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Magic Park, die fantastische Kinderbuch-Reihe für Jungen und Mädchen ab 11 Jahren von Bestseller-Autorin Tui T. Sutherland! Im Mittelpunkt steht ein geheimer Tierpark voller mythologischer und magischer Tiere wie Phönixe, Greifen, Drachen, Einhörner, Yetis und Meermenschen. Die originelle Geschichte verbindet realistische Alltagsthemen wie Schule und Freundschaft mit tollen Fantasy-Elementen - witzig, temporeich und warmherzig zugleich. Langeweile ist nicht mehr Logans Problem. Dafür hat er eine lange Liste an Fragen: 1.Was ist mit der goldenen Gans passiert? 2.Warum hat einer der Drachen ein schlechtes Gewissen? 3.Wer hat die Überwachungskameras sabotiert? 4.Will jemand der Menagerie absichtlich Schaden zufügen? 5.Wo ist Mom? Und das sind nur die lebenswichtigen. Da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.
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Seitenzahl: 307
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Für Mum und Dad, die so tapfer sind, dass sie sogar schlafende Drachen wecken,
KAPITEL 1
Das Sonnenlicht glitzerte auf den Schwänzen der Meerjungfrauen, die sich am Rande des Sees versammelt hatten. Die beiden Einhörner senkten zum Trinken elegant den Kopf und taten mit neugierig gespitzten Ohren so, als wäre ihnen alles egal. In der Ferne hörte Logan Wilde das Jauchzen und Krakeelen der Greifenkinder, die in ihrem Gehege spielten und überglücklich waren, wieder zu Hause zu sein.
Es schien ein friedlicher Morgen in der Menagerie zu sein … abgesehen von der blutverschmierten Feder, die zwischen ihm und Zoe im feuchten Gras lag.
Federn. Schon wieder.
Erst vor zwei Tagen war Logan aufgewacht und hatte riesige Federn in seinem Zimmer gefunden. Jene Federn hatten einem Greifenbaby gehört, das sich unter seinem Bett versteckt und ihn schließlich hierher, in die Menagerie, geführt hatte – in einen geheimen Park für Fabelwesen, der von der Familie einer Klassenkameradin, Zoe Kahn, geleitet wurde.
Doch diese Feder hier war weiß, größer als die der Greifen und Teil eines furchtbaren Verbrechens.
Logan bückte sich, um sie aufzuheben, doch Zoe hielt ihn zurück.
»Nicht anfassen«, sagte sie. »Das könnte ein Beweisstück sein.« Sie schauderte. »Außerdem ist es schrecklich.« Nervös rieb sie ihr Handgelenk und schüttelte sich das kinnlange rotbraune Haar aus dem Gesicht. Ihr Blick war auf die Tür zum großen Vogelhaus geheftet. Seit einer halben Stunde schon war niemand mehr herausgekommen, nicht seit Zoes Dad sie vom Tatort fortgeschickt hatte.
Logan musterte die Feder, dann machte er mit seinem Handy ein Foto davon. In der Voliere hatte es von Federn geradezu gewimmelt, ganz zu schweigen von dem Blut auf den Kissen und Seidenstreifen in Pellys Nest. Aber wenigstens gab es keine Leiche – die Gans selbst war nämlich nirgends zu finden. Und Logan war sich ziemlich sicher, dass er nicht sehen wollte, was auch immer von ihr übrig sein mochte.
»Was, glaubst du, ist passiert?«, fragte er Zoe. »Die arme Gans.« Er hatte Pelly nur kurz getroffen, trotzdem war der Gedanke furchtbar, dass jemand, mit dem er sich noch vor zwei Tagen unterhalten hatte, auf einmal tot war.
»Keine Ahnung«, meinte Zoe. »In der Menagerie hat es noch nie einen Angriff gegeben. Das alles fühlt sich an, als könnte es gar nicht wirklich sein.«
Logan hätte ihr gerne recht gegeben, doch in den vergangenen zwei Tagen hatte er gelernt, mit diesen zwei Worten vorsichtig umzugehen. Immerhin gab es eine Menge Dinge, die Logan für nicht wirklich gehalten hatte. Inzwischen hatte sich allerdings herausgestellt, dass sie nicht nur wirklich waren, sondern obendrein nur wenige Kilometer von seinem Zuhause existierten.
Zum Beispiel der Yeti, der eben auf seinem Golfmobil an ihnen vorbeifuhr.
»Was passiert jetzt?«, rief Zoe Mondstampfer zu, als der aus seinem Wägelchen hüpfte und zur Voliere rannte, während er mit einem Walkie-Talkie herumfuchtelte.
»BLAAAAAAR!«, antwortete der Yeti nichtssagend, bevor er im Innern verschwand.
»Hm«, machte Zoe. »Okay. Was andres war wohl nicht zu erwarten.« Sie kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und stierte die Meerjungfrauen an, die hinter vorgehaltener Hand tuschelten und kicherten.
»Wenigstens haben die Vögel aufgehört zu schreien«, meinte Logan. Aus der weißen Kuppel der Voliere drang gedämpftes Gebrüll. »Davon mal abgesehen – was auch immer das ist.«
»Das ist Aliya, unser Roch«, erklärte Zoe. »Wir haben diesen Entspannungsnebel. Bestimmt hat Dad die anderen Vögel damit eingehüllt, um sie zu beruhigen, aber Aliya ist zu groß, bei ihr wirkt er nicht. Die Arme, sie klingt total verstört.« Wieder zog sie ihr Handy aus der Tasche und warf einen prüfenden Blick darauf. »Komm schon, Blue! Wo steckst du? Ich hab ihm schon ungefähr vierzig SMS geschickt.«
»Er sitzt in Jasmins Haus fest«, erinnerte Logan sie. »Wo wir ihn zurückgelassen haben.« Sie hatten ihren Freund Blue gebeten, Jasmin abzulenken, damit sie mit dem letzten Greifenbaby heimlich aus ihrem Haus schleichen konnten. Doch so verknallt, wie Jasmin in Blue war, hatte Logan seine Zweifel, dass sie Blue jemals wieder gehen lassen würde. »Gut möglich, dass wir für ihn auch noch eine Rettungsmission starten müssen«, scherzte er, doch Zoe war zu verzweifelt, um lächeln zu können.
