Faszination Apokalypse - Thomas Grüter - E-Book

Faszination Apokalypse E-Book

Thomas Grüter

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Beschreibung

Weltuntergang 2012? – Nicht nur die Maya glauben dran Schon immer haben die Menschen geglaubt, dass es mit der Welt irgendwann zu Ende geht. Kriege, Kometen, Seuchen und Hungersnöte galten in früheren Zeiten als sichere Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs. Und seit unser Planet als begrenzter Raum wahrgenommen wird, fürchten die Menschen, dass die Erde auch auf ganz weltliche Weise zerstört werden könnte. Bis heute beeinflussen Weltuntergangsszenarien die praktische Politik. All diese Aspekte des Weltendes untersucht Thomas Grüter in seinem neuen Buch. Dabei beleuchtet er auch die psychologischen Hintergründe und analysiert die aktuellen Endzeitideen.

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Thomas Grüter

Faszination Apokalypse

Mythen und Theorien vom Untergang der Welt

Sachbuch

Fischer e-books

Einführung

Das kleine Dorf Bugarach unweit der Pyrenäen in Südfrankreich hat ein Problem: Es werde, so behaupten einige Esoteriker, den bevorstehenden Weltuntergang überleben. Ein außerirdisches Raumschiff soll am nahe gelegenen Berg Pic de Bugarach unter der Erde warten, um pünktlich zum Weltende einige glückliche Erdbewohner mit in den Weltraum zu nehmen. Eigentlich müsste das die Dorfbewohner nicht interessieren, aber bereits seit 2010 haben sich immer mehr UFO-Gläubige auf den Weg nach Bugarach gemacht, um noch ein Ticket für das fliegende Rettungsboot zu ergattern. Sie erwarten das Weltende bereits am 21. 12. 2012, und da wird es Zeit. Die 189 Dorfbewohner fühlen sich zunehmend genervt.

»Viele kommen und beten am Berg. Einen habe ich gesehen, wie er völlig nackt irgendein Ritual vollführt hat«, klagt der Bürgermeister Jean-Pierre Delord.

Sigrid Benard, die das Gasthaus »Maison de la Nature« betreibt, berichtet, dass neuerdings zwei Drittel ihrer Gäste Esoteriker sind. Einige haben in der Nähe Grundstücke gekauft und bereitwillig horrende Preise bezahlt. Die Einheimischen sehen sich einer plötzlichen Teuerung ausgesetzt, die es ihnen immer schwieriger macht, Grund und Boden zu erwerben.

Für die Esoteriker lohnt sich die Investition. Delord berichtet über seltsame sektenartige Seminare für bis zu 800 Euro pro Woche. »Für diesen Preis treffen sie einen Guru, werden auf eine Prozession geführt, können sich taufen lassen und was für einen Blödsinn sonst noch, alles gegen Bargeld.«

Die Einheimischen fürchten, dass im Dezember 2012 ganze Horden von Weltuntergangsflüchtlingen in das Dorf einfallen.

»Das ist nicht zum Lachen«, sagt Bürgermeister Delord. »Wenn morgen zehntausend Leute auftauchen sollten, dann kann ein Dorf von zweihundert Einwohnern damit nicht fertig werden. Ich habe die Regionalverwaltung über unsere Befürchtungen informiert, und ich möchte, dass im Dezember 2012 die Armee bereitsteht, wenn es nötig sein sollte.«

Warum ausgerechnet am 21. 12. 2012? Zu diesem Zeitpunkt endet angeblich der Mayakalender, und die Mayas haben ihre Zeitrechnung offenbar so abgepasst, dass sie genau mit dem Weltuntergang aufhört. Nun endet an jedem 31. Dezember mein Wandkalender, ohne dass ich je befürchtet habe, die Welt werde untergehen. In den achtziger Jahren behauptete der Esoteriker José Argüelles, dass mit dem Ende des Mayakalenders auch das Ende der Geschichte kommen werde. Das war zwar noch kein Weltende, aber es klang gut. Deshalb haben viele andere die Idee aufgegriffen und zu einem veritablen Untergangsszenario ausgebaut.

Das hat wiederum die seriösen Forscher auf den Plan gerufen, die darauf hinweisen, dass der Kalender nicht endet, sondern nur umspringt, etwa wie unsere Zeitrechnung von 1999 auf 2000. Vielleicht aber auch nicht, denn der Anfang der Mayazeitrechnung ist nicht sicher bekannt. Nur wenn er auf den 11. August 3114 v.Chr. fällt, wäre jetzt ein größerer Periodenwechsel fällig. Weil die Mayakultur jedoch erlosch, bevor jemand eine korrekte Umrechnung erstellen konnte, kennt niemand den Nullpunkt des Mayakalenders mit ausreichender Sicherheit.

Das Märchen vom Raumschiff unter dem Berg bei Bugarach ist ein klassischer Erlösungsmythos. Der Ablauf ist immer gleich: Die Welt geht unter, aber einige Glückliche werden wundersam gerettet und begründen eine neue, bessere Menschheit. Schon antike Mythen und Sagen berichten davon, dass es vor unserem Zeitalter bereits andere gegeben hat, die aber durch eine große Katastrophe zerstört wurden. Oft geht dem Untergang eine Endzeit voraus. In ihr zerfallen die göttliche Ordnung und die menschliche Moral. Wenn die Welt erst zu einem Misthaufen verkommen ist, so lautet das Fazit der Mythen, ist eine Grundreinigung unausweichlich. Einige wenige Auserwählte dürfen danach eine neue bessere Welt aufbauen. Die Zerstörung kann natürlich jederzeit wieder erfolgen. Viele Religionen prophezeihen ein zyklisches Weltende (Hinduismus) oder ein einmalig-endgültiges (Christentum oder Islam).

Christen und Muslime erwarten im Vorfeld gewaltige göttliche Zeichen und erdumspannende, verzweifelte Kämpfe der wenigen Guten gegen die Heerscharen des übermächtigen Bösen. Mit göttlicher Hilfe werden aber die Guten siegen. Sobald das geschehen ist, wird Gott ein Weltgericht abhalten. Es folgt eine zeitlose Welt des Friedens, in der die von den Toten auferstandenen Gläubigen und Gerechten ewig und in Freude leben, während die Gottlosen und Sündigen in der Hölle schmoren. Nichts hat die Kultur von Christen und Muslime so sehr geprägt wie der Glaube an die finale göttliche Gerechtigkeit. Er durchdringt ihre gesamte Kultur und beeinflusst nicht nur die Gläubigen, sondern auch Wissenschaftler und Politiker, ja, die gesamte Grundhaltung der Völker.

Die Endzeit- und Weltuntergangserwartung der Christen und Muslime hat vier wichtige Komponenten:

Der zentrale Konflikt in der Welt spielt sich zwischen den Polen Gut (Gott) und Böse (Teufel) ab. Das ist keineswegs selbstverständlich: In der Antike gab es zwar das Ideal eines tugendhaften Lebens, aber nicht den alles beherrschenden Gegensatz zwischen Gut und Böse.

Gott verkörpert eine absolute Gerechtigkeit, die nicht nur das Verhältnis der Menschen untereinander regelt, sondern auch ihre innersten Gedanken erkennt und beurteilt.

Gott wird eines selbstgewählten Tages einen Gerichtstag abhalten und die bis dahin aufgeschobene Gerechtigkeit durchsetzen. Danach zerstört er die Welt und ersetzt sie durch einen Ort ewiger Belohnung oder ewiger Strafe. Glaube und ein den göttlichen Gesetzen entsprechendes Leben führt zur Belohnung (Erlösung), böse Taten oder Unglaube zur Bestrafung.

Unmittelbar davor verschlimmert sich der Zustand der Welt im Sinne einer Endzeit, die ein (scheinbares) Erstarken des Bösen mit sich bringt. Der Zerfall der Ordnung und des Rechts darf deshalb als Zeichen der bevorstehenden Ausübung universeller Gerechtigkeit gesehen werden.

Dieses Weltbild wird bereits Kindern eingeprägt. Selbst der als wissenschaftliche und atheistische Theorie angelegte Marximus-Leninismus predigt den Glauben an Endzeit und Erlösung. So paradox es klingen mag: Er wurzelt tief im christlichen Weltbild.

Der sogenannte Transhumanismus des beginnenden 21. Jahrhunderts zeigt ähnliche Züge. Er propagiert die Überwindung von Krankheit und Tod durch die Verbindung von Mensch und Computer. Im Verlauf einer Endzeit, die noch in diesem Jahrhundert beginnen soll, werden sich Menschen mit Computern zu gottgleichen, machtvollen und unsterblichen Wesen vereinen.

