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Wenn die Logik keine Chance hat: Auf der Spur des magischen Denkens Magie regiert die Welt, die Vernunft hat das Nachsehen. Auch zweihundert Jahre nach der Aufklärung ist magisches Denken überall verbreitet. So glauben mehr als zwei Drittel der Deutschen an gute und böse Vorzeichen. Kein Wunder: Für unser Gehirn sind magische Vorgänge ebenso plausibel wie solche, die mit den Mitteln der Wissenschaft in der Natur zu beobachten sind. Nicht nur Wunderheiler und Esoteriker bedienen sich des Glaubens an Magie, auch Religion und Magie sind eng verknüpft, und selbst Medizin und Wissenschaft sind nicht frei von magischem Denken. Woher das magische Denken kommt, welche Auswirkungen es hat und warum es sich so hartnäckig hält, zeigt Thomas Grüter kritisch und anschaulich anhand vieler Beispiele.
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Seitenzahl: 387
Thomas Grüter
Magisches Denken
Wie es entsteht und wie es uns beeinflusst
Sachbuch
Fischer e-books
Francisco de Goya: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Ein Mann schläft an einem Tisch, den Kopf in die Arme vergraben, bedrängt von gespenstischen fliegenden Nachtkreaturen. Im Hintergrund verfolgt eine Katze in sphinxhafter Wächterhaltung die Szene mit weit aufgerissenen Augen. Auf dem Tisch liegen große Papierbögen und Pinsel, eine der Eulen hat ihre Krallen bereits um einen Pinsel geschlagen. Vor den Tisch ist ein Papierbogen gespannt, darauf steht in großen, hastig gepinselten Lettern der Titel der Zeichnung: El sueño de la razón produce monstruos – Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Die ungefähr DIN A5 große Radierung mit der laufenden Nummer 43 stammt von dem spanischen Maler Francisco de Goya und ist Teil einer Sammlung von gesellschaftskritischen Radierungen, die er im Jahre 1799 unter dem Titel »Los Caprichos« veröffentlichte. Sie enthielten scharfsinnige Anspielungen auf Skandale bei Hof und kritisierten unverhohlen die gesellschaftlichen Zustände, den Verfall der Moral und die unheilvolle Macht der Kirche. Nach nur zwei Tagen zog Goya die Sammlung zurück, möglicherweise unter dem Druck der Inquisition. Das Blatt Nr. 43 war vermutlich als Titelblatt vorgesehen. Es zeigt, was geschieht, wenn die Vernunft schläft: Mythische Ungeheuer erscheinen aus dem Dunkel und bedrängen die Menschen. Aber es kann auch anders verstanden werden: Die Träume der Vernunft selbst erzeugen die Ungeheuer. »Vernunft« war das Schlagwort der Aufklärer, der damaligen Radikalen, und ein eindeutig interpretierbares Bild wäre für Goya {8}lebensgefährlich gewesen. Im Rahmen der gesellschaftskritischen »Caprichos« erscheint mir deshalb die erste Deutung doch als die wahrscheinlichste.
Die Monster auf der Zeichnung kommen nicht von außen: Sie wohnen in unserem Gehirn als legitime Nachkommen evolutionär bewährter Strukturen. Nur die einzigartige Fähigkeit des Menschen zum abstrakten logischen Denken und zur rationalen Beurteilung von Informationen kann sie in Schach halten.
Dieses Buch möchte Sie zu einer Reise durch die menschliche Irrationalität einladen. Woher stammen die Dämonen des magischen Denkens, und warum arbeitet unser Gehirn nicht rational? Wieso haben die Menschen Götter erfunden, und warum glauben sie an die Unsterblichkeit ihrer Seelen? Welcher Grad der Unvernunft ist normal, und wann wird er zum Symptom einer Geisteskrankheit?
Das menschliche Denken nutzt zwei unterschiedliche und getrennt arbeitende Systeme: Das nur beim Menschen voll ausgeprägte analytisch-rationale und das entwicklungsgeschichtlich sehr viel ältere Erfahrungssystem. Das Letztere arbeitet mühelos, intuitiv, gefühlsbetont und vorbewusst. Das rationale System hingegen muss man bewusst anwerfen. Es arbeitet langsamer, mühsamer und abstrakter. Zwar haben die Vorfahren der Menschen im Laufe der letzten Jahrmillion das abstrakte logische Denken zu einem einmaligen Instrument des Überlebens ausgebaut, aber das uralte Erfahrungssystem existiert weiter. Es steuert nach wie vor unsere Gefühle und gewinnt oft genug gegen die Vernunft. Im Spannungsfeld dieser beiden Systeme entsteht das magische Denken.
Über Zehntausende von Jahren haben die Menschen Zauberei, Wunder und göttliche Eingriffe für selbstverständliche Phänomene einer gottgegebenen Ordnung gehalten oder die Hexerei als Teufelswerk bekämpft. Sie glaubten daran, dass Priester, Schamanen, Magier und Hexen eine reale Macht über die Kräfte der Natur besaßen. Erst die Philosophen der Aufklärung betonten die Wichtigkeit der Vernunft, und die aufkommenden Naturwissenschaften {9}haben viel dazu beigetragen, die Ungeheuer der Unvernunft zu verjagen. Trotz aller Erfolge der Naturwissenschaft ist magisches Denken aber auch in den westlichen Gesellschaften keineswegs verschwunden, im Gegenteil: Der erstaunliche Erfolg esoterischer Bücher und Filme zeigt den ungebrochenen Einfluss magischer Ideen. Ein Kapitel dieses Buchs führt deshalb vor, wie einfach es ist, ein eigenes überzeugendes Esoteriksystem aufzubauen, wenn man nur die richtigen Schlagworte benutzt.
Auch in der Medizin spielt magisches Denken bis in die Gegenwart eine große Rolle. In Deutschland privilegiert der Gesetzgeber magische Heilsysteme ausdrücklich gegenüber den Standardtherapien. Das Buch erläutert, wie sich die Medizin entwickelte und warum sie sich bis heute nur unzureichend von irrationalen Methoden befreien konnte.
Religion hingegen kann auf magisches Denken nicht verzichten, im Gegenteil: Sie beutet es aus und stülpt ihm ein System über. Ein Netz von Schriften, Offenbarungen und Ritualen zwängt den ungeformten Glauben an übernatürliche Kräfte in ein vorgegebenes Korsett. Diese Systematisierung des magischen Denkens lässt sich in allen Kulturen beobachten, sie ist also offenbar eine Konstante menschlicher Gemeinschaften. Deshalb wird das Buch untersuchen, auf welche Weise Religion aus magischem Denken entstehen könnte.
Selbst die moderne Naturwissenschaft hat irrationale Aspekte. Immer wieder tauchen aberwitzige Theorien und Behauptungen auf, die sich oft erstaunlich lange halten. Auch Wissenschaftler sind nur Menschen und verfallen immer wieder in archaische Denkmuster. Wie sehr einige Schulen der Wissenschaftssoziologie in magische Betrachtungen der Wirklichkeit abgeglitten sind, zeigt beispielsweise der Skandal um eine satirische Veröffentlichung des Physikers Alan Sokal. Den Hintergründen und Folgen ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Das Buch möchte dabei helfen zu erkennen, wie magisches Denken entsteht, welche Folgen es hat und wie man es vermeidet. Die {10}Vernunft wohnt als Begabung im menschlichen Gehirn, aber sie muss gefördert werden, wenn sie sich optimal entfalten soll. Wir werden sie brauchen. Die gewaltigen Herausforderungen, die in diesem Jahrhundert auf uns zukommen, sind nur mit dem vollen Einsatz der Vernunft zu meistern.