Logan fühlte sich unwohl in seiner Haut – er war nicht besonders gut darin, andere zu trösten. Als er zum Haus blickte, sah er eine große, haarige Gestalt den Hügel hinab auf sie zutrotten. »Hier kommt jemand, der dich vielleicht aufheitern kann.«
»Im Moment kann mich keiner aufheitern«, sagte Zoe niedergeschlagen. »Nichts und niemand und –« Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als das Mammut hinter ihr auftauchte, seinen Rüssel um sie schlang und sie in die Luft hob.
»Na ja, Käpten Fuzzbutt scheint es zumindest versuchen zu wollen«, meinte Logan.
Zoe streichelte den Rüssel des Käptens, bis er sie absetzte. Dann drückte sie ihn. »Na gut. Du vielleicht schon. Ich kann nicht glauben, dass Pelly wirklich tot ist. Meinst du, es ist unsere Schuld? Wir hätten sie besser beschützen müssen … nur wovor? Ich kann mir nicht vorstellen … Das ist alles wie in einem bösen Traum.«
Sie schmiegte sich an das dicke braune Fell des Mammuts. »Was, wenn FABA beschließt, dass wir schreckliche Pfleger sind, und die Menagerie dichtmacht? Oh Fuzzbutt, wenn sie uns die Lizenz wegnehmen und alle Tiere woanders unterbringen, dann sehe ich dich vielleicht nie wieder.«
Ihr Haustier legte sanft den Rüssel um sie und tätschelte ihren Rücken.
»Das würden sie nicht machen«, sagte Logan, jedoch eher um sich gut zuzureden, denn eigentlich wusste er nicht sonderlich viel über die Behörde zum Schutz Magischer Wesen, wie sie offiziell hieß. Zoe, Blue und die meisten anderen hier nannten sie lediglich FABA – eine Abkürzung für »Fabeltierartenschutz«. Auch davon hatte er erst in den vergangenen zwei Tagen erfahren, obwohl seine Mutter offenbar schon sein Leben lang als Fährtenleserin für sie arbeitete. Zumindest hatte sie das, bis sie vor sechs Monaten spurlos verschwunden war.
»Und ob sie das würden«, entgegnete Zoe. »Ist noch gar nicht lange her, da haben sie die Menagerie im Amazonas geschlossen. FABA kontrolliert, ob die Tiere bei uns in Sicherheit sind, und was das angeht, haben wir ja wohl eindeutig versagt. Und das nachdem schon der Freund meiner Schwester fast unsere Jackalope geklaut hat und der chinesische Drache auf dem Weg hierher verloren gegangen ist …« Sie verstummte.
»Der, von dem sie denken, dass meine Mom ihn gestohlen hat«, führte er ihren Gedanken zu Ende.
»Ich weiß, dass sie das nicht getan hat«, versicherte Zoe. »Und das werden wir beweisen. Es ist aber nun mal so, dass FABA viele Gründe hat, uns nicht zu mögen. Ich wette, sie würden uns nur zu gerne dichtmachen.«
Logan wusste nicht, was er tun würde, wenn er die Menagerie jetzt wieder verlieren sollte. Zoe Kahn und Blue Merevy waren die einzigen Freunde, die er seit seinem Umzug nach Xanadu in Wyoming gefunden hatte. Und ihnen dabei zu helfen, die Greifenbabys wiederzufinden, hatte ihn seit Monaten das erste Mal glücklich gemacht. Außerdem hatte er das Gefühl, als wäre es sein Schicksal, mit diesen magischen Wesen zu arbeiten, weil nur er Skworp und die anderen Greifenkinder hören konnte. Es war, als wäre er dazu geboren worden, ein Fährtenleser oder ein Tierpfleger in der Menagerie zu werden.
Aber das Wichtigste war: Sollte Zoe richtigliegen, war dieser Ort die einzige Chance, seine Mom zu finden.
»Du musst das hier für mich unterschreiben«, ertönte hinter ihm eine Stimme.
Logan drehte sich um und entdeckte Melissa Merevy, Blues Mutter, die Fuzzbutt vom Haus aus gefolgt war. In der Hand hielt sie einen silbernen Kugelschreiber und ein Klemmbrett voller Formulare. Ihr blondes Haar war so glatt wie glänzendes Metall und in ihrem gebügelten Hosenanzug wirkte sie, als wäre sie auf dem Weg zu einer wichtigen Konferenz – obwohl es Sonntagmorgen war und gerade mal Frühstückszeit.
»Ähm.« Logan stutzte. »Ich?«
»Natürlich du«, antwortete Melissa. »Haben wir sonst noch jemanden, für den ich, hopplahopp, mal eben einen vollständigen Satz Papiere aus dem Ärmel zaubern soll?«
Vor ungefähr einer Stunde hatte Zoes Vater den FABA-Beamten Logan als neuen Angestellten vorgestellt, was so ziemlich das Coolste war, was Logan in seinem ganzen Leben passiert war. Nun wollten die Beamten noch seine Papiere sehen, bevor sie wieder gingen – obwohl sie das in all dem Aufruhr um den Mord an Pelly sicher vergessen würden, oder?
Angesichts Melissas Miene erschien es ihm jedoch keine gute Idee, sich mit ihr herumzustreiten.
Also nahm Logan den Stift, blätterte durch die Formulare und setzte an jede markierte Stelle seine Unterschrift, ohne sich irgendetwas durchzulesen. Es gab grässlich viel Kleingedrucktes.
»Hast du das von Pelly schon gehört?«, fragte Zoe Melissa.
»Ja, dein Vater hat es uns durchgefunkt. Deine Mom telefoniert gerade mit dem BSMW-Hauptquartier«, sagte Melissa. »Furchtbare Sache. Ein wahres Desaster. Und um der Katastrophe die Krone aufzusetzen, habe ich keinen Schimmer, wie wir uns ohne das wöchentliche goldene Ei über Wasser halten sollen. Drachen leben schließlich nicht von Gänseblümchen. Und fragt mich gar nicht erst, wie viel uns der Fisch kostet, den gewisse Leute essen.« Melissa blickte missbilligend zu den Meerjungfrauen, die ihrem Exmann, König Cobalt, treu ergeben waren.