Der Ursprung und die Entwicklung des Endzeit- und Weltgerichtsglaubens sind ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Schlüssel zum Verständnis unserer christlichen Kultur und des Islam. Nicht nur die Religion, auch die Literatur ist fasziniert vom Weltende. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war der Weltuntergang kein Thema, weil die Bibel den Fahrplan eindeutig vorgab. Allenfalls über die Auslegung konnte man streiten (wovon die Theologen auch ausgiebig Gebrauch machten). Die Aufklärung und die aufkommenden Naturwissenschaften drängten im 18. Jahrhundert den Einfluss der Theologie zurück, und im 19. kamen immer mehr Bücher auf den Markt, die sich mit dem Aussterben der Menschheit befassten. Heute ist die apokalyptische Literatur ein eigenes Genre. Dabei ist das alte Thema der Hybris und des blinden Stolperns in ein absehbares Verderben immer noch das vorherrschende Thema.

Aber auch die Wissenschaft hat sich mit der Zukunft der Zivilisation, der Menschheit, der Erde und des Kosmos befasst. Nachdem die Menschheit mehr als sechs Jahrzehnte des atomaren Wettrüstens überlebt hat, nehmen die meisten Menschen diese Bedrohung kaum noch wahr. Aber noch immer reichen die Waffenarsenale der Atommächte aus, um die Erde in die Steinzeit zurückzubomben.

Heutzutage drehen sich die meisten Weltuntergangsszenarien eher um die Frage, ob die Menschen die bevorstehende Verknappung und Verteuerung wichtiger Rohstoffe verkraften können oder ob die Zivilisation daran scheitern wird. Wenn wir es nicht selber schaffen, uns auszurotten, könnte uns eventuell die Natur diese Aufgabe abnehmen. Letztlich sind wir darauf angewiesen, dass die Erde ein lebensfreundlicher Ort bleibt, eine Temperaturerhöhung oder -absenkung um nur 20 Grad Celsius über zwei Jahre würde die Menschheit vermutlich nicht überleben.

Das alles ist, wie wir sehen werden, recht unwahrscheinlich. Die größte Gefahr für das Überleben der Menschheit ist immer noch die Menschheit selbst. Aber auch wenn die Menschen die Erde und das Sonnensystem überwinden und die Milchstraße erobern, werden sie eines Tages aussterben, denn irgendwann endet sogar das Universum. Noch weiß niemand genau, ob es zusammenstürzen oder einen stillen Tod durch die Auflösung aller Materie sterben wird. Der endgültige Tod des Universums wird unbeobachtet bleiben, denn intelligentes Leben wird bereits einige Zeit vorher nicht mehr möglich sein. Dieses Thema werden wir ganz zum Schluss behandeln, zunächst wollen wir die vielfachen Vorstellungen der Religionen zum Weltende nachzeichnen.

1Religion

Die Religionen der Welt unterscheiden sich in ihren Erzählungen vom Weltende ebenso sehr wie in den Schöpfungsgeschichten. Einige kennen kein definiertes Weltende, andere ein äußerst konkretes, und wieder andere sehen die Welt in einem Zyklus aus Erschaffung und Zerstörung gefangen. Daneben berichten viele heilige Schriften von vergangenen Weltuntergängen, von Beinahe-Katastrophen, die jeweils nur ganz wenige Menschen überlebt haben.

Fingerübungen für das Ende: Mythen von Beinahe-Katastrophen
Antike: Vier Zeitalter, Götterzorn und fahrlässige Brandstiftung

In der antiken griechischen, römischen, keltischen oder ägyptischen Mythologie gab es kein ausdrückliches Weltende. Warum auch? Die Welt der griechischen Götter erinnert an eine dekadente Adelsgesellschaft, der Olymp an eine mykenische Burg. Anders als Christen und Juden haben die Griechen und Römer kein Gesamtwerk religiöser Mythen und Sagen verfasst, wie es die Bibel darstellt. Woher stammt dann unser umfangreiches Wissen um die Familiengeschichte und die Taten der antiken Götter? Die vielen verstreut überlieferten Geschichten stammen bei genauer Betrachtung aus nur wenigen Quellen, und zwar aus der Ilias und Odyssee von Homer, der Theogonie des Hesiod und den Metamorphosen von Ovid.

Die ersten beiden geben einen recht frühen Stand des griechischen Götterglaubens wieder. Homer schrieb vermutlich im 8. Jahrhundert v.Chr., Hesiod im 7. Jahrhundert. Die Theogonie ist ein Lehrgedicht, das in knapper Form die Götterwelt und ihre Sagen vorstellt. Sie ist auch heute noch die wichtigste Quelle, wenn es um das Gesamtbild der griechischen Götterwelt geht. Der römische Dichter Ovid hat in seinem Hauptwerk, den Metamorphosen, 700 Jahre später viele der alten Motive aufgenommen und dichterisch ausgestaltet. Möglicherweise hat sich Ovid noch auf weitere Quellen gestützt, die aber verloren oder nur in Fragmenten bekannt sind. Ganz sicher aber kannten weder Römer noch Griechen eine verbindliche heilige Schrift mit einer Liste von Glaubenssätzen.

Im Grunde gleichen die Mythen über Zeus, Hera, Apollon und Aphrodite einer amerikanischen Soap-Opera, die uns in endlosen Fortsetzungen die Abenteuer des Götter-Clans ausmalt. Nach jeder Folge wird die Ausgangssituation sorgfältig wiederhergestellt, die Gegenwart dauert ewig, eine Zukunft ist den Göttern nicht beschieden. Immerhin haben sie eine Vergangenheit: Sie wurden geboren oder sind entstanden. Zeus’ Vater hieß Kronos, sein Großvater Uranos. Sie waren Titanen, urwüchsige, ungehobelte Protogötter (Göttervorstufen) mit einem eher abstoßenden Benehmen. Kronos pflegte seine Kinder aufzufressen, denn ihm war prophezeit worden, sein Sohn werde ihn einst stürzen. Zeus entkam diesem Schicksal und überwältigte Kronos. Dann zwang er ihn, seine Geschwister wieder auszuspeien. Als Götter waren sie unsterblich und hatten deshalb überlebt. In einem langen Krieg, der Titanomachie (dem Titanenkampf), besiegte Zeus mit seinen Verbündeten die alten Götter und verbannte die meisten von ihnen in den Tartarus, den Strafort der Unterwelt.

Ovid verwendet in seinen Erzählungen die römischen Götternamen, nicht die griechischen, wobei der Inhalt der Mythen aber unverändert bleibt. Aus Zeus wird bei ihm Jupiter, Helios, der Sonnengott, heißt Phoebus, und der Meeresgott Poseidon hört auf den Namen Neptun. Die Übersetzung von Götternamen war in der Antike durchaus üblich. Man ging davon aus, dass die Essenz, das Wesen eines Gottes gleich blieb, auch wenn die Völker ihm einen eigenen Namen gaben.

Die antiken Götter waren keine moralischen Vorbilder und keine gerechten Richter, im Gegenteil, sie logen und betrogen, sie raubten Frauen und ermordeten Menschen aus Wut oder Neid. Nicht nur die Götter, auch die Göttinnen vergnügten sich gerne mit geeigneten menschlichen Partnern, und zwar keineswegs nur mit deren Zustimmung. Anders als im Christentum und im Islam wurde niemand im Jenseits für seine Taten belohnt oder bestraft, alle Menschen endeten als Schatten in einer tristen Unterwelt. Nur ausgewählte Helden oder die sterblichen Nachkommen von Göttern durften hoffen, in die elysischen Gefilde aufgenommen zu werden. Dort herrschte ewiger Frühling, Rosen wuchsen auf den Wiesen, und ein süßer Trank ließ alle irdischen Leiden vergessen. Normale Sterbliche, ganz gleich wie tugendhaft oder heldenmütig sie auch waren, hatten dort keinen Zutritt. Sie mussten nach ihrem Tod unweigerlich ins Schattenreich hinabsteigen.

Die Idee eines Jüngsten Gerichts oder auch nur eines individuellen Richterspruchs nach dem Tod des Einzelnen war den Griechen und Römern der Antike fremd. Dennoch gab es auch in ihrer Mythologie Weltuntergänge, aber sie lagen wie die Sintflut der Bibel in der fernen Vergangenheit. Ovid gibt sie ausführlich wieder.

