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Annabelle liebt den Sommer auf Ashland - vor allem, weil dann der alte Magnolienbaum auf ihrer Plantage blüht. In dem süßen Duft von all den Frauen zu träumen, die dort der Sage nach einen Heiratsantrag von ihrer großen Liebe bekamen, ist einfach so viel romantischer als ihr eigenes Leben: Noch nie hat es ein Mann ernst mit ihr gemeint. Doch dann begegnet sie Rush Cousins. Er will ihr Herrenhaus restaurieren - und sieht so verheißungsvoll gut aus wie einer der Männer aus ihren Magnolienträumen. Was macht es da schon, dass er Geheimnisse zu haben scheint? Mehr als Annabelle anfangs glaubt …
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Seitenzahl: 333
Alle Rechte, einschließlich das des vollstäigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Erica Spindler
Magnolienträume
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Rainer Nolden
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright dieser Ausgabe © 2012 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Magnolia Dawn Copyright © 1993 by Erica Spindler erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Covergestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Daniela Peter Titelabbildung: Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN epub 978-3-95576-294-0
www.mira-taschenbuch.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
PROLOG
„Small Miracles“ lag im Hochparterre eines charmanten Sandsteinhauses in Bostons eleganter Boylston Street. Rush Cousins studierte das Gebäude, ehe er die Adresse überprüfte. Der Ladenbesitzer hatte ihn um einen Kostenvoranschlag für die Renovierung des Hauses gebeten; es sah allerdings aus, als müsste nicht einmal gereinigt werden. Vielleicht ist es drinnen ja ganz anders, überlegte Rush kopfschüttelnd. Er überquerte die Straße und lächelte einer Frau im Minirock zu, die ihn von Kopf bis Fuß musterte. Nach einem weiteren Blick über die Fassade stieg er die Stufen zur Ladentür hinauf. Kaum hatte er den Finger vom Klingelkopf genommen, als eine Frau öffnete, eine Mischung aus guter Fee und Kobold.
„Sie müssen Rush sein“, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Ich bin Marla.“ Sie öffnete die Tür noch ein Stück weiter. „Willkommen bei ‚Small Miracles’.“
Rush erwiderte ihr Lächeln. Die zierliche Frau gefiel ihm auf Anhieb. Sie strahlte so viel Lebensfreude aus. „Schön, Sie kennenzulernen, Marla.“
„Ganz meinerseits.“ Sie rieb sich die Hände. „Ich habe schon auf Sie gewartet. Ich kann es kaum erwarten. Finden Sie das nicht auch aufregend?“
Rush lachte. „Ich mag meine Arbeit. Vor allem Restaurierungen.“ Er trat über die Schwelle in das Antiquitätengeschäft. Prüfend blickte er sich um. „Obwohl ich sagen muss, dass der Laden auf mich einen tadellosen Eindruck macht. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber …“
Mit einer schnellen, raschen Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. „Papperlapapp. So etwas sollten Sie nicht einmal denken.“
Amüsiert zog Rush die Augenbrauen hoch. Hier spielte Geld offensichtlich keine Rolle. Ebenso wenig wie der gesunde Menschenverstand. „Wie sind Sie überhaupt auf meine Firma gekommen?“
Marla schaute ihm in die Augen. Noch nie hatte er ein so klares Blau gesehen. Es war, als würde man in einen wolkenlosen Himmel blicken. Ihre Lippen verzogen sich zu einem vergnügten Schmunzeln. „Jemand hat mir Ihren Namen genannt, Mr Cousins. So bin ich auf Sie aufmerksam geworden.“ Ehe er nachfragen konnte, fügte sie hinzu: „Kennen Sie sich mit Antiquitäten aus?“
„Nein.“ Sein Blick wanderte durch den Raum. „Aber ich bewundere echte Handwerkskunst. Den meisten Menschen geht es mehr um Masse als um Klasse. Das finde ich sehr schade.“ Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete anerkennend die Stuckarbeiten an der Decke. „Deshalb mag ich diese alten Häuser. Sie faszinieren mich immer wieder.“
Marla strahlte ihn an. „Das ist eine wunderbare Antwort.“
Wieder musste Rush lachen. „War das gerade ein Test?“
Marla schaute ihn verschmitzt an. Dann schnalzte sie mit der Zunge. „Wir lassen uns heutzutage überhaupt keine Zeit mehr. Worin liegt da der Sinn? Für die wirklich guten Dinge des Lebens braucht man Zeit. Jedenfalls ist das meine persönliche Ansicht. Schauen Sie sich ruhig um, Mr Cousins. Ich mache uns inzwischen Tee.“
Auf dem Weg in den hinteren Teil des Ladens blieb sie noch einmal stehen und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Ihre blauen Augen blitzten vor Vergnügen. „Auf dem Chippendale-Tisch hinter Ihnen steht etwas ganz Besonderes.“
„Danke.“ Lächelnd drehte Rush sich um, während er an die Termine dachte, die er an diesem Tag noch hatte. Nach diesem Gespräch wollte er sich mit dem Bauunternehmer des Fairfield-Projekts treffen. Zuvor musste er Joe wegen der Rechnungen anru…
Abrupt hielt Rush inne. Auf dem Tisch, den Marla erwähnt hatte, stand nur ein einziger Gegenstand. Eine Spieluhr mit einem gewölbten Deckel. Material und Ausführung waren von erstklassiger Qualität – geradezu verschwenderisch. Der gläserne Deckel saß auf einem schimmernden Holzsockel, der mit filigranen Goldornamenten verziert war. Unter der Glashaube war eine Porzellanfigur zu sehen, eine Südstaatenschönheit mit gebauschtem Reifrock und Blumenstrauß im Arm.
