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Logan hat alle Hände voll zu tun und eine lange Liste mit Aufgaben: - den Streik der Meermenschen beenden, die nach Hawaii umgesiedelt werden wollen und deshalb ihre Pflichten vernachlässigen. - den gefährlichen Basilisken wieder einfangen, der aus seinem Gehege entwischt ist. - herausfinden, wer unerlaubt im Tierpark herumschleicht. - Mom finden. - verhindern, dass die Welt von der Existenz der Menagerie erfährt.Selbst wenn man an mehreren Orten gleichzeitig sein könnte, wäre das alles kaum zu schaffen … Magic Park, fantastische Kinderbücher für Jungen und Mädchen ab 11 Jahren von Bestseller-Autorin Tui T. Sutherland! Im Mittelpunkt steht ein geheimer Tierpark voller mythologischer und magischer Tiere wie Phönixe, Greifen, Drachen, Einhörner, Yetis und Meermenschen. Die originelle Geschichte verbindet realistische Alltagsthemen wie Schule und Freundschaft mit tollen Fantasy-Elementen und ist witzig, temporeich und warmherzig zugleich.
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Seitenzahl: 383
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Für Adalyn – mögen deine Träume
KAPITEL 1
Logan Wilde starrte auf die Karte in seinen Händen. Das Arbeitszimmer von MrSterling begann, sich um ihn herum zu drehen.
Drachenhöhlen
Flug der Greifen
Einhorn-Safari
Vor einer Woche hatte Logan herausgefunden, dass es in seiner kleinen Stadt Xanadu, Wyoming, einen geheimen Zufluchtsort für Fabelwesen gab, der sich Menagerie nannte. Die Betonung lag dabei eindeutig auf »geheim«, denn absolut niemand durfte davon wissen – und jeder, der zufällig doch davon erfuhr, bekam Krakentinte eingeflößt, die sämtliche übernatürlichen Erinnerungen löschte.
Er selbst hatte die Menagerie nur besuchen dürfen, weil er ungewöhnlicherweise mit den Greifenbabys reden konnte, und weil seine Mom mit der Familie Kahn befreundet war, die den magischen Park betreute. Trotzdem hatte er längst begriffen, wie wichtig es war, all die vom Aussterben bedrohten magischen Tiere vor dem Rest der Welt zu verstecken.
Die Karte, die er fassungslos umklammerte, war Beweis für einen Plan, der genau das Gegenteil vorsah: die Menagerie als Vergnügungspark, in dem Touristen Schnappschüsse von Meerjungfrauen machten, auf einem angeketteten Mammut ritten und in dem großen, auffällig markierten »SOUVENIRLADEN« in der Ecke wahrscheinlich Yetifelldecken und Baby-Pyrosalamander für zu Hause kauften.
Wie ein Hammer wütete Logans Herz in seiner Brust. Die Sterlings wussten nicht nur von der Menagerie, sie kannten auch die Details: den exakten Aufbau der Anlage und sämtliche Tiere, die darin lebten. Aber woher? Ruby Kahn hatte allen Sterlings Krakentinte verabreicht, die jegliche Erinnerung an den Park hätte tilgen sollen. Warum hatte es nicht funktioniert?
Er zog sein Handy aus der Tasche und machte ein Foto von der Karte. Die Kahns mussten davon erfahren, sofort.
Das falsche Fell und die Krallen seines Werwolfkostüms erschwerten seine Arbeit. Aus den Zimmern am anderen Ende der Eingangshalle konnte er den Lärm und die dröhnende Musik von Jasmin Sterlings Halloweenparty hören. Es war die erste Feier, auf die er seit seinem Umzug nach Xanadu eingeladen worden war – und jetzt musste er einen höflichen Weg finden, sich zwei Stunden früher als geplant aus dem Staub zu machen.
»Was schaust du dir denn da an?«, ertönte hinter ihm Jasmins Stimme. Erschrocken zuckte er zusammen. Logan hatte beinahe vergessen, dass sie und sein Kumpel Blue Merevy ebenfalls im Raum waren.
Hektisch stopfte Logan das Handy zurück in seine Jacke und versuchte, die Karte unauffällig wieder aufzurollen, doch Jasmin streckte bereits die Hand danach aus.
»Kann ja wohl kaum interessant sein – keins der ganzen langweiligen Papiere von meinem Dad über langweilige Immobilien und langweilige Politik und –« Jasmin verstummte und musterte die Karte mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ach, Dad!«
»Was denn?« Neugierig linste Blue über ihre Schulter. Lächelnd neigte Jasmin den Kopf und hielt die Karte schräg, sodass Blue noch näher rücken musste, um etwas sehen zu können.
»Ist mein Dad nicht megakitschig?«, meinte sie. »Weißt du noch, der Wild-West-Park, mit dem er es vor ein paar Jahren versucht hat? Der gigantische Reinfall?«
»Ja«, sagte Blue, der nicht die Karte, sondern Jasmin betrachtete. »Wir waren mit Zoe bei der Eröffnung.«
»Genau.« Jasmin lachte. »Und wir haben so viel von dem Gratis-Malzbier getrunken, dass uns schlecht geworden ist, und du bist von einem Pferd gefallen, das sich kaum bewegt hat. Und dann hat sich Zoe beinahe in der alten Gefängniszelle eingesperrt, als ich den Sheriff gespielt habe.« Ein wehmütiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht, der exakt so aussah wie der von Zoe, wenn sie von Jasmin erzählte.
Sie vermisst Zoe auch, begriff Logan. Zoe hatte ihre Freundschaft mit Jasmin vor sechs Monaten beenden müssen, als die komplette Familie Sterling mit Krakentinte bearbeitet worden war, nachdem Jasmins Bruder Jonathan – Rubys damaliger Freund – versucht hatte, eine Jackalope zu stehlen.
Logan gab sich Mühe, Blue mit SCHAU-GEFÄLLIGST-HIN,–ZEIT-FÜR-PANIK!-Schwingungen zu bombardieren, doch der … Ja, was zum Teufel trieb er eigentlich? Zum Beispiel warf er Jasmin ein ziemlich trotteliges Grinsen zu.
»Na, egal. Schau mal«, sagte Jasmin und warf sich ihr Haar in den Nacken. »Dad hat schon wieder eine brillant schreckliche Idee. Ein Freizeitpark voller Fabeltiere? Was meint er bitte, wer für ein paar lahme Einhornroboter mitten ins absolute Nirgendwo fährt? Im Ernst jetzt, oder?« Kichernd zeigte sie auf ihr Halloweenkostüm. »Vielleicht können du und ich als Meerjungfrauen auftreten.«
Logan merkte Blue den genauen Moment an, als er endlich begriff, was Jasmin ihm unter die Nase hielt. Selbst ohne die scheußliche Beschriftung hätte man die Menagerie leicht an dem großen See in der Mitte erkennen können – dem See, in dem Blues Vater, König Cobalt, über das Meeresvolk regierte.
Der sonst durch nichts aus der Fassung zu bringende Meerjunge machte einen Satz zurück, als hätte die Karte ihn gebissen. Aus seinem Gesicht wich alle Farbe.
»Blue?«, fragte Jasmin besorgt, als sie sich zu ihm umdrehte. »Geht’s dir gut?«
»Wir müssen leider los«, sagte Logan schnell. »Das hab ich Blue gerade erzählt … deshalb waren wir auch hier drin. Tut mir leid.«
»Nein!«, rief Jasmin ehrlich enttäuscht. »Blue, du darfst noch nicht gehen. Du bist doch eben erst gekommen. Wir haben noch nicht mal getanzt oder so. Und außerdem, ähm … es gibt noch roten Kürbiskuchen! Der aussieht wie ein Geist! Vor dem Kuchen kannst du nicht gehen!«
Blue schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Tut mir leid, Jasmin. Es ist nur so … ähm …«
»Meine Katze«, half Logan ihm aus – ungünstigerweise im selben Augenblick, als Blue sagte: »Meine Mom.«
Jasmin spähte misstrauisch von einem zum anderen.