Im Herzen der Stadt London, unmittelbar an der ehemaligen Stadtmauer, liegt der Tower of London. Es handelt sich nicht etwa um einen einzelnen Turm, sondern um eine von zwei Mauerringen geschützte Festungsanlage direkt an der Themse. In der Mitte steht der White Tower, eine annähernd würfelförmige massive Burg, die Wilhelm der Eroberer im Jahre 1077 errichten ließ. Nach mehreren Umbauten misst die Grundfläche heute ca. 36 mal 33 Meter, die höchste Höhe beträgt 27,4 Meter. Drei der vier Ecktürme ragen schlank und kantig in den Himmel, der bullige runde Nordostturm wirkt dagegen wie ein Fremdkörper. Der Tower beherbergte in seiner langen Geschichte Könige und Verbrecher, er diente als Hinrichtungsstätte und als königliche Menagerie. Nichts davon ist geblieben. Heute findet man dort die Kronjuwelen und die Towerraben. Letztere beschützen das englische Königreich, denn einer Prophezeiung zufolge soll der White Tower zerfallen, die Monarchie stürzen und das Königreich vergehen, wenn die Raben den Tower verlassen. Neun der schwarzen Vögel wohnen dort zurzeit, umsorgt vom Raven Master, einem extra dafür bestellten Torwächter des Tower. Damit die Raben nicht etwa davonfliegen und das Königreich einem ungewissen Schicksal überlassen, sind ihre Flügel gestutzt.
Aber nicht nur das Bestehen des Towers, auch das Wohlergehen der Stadt London ist an einen Mythos geknüpft: den London Stone. Der unscheinbare, kaum tischhohe Kalkstein ist das Fragment eines ursprünglich sehr viel größeren Steins. Vermutlich stammt er aus römischer Zeit und markierte den zentralen Punkt, von dem aus die Römer die Entfernungen in der Provinz Britannien bestimmten. Solange er in der Stadt verbleibt, so geht die Sage, wird London gedeihen, wehe aber, er wird zerstört oder fortgebracht.
Solche Mythen fördern den Tourismus, weshalb die Verkehrsämter wiederum die Mythen fördern. Aber warum sind so viele Menschen von der Vorstellung fasziniert, die britische Monarchie könnte mit dem Schicksal der Towerraben verbunden sein? Dieses magische Denken ist – nicht nur unter Touristen – weit verbreitet.
Nehmen wir einmal an, ein ruchloser Antimonarchist würde tatsächlich die gefiederten Garanten des Hauses Windsor vergiften. Würde der Tower zerkrümeln und das Unterhaus die Republik ausrufen? Das wird niemand ernsthaft annehmen, trotzdem würden die meisten Menschen einen Anschlag auf die Raben als Angriff auf die Monarchie werten, weil sie automatisch von einer Verbindung zwischen Symbol und Wirklichkeit ausgehen. Auch das fällt in die Kategorie magisches Denken. Wie verbreitet diese Sichtweise ist, zeigen unter anderem die Strafen für die öffentliche Verunglimpfung staatlicher Symbole. Im deutschen Strafgesetzbuch sieht das so aus:
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3)
die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder
die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Hier handelt es sich um Taten, durch die niemand zu körperlichem Schaden kommt oder persönlich beleidigt wird. Doch nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Staaten, und sogar ihre Flaggen oder Hymnen, sind beleidigungsfähig. Berge, Flüsse oder Autos sind es nicht. Auch die Symbole von Banken oder Autoherstellern genießen keinen besonderen Rechtsschutz. Die Bundesrepublik Deutschland hingegen schützt ihre Symbole in einem eigenen {13}Paragraphen des Strafgesetzbuchs gegen Verunglimpfung. Wie erklärt sich das?
Menschen betrachten eine Beschimpfung ihrer Staatssymbole als Angriff auf die Gemeinschaft und damit auf sich selbst. Ihr Gerechtigkeitsgefühl ist verletzt und verlangt eine Strafe. Die überwiegende Mehrheit der Menschen würde also die Strafandrohung des § 90 a für gerecht halten.
Die Verbindung zwischen Symbol und Wirklichkeit ist im intuitiven menschlichen Denken fest verankert. Ein Angriff auf hochgeschätzte Symbole verletzt die Gefühle der Menschen, er ruft Abneigung, Ärger oder Wut hervor. Die Vernunft spielt dabei keine Rolle, magisches Denken gehört in den Bereich der Gefühle und der Intuition.
»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, seufzte Goethes Faust, und es gibt tatsächlich immer mehr Hinweise, dass es im menschlichen Gehirn zwei verschiedene Systeme der Informationsverarbeitung gibt: Das stammesgeschichtlich alte intuitive Erfahrungssystem und das nur beim Menschen vorkommende rationale System. Das intuitive Erfahrungssystem arbeitet schnell, vorwiegend unbewusst und berücksichtigt Gefühle. Das rationale System arbeitet langsam, analytisch, gefühlsneutral und vorwiegend bewusst. Im Zweifel gewinnt das intuitive System, und die Vernunft hat das Nachsehen. Das Bauchgefühl schlägt die Kopfentscheidung. Menschliches Denken muss nicht logisch, sondern lediglich zweckmäßig sein. Es hat über Hunderttausende von Jahren kleinen Horden von Jägern und Sammlern das Überleben ermöglicht, und zwar auf der Grundlage eines Primatengehirns, das eigentlich für Baumbewohner ausgelegt ist. Städtisches Leben kennen die Menschen erst seit höchstens zehntausend Jahren, und die Erkenntnisse moderner Naturwissenschaft bestimmen unser Leben seit weniger als zweihundert Jahren. Unser Gehirn hat sich an das Stadtleben bisher nicht anpassen können, denn die Evolution braucht viel länger für eine größere Veränderung. So beherrscht intuitives – und oftmals magisches – Denken das menschliche {14}Handeln heute ebenso wie in der Steinzeit, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen.
Beispielsweise drucken Zeitungen und Zeitschriften auch heute noch regelmäßig Horoskope. Nach einer Emnid-Umfrage im Auftrag von Bild am Sonntag vom Januar 2008 glauben 32% der 14 bis 29 Jahre alten Bundesbürger an eine gewisse Macht von Sternen und Planeten auf ihr Leben. Natürlich kennt magisches Denken Regeln und Gesetze. Manche Magie erscheint intuitiv plausibel, andere nicht.