Drei Zeitalter, so schrieb er, seien bereits vergangen: Das Goldene, das Silberne und das Eherne. Im Goldenen Zeitalter herrschte ein ewiger Frühling. Die Menschen waren aus eigenem Antrieb ehrlich und friedlich. Es gab keine Verbrechen und keine Kriege. Der Boden musste nicht bestellt werden, die Erde spendete freiwillig ihre Gaben. Krankheiten und Gebrechen waren unbekannt. Im nachfolgenden Silbernen Zeitalter kamen die Jahreszeiten auf, die Menschen brauchten Schutz vor schlechtem Wetter und mussten ihr Brot mit der mühsamen Arbeit auf dem Acker verdienen. Auch ihre Gesundheit ließ deutlich nach. Das Bronzene oder Eherne Zeitalter gehörte den Helden des Krieges. Sie waren schwer bewaffnet und grausam, aber noch immer tugendhaft.

Als das Wasser sank, stellte Deucalion entsetzt fest, dass seine Frau und er die letzten lebenden Menschen waren. Sie beschlossen, den in der Nähe liegenden Tempelbezirk von Delphi aufzusuchen und die Göttin Themis um Rat zu fragen. In einem Orakelspruch empfahl sie ihnen, »den Tempel zu verlassen, ihr Haupt zu verhüllen, die Gürtel der Gewänder zu lösen und die Knochen der großen Mutter hinter sich zu werfen«.

Nach einigem Überlegen erklärte Deucalion, die große Mutter sei vermutlich die Erde und ihre Knochen müssten Steine sein. Aber warum sollten sie Steine über die Schultern nach hinten werfen? Weil es immerhin nicht schaden konnte, wagten sie einen Versuch. Aus den Steinen, die Pyrrha warf, wuchsen Frauen, aus denen des Deucalion Männer.

»Deshalb sind wir ein harter, schwer arbeitender Menschenschlag und bekunden so, woraus wir geboren sind«, schließt Ovid seine Erzählung mit lakonischem Humor.

 

Bei anderer Gelegenheit erzeugte Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Phoebus (griechisch Helios), unabsichtlich einen Weltbrand. Phoebus hatte den Phaeton mit der Meeresnymphe Klymene gezeugt, aber seinen Sohn noch nie gesehen. Vielleicht hatte er bei den vielen Nymphen, die seinen Weg gekreuzt hatten, einfach die Übersicht verloren. Auf jeden Fall freute sich Phoebus, als Phaeton ihn eines schönen Tages besuchen kam und sich als sein Sohn zu erkennen gab. Der überraschte Vater versprach, er werde Phaeton einen Wunsch erfüllen. Dieser bat darum, einen Tag lang den Sonnenwagen über den Himmel fahren zu dürfen. Das war ein vermessener Wunsch, denn nur ein Unsterblicher konnte die wilden Rosse auf dem Pfad der Sonne halten, und selbst unter den Göttern traute nur Phoebus sich diese Aufgabe zu. Phaeton aber war sterblich. Phoebus erklärte seinem Sohn die Lage und schlug vor, er möge sich etwas anderes wünschen. Aber Phaeton bestand darauf, den Sonnenwagen zu fahren. Versprochen war versprochen, und trotz aller väterlichen Bedenken durfte er mit der Morgendämmerung des nächsten Tages den Wagen über den Himmel lenken. Schon nach kurzer Zeit verlor er die Kontrolle über Pferde und Weg. Der Wagen raste in wilden Schleifen über den Himmel und kam der Erde zu nahe. Städte und Wälder gerieten in Brand, Flüsse verdampften. Bei dieser Gelegenheit entstand die Libysche Wüste, und der Nil versteckte seinen Kopf (seine Quelle). Die Quelle des Nils gehörte in der Tat zu den großen Geheimnissen der Antike. Schließlich schoss Jupiter den unfähigen Wagenlenker mit einem Blitz von der Deichsel. Der Strahl tötete Phaeton auf der Stelle. Die Rosse rissen sich los, der Sonnenwagen brach in Stücke, und Phaeton stürzte vom Himmel in den Fluss Eridanos. Die hesperischen Najaden bargen und begruben ihn. Auf seinen Grabstein, berichtet Ovid, meißelten sie die Worte:

»Hier liegt Phaeton, Lenker des väterlichen Wagens. Wenn er ihn auch nicht hielt, so fiel er immerhin bei einem kühnen Wagnis.«[1]

Einen Tag trauert der Sonnengott am Grab seines Sohnes, und es erschien keine Sonne am Himmel. Aber, so spottet Ovid, es brannte ja überall und so gab es genug Licht.

Vielleicht musste auch erst der Wagen repariert und die Pferde eingefangen werden. Wer diese unerfreuliche Aufgabe übertragen bekam, wird nicht berichtet. Aber vermutlich durfte Vulkan (griechisch Hephaistos), der Handwerker unter den Göttern, den Sonnenwagen in einer Nachtschicht wiederherrichten.

Die Erde wird geflutet

Götter scheinen gelegentlich Gefallen daran zu finden, die Menschen an den Rand des Aussterbens zu bringen. Und wenn man den Sagen vieler Völker Glauben schenken will, betrachteten sie eine große Überschwemmung als das geeignete Mittel (siehe Deucalion und Pyrrha). Das babylonische, in akkadischer Sprache abgefasste Atrachasis- oder Atrahasis-Epos ist mit einem Alter von mindestens 3700 Jahren der älteste schriftlich überlieferte Flutmythos der Welt. Ursprünglich, so beginnt die Geschichte, teilten sich drei Götter die Herrschaft über die Welt: An beherrschte den Himmel, Enlil die Erde und Enki die Quellen und den unterirdischen Süßwasserozean. Menschen gab es noch nicht, und die Götter wohnten auf der Erde. Auf der Stufe unter den herrschenden großen Göttern bilden sieben weitere die Aristokratie dieses archaischen Gemeinwesens, und der Rest – arbeitete. Irgendwann wurde ihnen das zu viel, und sie organisierten den ersten schriftlich bezeugten Streik der Geschichte. Enki, der auch Schöpfergott war, versprach ihnen Erleichterung und schuf mit der Muttergöttin Mama die Menschen, damit sie den Göttern zu Diensten waren. Diese Idee erwies sich als sehr erfolgreich, hatte aber beträchtliche Nebenwirkungen: Die Menschen vermehrten sich ungehemmt, und nach 1200 Jahren begann ihr Lärm den Göttern auf die Nerven zu gehen. Enlil beschwerte sich, dass er nicht mehr schlafen könne. Die Götter beschlossen, eine Seuche zu schicken. Der gelehrte Atrachasis (der überaus Weise) betete zu Enki, und der verhinderte das Schlimmste, indem er die Menschen anwies, dem Gott der Krankheiten zu opfern, damit die Seuche ein Ende habe. Der Sage nach war Atrachasis ein König und, wie der griechische Halbgott Prometheus (der Vorausdenkende), ein Kulturheros.

Nach weiteren 1200 Jahren schickten die Götter eine Dürre, dann eine Hungersnot, aber das alles half nur für eine gewisse Zeit, und bald herrschte wieder der übliche Lärmpegel. Schließlich wollte sich Enlil nicht mehr auf Kompromisse einlassen und beschloss, die gesamte Erde zu überfluten, um der Menschenplage ein für alle Mal ein Ende zu machen. Enki konnte ihn zwar nicht aufhalten, aber er bewegte den (offenbar äußerst langlebigen) Atrachasis dazu, eine Arche zu bauen. Wie Noach[2] rettete er darin seine Familie und alle Tierarten. Inzwischen ging den Göttern auf, dass sie soeben ihre Arbeiter und Diener umgebracht hatten, und sie litten Hunger und Durst. Nach sieben Tagen ging die Flut zurück, und Atrachasis brachte ein Dankopfer, um das sich die Götter »wie Fliegen« scharten. Enlil ärgerte sich, dass Enki ihn übertölpelt hatte, aber Enki arbeitete mit der Muttergöttin ein Verfahren aus, das die Fruchtbarkeit der Menschen reduzieren sollte, um die fatale Überbevölkerung in Zukunft zu vermeiden.

Eine ähnliche Geschichte erzählt das babylonische Gilgamesch-Epos.