»Seine Mom«, stimmte Logan zu.
»Wurde von seiner Katze gebissen«, platzte Blue heraus.
Logan warf ihm einen Blick zu: Du bist echt der schlechteste Lügner aller Zeiten! Arme Tinka, als ob sie jemals jemanden beißen würde!
»Was?«, sagte Jasmin. »Geht’s ihr gut?«
»Ja«, meinte Logan.
»Nein«, antwortete Blue, woraufhin Jasmin bestürzt die Augen aufriss.
»Seine Mom ist okay«, beschwichtigte Logan überzeugend. »Er meint meineKatze, die ist jetzt nämlich verschwunden, weggelaufen. Wir müssen sie suchen und deshalb müssen wir jetzt los.« Bevor das Ganze noch blödsinniger wird. Er schob Blue auf die Tür zu.
»Nehmt ihr eure Furcht einflößende Sechstklässlerin mit?«, fragte Jasmin. »Sie hat Cadence nämlich gerade herausgefordert, sich ihren eigenen Finger abzubeißen, und sich dann wahnsinnig aufgeregt, als Cadence sich weigerte. Ich weiß nicht, ob sie begriffen hat, dass Wahrheit oder Pflicht nur ein Spiel ist. Mein Verdacht ist, dass sie ein Psychopath ist.«
»Keiko, ja«, murmelte Blue abwesend. »Wir sollten Keiko holen.«
»Na, das wird ein Spaß«, murrte Logan. Als sie das Arbeitszimmer verließen, nahm er seine falschen Reißzähne aus dem Mund. Wenigstens würde er bald aus diesem unbequemen Kostüm kommen.
Sie fanden Zoes Adoptivschwester auf der Küchentheke hockend, wo sie sich mit drei Mädchen aus der Siebten unterhielt, während Marco Jimenez mit zwei Tellern voller Häppchen neben ihr Stellung bezogen hatte. Keiko nahm sich ein winziges Fleischbällchen von dem einen und eine Mini-Quiche vom anderen Teller, ohne Marco auch nur eines Blickes zu würdigen. Ihre blauen Fuchsohren zuckten, doch keiner schien zu bemerken, dass sie echt waren.
»Ganz miese Idee«, teilte Keiko ihrem faszinierten Publikum mit. »Euch beide zusammenzubringen, wäre die reinste Zeitverschwendung. Violet, schlag ihn dir auf der Stelle aus dem Kopf! Du kannst mit deinem Hirn viel Nützlicheres anstellen, als ununterbrochen von Idioten zu träumen und davon, wie du besagte Idioten dazu bringst, dich zu beachten.«
»Aidan ist gar nicht so schlimm«, protestierte Marco kleinlaut.
»Und er ist so süß …«, schwärmte Violet.
»Er ist zwölf und er ist ein Junge«, stellte Keiko fest, als wäre das anödend offensichtlich. »Er hätte erschöpfend viel Training nötig – dir bliebe gar keine Zeit mehr fürs Fußballspielen.« Sie spießte ein weiteres Hackbällchen auf.
»Was denn für Training?«, wollte Marco wissen. »Ich lerne total schnell! Nur falls du dich das mal gefragt hast.«
Nun schenkte Keiko ihm doch einen – wenn auch skeptischen – Blick, wobei sie Logan und Blue bemerkte, die auf sie zuhielten. Augenblicklich änderte sich ihr Ausdruck zu einer bitterbösen Miene.
»Auf gar keinen Fall!« Anklagend deutete sie mit ihrem Zahnstocher auf die beiden. »Schafft diese mitleidigen Visagen anderswohin. Ich reiße euch die Wimpern aus, wenn ihr jetzt versucht, mich von hier wegzubringen.«
»Es ist ein Notfall, Keiko«, wandte Blue ein.
»Du bist ein Notfall«, entgegnete sie.
»Im Ernst, wir müssen sofort los«, sagte Logan.
»Ach, ehrlich? Jetzt schon?« Marco hielt seine Teller in die Höhe. »Schaut her, sie lässt mich ihre Minihäppchen tragen!«
Keiko studierte Blues Augen und knurrte dann leise. »Hilf mir runter«, befahl sie Marco.
Eilig stellte er die Teller auf der Theke ab, wobei er überallhin Krümel verstreute, und ergriff Keikos ausgestreckte Hand. Leichtfüßig hüpfte sie zu Boden und tätschelte seinen Kopf. »Lasst euch meine Worte durch den Kopf gehen«, wandte sie sich an die drei Mädchen. »Falls ihr noch Fragen habt, kommt am Montag in der Schule zu mir.«
Logan drehte sich in Richtung Ausgang und wäre um ein Haar gegen eine Frau geprallt, die ein funkelndes Messer schwang.
»Aah!«, schrie er und wich hastig zurück.
»Keine Bange, solange du kein Kuchen bist, bist du vor mir in Sicherheit«, scherzte MrsSterling lächelnd.
»Oh … tut mir leid, MrsSterling«, entschuldigte Logan sich verlegen.
»Diesmal vergebe ich dir, junger Mann«, sagte sie und wandte das Messer leicht in seine Richtung. Ihr dunkles Haar war zu einem Knoten hochgesteckt und ihr orange-schwarzes Kleid war aus irgendeinem glänzenden Material. Dazu trug sie geschätzt fünf Kilo Schmuck: An ihren Ohren baumelten Diamanten, an ihren schmalen Handgelenken prangten auffällige Reife und um den Hals hing in einer Fassung aus Silber und Gold eine gigantische Perle.
Logans Mom hätte nichts von all dem auch nur ins Haus gelassen. Sie trug an einer Hand ihren Ehering und an der anderen einen schwarz-silbernen, und das war für gewöhnlich alles, abgesehen von ihrem Bettelarmband. Schmuck wäre nur im Weg, wenn sie sich mit Chimären herumschlagen musste – oder was sie sonst während ihrer geheimen Arbeit als Fährtenleserin so tat.
»Jasmin hat mir erzählt, dass ihr schon geht?«, wandte MrsSterling sich an Blue. Als er nickte, zog sie eine gespielte Schnute. »Wie schade! Ich hoffe, wir sehen dich wieder … bald.«
Als Ausstellungsstück in eurem Freizeitpark?, überlegte Logan. Hundertprozentig wusste sie, dass Blue zu den Meermenschen gehörte, nachdem die Sterlings auch sonst über alles Bescheid zu wissen schienen. Wahrscheinlich wusste sie auch, dass Keiko eine Kitsune war. Auf einmal spürte er Wut in sich aufflammen. Blue und Keiko waren keine Freaks, die man begaffen konnte, sie waren seine Freunde. Na ja, Keiko war eher die unberechenbare, griesgrämige kleine Schwester einer Freundin, aber trotzdem. Logan würde alles tun, um sie, Blue und die ganze Menagerie zu beschützen.
»Komm schon«, sagte Logan, nahm Blue am Arm und zog ihn weiter. Er konnte regelrecht fühlen, wie sich MrsSterlings Augen in seinen Rücken bohrten, während sie die Küche verließen, als würde sie denken: Ich weiß, wohin ihr geht. Und bald schon wird es mir gehören.