»Da kommt Blue«, stellte Zoe erleichtert fest. Und auch Logan fühlte sich beim Anblick ihres Halb-Mensch-halb-Meermann-Freundes, der mit einem Kleiderbeutel über der Schulter auf sie zuschlenderte, gleich besser. Blue schien nichts aus der Ruhe zu bringen. Sogar beim Ausbruch der sechs Greifenbabys hatte er die Nerven behalten.
»Das war’s.« Sobald Logan das letzte Blatt unterschrieben hatte, nahm Melissa ihm Stift und Klemmbrett ab und lief auf direktem Weg zurück zum Wohnhaus. Als sie an Blue vorbeikam, tätschelte sie ihrem Sohn kurz den Rücken. Logan kratzte sich am Kopf und hoffte, dass sein Papierkram der Menagerie nicht noch mehr Umstände verursachen würde. Sie hatten auch so schon genug am Hals.
»Ihr seid mir echt was schuldig«, meckerte Blue und zeigte auf Zoe und Logan. »Dank euch darf ich jetzt als Ritter verkleidet auf Jasmins Halloweenparty aufschlagen. In einer Rüstung.« Er warf den Kleidersack auf den Boden, wo er scheppernd aufschlug.
Käpten Fuzzbutt machte einen erschrockenen Satz, bevor er den Beutel vorsichtig in Augenschein nahm.
Blue wandte sich an Logan. »Du kommst mit, ob es dir passt oder nicht! Und ich suche dein Kostüm aus – und mach dich schon mal drauf gefasst: Wahrscheinlich hat es was mit Häschenohren oder Feenflügeln zu tun. Oder was mir sonst noch an peinlichem Kram einfällt.«
»Aber dein großes Opfer hat sich gelohnt«, berichtete Logan. »Wir haben das Greifenbaby rechtzeitig hergebracht, und FABA hat nicht gemerkt, dass es überhaupt ein Problem gab.«
Blue stupste den Wäschesack gereizt mit dem Fuß an. »Echt? Fein. Zoes tausend panische SMS haben mir schon Angst gemacht, dass sie es rausgekriegt haben. Also wenn mit den Winzlingen alles okay ist, wozu der Aufstand? Warum das Ganze: KOMM SOFORT!!! KATASTROPHE!! SOS! WELTUNTERGANG?«
»Blue …« Zoes Stimme zitterte, dann brach sie ab.
»Was ist los?« Blue schaute erst Zoe, dann Logan an, und als er die ernsten Gesichter sah, verpuffte sein Ärger schlagartig.
Zoe atmete tief ein. »Es geht um Pelly. Sie ist tot … oder, oder vermisst oder … Nein, wahrscheinlich ist sie tot.«
Logan dachte an das verwüstete Nest und konnte nur zustimmen.
»Was?«, rief Blue. »Wie das denn?«
»Wissen wir nicht. Dad und die FABA-Leute sind gerade drinnen und suchen nach Spuren.«
»Wow, das ist …« Blue schüttelte ratlos den Kopf. »Wissen wir schon was?«
»Nicht viel.« Zoe erzählte ihm, was sie gesehen hatten. Dann rieb sie sich die Augen und seufzte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer Pelly umbringen würde.«
»Du meinst, abgesehen von jedem, der sie mal kennengelernt hat?«, meinte Blue.
»Blue!«, tadelte Zoe.
»Stimmt doch. Ich meine, klar, es ist traurig und schlimm, aber du musst zugeben, dass sie nicht der netteste Vogel war. Ständig hat sie neue Sachen gefordert – und immerzu die alte Leier, wie wichtig sie für die Menagerie ist. Hat sie dich nicht mal zwei Stunden lang die Kissen in ihrem Nest aufschütteln lassen, nur um dann zu beschließen, dass sie die falsche Farbe haben?«
Pelly war Logan wie eine Art Diva vorgekommen. Trotzdem, sie war ein Fabelwesen. Eine sprechende Gans, die tatsächlich goldene Eier legte … Wer würde etwas so Seltenes vernichten?
»Ich halt’s nicht aus, hier einfach nur rumzustehen«, sagte Zoe. »Wir müssen etwas unternehmen. Vielleicht können wir nach Zeugen suchen. Oder die Sicherheitsbänder durchsehen. Oder –«
»Wir müssen FABA ihre Arbeit machen lassen«, unterbrach Blue sie sanft. »Solche Fälle untersuchen sie doch die ganze Zeit.«
»Gibt es eigentlich noch einen zweiten Weg in die Voliere?«, wollte Logan wissen. »Könnten wir zumindest nach dem Roch sehen und uns um ihn kümmern?«
Zoe klatschte sich gegen die Stirn. »Natürlich sollten wir das machen! Und zwar sofort. Blue, hol meinen iPod, dann treffen wir uns bei Aliya.«
Blue nickte und trollte sich Richtung Haus. Als er an den Meerjungfrauen vorbeilief, flöteten sie seinen Namen und pfiffen ihm hinterher, doch Blue schenkte ihnen keine Beachtung.
Logan folgte Zoe zur Rückseite der Voliere, wo eine schmale Metallleiter an der Kuppel hinaufführte. Zoe betrachtete sie kurz, zog dann ihre Schuhe aus und kletterte in Socken nach oben. Logan vermutete, dass die Erwachsenen in der Voliere sie so nicht hören würden, und machte es ihr nach.
»Vielleicht ist Pelly gar nicht tot«, versuchte Logan sich davon abzulenken, wie weit die Leiter in die Höhe reichte. »Vielleicht hat sie jemand wegen der goldenen Eier geklaut.«
»Wo kommen dann das ganze Blut und die Federn her? Das sind keine normalen Gänsefedern, sondern eindeutig ihre. Ich wünschte wirklich, mir würde eine Erklärung einfallen, in der sie noch am Leben ist … tut sie aber leider nicht.«
Am oberen Ende trat Zoe von der Leiter auf eine rostige Tragfläche, die angesichts der gewaltigen Höhe viel zu klein wirkte. Sie griff nach einer großen Kurbel, die an einem Rad über ihren Köpfen angebracht war, und hielt inne.