Keines der bisher aufgezählten Beispiele beschreibt einen wirklichen Zusammenhang, also sollten die Menschen auch keine Intuition dafür entwickeln. Zahlreiche Studien haben aber das Gegenteil nachgewiesen: Beispielsweise glauben Menschen intuitiv daran, dass es öfter regnet, wenn sie das Haus ohne Regenschirm verlassen. Warum foppt uns die Intuition und gaukelt uns Zusammenhänge vor, wo keine sind? Wenn alle Menschen für diese Verzerrung der Wahrnehmung anfällig sind, müssten nicht die Wissenschaft, die Politik oder die Medizin darunter leiden? Dies und einiges mehr wird das Thema der nächsten Kapitel sein. Zunächst aber bedarf es einer Definition des magischen Denkens. Und die ist gar nicht so einfach.
Psychologen tun sich schwer mit der Frage, was magisches Denken eigentlich umfasst. Ein Beispiel:
»Der Glaube an die Fähigkeit, Ereignisse aus der Ferne zu beeinflussen, ohne dass eine physikalische Erklärung dafür bekannt wäre, wird magisches Denken genannt.«
Diese Definition stammt aus einer Arbeit von amerikanischen Psychologen im angesehenen Journal of Personality and Social Psychology aus dem Jahre 2006. Sie wirft allerdings mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Wir leben heute in einer Welt mit vielen unbestreitbaren Fernwirkungen. Rundfunk, Fernsehen, Handys oder drahtlose Computernetze sind Beispiele dafür. Die meisten Menschen sind zu Recht davon überzeugt, ihren Fernseher auf fünf Meter Entfernung mit der Fernbedienung beeinflussen zu können. Denkt der Fernsehkonsument also magisch, wenn er die physikalischen Grundlagen seiner Fernbedienung nicht kennt, oder nur dann, wenn er glaubt, dass sie auf übernatürliche Weise funktioniert? Oder ist sein Glaube völlig egal, solange irgendjemand auf der Welt die physikalische Erklärung kennt?
Viele Menschen neigen dazu, physikalisch erklärbare Fernwirkungen so zu verallgemeinern, dass die Physik ihren Beistand verweigern muss. »Strahlen« und »Felder« sind nun einmal unsichtbar und stehen deshalb im Verdacht, alle möglichen magischen Wirkungen zu entfalten, zum Beispiel chronische Müdigkeit, allgemeines Unwohlsein oder den vorzeitigen Tod von Zimmerpflanzen. Das ist aber eher ein Bauchgefühl und stammt nicht aus einer logischen Schlussfolgerung auf der Grundlage physikalischen Wissens. Andere Forscher sehen deshalb nicht die Physik, sondern das kulturelle Umfeld als Kriterium an. Die Psychologen Danielle Einstein und Ross Menzies definieren magisches Denken als eine von den Mitmenschen nicht akzeptierte Erklärung für eine Ursache-Wirkung-Beziehung. Nach dieser Definition wären die Ideen der Planetenbewegung von Galileo Galilei und von Kepler ein Beispiel magischen Denkens, ganz unabhängig davon, wie sie zustande kamen, denn sie widersprachen dem damals anerkannten Weltbild.
Andererseits sind bestimmte magische Rituale ausdrücklich kulturell anerkannt, sie können sogar gesetzlich vorgeschrieben sein. Zum Beispiel legt das deutsche Grundgesetz die Eidesformel zum Amtsantritt des Bundespräsidenten wortwörtlich fest. Der Eid an {16}sich entspringt bereits magischem Denken, denn er ruft höhere Mächte zu Zeugen eines Versprechens an. Die Festschreibung des Wortlauts macht den Eid endgültig zu einer Zauberformel, die ihre Wirkung nur entfaltet, wenn man sie buchstabengetreu rezitiert. Magisches Denken lässt sich also weder an der Existenz einer physikalischen Erklärung noch am kulturellen Umfeld festmachen. Aber was ist es dann?
Die amerikanischen Psychologen Leonard Zusne und Warren H. Jones haben ein ganzes Buch über magisches Denken geschrieben und sich deshalb sehr viele Gedanken über die Definition gemacht. Sie schreiben:
»Magisches Denken ist der Glaube, dass (a) ein Transfer von Energie oder Informationen allein wegen einer Ähnlichkeit oder einer räumlichen und zeitlichen Nähe stattfinden kann, oder (b) dass Worte oder Aktionen einen bestimmten physikalischen Effekt erzielen können, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht von den Prinzipien der normalen Übertragung von Energie oder Informationen beherrscht wird.«
Das klingt ein bisschen wie ein Paragraph aus einer EU-Verordnung, denn die Autoren haben versucht, alle Aspekte und Einschränkungen in einem einzigen Satz unterzubringen. Trotzdem ist die Beschreibung weder vollständig noch richtig. Es fehlt beispielsweise das Prinzip der Weitergabe menschlicher Eigenschaften durch Gegenstände und der Glaube an die Wirkung von Amuletten. Und was ist mit dem Glauben an Wahrsagung, an Zukunftswissen? Außerdem fehlt der Hinweis, auf welche Art der Glaube vom Typ (a) oder (b) zustande kommt, also welche Wege oder Abwege das Denken nimmt, um als magisch zu gelten. Denken ist ein Vorgang, damit hat es einen Ablauf, Zwischenschritte, Übergänge, Pfade. Alle bisher vorgestellten Definitionen urteilen nur vom Ergebnis her. Sie argumentieren also, dass ein Glaube, der nicht der Kultur oder der Physik entspricht, auf magischem Wege entstanden sein muss. Gerade geniale Neuerungen wie zum Beispiel die Quantentheorie {17}oder die Relativitätstheorie würden durch diese Definition in die magische Ecke gedrängt, obwohl sie auf strenger mathematischer Logik beruhen.
Wenn wir magisches Denken sinnvoll beschreiben wollen, müssen wir den Vorgang des Denkens in den Vordergrund rücken, nicht das Ergebnis.
Folgt man der Theorie des amerikanischen Psychologen Seymour Epstein, dann steht langsames, rationales, analytisches und verbales Denken dem schnellen, intuitiven und ganzheitlichen Denken gegenüber, wobei das magische Denken Letzterem entspringt. Mit den Mitteln der Logik, der Vernunft und der Analyse (vom altgriechischen αναλύσειν analysein »auflösen [in Einzelteile]«), einer Portion Unglauben und einer Prise Geduld kann man viele Phänomene erklären, die intuitiv übernatürlich erscheinen. Das intuitive Denken arbeitet schneller, deshalb stammt die erste Beurteilung einer Situation von dort. Wer übernatürliche Ideen grundsätzlich für plausibel hält, wird vermutlich nicht weiter nach rationalen Lösungen suchen. Der Züricher Biologe Peter Brugger und der kanadische Psychologe Roger Graves haben diese Idee Mitte der neunziger Jahre überprüft. Sie gaben Studenten folgende Aufgabe: Auf einem Computerbildschirm sollte die Abbildung einer Maus mit den Pfeiltasten in einem Spielfeld von 3 x 3 Kästchen zur Abbildung einer Mausefalle gesteuert werden. Dort angekommen, stahl die Maus entweder den Käse, oder die Falle schnappte zu. Es ging darum, mit der Maus den Käse zu holen, ohne in die Falle zu gehen. Einzige Regel: Wer mehr als vier Sekunden für den Weg brauchte, sicherte der Maus den Käse, wer schneller war, löste die Falle aus. Der Annäherungsweg war dabei ganz unwichtig. Bei der Aufgabe ging es darum, durch mehrfaches Probieren die Erfolgsregel zu finden. Wie vermutet, überprüften Teilnehmer {18}mit stärkerem Glauben an paranormale Phänomene weniger Lösungsstrategien und waren schneller bereit, an die Richtigkeit von zufälligen, aber falschen Zusammenhängen zu glauben. Zum Beispiel probierten sie einen besonders komplizierten Annäherungsweg – und hatten Erfolg, weil sie beim ersten Mal mehr als vier Sekunden dafür brauchten. Sie wiederholten ihren Weg aber nicht, was eventuell nicht mehr funktioniert hätte, sondern buchten die Strategie gleich als richtige Lösung. Am Ende hatten übrigens nur zwei von vierzig Teilnehmern die Erfolgsregel gefunden. Halten wir als erste Definition also fest:
Die unzureichend überprüfte Annahme von magischen Wirkzusammenhängen ist eine wichtige Voraussetzung magischen Denkens.