KAPITEL 2
In der Eingangshalle stießen Blue und Logan auf Jasmin, die mit dem Kinn auf ihren Händen und den Ellbogen auf den Knien auf der Treppe hockte und traurig ins Leere starrte. Ihr Meerjungfrauenschwanz fiel ihr wie ein grüner, glitzernder Wasserfall über die Füße, während ihr Haar einen dunklen Schleier über den schmalen Schultern bildete.
Blue zögerte, warf Logan einen entschuldigenden Blick zu und ging schließlich zu ihr, um sich neben sie auf die Stufe zu setzen. Behutsam legte er ihr eine Hand auf den Rücken.
»Es tut mir leid, dass wir nicht bleiben können«, sagte er. »Es wird ganz bestimmt noch eine total coole Party.«
»Natürlich«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Meine Partys sind immer total cool. Ihr verpasst was.« Kurz blickte sie ihm in die Augen, bevor sie sich abwandte und die Arme um die Beine schlang.
Blue strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, klemmte sie hinter Jasmins Ohr, beugte sich zu ihr und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange. »Bis Montag«, nuschelte er, während er schon aufsprang und zur Tür sprintete, als hinge sein Leben davon ab.
Keiko wartete bereits draußen, daher war Logan der Einzige, dem das hoffnungsvolle Strahlen auffiel, das sich auf Jasmins Gesicht ausbreitete. Er winkte ihr zum Abschied und folgte Blue ins Freie.
»Kein Wort!«, warnte Blue ihn, als sie die lange Auffahrt hinunterliefen, vorbei an den unheimlichen Kürbislaternen. Auf dem Hinweg war es Logan gar nicht aufgefallen, doch jetzt erinnerte ihn die Hälfte der Schnitzereien an Fabeltiere. War das dort etwa ein Oktopus oder doch ein Kraken? Der da könnte ein normaler Geist sein … oder aber der Yeti, den die Sterlings einkerkern und ausbeuten wollten. Und der dort hinten war eindeutig ein Drache, dessen orange glühende Augen Logan böse anzufunkeln schienen.
»Ich sag ja gar nichts«, wehrte Logan ab. »Jasmin scheint … ganz in Ordnung zu sein, wenn man sie erst besser kennt.«
»Jepp.« Blue kickte einige Kiesel weg. »Eigentlich ist sie kein bisschen so, wie sie sich in der Schule inzwischen gibt. Es war immer total super, mit ihr abzuhängen, bevor … vor der ganzen Sache mit Jonathan. Ich kapier’s nicht, Logan. Wie können die Sterlings Bescheid wissen?«
»Agentin Dantes meinte doch, dass Krakentinte bei manchen Leuten weniger stark anschlägt«, fiel Logan ein. »Vielleicht hat Ruby ihnen nicht genug gegeben.«
»Oder sie hat ihnen gar nichts gegeben«, meinte Blue grimmig.
»Wow«, entfuhr es Logan. »Und dann alle angelogen und behauptet, sie hätte es doch getan? Das wäre so unfair Zoe gegenüber.«
»Kannst du laut sagen«, gab Blue ihm recht. »Zoe hat Jasmins Gedächtnis ausradiert und ab da kein Wort mehr mit ihr gesprochen, um die Menagerie zu beschützen. Das war so ziemlich das Schlimmste, was sie je machen musste. Und wenn alles umsonst war … wenn Ruby den anderen Sterlings gar nichts verabreicht hat …«
»Dann sollten wir sie einem … einem … Welches Fabelwesen ist das gefährlichste? Jedenfalls sollten wir sie dem zum Fraß vorwerfen!«, meinte Logan.
»Ja!«, rief Blue. »Wir sollten sie an einen Pyrosalamander verfüttern!«
Die winzigen feuerfressenden Eidechsen waren nicht ganz das, was Logan vorschwebte. Er hatte an etwas Größeres mit mehr Zähnen gedacht.
»Du bist die nächsten Monate lang für meine Mathehausaufgaben zuständig«, informierte Keiko Blue, als sie am Fuß der Auffahrt zu ihr aufschlossen. »Und was dich angeht – wie steht es um dein Spanisch?«, wandte sie sich an Logan.
»Keiko, wenn du hörst, warum wir wegmussten, verstehst du’s«, beteuerte Blue. »Du bist auch in Gefahr.«
Sie schüttelte genervt den Kopf. »Ja, in der Gefahr, total uncool zu werden«, grummelte sie. »Vor neun von einer Sterling-Party zu verschwinden! Meine Fans werden es nicht fassen.« Sie knurrte eine vorbeilaufende Gruppe Kinder an, die auf Süßes,–sonst-gibt’s-Saures-Fangzug waren, und ein winziger Pirat versteckte sich kreischend hinter seiner Mama.
Als sie wenig später in die Einfahrt von Zoes Zuhause bogen, atmete Logan erleichtert auf. Das ausladende Gebäude sah noch genauso aus wie vorhin, als sie es verlassen hatten. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine gewaltige Mauer, die direkt an das Haus anschloss und die Menagerie vor neugierigen Blicken abschirmte. Alles schien friedlich.
»Oh, sieh sich das einer an!«, keifte Keiko. »Alles steht noch. Ich hätte mindestens einen rauchenden Trümmerhaufen erwartet nach der ganzen Extrem-Panikmache.«
»Wie schafft ihr es eigentlich, dass keiner sich darüber wundert, was hinter der Mauer ist?«, wandte Logan sich an Blue. »Die Sterlings müssen hier jeden Tag vorbeifahren – aber sie können ja kaum die Einzigen sein, die je neugierig waren, was sich dahinter für ein riesiges Gelände versteckt.«
»Liegt an der Sache«, meinte Blue vage.
»Der Sache?« Logan stutzte.
Blue schnitt eine Grimasse. »Wir haben ein … na ja, du weißt schon.«
Logan blinzelte verdutzt. »Nein, weiß ich nicht. Woher denn? Wovon redest du, Mann?«
Blue fuchtelte mit den Händen nichtssagend in der Luft herum. »Na … die Sache.«
»Blue! WELCHE Sache?«
»Das Dingsda, das dafür sorgt, dass man nicht drüber nachdenkt, damit – Hey, deine Perücke rutscht runter.« Blue schien nicht einmal zu bemerken, dass er mitten im Satz das Thema wechselte.
Logan zog sich die Werwolfperücke vom Kopf und strubbelte sich durchs Haar. Wenn er Blues komisches Gerede richtig verstand, gab es irgendein Gerät, das dafür sorgte, dass niemand etwas bemerkte, und es funktionierte für das ganze …
Die Eingangstür flog auf. Im Rahmen erschien ein Vampir in einem langen, eng anliegenden roten Kleid, der ihnen fauchend seine Fangzähne entgegenreckte.
»HAPPY HALLOW– Ach, ihr seid das nur«, empfing Ruby sie.
»Pass bloß auf, dass dich kein echter Vampir in dem Aufzug sieht«, meinte Blue, der sie missbilligend musterte. »Die Zähne sind die totale Beleidigung. Und warum glitzern deine Arme? Bist du ein Vampir oder eine Fee?«
»Ich bin nicht als echter Vampir verkleidet.« Zoes Schwester Ruby schniefte hochnäsig, während sie ihre schwarze Perücke zurechtrückte. »Ich bin ein Twilight-Vampir.«
»Ist ja viel besser«, entgegnete Blue voll trockener Ironie. »Wenn du diese Bücher in Gegenwart eines echten Vampirs erwähnst, wirst du garantiert gebissen. – Solltest du dir merken«, fügte er an Logan gewandt hinzu. »Gilt als Provokation.«
»Alles klar, danke«, sagte Logan, der ihm ins Haus folgte, während Ruby die Treppe hinaufglitt.