»Komisch«, flüsterte sie und zeigte Logan, was sie meinte.
Ohne das Geländer der Leiter loszulassen, an das er sich in Todesangst klammerte, lugte er einigermaßen verrenkt über Zoes Schulter. Logan erkannte, dass man ein großes Stück der Kuppel wie ein Rolltor öffnen konnte. Die Öffnung wäre groß genug für ein kleines Haus gewesen – ein Haus, so groß wie das von Logan und seinem Dad zum Beispiel.
»Was ist komisch?«, wisperte er zurück. »Wozu ist das Tor hier gut?«
»Ein Durchgang für den Roch, falls es mal nötig ist«, erklärte Zoe. »Den haben wir eingebaut, als wir Aliya zu uns geholt haben.« Wieder zeigte sie auf die Tür. »Aber schau mal. Es steht ein Stück offen.«
Logan sah, was sie meinte. Am unteren Ende des Tors klaffte ein Spalt, gerade breit genug, damit sie hindurchklettern konnten.
»Vielleicht haben sie hier Pellys Leiche rausgeschafft«, überlegte Logan. »Dann könnte es Spuren geben.«
Zoe zögerte, doch dann drang ein weiterer verzweifelter Schrei des Riesenvogels aus der Voliere zu ihnen.
»Ich will unbedingt nach Aliya sehen«, sagte Zoe. »Wir zwängen uns durch – versuch einfach, nichts zu verändern.«
Sie ging in die Hocke, duckte sich durch die Öffnung und war auf der anderen Seite, noch bevor Logan Einspruch erheben konnte. Er betrachtete die Menagerie unter sich. Von hier oben konnte er fast das gesamte Gelände überblicken. Er sah die entfernten Umrisse der Greifen, die sich auf ihren Felsen sonnten. Er sah das Wohnhaus und einige der schwarzen Höllenhunde, die dort Fangen spielten. Er sah sogar den schwarzen Schatten des Kraken, der unter der Seeoberfläche ruhte, und die Steilwände am anderen Ende der Menagerie, in denen er die Höhlen der Drachen vermutete. Auch wenn von den Drachen selbst jede Spur fehlte.
»Komm schon«, flüsterte Zoe ihm von innen zu.
Logan duckte sich vorsichtig unter dem Rolltor hindurch. Dahinter berührten seine Socken glattes dunkles Holz. Beinahe wäre er ausgerutscht, fand jedoch seine Balance wieder, blickte auf – und schaute auf einen gefährlich gebogenen Schnabel von der Größe eines Schulbusses.
»Beweg dich nicht«, sagte Zoe. »Sie hat Hunger.«
KAPITEL 2
Logan erstarrte, noch immer halb unter das Rolltor gekauert. Er befand sich auf einem Vorsprung hoch oben in der Voliere, umgeben von Baumwipfeln und Laub. Neben ihm war ein gewaltiges unordentliches Nest, gebaut aus übereinandergetürmten Ästen.
Der Großteil seiner Aufmerksamkeit galt jedoch den stechenden schwarzen Augen, die ihn an Ort und Stelle festzunageln schienen, den riesigen Klauen wenige Meter neben ihm und den glänzenden weißen Federn des weltgrößten Raubvogels.
»Schon okay, Aliya«, raunte Zoe beruhigend. »Das ist Logan. Er ist ein Freund. Er arbeitet jetzt für uns.«
Aliya klackte einmal laut mit dem Schnabel, sodass das Geräusch in der Kuppel über ihnen widerhallte. Dann trat sie zurück und legte sich in ihr Nest, auch wenn sie Logan noch immer nicht aus den Augen ließ.
»Sie ist heute einfach total neben sich«, erklärte Zoe. »Normalerweise ist sie ganz ruhig, doch die fremden Leute und der ganze Lärm an Pellys Nest müssen ihr Angst eingejagt haben. Normalerweise bekommt sie außerdem schon bei Sonnenaufgang ihr Frühstück, deshalb ist sie zusätzlich hungrig und verwirrt.«
Logan lugte über die Kante des Stegs, konnte Pellys Nest von hier oben allerdings nicht sehen, weil zu viele Bäume im Weg standen. Von der Plattform, auf der das Nest des Roch lag, führte eine Wendeltreppe in die grüne Pflanzenwelt unter ihnen. Inzwischen hatten Zoes Dad und die FABA-Agenten aufgehört zu schreien, auch wenn ihre Stimmen noch immer laut und zornig klangen. Logan entdeckte mehrere Vögel in den Zweigen, die mit geschlossenen Augen dahockten – der Entspannungsnebel schien gewirkt zu haben.
»Alles ist gut, Aliya«, tröstete Zoe den Roch, griff in das wirre Nest und holte zwei kleine Lautsprecher hervor. »Es gab nur einen … ähm, eine Art Unfall. Etwas ist mit Pelly passiert.«
Die Rochdame stieß einen Awck-Laut aus und zog dabei ein ungeheuer witziges Gesicht, in dem Logan eindeutig las: Na ja, diese Gans hat es ja darauf angelegt!
»Wie gut versteht sie uns?«, fragte er Zoe.
»Schwer zu sagen. Aber ich glaube, sie ist sehr intelligent.«
»Glaube ich auch«, stimmte Logan zu, woraufhin die Rochdame langsam blinzelte, wie um noch weiser zu wirken. »Hat meine Mom sie hergebracht?«
Seine Mutter hatte auch Zoes Mammut gefunden, und die Vorstellung, dass sie einen gigantischen Vogel in die Menagerie flog, fand er aufregend. Gleichzeitig machte es ihn ganz schön wütend, weil sie ihm nie die Wahrheit über ihren unfassbar coolen Job erzählt hatte, während Zoe in alles eingeweiht war. Sobald er jedoch daran dachte, was ihr zugestoßen sein könnte, machte er sich Sorgen und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil er wegen ihrer letzten Postkarte so sauer gewesen war. Trotzdem hatte er noch nicht entschieden, ob er ihr so einfach vergeben sollte, denn er hatte ja auch keine Ahnung, wie die Wahrheit wirklich aussah. Vielleicht war es also besser, fürs Erste nicht zu viel über seine Mom nachzudenken.
