustand der Leichenstarre befindet. Die leblose Person hängt nackt mit breitgeöffneten Beinen festgeschnallt in einer Holzkonstruktion, die an eine Verbindung aus Gynäkologenstuhl und kleinem Galgen erinnert. Der Kopf steckt in einer Schlinge, die am Galgenende befestigt ist, so daß das Gesäß die Sitzfläche des Stuhles um mehrere Zentimeter verfehlt. Die rechte Hand hält einen Bleistift und liegt auf einem Stapel Papier, der sich zwischen seinen Beinen befindet, der linke Arm umschlingt seinen eigenen Hals, als hätte er sich in seinem letzten Moment umarmen wollen.

Die Haltung des Mannes erinnert die Spaziergängerin an ein Fragezeichen, das sich in einem Stuhl zurücklehnt, wie um von einem Arzt untersucht zu werden, oder an ein Denkmal, das in der kargen märkischen Landschaft steht, vom Toten für sich selbst errichtet. Seine Augen sind unverschlossen und in die Ferne gerichtet, sein Mund geöffnet wie zu einem triumphierenden Ruf aus einem glückseligen Gesicht.

Die ungewöhnlichste Entdeckung aber machen die Beamten der hier berichtenden Maßnahmebehörde, als ihr Blick nach der Wegnahme der Papiere auf ein festaufgerichtetes Glied fällt, das sich durch die Totenstarre ins Ewige versteinert hat.

Der Exekutions- oder Erektionsstuhl, wie das Möbel später abwechselnd bezeichnet wurde, befindet sich auf dem Gelände eines halbfertigen Hauses inmitten einer Unmenge sexueller Gerätschaften, mechanischer und elektronischer Teile verschiedenster Bauart, die teilweise miteinander kombiniert, teilweise an lebensgroße Puppen oder in sie hineingebaut sind. Einige dieser Puppen, sowohl aus Holz als auch aus Plastik, Leder, Gummi, Aluminium und anderen Werkstoffen gefertigt, erweisen sich bei der Untersuchung im Labor immer wieder als fast funktionstüchtig, das heißt, ihre Fertigstellung war von dem Konstrukteur vor Beendigung abgebrochen worden, so daß eines der Geschöpfe beispielsweise singen und tanzen, aber nicht weglaufen und nicht beischlafen kann, bei einem anderen verhält es sich genau umgekehrt. Ein drittes ist imstande, immer wieder nur »Du Du« zu sagen, worauf ein viertes, ihm zum Verwechseln ähnliches, mit »Ich Ich« antwortet, während beide ihre Geschlechtsorgane miteinander tauschen.

Bei den wochenlangen Ermittlungen der Identität des Toten stellt sich heraus, daß es sich um den sechsunddreißigjährigen Architekten D.H. aus dem Westteil Berlins handelt, der nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der beiden Teile der Stadt Anspruch auf das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter angemeldet und dort mit dem Bau eines Hauses für seine Verlobte, die Kinderärztin, und sich selbst begonnen hatte.

Nach Aussagen der Verlobten kam es über die Ausführung des Baus zu einem Streit, in dem sich plötzlich herausstellte, daß beide abweichende Vorstellungen mit den Worten Zusammenleben und Einanderlieben verbanden, was sich in den Wünschen an das gemeinsame