Ein pelziger Kopf mit zwei gigantischen flatternden Ohren lugte um die Ecke.
»TIIIIIIIEEEEE-WIIIIEEEEEE-NUUUU!!!«, trompetete das Mammut aufgeregt, während es in den Flur wetzte.
»Igitt, nein, hau ab!«, kreischte Keiko, als Käpten Fuzzbutt sie mit seinem Rüssel umarmen wollte. »Wage nicht, mich anzufassen, du übergroßer Fellelefant!« Sie puffte ihn beiseite, woraufhin das Mammut sich gut gelaunt an Logan wandte und ihm seinen Rüssel entgegenreckte. Logan ging zu ihm und gab dem Mammut den Begrüßungs-Fauststoß, auf den es gewartet hatte.
Da tauchte hinter dem Käpten Zoe auf. »Warum seid ihr denn so früh zurück? Ist mit Jasmin alles okay?« Misstrauisch schaute sie zu Blue.
»Die haben mich zum Gehen gezwungen«, empörte Keiko sich. »Offenbar steht das Ende der Welt kurz bevor. Hast du noch nichts bemerkt? Ich muss mir jetzt Mammut-Schlabber aus den Haaren waschen, wenn ihr mich also –«
»Warte, Keiko«, hielt Blue sie auf. »Du solltest das auch hören. Zoe, wo sind deine Eltern?«
»In der Küche«, sagte sie, während sie nervös ihre Hände rang. »Was ist denn los?«
Logan holte sein Handy aus der Tasche, während einer nach dem anderen die Küche betrat, allen voran Blue. MrsKahn las aus einem Kochbuch vor, während Zoes Dad einen labbrigen Klumpen Haferteig zu gigantischen Hundekuchen formte. Zu ihren Füßen hockten zwei der Höllenhunde und bedeckten ihre Pfoten mit Sabberpfützen. Im Raum duftete es nach Kürbisbrot und aus der Stereoanlage in der Ecke drang leise Cellomusik. Logan konnte sehen, dass Zoes älterer Bruder, Matthew, am großen Tisch nebenan Hausaufgaben erledigte.
Alles wirkte so friedlich. Logan wünschte, nicht derjenige sein zu müssen, der ihnen die Nachricht überbrachte, dass ihre Sorgen doch noch kein Ende hatten. Erst gestern war die Menagerie knapp einer Schließung durch FABA – den »Fabeltierartenschutz«, wie die Kahns die Behörde zum Schutz Magischer Wesen getauft hatten – entkommen. Logan und Zoe hatten Pelly, die entführte Gans, die goldene Eier legte, gefunden und zurückgebracht, außerdem hatten sie Scratch, einen ihrer Drachen, davor gerettet, für den angeblichen Mord an Pelly hingerichtet zu werden. Logan hatte gehofft, dass sie alle nun endlich Zeit zum Durchschnaufen hätten – und vielleicht sogar dazu, sich zu überlegen, wie sie seine Mom finden könnten.
Doch heute Abend stand erst mal anderes auf dem Plan. Er öffnete das Foto der Karte und hielt Zoe sein Handy unter die Nase.
»Das hier haben wir im Arbeitszimmer von MrSterling gefunden«, sagte er.
Lange starrte Zoe darauf, bevor sie das Handy ihrer Mutter reichte und einige Tränen wegblinzelte. Als Käpten Fuzzbutt sich an sie schmiegte und den Rüssel um ihren Arm schlang, drehte sie sich zu ihm, um ihr Gesicht in seinem Fell zu vergraben.
MrsKahn warf einen Blick auf das Bild, keuchte erschrocken und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Die Sterlings wissen über den Park Bescheid«, sagte Zoe mit erstickter Stimme.
»Das kann nicht sein«, meinte Robert Kahn und nahm seiner Frau Holly das Handy ab. Er zoomte in das Bild hinein und begutachtete es ausgiebig, während er sich mit einer Hand durchs Haar fuhr, sodass es in erschreckten Büscheln abstand. »Ein Freizeitpark«, murmelte er. »Das muss der Grund sein, weshalb MrSterling ringsum so viel Land aufgekauft hat. Aber wie … warum …?«
Keiko schnappte sich das Handy und musterte es düster. »Im ERNST: Kitsune-Pavillon? Ich hab eine bessere Idee – wie wäre es mit einem Sterling-Pavillon, in dem man die ausgestopften Köpfe sämtlicher Sterlings bestaunen kann, die ich jagen und zerfleischen werde?«
»Lass mal sehen.« Matthew lehnte sich über die Durchreiche zu ihnen. Logan nahm Keiko das Handy ab und drückte es ihm in die Hand. »Heiliger Chupacabra!« Zoes Bruder pfiff leise durch die Zähne. »Wenn das mal kein Fall für eine Megadosis Krakentinte ist! Stimmt’s? Wahrscheinlich brauchen wir sogar FABA, damit sie Ordnung schaffen. Und die Sterlings müssen wir natürlich ordentlich volldröhnen. Ich melde mich freiwillig, um Jonathan in den Schwitzkasten zu nehmen!«
»Ich verstehe das nicht.« Holly Kahns Stimme brach. »Ruby … Ruby hat gesagt …«
»RUBY!«, brüllte Zoes Dad. »RUBY, KOMM SOFORT HIER RUNTER!«
»Oohh«, flötete Keiko und hüpfte elegant auf den Küchentresen. »Das wird ein Spaß!«
»Mir war von Anfang an klar, dass Jonathan ein falscher Hund ist«, sagte Matthew mit Nachdruck. »Ich wusste, dass Ruby falschlag – ich wusste einfach, dass er seinen Eltern alles erzählen würde. Er hat schon immer versucht, seinen Dad mit komplett bescheuerten Aktionen zu beeindrucken, wie mit irgendwelchen Sportarten, obwohl er sie hasst. Ich wette, er hat die Jackalope geklaut, um sie MrSterling zu zeigen. Hundertpro, dass sie schon seit Monaten planen, die Menagerie auffliegen zu lassen!«
»Dem gehen wir auf den Grund!«, sagte sein Vater. »RUBY!«
»WAS DENN?«, rief Ruby genervt, als sie in die Küche stolzierte. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und wühlte in den Süßigkeiten der Halloween-Schale herum. »Kein Grund, mich anzubrüllen. Igitt, wer hat denn den ganzen Karamellmais gekauft? Ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass hier keine Schokolade drin ist?«
»Ruby«, sagte MrsKahn gefährlich leise.
Als Ruby stutzig aufblickte, bemerkte sie endlich die grimmigen Mienen um sich herum. »Oh-oh«, sagte sie. »Oh nein. Was ist passiert? Was hat Zoe jetzt wieder ausgefressen?«
»ICH?!!!«, schrie Zoe.
»Ruby«, sagte MrKahn. »Hast du uns angelogen, als du behauptet hast, Jonathan und seinen Eltern Krakentinte gegeben zu haben?«
»Was? Nein!«, rief Ruby – ein bisschen zu schnell, fand Logan. Sie wich den Blicken der anderen aus und stand auf, um sich das dunkle Haar ihrer Perücke über die Schulter zu werfen. »Wie könnt ihr so was überhaupt nur denken? Ihr wisst doch, was ich für ein riesiges Opfer bringen musste! Ich habe meine vielleicht einzige Chance auf wahre Liebe aufgegeben! Ich könnte mein Leben lang emotionale Narben davontragen!«
»Dann hast du ihnen definitiv Krakentinte zu trinken gegeben?«, hakte MrsKahn nach. »Allen dreien?«
»Was denn sonst?« Ruby stemmte die Hände in die Hüfte. »Das ist echt die Höhe! Ich fass es nicht, dass ihr mir nicht glaubt!«
Ihre Eltern musterten sie eine ganze Weile, während Ruby ihren prüfenden Blick mit trotzig erhobenem Kinn erwiderte.