Atrachasis heißt hier Utanapishti (oder Utnapishtim) und wird für die Rettung der Tiere und Pflanzen in seiner Arche als einziger Mensch mit der Unsterblichkeit belohnt. Allerdings erklärt das Gilgamesch-Epos nicht, warum die Götter die Erde überfluteten. Dafür zeigt es erstaunliche Parallelen zur Sintfluterzählung der Bibel: Utanapishtis Arche strandet auf einem hohen Berg, und wie Noach schickt er Vögel aus, um zu erkunden, ob die Erde schon bewohnbar ist.

Damit sind wir beim biblischen Sintflutmythos angelangt. Angesichts des allgemeinen Sittenverfalls wollte Gott die Welt überfluten, aber den ehrlichen, aufrechten, gottesfürchtigen Noach wollte er verschonen. Warum Gott beschloss, alle Landtiere für die Bosheit der Menschen büßen zu lassen, hat er Noach nicht verraten. Wenn man den Mythos liest, stößt man auf verwirrende Widersprüche. In Gen 6,19 (lies: Genesis, sechstes Kapitel, neunzehnter Vers) weist Gott Noach an:

Von allem, was lebt, von allen Wesen aus Fleisch führe je zwei in die Arche, damit sie mit dir am Leben bleiben; je ein Männchen und ein Weibchen sollen es sein.

In Gen 7,2 steht dagegen:

Von allen reinen Tieren nimm dir je sieben Paare mit und von allen unreinen Tieren je ein Paar, auch von den Vögeln des Himmels je sieben Männchen und Weibchen, um Nachwuchs auf der ganzen Erde am Leben zu erhalten.

Mal dauert die Flut 40 Tage, mal 300 Tage (150 Tage zunehmend, 150 Tage abnehmend). Insgesamt ist die Geschichte wegen ihrer Widersprüche und Wiederholungen nur schwer lesbar. Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass die Bibel nicht eine, sondern zwei Flutgeschichten enthält, die ineinander verschränkt sind. Die ältere (auch J genannt, weil dort Gott durchgehend als Jahwe bezeichnet wird) stammt vermutlich aus den überlieferten Schriften der Priesterschaft des Königreichs Juda mit der Hauptstadt Jerusalem. Sie enthalten eine frühe Version der Sintfluterzählung und weitere Teile der fünf Bücher Moses. Über den Entstehungszeitraum streiten sich die Gelehrten, er wird zwischen ca. 950 und 722 v.Chr. angesetzt. Warum ausgerechnet 722? In diesem Jahr eroberte Assur das nördlich von Juda gelegene Königreich Israel. Davon findet sich in J keine Spur, die Sammlung ist also vermutlich früher entstanden. Der andere Text, die sogenannte Priesterschrift P, entstammt einer späteren Zeit und geht ebenfalls auf die Priester zurück, denn außer ihnen war kaum jemand des Schreibens mächtig. Zwischen J und P hat der Glaube sich weiterentwickelt, die Priester beanspruchen jetzt die Rolle der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Gott spricht in P nicht mehr persönlich, er hat sich in höhere Sphären zurückgezogen und schickt nur noch seine Engel. Die Schrift P stammt entweder aus der Zeit um 700 v.Chr. oder aus der Zeit des Babylonischen Exils (597–539 v.Chr.). Später hat jemand diese beiden Schriften (und weitere) zur endgültigen Bibel zusammengefasst. Dabei wollte er offenbar keine der alten Schriften für falsch erklären und hat mehrere Versionen der Erzählungen ineinandergeschachtelt.

In J ist von sieben Paaren der reinen Tiere die Rede, denn Noach wird nach seiner Rettung ein Dankopfer darbringen. Reine Tiere sind solche, die als Opfertiere geeignet sind. Hätte er von allen Tieren nur ein Paar mitgenommen, wären die reinen Arten mit dem Dankopfer ausgestorben. Das wäre keine gute Idee gewesen, nachdem Noach sich so abgemüht hatte, sie zu retten. In der priesterlichen Version P der Geschichte ist von dem Opfer keine Rede mehr, denn nach ihrer Auffassung steht es ausschließlich Priestern zu, die Opferriten zu vollziehen. Noach ist zwar Stammvater der Menschen, aber keineswegs ein Priester. Also reicht in der Version P ein Paar von jeder Tierart. Mit kleinlichen Fragen wie dem Transport weit entfernter Tierarten zur Arche oder dem eventuellen Tod von Tieren auf der Arche gibt sich keine der beiden Versionen ab. Wir haben es eindeutig mit einer Sage zu tun.

Gott ließ es 40 Tage regnen (J) bzw. öffnete die Schleusen des Himmels und der Erde (P). Als gebildete Männer kannten die späteren Priester offenbar das akkadische Weltbild, nach dem die Erde eine Insel mit einer Luftblase zwischen einem unterirdischen und einem himmlischen Ozean ist. Ein allmächtiger Gott würde es natürlich nicht einfach regnen lassen, nein, er würde die ganze Gewalt der Schöpfung gegen die Menschen einsetzen. Wie auch immer, Noach ging mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und deren Frauen an Bord, und die Arche schwamm auf. Das Wasser überschwemmte auch die höchsten Berge, und »alles, was auf der Erde durch die Nase Lebensgeist atmete, kam um«. Erst nach 40 Tagen (J) bzw. mehr als einem Jahr (P) konnten Noach, seine Familie und die versammelte Tierwelt die Arche verlassen. Noach baute einen Opferaltar (J) und brachte Gott von jedem reinen Tier und jedem reinen Vogel ein Exemplar als Brandopfer dar (nein, fragen Sie jetzt nicht, wie groß dieser Haufen gewesen sein muss). Gott gefiel der Duft des Opfers, und er beschloss, die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal zu verfluchen, denn »das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an«. Das bedeutet wohl am ehesten, dass es sinnlos ist, wegen der sowieso unverbesserlichen Menschen gleich die halbe Schöpfung einzureißen. Im Anschluss segnete Gott Noach und seine Söhne und versprach ihnen, in Zukunft keine Sintflut mehr zu schicken. Die Schilderung des Opfers steht nur in J, die Priesterversion schweigt dazu. Dafür gibt sie Noach eine Reihe göttlicher Befehle und Regeln mit auf den Weg.

»Seid fruchtbar und mehret Euch und bevölkert die Erde«, fordert Gott und legt zugleich fest, dass die Menschen alles Fleisch, das sie essen, ausbluten lassen müssen. Der Regenbogen gilt seither als Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen. »Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein …« Der Atrachasis-Mythos, das Gilgamesch-Epos und die biblische Sintfluterzählung weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Sie müssen deshalb nicht aus der gleichen Quelle stammen, aber wir dürfen annehmen, dass die Grundidee der Geschichte im ganzen Vorderen Orient bekannt war. Sie lautet etwa so: Ein früher Held baut, von einem Gott gewarnt, eine Arche für seine Familie und alle Tierarten, strandet auf einem Berg, schickt Vögel aus, um die Beschaffenheit des Landes zu testen und erhält für seine Rettungstat eine göttliche Belohnung. Um diesen Kern herum entwickeln die Völker und Gruppen ihre speziellen Mythen. So ist in der Bibel von Überbevölkerung nicht die Rede, im Gegenteil, Gott fordert Noach und seine Söhne ausdrücklich auf, viele Kinder zu zeugen, damit sie sich auf der ganzen Erde ausbreiten. Im Atrachasis-Mythos haben die Menschen anders als in der Bibel keine Schuld auf sich geladen, sie waren lediglich zu laut.

Generationen von Priestern haben die Sintflut-Erzählungen mit allerlei religiösen Symbolen angereichert. Ein Beispiel: Haben Sie sich schon mal die Bauanleitung für die Arche angesehen? Gott befahl Noach, eine große Kiste aus Zypressenholz zu bauen, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch. Von einem Kiel, einem Ruder oder einem Segel hat er nichts gesagt. Bei Beginn der Sintflut sollte Noach sich ins Innere begeben und alle Luken schließen. Im Gilgamesch-Epos hat die Arche zwar andere Maße, ist aber ebenfalls ein Kasten, kein Schiff. Noachs und Utanapishtis Archen waren also dicht geschlossene riesige Kisten ohne jede Steuerungsmöglichkeit, der Albtraum eines jeden Seefahrers! Vermutlich ist die Arche eher als mythischer Tempel zu verstehen, ein von höheren Mächten geschützter innerer Raum. Während draußen die Welt untergeht, liegt in der Arche wohlverwahrt der Keim der Erneuerung des Lebens.