Zoe schüttelte den Kopf. »Nein, das war ein anderer Fährtenleser. Aber deine Mom hat den Allicanto zu uns geholt. Du solltest ihn mal kennenlernen – mit Ohrstöpseln.«
In diesem Moment schoben sich Blues Füße durch den Spalt unter dem Rolltor, dicht gefolgt vom Rest von ihm und kurz darauf auch von Keiko. Nachdem Logan sie in ihrer Fuchsgestalt gesehen hatte, fühlte er sich von der Sechstklässlerin, die Zoes Familie aus Japan adoptiert hatte, mehr oder weniger eingeschüchtert.
Keiko hatte ihren weißen Formwandler-Kimono gegen seidige schwarze Hosen und ein passendes saphirblaues T-Shirt getauscht, auf dem in kleinen Strasssteinchen »FOXY« stand.
»Oh.« Logan zeigte auf den Schriftzug. »Foxy! Haha! Ich hab’s kapiert.«
Keiko warf ihm aus ihren goldbraunen Augen einen finsteren Blick zu.
»Weil du ja ein … Kittensi … Kiztuuni … ähm, also dieses Wesen bist, das sich in einen Fuchs verwandeln kann …«
»Kitsune«, giftete Keiko ihn an. »Und ich verwandle mich nicht in einen Fuchs. Ich bin ein Fuchs, der im Augenblick die Gestalt eines Mädchens gewählt hat.«
Logan blinzelte verwirrt, aber keiner der anderen fand, dass dies einer näheren Erklärung bedurfte.
»Warum ist sie hier?«, fragte Zoe stattdessen und nahm Blue ihren iPod ab. »Sie wird Aliya nur noch mehr aufregen.«
Keiko warf sich ihre geflochtenen Zöpfe über die Schultern, stemmte die Hände in die Taille und schnüffelte. Der Roch wurde unruhig und grollte unglücklich in seinem Nest. Logan spürte instinktiv, dass er Keiko nicht gerne in der Nähe hatte – wie die meisten Tiere der Menagerie, wenn er so darüber nachdachte. Die Einhörner konnten sie ebenfalls nicht ausstehen. Womöglich rochen oder spürten alle irgendwie den Fuchs in ihr.
»Sie hat gesehen, wie ich deinen iPod geholt hab«, berichtete Blue. »Da wollte sie wissen, was los ist.«
Zoe verdrehte genervt die Augen und ging neben den Lautsprechern in die Hocke, bevor sie durch ihre Musiklisten scrollte. Wenig später erfüllten leise Bollywood-Klänge die Luft und die Rochdame entspannte sich sichtlich, nachdem sie den Kopf auf ihr Nest gelegt hatte.
»Jemand hat Pelly ermordet«, berichtete Logan Keiko. »Da unten herrscht eine riesige Sauerei.«
»Oh, ich bezweifle stark, dass sie ermordet wurde«, entgegnete Keiko.
»Wirklich?« Mit einem hoffnungsvollen Blick hob Zoe den Kopf. »Dann … Weil du nicht genug Blut riechst oder so?«
»Genau«, antwortete Keiko. »Schätze, sie wurde gefressen.«
»Ach, na das ist ja viel besser. SEHR TRÖSTLICH«, brüllte Zoe.
»Ich hatte nicht vor, jemanden zu trösten!«, brüllte Keiko zurück.
»Psst«, mischte Blue sich ein. Als sie verstummten, fiel Logan auf, dass auch die Erwachsenen unten zu reden aufgehört hatten.
»Oh-oh«, entfuhr es Zoe.
Die Wendeltreppe zitterte, bis schließlich MrKahn aus den Bäumen auftauchte und auf sie zukletterte. Sein rotbraunes Haar stand wild nach allen Seiten vom Kopf ab und er wirkte völlig erschöpft.
»Zoe!« Er klang schockiert. »Was …?«
»Wir wollten uns nur um Aliya kümmern!«, sagte Zoe schnell. »Habt ihr nicht gehört, dass sie völlig aus dem Häuschen war? Wir wollten nur sichergehen, dass sie okay ist.« Sie tätschelte das Nest aus Ästen und die Rochdame klackerte selbstgerecht mit dem Schnabel.
»Ihr solltet doch ins Haus gehen«, sagte Zoes Dad streng.
»Ja, ich weiß. Aber komm erst mal her und schau dir das Rolltor an. Als wir vorhin ankamen, stand es schon offen. Vielleicht hat sich hier letzte Nacht jemand rein- und wieder rausgeschlichen.«
Die beiden FABA-Agenten sahen alles andere als erfreut aus, als sie MrKahn die Treppe hinauf folgten und nicht nur Zoe, sondern auch Logan, Blue und Keiko um das Nest des Roch versammelt vorfanden.
»Dad, ist Pelly wirklich tot?«, wollte Zoe wissen.
Logan erriet ihre Gedanken, weil er dasselbe hoffte. Vielleicht war es ein Missverständnis. Oder irgendein Trick. Vielleicht wollte Pelly uns allen nur einen Schreck einjagen, damit wir merken, wie wichtig sie für uns ist.
»Ich fürchte schon, mein Liebes«, sagte Agentin Dantes leise, und MrKahn nickte mit hängenden Schultern.
»Obwohl man das ohne Leiche natürlich nicht hundertprozentig feststellen kann«, bemerkte Agent Runzibel in einem Tonfall, der so stechend klang, als hätte man ihn extra angespitzt. »Robert, ich muss darauf bestehen, dass wir die gesamte Voliere abriegeln. Im Augenblick haben Kinder hier nichts zu suchen.«
Logan bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Bisher schien der FABA-Agent ihn nicht erkannt zu haben, und Logan war unsicher, wie Edmund Runzibel reagieren würde, wenn ihm erst einfiel, wo sich ihre Wege zum ersten Mal gekreuzt hatten.