Es ist aber nur eine Voraussetzung, denn nicht jeder Irrtum ist magisch. Zwei Beispiele: Ein Forscher stellt zur Beschreibung eines Zusammenhangs eine mathematische Formel auf, doch sie erweist sich als falsch. Ein Arzt nimmt an, die Depression eines Patienten beruhe auf seinen Lebensumständen, tatsächlich leidet der Mann aber unter einer Fehlfunktion der Schilddrüse, was ganz ähnliche Beschwerden hervorrufen kann. Sowohl Forscher als auch Arzt gehen von einem falschen Zusammenhang aus, aber es wäre verfehlt, hier von magischem Denken zu sprechen. Genauer müsste man also sagen:
Das Festhalten an der Idee, ein Phänomen beruhe auf übernatürlicher Fernwirkung, obwohl man die Möglichkeit einer natürlichen Ursache nicht hinreichend geprüft hat.
Das Wort »übernatürlich« ist ein Widerspruch in sich. Geht man davon aus, dass die Wirklichkeit aus Materie und Energie besteht, {19}dürfte es übernatürliche Phänomene nicht geben. Würden sie irgendeine Wirkung auf die Materie ausüben, wären sie (per definitionem) natürliche Kräfte. Dies ist die Auffassung der Materialisten unter den Philosophen. Für sie ist der Geist nur eine Illusion, hervorgerufen durch eine besondere Konstellation der Materie. Die Welt lässt sich durch Naturgesetze vollkommen beschreiben (das heißt aber nicht, dass die Menschen alle Gesetze kennen oder finden können).
Weil aber viele magische Phänomene nach den Naturgesetzen unmöglich sind, setzt magisches Denken ein dualistisches Weltbild aus geistiger und materieller Welt voraus. Die geistige Welt müsste demnach eigene, weitgehend unbekannte Gesetze haben und auf die materielle Welt einwirken können. Eventuell wäre sogar die Welt des Geistes und der Ideen die einzig wirkliche; während die materielle Welt lediglich eine Erscheinungsform davon wäre, eine geistige Vorstellung. Diese philosophische Richtung nennt man Idealismus. Seit der Antike haben Hunderte von Philosophen zu diesem Thema gelehrte Abhandlungen verfasst, ohne je zu einer Einigung zu kommen.
Magisches Denken entspringt einem Bauchgefühl, während das dualistische Weltbild eine rational-analytisch geprägte philosophische Position darstellt. Jetzt könnte man argwöhnen, dass die dualistischen Philosophen lediglich ihr Bauchgefühl mit nachgeschobenen Argumenten rechtfertigen wollen, also auf dem schwankenden Fundament eines bloßen Gefühls eine analytische Kathedrale zu errichten versuchen.
Magisches Denken im engeren Sinne (und im Sinne dieses Buchs) verlangt immer eine übernatürliche Einwirkung auf die materielle Welt. Was aber ist natürlich, und was ist übernatürlich? Wie soll man das prüfen? Steinzeitmenschen mochten Blitze für ein magisches, übernatürliches oder göttliches Phänomen halten, inzwischen aber ist der Blitz als Naturerscheinung erkannt. Die Menschheit hat in den letzten Jahrhunderten ein immenses Wissen über die Natur angesammelt. Es ist spätestens seit der Verbreitung {20}des Internet in den Industriestaaten allgemein zugänglich. Deshalb kann man so leicht wie nie zuvor überprüfen, ob ein Phänomen auf natürlichem Wege zustande kommt. Hat man ein Ereignis, ein Phänomen oder einen Vorgang erst einmal als magisch eingestuft, dann entzieht man ihn den Gesetzen der Physik, und er wird in Sphären entrückt, in denen die Regeln und Strukturen des magischen Denkens gelten.
Nicht jede magische Wirkung erscheint plausibel, denn magisches Denken hat ganz bestimmte Strukturen. Zum Beispiel erscheint es uns durchaus sinnvoll, das Schicksal der Towerraben mit dem des englischen Königshauses zu verknüpfen. Nicht plausibel erscheint es hingegen, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland damit zu verbinden.
Magisches Denken hat eigene Gesetzmäßigkeiten. Und die verraten uns viel über die neuropsychologischen Ursachen eben jener irrationalen Vorstellungen, die jahrtausendelang das Denken der Menschen beherrscht haben und noch immer stärker sind als die Vernunft.
Selbst in modernen Menschen schlummert die magische Vorstellung, Kleidungsstücke übernähmen Eigenschaften ihres Besitzers oder könnten sie gar weitergeben. Der englische Psychologe Bruce Hood hat dazu das folgende aufschlussreiche Experiment gemacht: Er bot den Zuhörern eines Vortrags 30US-Dollar, wenn sie eine gebrauchte Strickjacke anzögen, die er mitgebracht hatte. Das kam gut an, der ganze Saal meldete sich freiwillig zur Anprobe. Nachdem Hood allerdings erwähnt hatte, dass die Jacke einem berüchtigten {21}Mörder gehört hatte, wollte sich nur noch ein einziger Zuhörer das Geld verdienen. Umgekehrt erzielen Kleidungsstücke oder Gebrauchsgegenstände von Prominenten bei Auktionen immer wieder Höchstpreise, ganz so, als glaubten die Käufer, mit der Jacke oder dem Kleid auch den Erfolg oder die Schönheit des bisherigen Besitzers zu erwerben.
Woher kommt die Vorstellung, dass persönliche Eigenschaften ansteckend sind wie Krankheiten? Erzieht unsere moderne und saubere Gesellschaft vielleicht von Anfang an zur Ansteckungsangst? Das wäre zwar möglich, aber die wirklichen Ursachen liegen tiefer, denn der Glaube an die Verbreitung von Eigenschaften durch Berührungsmagie lässt sich in allen Kulturen nachweisen.
Der Anthropologe James George Frazer hat Ende des neunzehnten Jahrhunderts religiöse und magische Bräuche aus aller Welt gesammelt und in einem zwölfbändigen Werk unter dem Titel Der goldene Zweig veröffentlicht. Er fand heraus, dass sich die Vorstellungen von übernatürlichen Beeinflussungen bei fast allen Völkern in zwei Gruppen einteilen lassen: Die homöopathische oder imitative Magie, die auf Ähnlichkeiten beruht, und die Übertragungsmagie, also die unerklärliche Weitergabe von Eigenschaften durch unbelebte Dinge.