Auch die amerikanischen Indianer haben ihre Flutmythen. Der deutschamerikanische Anthropologe Frans Boas fand bei mehreren Indianervölkern an den Großen Seen eine Legende, deren Grundelement er so wiedergibt:

Um die Großen Seen herum finden wir eine Sintflutlegende. Eine Anzahl von Tieren rettete sich in ein Kanu oder auf ein Floß, und mehrere von ihnen tauchten auf den Grund des Wassers, um das Land heraufzubringen. Der erste Versuch misslang, aber schließlich gelang es Bisamratte, etwas Schlamm heraufzubringen, welcher dann auf magische Weise vergrößert wurde und die Erde formte.

Diese und andere Legenden gehen nicht davon aus, dass eine Verwahrlosung menschlicher Sitten die Katastrophe auslöst. Eine Legende der Quichua im ecuadorianischen Amazonasgebiet berichtet von einer Flut, die nur »richtige« Menschen überlebten, während die übrigen ertranken. Der knapp vermiedene Weltuntergang schuf also Platz für eine neue und perfektere Welt, weil die Tüchtigen jetzt unter sich waren. Nicht die moralische Reinigung, sondern die Belohnung von Klugheit und richtiger Vorsorge steht hier im Vordergrund.

Flutlegenden dienten auch dazu, bestimmte Erscheinungen der Gegenwart zu erklären. Ein Beispiel aus Deutschland:

Der Teutoburger Wald ist ein Höhenzug, der sich von dem Städtchen Hörstel im äußersten Norden von Nordrhein-Westfalen in östlicher Richtung bis Horn-Bad Meinberg erstreckt. Wie sein Name andeutet, ist er weitgehend von Wald bedeckt, nur einige wenige Felsformationen stehen frei. Darunter sind die Externsteine bei Horn-Bad Meinberg und die Dörenther Klippen. Sie bestehen aus Osning-Sandstein, einem harten Sedimentgestein aus der Oberkreide, das der Verwitterung besser standhielt als die umgebenden Gesteine und deshalb hoch aufragende Felsgruppen und -türme bildet. Einer der Felsen in den Dörenther Klippen sieht aus wie ein gekrümmt stehender Mensch und heißt deshalb »das hockende Weib«. Eine in der Gegend sehr bekannte Sage soll die Entstehung erklären:

Am Fuße der Klippen lebte vor langer Zeit eine Frau mit ihren Kindern. Sie lagen damals am Meer, und bei Flut pflegte das Wasser zuweilen bis fast an die Klippen vorzudringen. Eines Tages aber stieg das Meer so hoch wie nie und drang in ihre Hütte. Mit den Kindern rettete sie sich auf die Klippen, aber die Wellen überspülten auch die Spitzen der Felsen. Sie hockte sich auf den höchsten Felsblock und nahm die Kinder auf den Rücken. Immer weiter stieg das Wasser und begann, sie mit tausend kalten Fingern vom Felsen zu zerren. In ihrer Not flehte sie zu Gott: »Lieber Gott, wenn ich schon sterben muss, dann rette wenigstens die Kinder.« Da versteifte sich ihr Rücken und sie hatte wieder festen Stand. Doch als das Wasser fiel, konnte sie sich nicht mehr rühren, denn Gott hatte sie versteinert, um die Kinder vor der Flut zu retten.

Dieser Flutmythos erklärt ausschließlich das Aussehen des Felsens, er hat keine Verbindung zu einer vorzeitlichen Katastrophe. Eventuell haben auch andere, ähnliche Legenden einen solchen Hintergrund. Beispielsweise findet man in verschiedenen europäischen Gebirgen in einigen tausend Metern Höhe versteinerte Abdrücke von Meerestieren. Die frühen Menschen mussten also annehmen, dass eine große vorzeitliche Flut die Tiere dorthin gespült hatte.

Herkunft und Bedeutung der Flutmythen

Nahezu alle Völker kennen Flutmythen. Ist vielleicht die Zerstörung allen Landes durch reißendes Wasser eine Grundangst des Menschen? Dafür gibt es bislang keine Belege. Andererseits kommen verheerende Überschwemmungen fast überall vor. Eine mythische Erzählung von einer weltumspannenden Flut als göttliche Übersteigerung einer tatsächlich erlebten Katastrophe wäre also durchaus plausibel. Zu den frühesten Mythen hat vermutlich der ständige Anstieg des Meeresspiegels nach der letzten Eiszeit beigetragen (die Geologen sprechen bei einer dauerhaften Überschwemmung von Land von einer Transgression). Viele steinzeitliche Küstengebiete liegen heute tief unter Wasser. Der Persische Golf, in den die Flüsse Euphrat und Tigris münden, ist im Durchschnitt keine 50 Meter tief und war vor 12000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, eine flache Schwemmland-Ebene. Damals regnete es dort deutlich mehr als heute, und auch die benachbarte Saudi-arabische Wüste war eine Savanne mit guten Lebensbedingungen für Menschen. Zwischen etwa 7000 und 4000 v.Chr. eroberte das Meer mit einer Geschwindigkeit von ca. 100 Meter pro Jahr den Persischen Golf und drängte die Menschen zurück. Damals muss die Gegend fruchtbar, dicht besiedelt und feucht gewesen sein. Aber das Leben der Menschen war auch von heftigen Monsunregen und dem aussichtslosen Kampf gegen das unerbittlich vordringende Meer geprägt. So wäre es kein Wunder, wenn sich Erzählungen von großen Fluten über die Jahrhunderte fortgepflanzt hätten. Gegen 4000 v.Chr. reichte das Meer bis fast zum heutigen Bagdad. Die historische Metropole Ur in Chaldäa war eine Hafenstadt direkt am Golf. Erst als der Meeresspiegel nicht mehr anstieg, rückte die Küste wieder vor, denn die Flüsse Euphrat und Tigris luden die mitgeführten Sedimente im flachen Golf ab, der daraufhin immer mehr verlandete. Ur liegt heute mehr als 200 Kilometer von der Küste entfernt. Etwa 4000 v.Chr. wurde das bis dahin feuchte Klima trockener, und die Wüsten breiteten sich aus. Flüchtlinge kamen in das immer noch fruchtbare Zweistromland, das bald unter Überbevölkerung litt. Alle diese Erfahrungen könnten in den Atrachasis-Mythos eingeflossen sein.

Natürlich gibt es auch andere Meinungen zu diesem Thema. Die Archäologen William Ryan und Walter Pitman sehen den Ursprung des biblischen Sintflutmythos am Schwarzen Meer. Am Ende der letzten Eiszeit war das Schwarze Meer ein Süßwassersee (Euxines-See) ohne Verbindung zum Mittelmeer. Erst der Anstieg des Meeresspiegels öffnete den Bosporus, und salziges Meerwasser bahnte sich seinen Weg in den See. Ryan und Pitman waren an der Erforschung der Spuren dieses Ereignisses maßgeblich beteiligt. Der Spiegel des Schwarzen Meeres lag damals tiefer als der des Mittelmeers und so wurden auch weite Landstriche an der Nordküste des ehemaligen Sees überschwemmt. Ob die dort wohnenden Völker aber daraufhin in alle Richtungen ausschwärmten und die Sintflutlegende bis zum Zweistromland und nach Palästina trugen, ist höchst unsicher. Nicht nur im Vorderen Orient, sondern überall in der Welt stieg der Meeresspiegel in den letzten 10000 Jahren um mehr als 100 Meter an. Alle altsteinzeitlichen Siedlungen am Mittelmeer, an der Nordsee und am Atlantik sind versunken. Die Erinnerung an immer wieder überflutete Dörfer, an die Flucht vor den ständig steigenden Wassermassen mag der Kern vieler Flutmythen sein.

Fast alle diese Erzählungen haben eines gemeinsam: Sie sind in einer fernen Vergangenheit angesiedelt, einer buchstäblich versunkenen archaischen Kulturstufe, in der Götter und Menschen sich aneinander rieben und kein tragbares Modell für ein dauerhaftes Zusammenleben gefunden hatten. So sind die Fluterzählungen im Grunde keine Endzeitmythen, vielmehr erzählen sie, wie Götter und Menschen es lernten, miteinander auszukommen und friedlich zusammenzuleben.

Der Tod der letzten Sonne

Der Glaube der antiken Römer und Griechen kannte keine Prophezeiungen über ein Weltende. Auch bei den Juden entwickelte sich die Idee von einem göttlichen Gericht als Schlussstrich unter die Welt erst im letzten Jahrhundert vor Christus.