»Matthew«, sagte MrKahn schließlich. »Hol das Qilin.«
Ruby und Zoe blieb der Mund offen stehen. Matthew legte Logans Handy auf die Theke und verschwand blitzschnell durch die Schiebetüren in die finstere Nacht.
Daran hatte Logan noch gar nicht gedacht, aber es war eine clevere Idee. Das Qilin – eine Art chinesisches Einhorn – konnte feststellen, ob jemand schuldig oder unschuldig war. Das Qilinmädchen Kiri, das im Augenblick bei ihnen wohnte, hatte bei Scratchs Prozess eine wichtige Rolle gespielt und würde am Sonntag zurück ins Fährtenleserlager Camp Underpaw reisen. War man unschuldig, wurde ihr Horn gelb, war man schuldig, nahm es eine blaue Farbe an.
»Ihr wollt mich einem Qilin vorführen?«, rief Ruby empört und wedelte melodramatisch mit den Händen. »Wie könnt ihr nur? Wo ist euer Vertrauen? Wo der Glaube an mich? Ich bin eure Tochter! Ich weigere mich, hier zu stehen und mich von euch wie ein gewöhnlicher Drache befragen zu lassen!«
»Das ist eine sehr ernste Sache, Ruby«, meinte MrsKahn. »Mehr als ernst.«
»Und ob!«, rief Ruby. »Eurem eigen Fleisch und Blut zu misstrauen! Sie mit schiefen Einhörnern zu bedrohen! Wenn ich meinen Facebookfreunden davon erzählen könnte, wären die so was von entsetzt!«
MrKahn nahm Logans Handy und hielt es ihr vors Gesicht. »Fällt dir etwa eine andere Erklärung für das hier ein?«
Ruby machte eine konzentrierte Miene und studierte die Karte. Einige Male tippte sie auf den Bildschirm, bewegte das Foto, zoomte hinein und heraus.
»Soll das ein schlechter Witz sein?«, fragte sie schließlich.
»Das«, sagte ihr Vater, »ist, was deine Freunde, die Sterlings, mit unserer Menagerie vorhaben.«
»Sieh dir nur an, was sie alles wissen!«, rief MrsKahn. »Nie und nimmer könnten sie sich an so viel erinnern, wenn du ihnen die Tinte wirklich gegeben hättest.«
Ruby berührte unbewusst eins der schimmernden roten Herzen, die an ihren Ohren baumelten. »Nein«, hauchte sie. »Auf keinen Fall! Jonathan würde so was nie zulassen. Er liebt mich!«
»Liebt?«, platzte Zoe anklagend heraus. »Gegenwart?«
Die gläserne Schiebetür im Wohnzimmer glitt auf und Matthew kam in Begleitung des zarten Qilins herein. Käpten Fuzzbutt winkte ihr fröhlich mit dem Rüssel zu, als Kiri leichtfüßig über die Küchenfliesen trippelte. Ihre kleinen Hufe verursachten nicht das geringste Geräusch, und Logan spürte, wie die Ruhe und der Frieden ihrer Aura den Aufruhr in seinem Inneren besänftigten.
Gespannt hielt er den Atem an. Log Ruby?
Das Qilin warf Ruby einen einzigen Blick zu und umgehend wurde ihr Horn blau.
Schuldig.
KAPITEL 3
Zoe starrte auf das glühend blaue Horn des Qilins.
Ruby hatte sie belogen. Sie hatte die gesamte Menagerie in Gefahr gebracht, und alles nur wegen eines bescheuerten, heimtückischen Jungen! Sie hatte sämtliche Regeln gebrochen, mit denen sie aufgewachsen waren. Zoe konnte sich so etwas nicht einmal vorstellen – würden ihre Eltern sie bitten, zur Sicherheit der Tiere etwas zu unternehmen, dann würde sie es machen, sofort und ohne Umschweife.
Genau genommen hatte sie genau das getan. Sie hatte Jasmin Krakentinte verabreicht. Sie hatte ihre beste Freundin aufgegeben.
Zoe streckte die Hände nach Käpten Fuzzbutt aus und fühlte, wie sich der Rüssel des Mammuts tröstend um ihre Taille wickelte.
»Danke, Kiri«, sagte Zoes Dad.
Das Qilin nickte ihm zu, bevor es sich umdrehte und zurück in den Park schritt.
Ruby gab sich geschlagen. »Na gut, meinetwegen!« Sie donnerte Logans Handy auf den Tresen, und Zoe sah, wie er zusammenzuckte. »Ich hab Jonathan keine Tinte gegeben, okay! Was uns verbindet, ist wahre, ewige Liebe!«
»Ist dir denn ganz egal, in welche Gefahr du die Menagerie gebracht hast?«, wollte MrKahn wissen. »Er hat immerhin versucht, eine Jackalope zu stehlen – kannst du dir vorstellen, was passiert wäre, wenn er Erfolg gehabt hätte?«
Zoe hatte ihren Vater noch nie so fassungslos erlebt – oder vielleicht wäre ein besserer Ausdruck: »betrogen«. Zumindest traf es das, was sie gerade fühlte, auf den Kopf. Mom und Dad hatten ihr, Ruby und Matthew immer vertraut. Sie hatten so ziemlich alles machen dürfen, solange eine einzige Regel befolgt wurde: Beschützt die Menagerie.
»Ich kann nicht glauben, dass du uns angelogen hast!«, sagte MrsKahn.
»Ich schon«, meldete Keiko sich zu Wort. »Sie ist eine Megalügnerin. Das ist ja noch nicht mal ihre richtige Haarfarbe!«
»Und dann auch noch für Jonathan!«, schimpfte Matthew. »Diesen hinterlistigen, falschen Idioten!«
»Er ist kein Idiot!«, brauste Ruby auf, warf die Hände in einer melodramatischen Geste in die Höhe und wedelte aufgebracht mit ihren Ärmeln wie mit Flügeln. »Ihr versteht ihn nicht! Keiner von euch! Er ist ein guter Mensch! Er ist wundervoll und ein Held!«
»Er ist ein Dieb«, sagte Matthew, »und ganz offensichtlich hat er dich angelogen, wenn du nichts von dem Plan für diesen Freizeitpark weißt.«
»Er weiß bestimmt auch nichts davon«, beteuerte Ruby. »Er hat die Jackalope für einen guten Zweck gestohlen! Wofür sich übrigens keiner außer mir interessiert hat!«
Matthew verschränkte die Arme. »Ach wirklich? Und was für ein guter Zweck soll das sein?«
»Er hat es für Jasmin getan«, verkündete Ruby, als stünde sie mitten auf einer Bühne am Broadway im Scheinwerferlicht, umgeben von bläulichem Nebel. Eine Hand presste sie auf ihr Herz, während sie Zoe einen mitleidigen Blick zuwarf. »Er wollte sie retten.«
»Wovor retten?«, wollte Zoe wissen. In ihrem Magen zwickte und rumorte etwas. »Wovor wollte er sie retten, Ruby?«
»Es tut mir leid, Zoe«, seufzte Ruby. »Jasmin ist schwer krank.«
»Blödsinn!«, brüllte Zoe. Käpten Fuzzbutt ließ sie los und wich mit einem besorgten Tröten vor ihr zurück. Zoe ballte die Fäuste, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. »Das ist schon wieder gelogen!«
»Es stimmt!«, schrie Ruby zurück. »Jonathan hat es mir gesagt!«
»Jetzt beruhigt euch!«, sagte MrKahn. »Ruby, wovon redest du?«
»Jasmin …«, Ruby machte erneut eine dramatische Pause, »hat eine schreckliche, geheime Krankheit«, flüsterte sie.