Fast alle Völker kennen eine magische Verbindung zwischen einer Waffe und der davon verursachten Verletzung. Frazer zitiert den englischen Philosophen Sir Francis Bacon, der berichtet haben soll, man könne eine Wunde heilen, indem man die verursachende Waffe mit einer Heilsalbe bestreiche. In Melanesien glauben einige Völker, dass sich eine Pfeilwunde nicht entzündet, wenn man die verursachende Pfeilspitze danach kühl und feucht hält. Wenn die Gegner aber den Pfeil in die Hände bekommen, werden sie die Pfeilspitze ins Feuer halten, um die Wunde zu verschlimmern. Von Zeit zu Zeit nehmen sie den Bogen, der den Pfeil abschoss, und lassen seine Sehne schnellen. Der Verwundete soll dann unter Nervenspannung und Tetanuskrämpfen leiden.
Weltweit war auch der Aberglaube verbreitet, man könne einem Menschen Schmerzen zufügen, indem man Glasscherben oder {22}Messer in seine Fußspuren steckt. Mit dem Aufkommen gepflasterter Straßen wurde das allerdings unpraktisch und kam aus der Mode.
Menschen schreiben nicht nur Worten und Gedanken, sondern auch Gegenständen eine magische Fernwirkung zu. Zauberkräftige Talismane oder Amulette gibt es in allen Kulturen. Sie sollen ihren Besitzern oder Trägern Glück bringen und böse Einflüsse fernhalten. Die Idee ist mindestens so alt wie die Schrift, denn bereits vor 5000 Jahren sind Amulette auf ägyptischen Hieroglyphentafeln erwähnt.
Amulette zeigen oft eine Szene aus einer Sage, einem heiligen Text oder einer Überlieferung, oder sie enthalten ein Material, dem eine hilfreiche Wirkung nachgesagt wird. Eine christliche Reliquie, ein augenförmiger Anhänger zur Abwehr des bösen Blicks oder das Kreidezeichen der Heiligen Drei Könige an einer Haustür sind Beispiele dafür. In diese Kategorie gehören auch die Voodoo-Wachspuppen, {25}die ein Zauberer fertigt und mit Nadeln sticht, um dem Menschen, den sie darstellen, Schmerzen zuzufügen. Diese Art der Zauberei ist übrigens nicht so fremd, wie man oft meint: Sie wurde auch im europäischen Mittelalter benutzt, um Gegnern und Rivalen zu schaden. So vermuteten schon Zeitgenossen, dass ein Wachsabbild zum Tod der Königin Johanna I. von Navarra, der Frau Philipps des Schönen von Frankreich, im Jahre 1305 beigetragen habe.
Im November 2008 scheiterte eine Klage des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegen den Vertrieb einer Voodoo-Puppe mit seinem Gesicht. Auf den Körper der Puppe waren Wahlkampfsprüche aufgedruckt und Nadeln zum Stechen lagen bei. Der Hersteller warb mit der Behauptung, durch den Voodoo-Zauber könnten die Käufer den Präsidenten »daran hindern, noch mehr Schaden anzurichten«.
Man kann also allgemein formulieren:
Die gegenseitige Verbindung zwischen einem Symbol und der Wirklichkeit ist ein Bestandteil magischen Denkens.
Ich habe absichtlich gegenseitige Verbindung geschrieben. Die Verbindung zwischen Symbol und Gegenstand ist weder wirklich, noch ist sie gegenseitig, aber intuitiv wirkt es so. Im magischen Denken lässt sich die Wirklichkeit deshalb durch die Manipulation von Symbolen verändern. Viele Märchen und Fantasy-Romane beruhen auf dieser Idee. Im Buch Der Herr der Ringe ist der Eine Ring das Symbol der bösen Macht. Sie bricht zusammen, als er vernichtet wird. In Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray altert das Ölbild des Protagonisten an seiner Stelle, während er selbst stets jung und makellos bleibt.
Auch manchen Menschen werden übernatürliche Fähigkeiten nachgesagt. Schamanen, Wahrsager und Wunderheiler leben geradezu davon, aber auch normale Menschen können unfreiwillig in den Verdacht der Hexerei geraten. Bei Frauen spielen körperliche Attribute in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. So erscheinen Hexen im Märchen oft alt, hässlich und gebeugt oder im Gegenteil, wie Schneewittchens böse Stiefmutter, über natürlich schön und anziehend. Gute und böse Zauberer erscheinen dagegen als machtvolle, weniger als alte oder gebrechliche Gestalten.
Während der Zeit der Hexenverfolgung galten Unglücksfälle nach Nachbarschaftsstreitigkeiten oft genug als Indizien für eine Verhexung durch die gegnerische Partei. Zu dieser Zeit konnte jeder der Hexerei überführt werden, er wurde einfach so lange gefoltert, bis er gestand. Die Hexenjäger gingen davon aus, dass Hexen keine übernatürlichen Kräfte hatten, weil Menschen Derartiges nicht zustand. Stattdessen nahm man an, sie hätten mit dem Teufel einen Vertrag geschlossen, der ihn verpflichtete, im Auftrag der Hexen Übernatürliches zu bewirken. Weil der Teufel aber als übler Betrüger galt, konnte es auch sein, dass er die Hexen nur glauben machte, er sei ihnen zu Diensten gewesen, während er in Wahrheit überhaupt nichts getan hatte. In beiden Fällen aber hatten die Hexen und Hexer sich mit dem Teufel verbündet und waren dafür zu bestrafen.
Die Idee von Hexen, Magiern, Zauberern, Schamanen, Medizinmännern oder Priestern als Beherrscher übernatürlicher Mächte oder Vermittler zur Geisterwelt existiert in allen Kulturen. Sie entspringt also offenbar Denkprozessen, die allen Menschen gemeinsam sind, und gehört deshalb in die Definition des magischen Denkens.
»Wir alle kennen das Gefühl, das uns zuweilen überfällt, dass alles, was wir gerade sagen und tun, bereits gesagt und getan ward, in längst vergangener Zeit – dass wir vor ungezählten Tagen umgeben waren von den gleichen Gesichtern, Dingen und Umständen – und wissen, was als nächstes gesagt werden wird, als ob wir uns plötzlich erinnerten.«
Der englische Dichter Charles Dickens beschreibt mit diesem Satz das sogenannte Déjà-vu-Gefühl, den plötzlichen Eindruck, man habe eine völlig neue Situation schon einmal genauso erlebt. Dieses magische Gefühl verfliegt innerhalb der nächsten Sekunden, aber für einen Moment haben wir den Eindruck gehabt, als sei in unserer Erinnerung eine geschlossene Blase mit einigen Sekunden Zukunft abgelegt gewesen, eine Blase, die platzt, sobald ihre Zeit gekommen ist. Vielleicht ist es diese Erfahrung, die viele Menschen daran glauben lässt, die Zukunft könne vorhergesagt werden. Dabei interessiert sie nicht etwa eine schicksalhaft unabwendbare Zukunft, nein, sie wollen wissen, wo die Stolpersteine liegen, denen sie ausweichen müssen. »Man hat keinen Nutzen davon zu wissen, was notwendig geschehen wird, denn es ist ein Elend, sich vergebens zu quälen«, schrieb Cicero schon vor mehr als 2000 Jahren. Im Grunde ist es ein Paradox: Man will die Zukunft kennen, um ihr zu entgehen, um die Wahrsagung ad absurdum zu führen. Wenn also nicht das geschieht, wovor man gewarnt wurde, führt man es eben auf das Wissen des Wahrsagers um die Zukunft zurück – und das eigene Geschick, das Schicksal zu wenden. Viele Aspekte des magischen Denkens haben mit der Zukunft zu tun. Menschen tragen Amulette, um bei Bedarf, also irgendwann in der Zukunft, geschützt zu sein. Vermutlich malten Steinzeitmenschen das Bild eines Beutetiers mit einem Pfeil im Hals an eine Höhlenwand, bevor sie auf die Jagd gingen, nicht etwa danach. Man möchte die Zukunft nicht nur kennen, sondern sie beschwören.