Erst im Christentum und noch stärker im Islam wurde der Glaube an das Jüngste Gericht zum festen Bestandteil der Religion. Bevor wir aber die Ausbildung dieser Mythen nachzeichnen, möchte ich Sie zunächst auf einen Rundgang durch verschiedene Religionen der Welt einladen. So kann man beispielsweise die Kultur der Azteken mit ihren blutigen Menschenopfern nur verstehen, wenn man den Weltendemythos dieses Volkes kennengelernt hat.

Während die Religionen der europäischen und vorderasiatischen Antike einen stabilen Kosmos mit unsterblichen Göttern lehrten, sahen sich die Azteken in Mexiko ständig und unmittelbar vom Weltende bedroht. Ihr oberster Gott war die Sonne. Jede Nacht musste er durch die dämonenverseuchte Unterwelt nach Osten wandern. Nur ständige Opfer machten ihn stark genug dafür. In Europa ist nahezu unbekannt, wie hoch diese Kultur entwickelt war, bevor der spanische Konquistador Hernán Cortés sie 1521 zerstörte.

Die Azteken leiten ihren Namen von ihrer mythischen Urheimat Atzlán (Silberreiherland) ab. Ihre Kultur entstand keineswegs aus dem Nichts, im Gegenteil, im Hochtal von Mexiko gab es bereits seit 500 v.Chr. permanente Siedlungen. 45 Kilometer nordöstlich der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán (dem heutigen Mexico City) liegt die Ruinenstadt Teotihuacán. Sie war seit etwa 50 n.Chr. bewohnt und wurde über lange Zeit planmäßig und schachbrettartig ausgebaut. Ihre gigantischen Tempelanlagen stehen noch heute und ziehen Touristen aus aller Welt an. 500 n.Chr. war Teotihuacán mit ca. 125000 Einwohnern eine der größte Städte der damaligen Welt. Zur Zeit der Aztekeneinwanderung lag sie allerdings bereits in Trümmern. Das namenlose Volk, das sie errichtet hatte, hatte die Stadt im 10. Jahrhundert aufgegeben. Einige hundert Jahre später errichteten die kriegerischen Tolteken ein großes Reich, das mit der Zerstörung ihrer Hauptstadt Tollan (heute Tula) ein gewaltsames Ende fand. Ihre Religion kannte bereits Menschenopfer, eine Tradition, die in aztekischer Zeit buchstäblich mörderische Ausmaße annahm.

Die einwandernden Azteken verdingten sich zunächst als Söldner und gründeten erst im Jahre 1325 auf Schilfinseln im abflusslosen und salzigen Texcocosee die Stadt Tenochtitlán, die schnell zu ihrer Hauptstadt wurde. Der See ist längst verschwunden, und das ehemalige Tenochtitlán ist zum Zentrum von Mexiko-Stadt geworden. In den nächsten 200 Jahren stiegen die Azteken zur führenden Großmacht in Mittelamerika auf. Tenochtitlán wurde planmäßig und prächtig ausgebaut. Militärisch war die Stadt durch ihre Lage im See fast uneinnehmbar, lediglich drei Dämme führten von verschiedenen Seiten über den See. Straßen und Wasserwege bildeten ein effektives und dichtes Verkehrsnetz in der Stadt. Zu ihrer Blütezeit im 15. Jahrhundert hatte Tenochtitlán mehr Einwohner als das zeitgenössische Paris! Die Gesellschaft war streng gegliedert: An der Spitze standen der König und seine Familie. Die Anführer der Kriegervereinigungen und besonders tapfere Krieger bildeten den Adel. Die große Masse des Volkes bestand aus Gemeinfreien und Sklaven. Eine ganz besondere Stellung hatten die Priester inne. Nur ihre Gebete, Rituale und Blutopfer garantierten den Nacht für Nacht bedrohten Fortbestand der Welt.

Die Azteken glaubten, ihr Zeitalter sei die fünfte Sonne. Die vorangegangenen vier Sonnen waren jeweils mit einer Weltkatastrophe untergegangen. Dabei verschwand auch die Sonne vom Himmel, so dass jedes Zeitalter eine neue brauchte. Die vier vergangenen Zeitalter waren mit je einem der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft verbunden. Im ersten Zeitalter, dem der Erde, beherrschte ein Geschlecht von Riesen die Welt. Sie grüßten sich mit der Formel »Fall nicht!«, denn wer fiel, kam nicht mehr hoch, weil er zu schwer zum Aufstehen war. Diese Welt wurde vom Gott Tezcatlipoca (Der rauchende Spiegel) geschaffen, der sich auch gleich in die Sonne verwandelte. Sein Bruder Quetzalcoatl aber war neidisch auf ihn und trieb ihn in den Urozean, der die Erde umgab. Tezcatlipoca verwandelte sich daraufhin in einen riesigen Jaguar und fraß mit einer Horde von Jaguaren die Riesen auf. Damit ging die Sonne des Jaguars zu Ende und die Sonne des Windes begann. Sie gehörte Quetzalcoatl (die grün gefiederte Schlange), der sie erschuf und regierte. Die Menschen dieses Zeitalters ernährten sich nicht mehr von Kiefernzapfen wie die Riesen, sondern sie aßen die Früchte des Johannisbrotbaums. Am Ende dieses Zeitalters ließ Tezcatlipoca einen furchtbaren Wirbelsturm kommen, der Götter, Menschen und Tiere tötete oder in den Dschungel schleuderte. Die überlebenden Menschen verwandelten sich in Affen.

Der Fruchtbarkeitsgott Tlaloc schuf das dritte Zeitalter, die Sonne des Regens. Die Menschen dieser Sonne begannen mit dem Ackerbau. Quetzalcoatl ließ diese Sonne auf besonders grausame Weise untergehen. Er schuf einen glühenden Regen, dessen Asche die Zeitalter überdauerte und noch in der fünften Sonne sichtbar blieb. Die Überlebenden wurde zu Schmetterlingen, Hunden oder Truthähnen. Die Göttin Chalchiutlicue (die mit dem Jaderock) beherrschte das vierte Zeitalter, die Sonne des Wassers. Chalchiutlicue war die Frau von Tlaloc und die Göttin der irdischen Gewässer, der Seen, Tümpel und Flüsse. Irgendwann aber ließ Chalchiutlicue das unterirdische Wasser emporsteigen und die Menschen ertranken oder verwandelten sich in Fische.

Dieser Mythos beschreibt die vorangegangenen Welten als eine Art Testläufe, als unzureichende Entwürfe, die ausgelöscht und verbessert werden, bis der gegenwärtige Zustand erreicht ist.

Zur Zeit der Azteken waren diese Zeitalter längst vergangen und hatten der fünften Sonne Platz gemacht. Sie gehörte dem Sonnengott Tonatiuh (der leuchtend voranschreitet). Die Menschen erreichten die höchste Kulturstufe und bauten Mais an. Aber in diesem Zeitalter gab es erstmals auch Krankheiten und Kriege. Das Zeitalter hieß auch dieSonne der Bewegung. Der damit verbundene Mythos ist der Ursprung der aztekischen Menschenopfer. Zwei Götter, so hieß es, hatten sich bereit erklärt, nach dem Untergang der vierten Sonne als Sonne am Himmel zu erscheinen. Dazu jedoch mussten sie sich selbst opfern, das heißt, inmitten von Opfergaben in ein heiliges Feuer springen. Der hochmütige Gott Tecuciztecal schreckte viermal zurück, der bescheidene, hässliche und pflichtbewusste Nanahuatzins hingegen sprang, ohne zu zögern, in sein Feuer, verbrannte und verschwand. Er wurde dadurch zum mächtigen und strahlenden Sonnengott Tonatiuh. Der beschämte Gott Tecuciztecal sprang jetzt ebenfalls ins Feuer und tauchte kurz darauf hell leuchtend am Himmel auf. Die Götter fürchteten, dass die Erde so viel Helligkeit nicht vertragen könnte, und so warf einer von ihnen Tecuciztecal ein Kaninchen ins Gesicht. Darauf verlor sein Licht an Kraft, und er wurde zum Mond. Noch heute kann man bei Vollmond das Kaninchen in seinem Gesicht erkennen. Der Sonnengott aber blieb am östlichen Himmel stehen und weigerte sich, den Himmel hinaufzusteigen. Nur wenn die Götter ihm einen Lehenseid leisteten und ein Blutopfer brachten, werde er seine Bahn ziehen, erklärte er. Quetzalcoatl sah sich gezwungen, die anderen Götter zu opfern. Er schnitt ihnen das Herz heraus und opferte ihr Blut. Erst jetzt zog Tonatiuh über den Himmel, und die Sonne der Bewegung begann. Eines schrecklichen Tages, so glaubten die Azteken, werde das gegenwärtige Zeitalter durch eine Bewegung der Erde, also durch Erdbeben, zugrunde gehen. Eine weitere Sonne werde es aber nicht geben, und die Schöpfung, die Menschen und sogar die Zeit selbst seien unwiderruflich zum Untergang verurteilt. Nur die Wiederholung des Blutopfers der Götter halte die Sonne in Bewegung und verhindere das Ende der letzten Sonne.