Es war vor sechs Monaten gewesen, als Logan und sein Dad noch in Chicago lebten. Zwei Tage bevor Runzibel vor ihrer Tür auftauchte, hatten sie die Karte von Logans Mutter bekommen. Darauf hatte im Wesentlichen gestanden: Hallöchen, tut mir wirklich leid, aber ich habe ein tolles Angebot für einen neuen Job. Liebe euch wahnsinnig, aber ich komme so bald nicht wieder. Schönes Leben noch, bla, bla.
Sein Dad hatte Logan angeboten, ein paar Tage schulfrei zu nehmen, um das alles zu »verdauen«, was Logan ziemlich bescheuert vorgekommen war. Auf dem Sofa rumzugammeln und fernzusehen, half ihm auch nicht darüber hinweg, dass seine Mom weg war, also konnte er genauso gut seinen Mathetest schreiben. Selbst wenn er durchfiel, konnte es nicht schlimmer kommen.
Daher hatte Logan Runzibel damals auf dem Heimweg von der Schule zuerst gehört, bevor er ihn gesehen hatte – als abgehackte, ernste Stimme hinter der Wohnungstür.
»Sie wollen mir also weismachen, dass Sie keine Ahnung haben, wo Ihre Frau sein könnte.«
Logan war mit den Schlüsseln in der Hand erstarrt, lehnte sich näher an die Tür und lauschte.
»Tut mir leid«, sagte sein Dad. »Wir haben nichts mehr von ihr gehört, seit sie aufgebrochen ist.«
Kein Wort von der Postkarte, dachte Logan. Dann traut Dad diesem Typen also nicht.
»Keinerlei Päckchen?«, ertönte die Stimme des Fremden. »Hat sie vielleicht irgendwo ein Schließfach in einer Bank? Oder einen angemieteten Lagerraum?«
»Weder noch«, antwortete Logans Vater eine Spur weniger freundlich. »Worum geht es hier eigentlich?«
»Ihre Frau ist nicht einfach so verschwunden«, sagte der andere. »Sie hat etwas mitgenommen, das uns sehr wichtig ist. Sollten Sie ihr dabei helfen, es zu verstecken, wird das ernste Konsequenzen nach sich ziehen, MrWilde.«
Eine Weile herrschte Stille. »Ich glaube, Sie gehen jetzt besser«, sagte Logans Dad schließlich.
Schritte näherten sich der Tür. Logan huschte zur Treppe zurück und tat so, als käme er gerade erst die Stufen hoch, als die Wohnungstür aufschwang.
Runzibel hatte ihm damals im Vorübergehen einen ernsten Blick zugeworfen, allerdings hatte ihre Begegnung nur wenige Sekunden gedauert. Gut möglich, dass er sich deshalb nicht an Logan erinnerte. Oder aber er vermieste so vielen Kindern regelmäßig den Tag, dass er sie nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Die andere Beamtin, Delia Dantes, schien wesentlich netter zu sein als Runzibel. Sie lächelte häufig, und laut Zoe bot sie den Kids immer wieder das Du an. Für Logan kam das allerdings gar nicht infrage, es war schon komisch genug, wenn Zoe sie duzte.
Doch jetzt zog sogar Agentin Dantes die Stirn kraus, als sie das Rolltor in Augenschein nahm. Sie schob sich eine Strähne ihres dunklen Haars aus dem Gesicht und deutete mit dem Stift auf einige Kratzer in der Lackierung.
»Hier könnte vergangene Nacht etwas Großes eingedrungen sein«, stellte sie fest. »Diesen Krallenabdrücken nach zu urteilen, womöglich ein Greif, ein Taniwha oder ein Mapinguari.«
Logan lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die letzten beiden waren ihm kein Begriff, aber mit den Greifen der Menagerie kannte er sich ziemlich gut aus. Und der Ton in Delia Dantes Stimme verhieß nichts Gutes für seine neuen Freunde.
»Unsere Greifen würden niemals ein anderes Fabeltier angreifen«, verteidigte Zoe sie.
»Das stimmt«, fiel Logan mit ein. »Außerdem haben die Jungen Angst vor der Gans – Skworp hat mir erzählt, dass sie einmal mit ihr spielen wollten und sie nach ihnen geschnappt hat.«
»Aha.« Agentin Dantes machte sich eine Notiz. »Das könnte für eins der Elternteile ein Motiv sein, sie zu töten.«
»Nein!«, protestierte Logan. »So sind sie nicht. Nira will, dass sie lernen, selbst auf sich aufzupassen, und Riff – na ja, Riff kann manchmal ein bisschen überfürsorglich sein, aber –«
»Logan, hör auf zu helfen!«, zischte Keiko ihn abfällig an.
Logan verstummte. Er fühlte sich schrecklich. Zoe spielte nervös an ihren Fingernägeln herum und wich seinem Blick aus.
»Wir züchten unsere Greifen möglichst auf Intelligenz, nicht auf Angriffslust«, warf MrKahn besonnen ein. »Und unser Mapinguari lebt sehr enthaltsam, inzwischen ist er praktisch Vegetarier.«
Keiko schnaubte abfällig und murmelte: »Frisst Karotten! Wie eine gewöhnliche Kuh.«
»Und einen Taniwha haben wir zurzeit gar nicht«, sagte Zoe. »Außerdem würde man draußen einen Tunnel sehen, wenn ein Taniwha hier gewesen wäre.«
»Nun«, meinte Agentin Dantes. »Dann vielleicht ein Drache.«
»Nie im Leben.« Um ein Haar hätte Zoe ihren iPod fallen lassen. »Unsere Drachen doch nicht!«
»Unsere drei unterliegen strengen Sicherheitsvorkehrungen«, erklärte MrKahn. »Und selbst wenn sie aus ihrer Behausung entkommen könnten, würden sie so etwas niemals tun. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Angesichts der Krallenabdrücke, des möglichen Einsatzes von Entspannungsnebel während des Angriffs und des ausgeklügelten Plans, der dahinterstecken muss … Könnte es sich vielleicht um einen Werwolf handeln?«
Logan wusste selbst nicht, warum ihn das überraschte. Nachdem er Greifen, Einhörner und Meerjungfrauen kennengelernt hatte, sollte es ihm völlig normal vorkommen, dass auch Werwölfe existierten. Trotzdem klang das zu abgefahren. Er stellte sich vor, wie der Typ aus den Biss-Filmen versuchte, eine riesige Gans zu fressen. Er hatte den Eindruck, dass Pelly ihm ordentlich Kontra gegeben hätte.