»Nein. Davon wüsste ich«, sagte Zoe wütend. »Sie würde mir so was nie im Leben verschweigen.« Oder doch? War sie die ganzen Monate über krank? Hab ich sie im Stich gelassen, als sie mich am dringendsten gebraucht hätte?
»Jonathan hat dir erzählt, dass er die Jackalope mitgenommen hat, weil er seine Schwester heilen wollte?«, hakte MrKahn mit einem besorgten Seitenblick zu Zoe noch einmal nach. »Wovon? Was hat sie?«
»Ach, ich weiß auch nicht«, meinte Ruby abwinkend. »Es klang irgendwie wie … Sarkophagus? Es fällt mir nicht mehr ein. Jedenfalls ist es wirklich furchtbar.«
»Möglicherweise hat er dich nur von hinten bis vorne belogen«, gab Matthew zu bedenken. »Das würde zu ihm passen.«
»Warum hast du uns nichts davon gesagt?«, wollte Zoe wissen. »Wie konntest du mir nichts davon erzählen, wenn du wirklich dachtest, dass es stimmt?«
Ruby wickelte sich eine Perückensträhne um den Finger und seufzte. »Jonathan meinte, seine Familie wolle nicht, dass sonst jemand davon erfährt. Ist auch egal, als er mir davon erzählte, war es eh schon zu spät – ihr hattet mich bereits mit der Krakentinte rübergeschickt. Und seinen Eltern habe ich sie gegeben, nur mal so am Rande, egal, was ihr glaubt. Aber sobald ich Jonathans wahre, ritterliche Gründe kannte, konnte ich ihm das nicht antun, also haben wir … einfach so getan, als hätte ich ihm die Tinte verabreicht.«
»Moment!« MrKahn rieb sich die Stirn. »Willst du damit etwa sagen, dass du Jonathan darüber informiert hast, was Krakentinte auslöst?«
Ruby biss sich auf die Lippe. »Na ja, ich … ich musste ihm ja erklären, warum er so tun muss, als wären wir nie miteinander ausgegangen.«
»Ruby.« MrsKahn schüttelte traurig den Kopf. »Wie sollen wir die Sterlings dazu bringen, die Menagerie zu vergessen, wenn sie längst vor Krakentinte gewarnt sind?«
»Jonathan hätte den anderen nie etwas verraten! Das würde er mir nicht antun! Das ist völlig verrückt!«, schrie Ruby.
»AAAAOOOORRÖÖÖÖÖÖ!!!« Käpten Fuzzbutt stürmte aus seiner Deckung hinter Zoe und trampelte aufgescheucht durchs ganze Wohnzimmer. Die Erschütterungen seiner großen Füße ließen die Bücher aus den Regalen hüpfen und warfen eine Vase mit gelben Lilien auf einem Beistelltischchen um.
»Fuzzbutt!« Zoe rannte zur Schiebetür, die in den Park führte, und stieß sie auf. »Helft mir, ihn rauszubringen!«
Logan, Blue und Matthew eilten hinzu, um dem Mammut den Weg abzuschneiden und es auf den Ausgang zuzudrängen. Fuzzbutt rollte mit den Augen und trompetete erneut, stapfte dann mit den Füßen auf – und verschwand wie ein Blitz in der Dunkelheit.
»Ich gehe ihm nach«, sagte Zoe zu ihren Eltern.
»Geht’s dir gut?«, fragte ihr Dad.
»Ja, ja, ich muss … ich brauch nur frische Luft.« Sie duckte sich zur Tür hinaus und rannte den Hügel hinab.
Käpten Fuzzbutt kauerte neben dem Einhornstall und ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. Die kühle Luft roch nach Nadelbäumen und eine frische Brise strich über Zoes Haut. Sie wünschte, sie hätte eine Jacke mitgenommen, aber unter keinen Umständen würde sie jetzt zurück zum Haus oder auch nur in Rubys Nähe gehen.
»Sei nicht traurig«, tröstete sie das Mammut und schlang die Arme um eins der gigantischen Beine. »Wir streiten nur. Das kommt alles wieder in Ordnung.«
Wie gerne würde sie selbst daran glauben. Wie gerne wüsste sie, was sie überhaupt noch glauben sollte! War Jasmin wirklich krank? Oder war Jonathan ein verlogener Schuft, ein Betrüger und ein Dieb?
Als sie sich umdrehte, weil sie hinter sich Schritte hörte, entdeckte sie Blue und Logan.
»Ihr wisst, was wir machen müssen«, sagte sie.
»Eine Jackalope fangen, melken und einen Weg finden, Jasmin am Montag das am übelsten stinkende Gesöff der Welt in die Cola zu mischen?«, riet Blue. »Kein Thema.«
»WAS?«, entfuhr es Logan.
»Ganz genau«, sagte Zoe. »Nur können wir nicht bis Montag warten. Wir müssen einen Weg finden, es ihr morgen zu geben.«
»Sie wirkt völlig okay«, meinte Blue. »Ist doch viel wahrscheinlicher, dass Jonathan sich alles ausgedacht hat, oder? Echt jetzt, Zoe, ich glaube, es geht ihr gut.«
»Und wenn nicht …?« Zoe verschlug es die Sprache. »Falls auch nur eine winzige Möglichkeit besteht, dass Jasmin schlimm krank ist und ich … ich sie einfach alleingelassen habe … Ich war die schlimmste Freundin, die man sich nur vorstellen kann, dabei … vielleicht wird sie …«
Sie versteckte das Gesicht in ihren Händen. Da legte sich ein Arm um ihre Schultern, und sie drehte sich um und ließ zu, dass Logan sie tröstend an sich drückte. Es tat gut, doch gleichzeitig musste Zoe daran denken, dass Jasmin all die Monate lang keinen Freund gehabt hatte, der sie tröstete.
»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte sie schließlich und machte sich los. »Möglich, dass Jackalopen mitten in der Nacht müde und leichter zu fangen sind. Käpten, du bleibst hier.«
Das Mammut stieß einen klagenden Laut aus, bevor es sich auf die Seite plumpsen ließ.
»Ähm«, machte Logan, als er ihr zu dem Weg folgte, der um den See herum führte. »Ich bin natürlich dabei, keine Frage. Aber was genau ist der Plan?«
»Jackalopenmilch heilt angeblich alles«, antwortete Blue. »Sie ist nur ein bisschen unzuverlässig. FABA lässt sie schon seit Jahren untersuchen, weil sie rausfinden wollen, wie man sie verlässlich herstellen kann, um sie weltweit als Medizin einzusetzen. Es ist nur so: Sie wirkt nicht immer, außerdem müssen sie sich eine Erklärung einfallen lassen, wo das Zeug herkommt. Und dann gibt es da noch diese seltene Nebenwirkung, bei der ungefähr einem Prozent der Leute, die sie trinken, ein Geweih wächst. Die stecken also noch mitten in der Testphase.«
»Aber Jasmin …«, wandte Zoe ein.
»Hey, ich bin ganz auf deiner Seite«, versicherte Blue. »Mich braucht keiner zu überreden. Wir ziehen das durch.«
»Dann hol uns eine Thermoskanne oder so was Ähnliches«, sagte Zoe. »Aber pass auf, dass meine Eltern dich nicht sehen.«
Blue machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zum Haus.