Noch heute ist der Glaube verbreitet, dass manche Menschen um die Zukunft wissen. Der Beruf des Wahrsagers ist keineswegs ausgestorben, wie die vielen Zeitschriftenhoroskope zeigen. Und so wie im antiken Griechenland die Stadtstaaten für einen günstigen Spruch des Orakels von Delphi großzügige Spenden an die Apollon-Priester verteilten, zahlen Regierungen in westlichen Ländern heute ebenso gerne – und vergleichbar viel – für Gutachten von Beratungsfirmen, die ihre jeweiligen Vorhaben durch »wissenschaftliche« Prognosen untermauern sollen. Übrigens darf man sich das Orakel von Delphi nicht als einsame Priesterin in einer dunklen Felsenhöhle vorstellen. Delphi war in der Antike das wichtigste kulturell-religiöse Zentrum Griechenlands, ein Wallfahrtsort und Touristenmagnet. Der steile Serpentinenweg von der Stadt zum Tempel hinauf war von Schatzhäusern gesäumt, in denen griechische und außergriechische Städte und Reiche ihre Opfergaben aufbewahrten. Die Apollon-Priester trieben aktive Politik. Sie deuteten die Sprüche der Orakelpriesterin – der Pythia – zu Ratschlägen an die Mächtigen um, genau genug, um ihre Auftraggeber zufriedenzustellen, aber doch so rätselhaft, dass sie auslegbar blieben. Die heutzutage von der Politik in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Gutachten haben vielleicht etwas mehr Text als die antiken Orakelsprüche, sind aber im Grunde ganz ähnlich geartet. Die Regierungen und ihre Berater, seien es Wissenschaftler oder Priester, denken und handeln vollkommen rational, denn sie vertrauen – zu Recht – auf das magische Denken der Bevölkerung.
Halten wir also fest:
Der Glaube, dass die Zukunft vorhergesagt werden kann, ist ein fester Bestandteil magischen Denkens.
Wir haben jetzt schon viele Facetten des magischen Denkens kennengelernt, ein großer und schillernder Teilbereich aber fehlt noch: die Welt der Geister und Götter.
Liest man die Mythen der Völker, so wohnen jenseits der materiellen Welt offenbar unendlich viele Arten menschenähnlicher Wesen, darunter Totengeister, Quellnymphen, Brückentrolle, Kobolde, Hausgeister und natürlich Tausende von Göttern und Dämonen. Auch Außerirdischen oder Geheimgesellschaften wird immer wieder nachgesagt, dass sie die Geschicke der Welt auf dämonische Weise aus dem Hintergrund lenken.
Weil nicht alle Menschen diese Wesen wahrnehmen können, muss es Vermittler geben, die Zugang zu ihrer Schattenwelt haben: Schamanen, Magier, Priester, Hexen, Zauberer, Medizinmänner. Sie sind nicht alle gleich: Magier erzwingen eine unmittelbare Wirkung, Priester hingegen müssen ihre Götter überzeugen, für sie Wunder zu tun. Sie bringen Opfer dar und bitten demütig um ein Zeichen der Gnade. Sie können aber nicht versprechen, dass die gewünschte Wirkung tatsächlich eintritt. Der Magier hingegen garantiert eine Wirkung seiner Zauberkunst. Er ist sozusagen der Handwerker des Übernatürlichen, während der Priester nur als Makler fungiert. Wenn sein Gebet nicht funktioniert, hat er vielleicht den Ritus nicht genau beachtet, oder sein Gott ist irgendwie verstimmt. Götter sind bekanntermaßen launisch und ihre Wege unergründbar. In jedem Fall ist der Magier für das Scheitern der Magie direkt verantwortlich, der Priester hingegen nicht, was seine Stellung um einiges sicherer macht.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Der Glaube an Götter, Geister oder Ahnen hat eine sehr komplexe Grundlage. Die Arbeitsplatzsicherung der Priester nimmt darin vermutlich nur einen geringen Stellenwert ein. Über den tatsächlichen Hintergrund streiten die Experten seit Jahrhunderten. Zwei aktuelle Hypothesen {30}möchte ich herausgreifen, weil sie den derzeitigen Stand der Diskussion recht gut widerspiegeln: Der französische, im amerikanischen St. Louis lehrende Anthropologe Pascal Boyer nimmt einen evolutionären Ursprung des Gottesglaubens an: »Glaube und blinde Gläubigkeit scheinen nur ein Nebenprodukt der Art und Weise zu sein, in der begriffliches Denken und schlussfolgerndes Denken ihre Arbeit verrichten«, schreibt er in seinem Buch Und Mensch schuf Gott. Erzählungen, die unserer Intuition widersprechen, ziehen besondere Aufmerksamkeit auf sich, meint Boyer. Intuition wiederum speist sich aus unserer Erfahrung. Neues, nie Erfahrenes, ja Erfahrungswidriges, ist erst einmal interessant und verfängt sich deshalb gut in den Netzen unserer Erinnerung. Die Idee eines unsichtbaren, mit großer Macht und großem Wissen ausgestatteten Geistwesens wäre ein solcher Gedanke. Hat sie erst einmal Fuß gefasst, kann man dem Wesen einen bestimmten Charakter zuschreiben oder ihm weitere seiner Art zugesellen. Verbunden mit der Unbegreiflichkeit des Todes von nahestehenden Menschen führt dies zum Ahnenkult. Verstorbene Ahnen mutieren plötzlich zu mächtigen, unsichtbaren Hausgenossen. Bald entstehen auch religiöse Rituale, deren psychologische Wurzeln sich Boyer aber, wie er zugibt, nicht recht erklären kann. In einer ausreichend großen Gruppe finden sich schließlich Menschen, die besonders gut mit den unsichtbaren Akteuren umgehen können. So entwickelt sich der Beruf des Schamanen, des Priesters oder des Medizinmanns. In der letzten Stufe legt die Priesterschaft den Kanon des Glaubens und seiner Riten schriftlich fest und schafft damit den Kern einer eher philosophischen, nicht mehr sippen- oder kulturgebundenen Religion. Weil diese Entwicklung den normalen Denkvorgängen des Menschen entspringt, vollzieht sich der skizzierte Ablauf ständig neu. Religion ist nach Boyer also nicht ein Relikt aus vorrationaler Vergangenheit, sondern eine notwendige Folge menschlicher Denkstrukturen.