»Ihr habt hier Werwölfe?«, flüsterte er Blue zu.
»Nein«, raunte Blue zurück. »Werwölfe gelten als ›überwiegend menschlich‹, deshalb landen sie normalerweise nicht in Parks. Es sei denn, sie mieten sich freiwillig ein – wie das Meeresvolk von meinem Dad. Für uns Überwiegend Menschliche ist eine andere Behörde zuständig.«
»In diesem Teil von Wyoming sind keine Werwesen registriert«, stellte Runzibel mürrisch fest.
»Dann vielleicht ein unregistriert–«, fing MrKahn an, wurde jedoch sofort von Runzibel unterbrochen.
»Höchst unwahrscheinlich. Und bevor Sie mit dem Finger auf hypothetische Wesen außerhalb Ihrer Menagerie zeigen, schlage ich vor, dass wir uns den Raubtieren innerhalb dieser Mauern widmen.« Er holte einen Tablet-Computer aus seiner Aktentasche und begann, wild darauf herumzutippen.
»Dad«, wandte Zoe sich an MrKahn, »warum schauen wir uns nicht einfach die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras an? Würde uns das nicht genau zeigen, was …« Als sie den Ausdruck im Gesicht ihres Vaters sah, verstummte sie, und der Roch machte ein mitfühlendes Geräusch.
»Deine Mom hat das längst gemacht«, sagte MrKahn und hielt sein Walkie-Talkie hoch. »Und … da gibt es ein Problem.«
»In der Tat«, mischte Runzibel sich ein. »Den Verlust all Ihrer Sicherheitsaufzeichnungen würde ich allerdings als Problem bezeichnen.«
»Die Bänder von letzter Nacht zeigen nur weißes Rauschen«, teilte Delia Dantes mit.
Logan und Zoe tauschten erschrockene Blicke. Das kann kein Zufall sein, dachte Logan. Jemand wollte ganz sichergehen, dass keiner mitbekommt, was mit Pelly passiert ist. Nur was für ein Wesen kann sich in einen Computer hacken und eine Gans fressen?
»Genau aus diesem Grund haben wir darauf bestanden, dass Sie Ihr Überwachungssystem nachrüsten«, sagte Agent Runzibel so ernst, dass Logan eine Gänsehaut bekam.
»Aber das haben wir ja!«, rief Zoe. »Wir haben alles gemacht, was Sie wollten. Matthew hat gestern den ganzen Tag lang nichts anderes getan, als das Update zu installieren, das Sie uns gegeben haben.«
»Schon in Ordnung, Zoe«, wandte ihr Vater sich an sie. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass wir alle Verbesserungen durchgeführt haben. Etwas muss die Verbindung gekappt haben oder es gab ein Problem mit der neuen Software, d–«
»Die Software hat bei allen anderen Parks, die sie installiert haben, bestens funktioniert«, schnitt Runzibel ihm das Wort ab.
»Was ist mit Nero?«, fragte Logan. Im Gegensatz zur Rochdame konnte der melodramatische Phönix nämlich reden. »Wir könnten ihn fragen, ob er letzte Nacht was gesehen hat.«
MrKahn seufzte. »Der Gedanke kam mir auch schon. Ich habe Mondstampfer darum gebeten, ihn zu suchen, doch sobald Nero den Yeti gesehen hat, ist er in Flammen aufgegangen.« Der Phönix neigte dazu, spontan zu explodieren, wenn er sich gestresst oder schlecht behandelt fühlte – oder wenn er die anderen wieder einmal darauf hinweisen wollte, dass sie ihm zu wenig Beachtung schenkten. »Im Moment ist er ein wenig hilfreiches Häufchen Asche. Die Befragung muss also warten.«
»Unabhängig davon müssen wir die Ermittlungen im Todesfall der Gans einleiten«, meinte Beamtin Dantes. »Haben Sie irgendwelche Raubtiere, die einen Groll gegen sie hatten?«
»Die Gans war nicht gerade beliebt«, gab MrKahn zu, »aber konkrete Feinde fallen mir nicht ein.«
Logan fiel auf, wie ein komischer Ausdruck über Zoes Gesicht huschte, bevor sie sich wieder im Griff hatte. Oje. Bedeutete das, dass es doch jemand auf Pelly abgesehen hatte?
»Dann beginnen wir doch bei den Drachen«, murmelte Agentin Dantes. »Immerhin sind sie am gefährlichsten.«
Trotz der Anspannung, trotz des Tatorts und trotz der drohenden Gefahr für die Menagerie spürte Logan ein aufgeregtes Kribbeln unter der Haut.
Er würde Drachen treffen.
KAPITEL 3
»Okay, an der Wand sahen die Dinger ja noch cool aus, aber jetzt komme ich mir voll lächerlich vor.«
Als Logan sich in dem feuerfesten Anzug bewegte, fühlte er sich reichlich unwohl. Sein gesamter Körper steckte in der Hülle, sichtbar war allein sein Gesicht, und auch das nur durch ein durchsichtiges Visier im Helm. Das schwere Gewebe des Anzugs isolierte ihn ein bisschen zu gut – er spürte schon den Schweiß auf dem Rücken und in den Kniekehlen. Wer hätte gedacht, dass man hinter den Knien überhaupt schwitzen konnte?
Zoe, die vor ihm ging, schwenkte herum, sodass er ihr Gesicht sehen konnte.