Logan und Zoe schlichen um das Jackalopengehege, eine kleine eingezäunte Wiese in der Nähe des Kiefernwäldchens zwischen der Voliere und dem Eisskulpturengarten des Yetis. Alles war ruhig. Zoe vermutete, dass die Jackalopen in ihrem Stall schliefen – das kleine Holzhäuschen hatte große Ähnlichkeit mit einem gewöhnlichen Hasenstall, nur dass der Eingang und die Decke extra hoch waren, um genug Platz für die Geweihe zu bieten.
Zoe ging hinter einer Hecke in Deckung und gab Logan zu verstehen, dass auch er auf Tauchstation gehen sollte, dann hielt sie einen Finger vor ihre Lippen.
»Mein Name ist Hase, ich weiß Bescheid«, wisperte Logan.
»Was?«
»Im Ernst?« Logan traute seinen Ohren nicht. »Aus der … Zeichentrickserie … Habt ihr überhaupt einen Fernseher?«
»Was ist ein Fernseher?«, fragte Zoe.
Eine Weile glotzte er sie sprachlos an, dann konnte sie nicht länger ernst bleiben und kicherte hemmungslos.
»Kannst du vielleicht mal damit aufhören, mich zu veräppeln?«, beschwerte er sich und boxte sie gegen die Schulter. »Ich bin noch dabei, rauszufinden, wie ihr alle so tickt.«
»Wir sind keine Aliens, Doofkopf«, erklärte Zoe. »Und im Ernst: Wir müssen leise sein. Jackalopen können jede Stimme, die sie hören, nachahmen, also sollten wir am besten gar nicht reden, wenn wir uns gleich anschleichen. Auf die Art können sie uns nicht in die Irre führen.«
»Oh. Gut, dass du’s erwähnst.«
»Schon okay, Logan.« Zoe lächelte ihn an. »Mir ist klar, dass du noch keine Zeit hattest, sämtliche Tipps aus Matthews Leitfaden für Fährtenleser auswendig zu lernen. Keiner erwartet, dass aus dir über Nacht ein Profi wird – nicht vor nächster Woche.«
»Witzig«, meinte Logan. »Diesmal hab ich’s kapiert.«
Da kam Blue mit einer leeren Wasserflasche in der Hand angejoggt. »Hoffe, das funktioniert«, flüsterte er und ging neben ihnen in die Hocke.
Zoe spähte noch einmal zu dem Drahtstall hinüber. »Wir können nicht einfach reinfassen und sie rausziehen – die Klappe ist so konstruiert, dass sie sich sicher fühlen und so lange da drin verstecken können, wie sie wollen. Was sie für gewöhnlich immer dann machen, wenn sie uns kommen sehen. Logan und ich werden uns also vor den Hintereingang stellen, und Blue, du übernimmst den Vordereingang. Schleich dich ran und mach dann Krach. Hoffentlich flüchten sie durch die Hintertür. Wir brauchen das Weibchen, halte dich also einfach an mich, okay, Logan? Und versuch, dich nicht von ihrem Geweih aufspießen zu lassen.«
»Ha-ha?«, machte Logan. »Total witzig?«
»Nein, das kann echt passieren«, sagte Zoe. »Sie sind nicht so spitz wie Hirschgeweihe, aber von einem erwischt zu werden, ist trotzdem kein Spaß.«
»Eines Tages sollte dir jemand zur Abwechslung ein normales Haustier schenken«, meinte Logan. »Eins, das einen nicht pfählt oder beißt, Feuer speit oder plant, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Einen Goldfisch zum Beispiel.«
»Oh, du wärst baff, was manche Goldfische so alles planen«, mischte Blue sich ein.
»Ich habe Käpten Fuzzbutt«, sagte Zoe. »Er kann mir höchstens den Fuß brechen, wenn er aus Versehen drauftritt. Ansonsten ist er perfekt. Na schön – Blue, bereit?«
Blue nickte.
»Denkt dran: Nicht reden! Oder – falls es unbedingt sein muss, sagt am Anfang Banane, damit die anderen wissen, dass es keine der Jackalopen ist.«
»Banane? Im Ernst? Ein besseres Codewort fällt dir nicht ein?«, meckerte Blue.
»Von mir aus – welches willst du denn?«
»Wie wär’s mit Meermenschen rocken!?«, schlug Blue vor.
Zoe verdrehte die Augen. »Viel zu lang.«
»Obacht?«, schlug Logan vor.
»Bist du über neunzig?«, konterte Zoe.
»Fischstäbchen!«, sagte Blue.
Zoe seufzte. »Einverstanden – dann also Fischstäbchen. Und jetzt los.«
Blue salutierte, und sie teilten sich auf, um den Stall von beiden Seiten einzunehmen.
»Der Zaun ist hauptsächlich dazu da, die Höllenhunde auf Abstand zu halten«, erklärte Zoe Logan. »Die Regeln schreiben vor, dass wir ein eigenes, abgetrenntes Gebiet für die Jackalopen zur Verfügung stellen. Außerdem reiben sie sich ganz gerne an den Holzbalken – hilft ihnen beim Fellwechsel.«
Zoe klemmte sich die Haare hinter die Ohren. War das eine miese Idee? Wie viel Ärger würde sie sich einhandeln, falls ihre Eltern etwas mitbekamen? Sicher weniger Ärger als Ruby. Und sie mussten einfach verstehen, dass Jasmin es wert wäre … falls sie wirklich krank war.
Zoe glitt auf ein Loch in der Hecke zu und zwängte sich durch zwei der Holzlatten im Zaun. Logan machte es ihr nach, und beruhigt stellte sie fest, dass er dabei kein Geräusch verursachte. Schon wieder dieser angeborene Fährtenleser-Instinkt.
Während sie und Logan sich dem Stall näherten, wandte sie sich um, fing seinen Blick auf und gab ihm mit Gesten zu verstehen, dass sie linksherum gehen würde. Er nickte und schlug die Gegenrichtung ein.
Wir hätten die Nachtsichtgeräte mitbringen sollen. Zoe verpasste sich einen geistigen Fußtritt. Matthew hätte so etwas nicht vergessen. An seiner Pinnwand hing eine lange Checkliste voller Notizen, welche Fährtenleserausrüstung man brauchte, je nachdem, welches Wesen man jagte.
Doch selbst ohne Nachtsichtgerät war Zoe inzwischen dicht genug am Stall, um Einzelheiten erkennen zu können. Die rechteckige Drahtkonstruktion stand auf Stelzen etwa fünfzehn Zentimeter über dem Boden. In einer Ecke befand sich neben einem Haufen Kleeblüten eine Wasserschüssel. Den Großteil des Stalls nahm eine einfache Pappschachtel ein, die voller Papierschnipsel war und aus der Zoe zwei Geweihe ragen sah.
Das leise Geräusch schnuffelnden Atems verriet ihr, dass das Pärchen schlief. Vielleicht wird es ja leichter als gedacht.
Im selben Moment stolperte Logan. Während er sich aufrichtete, wetzten seine Füße über die Erde; wie erstarrt blieb er stehen. Zoe beäugte den Stall nervös und wagte keinen Mucks.
Eins … zwei … Vielleicht schlafen sie noch. Drei … vier …
WUUSCH!
Die beiden Jackalopen sprangen aus der Kiste und flitzten in entgegengesetzter Richtung aus dem Stall auf die Wiese.
Zoe stieß einen kleinen verärgerten Schrei aus, bevor sie auf Clover zustürmte. Nur anhand des etwas kleineren Geweihs konnte sie erkennen, welches die weibliche Jackalope war. Logan folgte Zoe und bemühte sich, Clover den Weg zu versperren.