Die Azteken sahen sich als Sonnenkrieger, ihr oberster Gott war Tonatiuh, die Sonne. Jede Nacht, so glaubten sie, kämpfte Tonatiuh mit den Mächten der Finsternis, vielleicht starb er sogar, wanderte als Skelett durch das dunkle Tal der Toten und wurde am Morgen wiedergeboren. Es war die Aufgabe der aztekischen Priester, ihn zu unterstützen und zu stärken. Deshalb führten sie dem Sonnengott göttliche Nahrung zu, nämlich menschliches Blut. Opferblut hatte einen besonderen Namen: chalchiuatl – kostbare Flüssigkeit. Dieser vermutlich schon vor den Azteken verbreitete Kult überlagerte sich bald mit dem von Huitzilopochtli, den Hochgott der Azteken. Er repräsentierte die mythologische Grundlage des Machtanspruchs der Azteken über die Völker der mexikanischen Hochebene und forderte ebenfalls Menschenopfer.

Die Opferrituale verlangten echtes, nicht etwa symbolisches Blut. Die Priester brauchten also Menschenopfer. Die Azteken opferten zunächst Freiwillige, die speziell auf ihr Schicksal vorbereitet wurden und denen dafür Vorteile im Jenseits versprochen wurden. Bald reichte das nicht mehr, und so wurden Kriegsgefangene geopfert. Der Blutdurst der Sonne war aber kaum zu stillen, und so vereinbarten die Azteken mit ihren Nachbarn (die ebenfalls Menschenopfer brauchten) eine Art Scheinkriege, die sogenannten Blumenkriege, deren einziges Ziel es war, möglichst viele Gefangene zu nehmen. Möglicherweise waren die Blumenkriege zunächst eher eine Art ritterliche Turniere, in denen Krieger Ehre und Ruhm erlangten. In späteren Jahren stand aber die Gefangennahme für Menschenopfer immer mehr im Vordergrund. Auf der großen Sonnenpyramide hielten zwei oder vier Priester den Todeskandidaten an Armen und Beinen fest, während ein weiterer ihm mit einem scharfen Obsidianmesser die Brust öffnete und das Herz herausriss. Die Toten wurden dann an den Seiten der Pyramide in die Tiefe gestürzt. Die Anzahl der Opfer ging möglicherweise in die Tausende – pro Jahr. Bei größeren Feiern wurden angeblich Hunderte von Gefangenen an einem Tag geopfert. Nicht alle Forscher teilen die Meinung, dass die Menschenopfer tatsächlich stattgefunden haben. Der Schweizer Altamerikanist Peter Hassler ist beispielsweise davon überzeugt, dass sie nur symbolisch waren und die blutigen Einzelheiten von den Konquistadoren erfunden wurden, um ihr grausames Vorgehen gegen die Indianer zu rechtfertigen. In der Tat sind viele Beschreibungen der Opferung medizinisch kaum möglich (genauer möchten Sie das nicht wissen, glauben Sie mir). Andererseits gibt es archäologische Befunde, die eindeutig darauf hinweisen, dass tatsächlich Menschen geopfert wurden, wenn auch nicht in dem Maße, wie manchmal behauptet wird.

Trotz dieser grausamen Rituale waren die Azteken keineswegs primitive Wilde. Sie hatten ein hochentwickeltes Schulwesen, verfügten über eine eigene Schrift und überlieferten einen reichen Schatz an Mythen. Literatur und Kunst standen in hoher Blüte. Über die Ärzte, die Ticiti, hieß es beispielsweise:

Der gute Arzt ist weise, überdenkt alles, ist wohlbewandert. Er ist ein guter Kenner der Kräuter, Steine, Bäume und Wurzeln. Er macht ganze Arbeit, ist reich an Erfahrung, untersucht alles und wägt ruhig ab …

Der schlechte Arzt nimmt seine Sache nicht ernst, dieser Pfuscher, der mit seinen Medizinen die Leute umbringt, indem er sie mit ihnen überfüttert …

Das würde heute auch noch jeder Mediziner unterschreiben. Wie passt diese hochentwickelte Kultur zu den vielfachen Menschenopfern? Warum hat sich nicht, wie in anderen Religionen üblich, eine zunehmende Verschiebung zu symbolischen Opfern ausgebildet? Vielleicht hing es mit der Rivalität verschiedener Priesterschulen zusammen. Die Macht der Priester des Sonnengottes stieg natürlich mit der Bedeutung ihrer Opferrituale. Je größer der Aufwand war, den die Gesellschaft für sie treiben musste, desto größer ihr Ansehen. Möglicherweise drohten sie so glaubhaft mit dem Weltuntergang, dass niemand ihre Forderungen abweisen mochte.

Müssen wir uns die Azteken als angstgetriebene Gesellschaft vorstellen, die jeden Morgen um den nächsten Sonnenaufgang bangte? Die normalen Einwohner hatten sicherlich andere Sorgen, sie überließen den Priestern den Umgang mit den Göttern. Bei Priestern und Adel mag das anders gewesen sein. So genau lässt sich das nicht mehr feststellen. In jedem Fall aber war die Herrschaft der Azteken nicht mehr stabil, als die spanischen Konquistadoren unter Hernán Cortés an der mexikanischen Küste landeten. Die Azteken hatten die unterworfenen Völker niemals in einen Staat integriert, sondern beuteten sie lediglich aus, sie führten also eine Art Tributimperium. Dazu gehörte auch, dass die unterworfenen Völker einen ständigen Strom von Menschen für die Opferungen zu stellen hatten. Man darf wohl nicht davon ausgehen, dass die mexikanischen Völker die Menschenopfer prinzipiell abstoßend fanden, viele von ihnen praktizierten sie vermutlich selber. Aber die ständige Verpflichtung, Krieger zur Opferung abzustellen, demütigte die Völker und brachte sie gegen die Azteken auf.

Als sich zeigte, dass Hernán Cortés ein ernstzunehmender Gegner der Azteken war, schlossen sich ihm mehrere der unterworfenen Völker an. Andere blieben neutral. Trotzdem führte Cortés mit wechselnden indianischen Bundesgenossen zwei Jahre lang (1519–1521) einen regelrechten Krieg gegen die Azteken, den er letztlich nur mit sehr viel Glück gewann. Zeitweilig hatten 500 bis 1000 spanische Soldaten das Kommando über mehr als 100000 Mann indianischer Hilfstruppen!

Auch ohne die spanischen Eroberer wäre das Reich vermutlich zerfallen, sobald ein entschlossener und kampfstarker Gegner aufgetreten wäre.

Der Fall der unsterblichen Götter

»Schwarz wird die Sonne, die Erde stürzt ins Meer, vom Himmel fallen die heiteren Sterne.«Völuspá,Lieder-Edda

 

Nur selten berichten die Sagen eines Volkes von der fast vollständigen Auslöschung aller Götter und ihres Wohnsitzes. Die nordischen Mythen bilden eine Ausnahme: Die Prophezeiung des Ragnarök (Untergang oder Schicksal der Götter, auch Götterdämmerung genannt) gehört zu den bekanntesten überlieferten Mythen. Sie beschreibt, wie sich die Götter und ihre Gegner, die vorzeitlichen Riesen und Ungeheuer, in einer gigantischen Schlacht gegenseitig umbringen. Der Wohnsitz der Götter geht in Flammen auf, und die Erde überlebt nur knapp.

Für den Mythos gibt es lediglich zwei Quellen, zwei Sammlungen von nordischen Götter- und Heldensagen unter dem Namen Edda. In der älteren Sammlung Ältere Edda, auch Lieder-Edda genannt, findet sich die Völuspá, ein bildgewaltiges Stabreimgedicht. Sie beschreibt die Geschichte der Welt von ihrer Schöpfung bis zu ihrem Untergang in der Götterdämmerung und darüber hinaus. Denn mit dem Ende der alten Götter beginnt ein neues, knapp angedeutetes Zeitalter.