Die Grundthese dieser Theorie halte ich für sehr gewagt: Religionen und Gottesvorstellungen aller Völker sind einander sehr {31}ähnlich. Erfahrungswidrige Inhalte können dagegen außerordentlich unterschiedlich sein. Warum sollte überall gerade die Idee von unsichtbaren, mächtigen, menschenähnlichen Akteuren erhalten bleiben, während viele andere wieder verschwinden?
Der streitbare Biologe Richard Dawkins brandmarkt in seinem Buch Der Gotteswahn hingegen die Erziehung als einen Hauptgrund für das vernunftwidrige Weiterbestehen der Religion. Eltern geben religiöse Überzeugungen an ihre Kinder weiter, Lehrer an ihre Schüler. Weil aber junge Menschen dazu neigen, Erwachsenen erst einmal zu glauben und zu gehorchen, lassen sich auch die unsinnigsten Glaubensvorstellungen nicht ohne weiteres ausrotten.
Der eingehenden Beschreibung der geistigen Grundlagen von Ritus und Religion ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier geht es erst einmal nur um die Definition des magischen Denkens:
Das magische Denken konstruiert einen Wirk- oder Sinnzusammenhang zwischen voneinander unabhängigen Ereignissen über mächtige Wesen mit übermenschlichen Eigenschaften.
Damit sind auch göttliche Aufträge oder die angeblichen Einwirkungen guter oder böser Geister auf die Welt gemeint.
Die verschiedenen Mosaiksteine formen allmählich ein Bild. Ich fasse die Komponenten des magischen Denkens zusammen:
Das Festhalten an der Idee, ein Phänomen beruhe auf übernatürlicher Fernwirkung, obwohl man die Möglichkeit einer natürlichen Ursache nicht hinreichend geprüft hat.
Die Vorstellung, dass Gegenstände die Eigenschaften ihrer Besitzer übertragen können (Ansteckung oder Kontamination).
{32}Das Prinzip der Homöopathie oder Imitation. Danach sind Dinge, die sich in einer Eigenschaft gleichen, auch in anderen ähnlich.
Das Prinzip des Übergreifens von der inneren auf die äußere Welt, also die Beeinflussung der Außenwelt durch Worte, Formeln, Sprüche oder bloße Gedanken.
Der Glaube, dass die Zukunft vorhersehbar ist oder dass bestimmte Dinge oder Vorgänge eine Vorbedeutung haben, obwohl sie mit den zukünftigen Ereignissen keinerlei Verbindung haben (temporale Magie).
Die Annahme einer gegenseitigen Verbindung zwischen Symbol und Wirklichkeit, zum Beispiel die Schutzwirkung von Amuletten und Talismanen.
Der Glaube, dass bestimmte Menschen übernatürliche Kräfte haben oder zumindest Wesen mit solchen Kräften in ihren Dienst zwingen können.
Die Verbindung von getrennten Ereignissen oder Phänomenen über mächtige Akteure mit übermenschlichen Eigenschaften. Das können Geister, Götter oder Geheimgesellschaften sein.
Diese Vorstellungen kommen überall und immer wieder vor und werden von fast allen Menschen geteilt. Sie entspringen also offenbar dem normalen Denken der Menschen. Wie muss das menschliche Gehirn beschaffen sein, um solche Ideen hervorzubringen und daran festzuhalten? Um diese Frage wird es im nächsten Kapitel gehen.
Wenn die Mehrheit die Normalität bestimmt, dann ist magisches Denken zweifellos normal. Stuart Vyse zitiert in seinem Buch Believing in Magic [Der Glaube an Magie] eine Reihe von Umfragen aus den USA. Danach glauben weniger als 10% der Befragten nicht an übernatürliche Erscheinungen. In Deutschland fragt das Institut für Demoskopie in Allensbach seit 1973 regelmäßig nach der Bedeutung von guten und bösen Vorzeichen. Die Studien umfassen 20 allgemein bekannte Omen wie vierblättrige Kleeblätter, Sternschnuppen, die Zahlen 7 und 13, Hufeisen oder Käuzchenrufe. Bei der letzten Umfrage von 2005 maßen nur 32% der Erwachsenen keinem Vorzeichen eine Bedeutung bei. Die Mehrheit der Menschen pflegt also ein gewisses abergläubisches Bauchgefühl. Entgegen den Erwartungen nahm der Aberglaube in den letzten Jahren sogar zu. Die Verfechter der reinen Vernunft sind deutlich in der Minderheit (was sie wahrscheinlich immer schon vermutet haben).
Ein gewisses Maß an magischem Denken ist also, statistisch gesehen, völlig normal. Normal heißt aber nicht ideal, oder auch nur gesund. Mehr als die Hälfte der Menschen zwischen 50 und 70 Jahren hat mindestens einmal im Jahr Rückenschmerzen. Damit ist das zwar normal, aber trotzdem eine Krankheit. Magisches Denken zeichnet ein falsches Bild der Außenwelt und behindert damit die angemessene Reaktion auf äußere Ereignisse. Ist es also vielleicht eine Vorstufe von Geisteskrankheiten? Offenbar nicht. Sogar ein deutlich überdurchschnittlicher Glaube an paranormale Phänomene lässt noch nicht auf eine Geisteskrankheit schließen, wie die Psychologin Loren Chapman von der University of Wisconsin {34}in der Stadt Madison feststellte. Zusammen mit ihrem Kollegen Mark Eckblad entwickelte sie Ende der 1970er Jahre einen Testbogen mit 30 Fragen zum Thema Magie. Sie fragte zum Beispiel, ob Versuchspersonen glauben, dass Horoskope so oft zutreffen, dass es kein Zufall sein kann, oder ob sie Erlebnisse hatten, die sich durch eine Seelenwanderung erklären ließen. Einige der Fragen zielten auch direkt auf bekannte Symptome von Geisteskrankheiten, z.B.: »Ich habe das Gefühl, dass der Fernseh- oder Radiosprecher weiß, dass ich zuhöre«, oder: »Ich hatte schon das plötzliche Gefühl, dass jemand durch einen gleich aussehenden Fremden ersetzt wurde.«
In den folgenden Jahren legten sie diesen und einige andere Fragebögen 7800 Studenten der Eingangskurse in Psychologie vor. Psychologiestudenten sind besonders beliebte Versuchspersonen, weil sie unmittelbar verfügbar sind und schlecht nein sagen können, wenn ihr Dozent sie bittet, an einer Studie teilzunehmen.