»Ich weiß, ist eine nervige Regel. Wenn es um Drachenfeuer geht, ist FABA supervorsichtig.« Dann kletterte sie weiter.
Blue hielt Logan eine Hand hin, um ihm den felsigen Hang hinaufzuhelfen. »Und damit liegen sie voll richtig«, meinte er. »Drachen sind nicht gerade für ihre Selbstbeherrschung bekannt. So ist es sicherer.«
MrKahn und die beiden FABA-Beamten waren ihnen bereits ein gutes Stück voraus. Zu gerne hätte Logan gewusst, wie sie sich in diesen klobigen Anzügen so schnell bewegen konnten. Keiko war zurück ins Haus gegangen; angeblich konnten Drachen sie wirklich nicht ausstehen, was laut Keiko »vollkommen auf Gegenseitigkeit« beruhe und ihr nur recht sei.
Mit Blues Hilfe bewältigte Logan das letzte Stück und legte, oben angekommen, eine kleine Pause ein. Vor ihm lag eine gigantische Felsenplattform, so groß wie ein Fußballfeld. Sie war auf zwei Seiten von steilen Bergwänden umgeben, in denen je eine große dunkle Höhle gähnte. Die dritte Seite nahm eine zackige, niedrige Mauer aus Steinbrocken ein, hinter der sich ein zerklüfteter Berghang bis zum See der Menagerie hinab erstreckte. In einer der Steilwände führte der Pfad, auf dem sie gekommen waren, weiter bis zu einer dritten Höhle, hoch oben im Berg.
Vor den beiden unteren Höhlen sonnte sich das prächtigste Geschöpf, das Logan je gesehen hatte.
Die Schuppen des Drachen reichten von reinem Silber, das den Großteil des Körpers bedeckte, bis zu schillerndem Weiß über dem Bauch. Links und rechts ragten gewaltige Flügel aus dem Rumpf, die aussahen wie mit Silber beschlagenes Leder. Logans erster Eindruck war, dass der Drache sich wie eine Katze in der Sonne rekelte.
»Wir warten hier«, sagte Zoe zu Logan am Rand des Fußwegs. MrKahn hatte sie nur unter der Bedingung mitgenommen, dass sie auf Sicherheitsabstand bleiben würden.
»Eigentlich darf laut FABA keiner unter sechzehn mit Drachen arbeiten«, erklärte Blue.
»Aber das ist eine von diesen Regeln, mit denen sie es nicht so genau nehmen«, meinte Zoe schulterzuckend.
»Stimmt nicht.« Blue konnte nur mit dem Kopf schütteln. »Und Zoe fragt sich im Ernst, warum gerade unsere Menagerie ständig Ärger mit der Behörde hat.«
»Klaudius«, sagte MrKahn so leise, dass Logan ihn kaum hörte. »Wir müssten dich kurz sprechen.«
Die Augen des silbernen Drachen öffneten sich gemächlich zu schmalen Schlitzen, in deren schwarzen Tiefen es dunkelrot glitzerte. Als die Menschen sich näherten, hob sich sein Kopf, der groß wie ein Geländewagen war.
»Du erinnerst dich sicher an Agent Runzibel und Agentin Dantes«, fuhr MrKahn fort.
Logan fiel auf, dass Delia Dantes auf Abstand blieb und konzentriert die Steine ringsum betrachtete. Immer wieder linste sie zu den übrigen Höhlen, als wartete sie darauf, dass ein weiterer Drache mit gefletschten Zähnen herausspringen würde. Doch lediglich eine dünne Rauchsäule aus Richtung der oberen Höhle wies darauf hin, dass überhaupt einer der anderen Bewohner zu Hause war.
»FFFFFFFABA«, zischte der große Silberdrache, während er die Beamten beäugte.
»Genau.« Zoes Vater nickte. »Wir würden gerne denjenigen befragen, der letzte Nacht Wache hatte.«
Der Drache schloss die Augen wieder und blieb mucksmäuschenstill, als müsste er nachdenken.
»Wache?«, wisperte Logan seinen Freunden zu. Er erinnerte sich, wie der Alarm losgebrochen war, als er sich mit Skworp zum ersten Mal in die Menagerie geschlichen hatte. Es hatte ganz danach geklungen, als hätte jemand »EINDRINGLING!« gerufen, und zwar in etwa so laut wie vierhundert dröhnende Düsenjets auf einmal. »Soll das heißen, die Drachen sind euer Alarmsystem?«
»Ja, sie sind perfekt dafür geeignet«, sagte Zoe. »Drachen haben eine Art sechsten Sinn, der ihnen genau sagt, wer in der Nähe ist und was derjenige macht. Sie wissen sofort, wenn ein Fremder auf dem Gelände ist. Außerdem sind sie echt krass laut, wie du vielleicht schon bemerkt hast.«
»Und unzuverlässig«, fügte Blue hinzu, der sich auf einen Felsen gesetzt hatte.
»Blue ist kein Fan von unserem System, aber wir finden, dass es super funktioniert«, erklärte Zoe. »Wir waren die erste Menagerie, die herausgefunden hat, dass man Drachen dafür einsetzen kann, und jetzt machen das alle so.«
»Drachen haben diese tolle Fähigkeit nur, weil sie so ihre Schätze bewachen und auf die Jagd nach Beute gehen«, meinte Blue. »Die Probleme von Menschen sind ihnen schnurzegal.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich mein ja nur: Wäre nicht schwierig, das irgendwie auszutricksen.«
»Bisher hat alles bestens geklappt«, entgegnete Zoe. »Sie haben uns gewarnt, als Jonathan die Jackalope stehlen wollte, und sie haben uns informiert, als Logan sich eingeschlichen hat.«
»Aber wär’s dir nicht lieber, letzte Nacht hätte es nicht geklappt?«, fragte Logan, wofür er von Zoe einen verwirrten Blick erntete. »Na ja. Wenn das System funktioniert hat, dann war es jemand aus der Menagerie, der Pelly was angetan hat. Oder?«
Zoe wurde blass und wandte sich, ohne zu antworten, wieder dem Drachen zu.
Gerade öffnete Klaudius langsam die Augen.