Die Jüngere Edda, auch unter dem Namen Prosa-Edda bekannt, beschreibt ebenfalls den Weltuntergang und zitiert dabei ausführlich aus der Lieder-Edda. Der Autor der Prosa-Edda ist bekannt: Es ist der isländische Politiker, Dichter und Rechtsgelehrte Snorri Sturluson (1179–1241). Die Lieder-Edda wurde später niedergeschrieben, vermutlich gegen 1270, ebenfalls auf Island. Das Land war zu dieser Zeit bereits christlich geprägt, und es ist unklar, inwieweit christliches Gedankengut in die Mythen eingedrungen ist.

Überlieferung und Dichtung

Man darf sich die germanische Überlieferung nicht als einen Kanon heiliger Bücher vorstellen und die Germanen nicht als ein Volk im heutigen Sinne. Eine einheitliche Herkunft, Sprache oder Mythologie hat es nach heutiger Auffassung nicht gegeben. Als Germanen bezeichneten die Römer die Stämme am Rhein und östlich davon sowie nördlich der Donau und in Skandinavien. Die vielen Dörfer, Herrschaftsbereiche und Stämme hatten eine einigermaßen ähnliche bäuerliche Kultur. Ein germanisches »Urvolk« hat es aber wohl nie gegeben.

Die Götter- und Heldensagen wurden mündlich und bruchstückhaft überliefert und weitergetragen. Die Namen der Götter, ihre Funktion und die Grundmuster bestimmter Mythen waren überall ähnlich. Darauf deuten Bild- und Runensteine aus dem 10. und 11. Jahrhundert hin, die man in Schweden, England und auf der Isle of Man gefunden hat. Sie zeigen Szenen, die man mit aller Vorsicht als Ausschnitte aus dem dramatischen Endkampf der Götter interpretieren kann.

Es gab einen Grundbestand von Sagen, Märchen und Legenden, die sich aufeinander bezogen, wie man an den Anspielungen in den einzelnen Götterliedern erkennt. Begabte Sänger haben die alten Geschichten immer wieder in Verse gefasst und an den Publikumsgeschmack angepasst. Die meisten dieser Sagen sind verloren, überliefert ist lediglich die isländische Version. Skandinavische, englische oder kontinentaleuropäische Varianten sind nur in kleinsten Bruchstücken erhalten. Die germanischen Legenden bildeten keinen verbindlichen Bestandteil der Religion, sie waren lediglich Geschichten, in denen Götter vorkamen. Rückschlüsse auf religiöse Rituale oder Glaubensbekenntnisse lassen sie nicht zu. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Das Märchen von Frau Holle ist vermutlich von einer vorchristlichen Gottheit abgeleitet, die Macht über das Wetter hat und in einer »Anderwelt« wohnt. In Deutschland kennt das Märchen fast jeder, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass die Menschen an eine Wettergöttin glauben. Ebenso kann man aus dem ungeordneten Wust von Götter- und Heldensagen kaum auf den Kern der germanischen Religion schließen. Niemand weiß, ob die Völuspá, der Gesang vom Beginn und Ende der Welt, ein Glaubensbekenntnis darstellte oder lediglich die in Island umlaufenden Legenden zusammenfasste.

Die Akteure

Weil der germanische Götterhimmel etwas unübersichtlich ist, hier zunächst die wichtigsten Personen und Ereignisse:

Am Anfang war nur die Leere, ein gähnender Abgrund, Gunningagap genannt. Daraus entwickelte sich irgendwie der zwitterhafte Ur-Riese Ymir. Es gab auch eine Ur-Kuh, Audumla, und sie leckte aus einem Salzblock den Gott Buri frei. Seine Nachfahren erschlugen Ymir und zerlegten ihn. Aus seinem Fleisch entstand die Erde, aus dem Blut das Meer, aus seinen Zähnen die Felsen, aus seinen Augenbrauen Midgard (der Wohnsitz der Menschen), aus seinem Schädel der Himmel und aus seinem Gehirn die Wolken. Am Weltende tauchen noch weitere Riesen auf, die zu Beginn der Welt geschaffen wurden, aber erst an ihrem Ende aktiv werden. Der Feuerriese Surtur wird dann zum wichtigsten Gegenspieler der Götter. Vorher bewacht er das feurige Land Muspelheim, das weit im Süden liegt. Er verkörpert die zerstörerische Macht des Feuers und kämpft mit einem Flammenschwert. Muspels Söhne, die Bewohner Muspelheims, werden ihn im letzten Kampf begleiten.

Zu den mythischen Ungeheuern zählt auch die Midgardschlange tief im Meer. Sie ringelt sich einmal ganz um die Welt der Menschen. Ihre Bewegungen erzeugen Sturmfluten. Den gefährlichen Fenriswolf haben die Götter nur durch einen Trick dauerhaft binden können. Am Weltende wird sich seine magische Fessel Gleipnir lösen, so dass er in die letzte große Schlacht eingreifen kann. Eventuell ist er mit dem Höllenhund Garm identisch, der vor der Gnipa-Höhle liegt und zuweilen schauerlich heult. Beim Weltende tauchen beide Ungeheuer als Gegner der Götter auf.

Die germanischen Götter gehören zwei verschiedenen Clans an: den älteren Wanen und den jüngeren Asen. Nach einem vorzeitlichen Waffengang (dem Wanen-Asen-Krieg) haben sie sich zusammengerauft und treten seitdem gemeinsam auf. Der Clanchef der Asen und Oberste der Götter ist der trickreiche, einäugige Odin. Sein Sohn Thor (gezeugt mit der Erdgöttin Jörd) ist ein junger und kraftstrotzender Krieger von eher bescheidenen Geistesgaben. Er führt den Kriegshammer Mjöllnir, der jedes Mal in seine Hand zurückkehrt, wenn er ihn geworfen hat. Sein Halbbruder Baldur ist der Gott des Lichts, der Schönheit und der Liebe, etwa mit dem griechischen Gott Apoll vergleichbar. Wie sein blinder Bruder Hödur stammt er aus der Verbindung von Odin mit Frigg, der Göttin der Liebe und Mutterschaft. Wegen seines fehlenden Augenlichts beurteilt Hödur die Menschen nicht nach ihrem Äußeren, sondern nach ihrem Herzen. Zum Schluss sollte man noch Tyr und Freyr kennen. Tyr ist für seine Tapferkeit im Kampf bekannt, zugleich ist er aber auch Schutzherr der Gerichte und des Thing, der Ratsversammlung. Freyr ist der waffenlose Gott der Ernte und des Wohlstands. Er hat sein Schwert vor langer Zeit seinem Diener Skirnir gegeben, damit der ihm bei der Brautwerbung half.

Der wichtigste Akteur aber, der Endzeitgott schlechthin, heißt Loki. Strenggenommen zählt er nicht zu den Göttern, denn er stammt von Riesen ab, trotzdem wohnt er bei den Göttern, und sein Name fällt auch bei der Aufzählung der Asen. Je nach Laune hilft er den Göttern oder spielt ihnen üble Streiche. Die Prosa-Edda schreibt über ihn:

Loki ist schmuck und schön von Gestalt, aber bös von Gemüt und sehr unbeständig. Er übertrifft alle andern in Schlauheit und jeder Art von Betrug. Er brachte die Asen in manche Verlegenheit, doch half er ihnen oft auch durch seine Klugheit wieder heraus.

Loki verfügt über die Fähigkeit des Gestaltwandelns, er verwandelt sich zum Beispiel bei Bedarf in einen Lachs, in einen Adler oder auch in eine Stute. Mit der Riesin Angurboda hat er drei monströse Kinder: die Midgardschlange, den Fenriswolf und die Unterweltgöttin Hel.

Die Ethnologen nennen Götter wie Loki Trickster (Gaukler). Sie brechen bewusst alle moralischen Regeln und bringen dadurch Bewegung in das auf ewig erstarrte Leben der Götter. Sie stoßen Veränderungen an und sind in vielen Religionen auch Kulturbringer. In der griechischen Mythologie beispielsweise schuf der Gigant und Trickster Prometheus die Menschen und lehrte sie alle wichtigen Kulturtechniken. Als die Götter den Menschen das Feuer nahmen, holte Prometheus es zurück, indem er es von den Göttern stahl.

Loki kann verständlicherweise den unfassbar schönen und guten Baldur nicht ausstehen, und damit kommt Unheil über die Götter.

Der Mord an Baldur