Die Wissenschaftler baten Studenten mit einer deutlichen Tendenz zum magischen Denken zu einem Gespräch, um sie auf psychische Auffälligkeiten zu untersuchen. Die meisten davon wiesen keine Anzeichen einer psychischen Erkrankung auf. Zehn Jahre später fassten die Psychologen nach und stellten fest, dass mehr als 90 % der magisch Denkenden auch nach dieser langen Zeit keine Geisteskrankheit entwickelt hatten. Zieht man diejenigen ab, die bereits im Gespräch Anzeichen einer Psychose gezeigt hatten, dann darf man festhalten, dass Menschen mit einem stark ausgeprägten magischen Denken selbst auf lange Sicht nicht ungewöhnlich anfällig für Geisteskrankheiten sind. (Fairerweise sollte man allerdings darauf hinweisen, dass die Autoren zu einer anderen Bewertung kommen: Sie sehen in ihrem Fragebogen durchaus ein geeignetes Werkzeug für die Prognose einer Geisteskrankheit.)
Magische Ideen sind kein Anzeichen einer Geisteskrankheit, sondern ein fester Bestandteil des menschlichen Denkens. Es macht also Sinn, die Gründe dafür in der normalen Funktion des menschlichen Gehirns zu suchen.
Das menschliche Gehirn stellt zwischen gleichzeitig oder kurz hintereinander auftretenden Ereignissen automatisch eine Verbindung her. Dieses Verhalten ist kein Zeichen für besondere Intelligenz, es tritt selbst bei Stubenfliegen, ja sogar auf der Ebene einzelner Nervenzellen auf. Das berühmteste Beispiel ist der sogenannte Pawlow’sche Hund, benannt nach dem russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow. Er verband die Fütterung seiner Hunde mit einem Glockenläuten und stellte fest, dass bald alleine der Glockenton ausreichte, um bei den Hunden einen Speichelfluss auszulösen. Zu dem unbedingten Reflex (Speichelfluss bei Anblick der Nahrung) gesellte sich ein bedingter Reflex (Speichelfluss bei Glockenton). Der Fachbegriff heißt Konditionierung und, weil es auch andere Formen gibt, genauer klassische Konditionierung.
Bei Menschen löst ein Anfall von Übelkeit zum Beispiel einen anhaltenden Widerwillen gegen die zuletzt gegessenen Speisen aus – eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme des Gehirns. Das gilt aber auch dann, wenn der Brechreiz auf eine raue Fahrt über den Ärmelkanal zurückgeht – und das bedauernswerte Opfer das genau weiß.
Ein bedingter Reflex verschwindet wieder, wenn die entsprechenden Reize nicht mehr zusammen auftreten. Je nach Stärke der ursprünglichen Reize kann das aber lange dauern. Bei Menschen, die im Zweiten Weltkrieg die Luftangriffe auf ihre Städte erlebt hatten, reichte schon der Ton der Luftschutzsirenen aus, um noch Jahrzehnte später Angst auszulösen.
Ein Reflex kann sich ausweiten. Wenn ein Kleinkind beispielsweise vor einem bellenden Hund erschrickt, kann später jede Begegnung mit einem Hund Angst auslösen. Der Betroffene weiß eventuell überhaupt nicht mehr, warum er Hunde so fürchtet. Weil diese Art von Konditionierung immer wieder vorkommt, beeinflusst {36}sie auch das Denken. Wer vor Hunden Angst hat, neigt dazu, sich im Nachhinein einen plausiblen Grund dafür auszudenken. Unsere automatischen Reaktionen verändern auch unser bewusstes Denken. Aber es gibt auch noch andere Lernmechanismen, die für seltsame Effekte sorgen.
Können Tiere abergläubisch werden? In einer berühmt gewordenen Veröffentlichung unter dem Titel »›Aberglaube‹ bei Tauben« schrieb der amerikanische Psychologe Burrhus Frederic Skinner im Jahre 1948:
»Ein Vogel wurde konditioniert, sich gegen den Uhrzeigersinn im Käfig zu drehen ... ein anderer drängte mit dem Kopf wiederholt in eine der oberen Ecken des Käfigs. Ein dritter entwickelte ein ›Hochschleudern [des Kopfes]‹ als Antwort, so als stecke er seinen Kopf unter eine unsichtbare Stange, die er dann wiederholt hochschob ... Ein weiterer Vogel wurde konditioniert, unvollständige pickende oder fegende Bewegungen gegen den Boden zu machen, wobei er den Boden aber nie berührte.«
Skinner hatte hungrige Tauben in einen Käfig gesetzt und einen Futterspender so aufgebaut, dass ihn ein Elektromagnet in regelmäßigen Abständen für kurze Zeit an den Käfig heranzog. Jetzt konnten die Tauben für einen Moment fressen, bevor der Spender wieder zur Seite schwang. Nach einer Weile begannen die Tauben sich so seltsam aufzuführen, wie im Zitat beschrieben. Was war geschehen? Für Skinner gab es keinen Zweifel:
»Der Vogel führt irgendeine Reaktion aus, wenn der Spender erscheint; als Ergebnis neigt er dazu, diese Reaktion zu wiederholen. Wenn das Intervall bis zur nächsten Futterspende nicht so lang ist, dass eine Löschung [des Verhaltens] stattfindet, ist ein {37}zweites ›zufälliges‹ Zusammentreffen wahrscheinlich. Das verstärkt die Reaktion weiter … «
Die Vögel, so meinte Skinner, benahmen sich, als ob es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und der Ankunft des Futterspenders gebe. Das könne man als eine Art Aberglauben ansehen. Der Psychologe sah viele Analogien zum menschlichen Verhalten, beispielsweise zu den Ritualen zum Verbessern des Glücks im Kartenspiel.
Der 1904 geborene Burrhus Frederic Skinner war Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der berühmteste und zugleich am meisten angefeindete Psychologe Amerikas. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden, aber im Alter von 22 Jahren gab er dieses Berufsziel auf. »Ich hatte keinen Grund, irgendetwas zu schreiben. Ich hatte nichts mitzuteilen«, erklärte er später dazu. Stattdessen wandte er sich der Psychologie zu. Skinner war der prominenteste Vertreter einer psychologischen Schule, die davon ausging, dass die inneren Zustände der Gehirne von Tieren oder Menschen sich nicht direkt beobachten lassen und deshalb nicht Gegenstand psychologischer Untersuchungen sein können. Nur das nach außen erkennbare Verhalten (engl. behavior) lässt sich gut messen und aufzeichnen. Die Forscher, die von diesen Grundthesen ausgingen, nannten sich Behavioristen, ihre Fachrichtung heißt Behaviorismus. Jedes Verhalten, so nahmen sie an, kann man durch entsprechende Belohnung oder Bestrafung verstärken oder abschwächen – Hundebesitzer wissen das, Katzenbesitzer sind sich da nicht so sicher. Skinner nannte diese Form des Lernens operante Konditionierung (heute spricht man auch von instrumentellem Lernen oder Lernen am Erfolg). Die Behavioristen gehen übrigens keineswegs davon aus, dass Tiere (oder Menschen) reine Reaktionsmaschinen sind, die ohne äußeren Anstoß passiv bleiben. Vielmehr, so sagen sie, probieren Tiere und auch Menschen verschiedene Verhaltensweisen durch, die je nach Reaktion der Umwelt wiederholt werden oder verschwinden. Der Harvard-Professor Skinner sah darin ein generelles {38}Prinzip und träumte davon, die menschliche Gesellschaft durch operante Konditionierung in ein friedliches Paradies zu verwandeln. Er schrieb 1948 sogar einen utopischen Roman darüber (