»Hier drüben!«, hörte Zoe hinter sich ihre eigene Stimme. Es war irgendwie unwirklich. Klang sie wirklich so schrill?
»Fischstäbchen! Blue, sie läuft auf den Zaun zu!«, schrie Zoe.
»Fischstäbchen! Bin auf dem Weg!«, ertönte die Antwort.
»Warte, Blue, du läufst in die falsche Richtung!«, rief eine der Jackalopen mit Zoes Stimme.
Clover schlug einen Haken und jagte unter ein Gebüsch, um im Affenzahn auf der anderen Seite hervorzupreschen. Logan stürmte hinterher, während Zoe um den Busch herumrannte.
»Ich hab sie!«, ertönte Blues siegreiche Stimme von links. Um ein Haar hätte Zoe sich zu ihm umgedreht, bevor sie begriff, dass er das Codewort nicht genannt hatte. Unbeirrt verfolgte sie Clover, die nun über eine kleine Anhöhe sauste.
»Fischstäbchen – Zoe, Logan, wo seid ihr?«, erschallte Blues Stimme erneut, diesmal von weiter vorne.
»Fischstäbchen. Direkt hinter dir! Lauf weiter, wir haben sie fast«, rief Logan zurück.
»Fischstäbchen. Was treibt ihr? Das ist die Falsche!«, sagte Blue.
Logan wurde langsamer und warf Zoe über die Schulter einen fragenden Blick zu. Zoe musterte misstrauisch die Jackalope, die sie und Logan jagten. Nein, dachte sie, das ist ganz bestimmt Clover. Sie müssen unseren Code durchschaut haben.
»Banane, sie haben’s kapiert. Logan, lauf weiter!«, schrie sie.
Logan legte wieder einen Zahn zu, als Clover auf die Umgrenzung der Wiese zudüste. Schon konnte man weiter vorne Mondstampfers Jurte sehen. Zoe hoffte, sie würden den Yeti nicht wecken. Für jemanden mit einem so nächtlichen Namen ging Mondstampfer nämlich ziemlich früh ins Bett und wäre alles andere als erfreut, von drei Zwölfjährigen und einer Jackalope aus dem Schlaf gerissen zu werden, die durch seine Eisskulpturen preschten.
Plötzlich tauchte Blue aus der Dunkelheit auf und sprintete auf sie zu. Clovers Hinterläufe rutschten seitlich ab, als sie ihm auswich, und Logan nutzte die Gelegenheit, machte einen Hechtsprung und hielt das Hinterteil der Jackalope fest, während er den Kopf zwischen die Arme klemmte, um sich vor ihrem Geweih zu schützen.
»Fischstäbchen! Lass sie los! Du tust ihr weh!«, brüllte Zoes Stimme panisch.
»Banane, nein! Ist schon okay«, keuchte Zoe, die sich neben Logan und Clover auf die Erde fallen ließ. »Ich hab sie.« Behutsam hob sie Clover hoch und drehte die Jackalope auf den Rücken, sodass die beiden Hörner links und rechts von Zoes Arm nach unten ragten. Clover schlug mit den Hinterbeinen gegen Zoes Brust – das würde blaue Flecken geben. »Schsch, Clover, ist ja gut«, beruhigte Zoe sie.
»Dafür bekommst du großen Ärger, junge Dame«, schimpfte die Jackalope mit der Stimme von Zoes Vater – dermaßen überzeugend, dass Zoe zusammenzuckte.
Da schloss auch Blue zu ihnen auf, stemmte die Hände auf die Knie und schnaufte erst mal durch.
»Mann, bin ich froh, dass wir das hinter uns haben«, keuchte Logan.
»Der schwierige Teil kommt erst«, meinte Blue. »Jetzt müssen wir sie melken.«
»WIE BITTE? Ich habe mich wohl verhört!«, empörte sich die Jackalope, diesmal im Tonfall von Melissa Merevy, Blues Mutter. »Wer hat das genehmigt? Können Sie sich ausweisen? Ich verlange, Ihre Antragsformulare zu sehen!« Selbst wenn sie aus einem über Kopf hängenden Hasen mit Hörnern drang, war Melissas Stimme mehr als einschüchternd.
»Clover, es ist wirklich wichtig«, versuchte Zoe, sie zu überzeugen, während sie ihr sanft übers Fell streichelte. »Bitte, sei nicht böse.«
»Habt ihr das schon mal gemacht?«, fragte Logan.
»Nö«, antwortete Blue. »Kann ich nicht behaupten. FABA schickt ab und an extra ausgebildete Tierärzte zum Melken vorbei, aber es gehört nicht unbedingt zur Tagesordnung.«
»Ich habe mal gelesen, wie man es macht«, sagte Zoe. »Wir müssen sie nur vorher beruhigen.«
»Das könnt ihr laut sagen!«, grummelte Clover urkomisch in einer Imitation von Pelly. »Nachdem ihr in mein Heim eingebrochen seid, mich aus dem Schlaf geschreckt habt! Dank euch hatte ich eine Panikattacke, bei der mir praktisch das Geweih abgefallen ist! Wie könnt ihr nach diesem Martyrium auch nur annehmen, dass ich …?! Ah, ja, genau da, das juckt schon den ganzen Tag …«
Die Jackalope kuschelte sich in Zoes Arm, während Zoe sie unter dem Kinn kraulte. Clovers Gefährte Parsnip spitzte aus einem nahe gelegenen Busch, doch sobald er sich davon überzeugt hatte, dass Clover kein Leid geschah, schlich er sich wieder davon.
Etwa fünf Minuten später hörte Clovers Puls endlich auf, im Turbo zu rasen, ihre Beine entspannten sich und ihre Augen fielen zu. Zoe nickte Blue zu. »Halte die Flasche bereit.«
Während Zoe Clovers Fell glättete, holte er die leere Wasserflasche hervor. Nachdem sie Logan erklärt hatte, wie er die Flasche halten sollte, fing Zoe an, Clovers Bauch zu massieren. Langsam tröpfelte etwas Milch in den Behälter. Vor Erleichterung hätte Zoe beinahe zu weinen begonnen. Sie war nämlich ganz und gar nicht sicher gewesen, dass es funktionieren würde. Als Logan aufsah und sich ihre Blicke trafen, grinste er breit, und Zoe stellte fest, dass sie ihn ebenfalls anstrahlte.
»Wie cool!«, hauchte er. »Obwohl … Wow, was für ein Gestank! Das wird … mich eine Weile verfolgen.«
»Das ist so was von würdelos!«, beschwerte sich die Jackalope mit Zoes Stimme.
»Tut uns leid, Clover«, entschuldigte Zoe sich. »Aber es ist für einen guten Zweck.«
Clover legte den Kopf zur Seite und drehte die Augen Blue zu. »Du wirkst nicht sonderlich beschäftigt, junger Mann«, sagte sie nun wieder mit Melissas Stimme. »Du könntest zumindest meine Ohren kraulen!«
»Okay.« Blue ging hinter Clovers Kopf in die Hocke. »Aber könntest du bitte ’ne andere Stimme nehmen? Ich hätte ganz gut damit leben können, NICHT zu hören, dass meine Mom mich darum bittet, ihr die Ohren zu kraulen.«
»Die Haare könntest du dir auch mal kämmen!«, fuhr die Jackalope in Melissas strengem Ton fort. Nachdem sie die Augen geschlossen hatte, stupste sie seine Hand mit ihrer kleinen Nase an. »Und duschen. Du stinkst, als hättest du mit Tintenfischen gebadet.«