Rush musste tief Luft holen. Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Sein Herz wurde eng.
Diese Spieluhr hatte er schon einmal gesehen.
Angestrengt und mit gefurchten Augenbrauen überlegte er, wann und wo ihm dieses Schmuckstück schon einmal begegnet war. Schließlich gab er frustriert auf. Die Erinnerung war aus den Schatten der Vergangenheit aufgetaucht, einer Zeit, die lange vor seinem Aufenthalt im Waisenhaus von St. Catherine lag. Dorthin hatten ihn die Schwestern geholt, nachdem er von Kinderheim zu Kinderheim gereicht worden war oder auf der Straße gelebt hatte. Diese Erinnerung stammte aus einer Zeit, die hinter einer undurchdringlichen Nebelwand lag. Gewissheit war unmöglich.
Vorsichtig nahm Rush die Spieldose in die Hand. Die Berührung traf ihn wie ein Blitzschlag. Plötzlich verspürte er Hitze und Feuchtigkeit und ein wohliges, schläfriges Gefühl. Und da war der Duft von Blumen, schwer, süß und durchdringend.
Seine Hände begannen zu zittern. Diese Spieldose hatte er ganz bestimmt schon einmal gesehen. Irgendwo, irgendwann hatte er sie bereits einmal berührt.
Hirngespinste! beruhigte er sich, während er an dem kleinen goldenen Schlüssel an der Rückseite der Spieluhr drehte. Doch noch ehe die Melodie einsetzte, erklang die Melodie bereits in seinem Kopf.
„Verflucht“, murmelte er. Das Zittern seiner Hände war noch stärker geworden, und sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Das war nicht möglich! Doch tief in sich wusste er es.
In seiner Hand hielt er den Schlüssel zu seiner Vergangenheit.
Seine Vergangenheit. Dieser Gedanke verwirrte Rush. Die gesichtslosen Schatten in jenem dunklen Raum, diese unbekannten, unfassbaren Gefühle waren ein Teil seines Lebens gewesen. Wenigstens daran konnte er sich erinnern. Klar und deutlich.
Ihm stockte der Atem. Warum ausgerechnet jetzt? fragte er sich, während er die Porzellanfigur betrachtete, die sich auf der Scheibe drehte. Längst hatte er sich damit abgefunden, dass er sich an nichts erinnern konnte, was vor seinen fünften Geburtstag geschehen war. Inzwischen war es ihm egal, von wem er verlassen worden war oder aus welchem Grund. Es war nun einmal passiert. Das war eine unerschütterliche Tatsache. An seiner Vergangenheit würde es ohnehin nichts ändern können. Und es würde auch nichts an dem Mann ändern, der er geworden war.
„Da bin ich wieder“, rief Marla fröhlich. Sie stellte ein Tablett mit einem silbernen Teeservice auf einen Tisch, der vor einem zierlichen Sofa stand. „Schön. Sie haben die Spieluhr also entdeckt.“
Rush runzelte die Stirn. „Woher haben Sie sie?“
„Wie bitte?“
„Die Spieluhr“, sagte er und versuchte, seine Ungeduld zu verbergen. „Wissen Sie, woher sie stammt?“
„Natürlich“, antwortete sie mit sanfter Stimme, als würde sie sein Interesse kein bisschen überraschen – oder seine plötzliche Verstimmung. Sie sank auf das Sofa. „Beruhigen Sie sich, Mr Cousins. Ich erzähle Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Aber erst einmal …“, sie klopfte auf den freien Platz neben sich, „… setzen Sie sich hin und trinken eine Tasse Tee.“
Rush tat, wie ihm geheißen, obwohl er wie auf glühenden Kohlen saß. Marla reichte ihm eine fast durchsichtige Porzellantasse. Das zierliche Gefäß fühlte sich merkwürdig in seiner großen Hand an, und er setzte es rasch ab. „Die Spieluhr“, wiederholte er. Er war entschlossen, sich nicht länger hinhalten zu lassen.
„Sie ist wirklich hübsch, nicht wahr?“ Marla nahm einen Schluck Kaffee und tupfte sich die Lippen mit einer Serviette ab. „Sie stammt aus Ashland. Haben Sie schon davon gehört?“ Als er verneinend den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: „Ashland gehörte zu den größten Plantagen in Mississippi. Und zu den wenigen, die immer noch in Familienbesitz sind.“
Sie hob die Schultern. „Obwohl es mittlerweile nur noch zwei Nachkommen gibt, Bruder und Schwester. Es ist nicht leicht für die beiden, den Besitz zu halten. Sie mussten bereits einige Möbel und andere Erbstücke verkaufen. Zum Beispiel diese Spieluhr. Traurig“, sagte sie, ehe sie noch einen Schluck von ihrem Kaffee trank. „Wirklich tragisch.“
Ashland, dachte Rush, während er dem Wort nachlauschte. Er hoffte, dass es etwas in ihm zum Klingen bringen, dass er eine ähnliche Welle der Erkenntnis empfinden würde wie in jenem Moment, als er die Spieldose entdeckt hatte. Stattdessen war da nur – Leere.
Er stieß einen enttäuschten Seufzer aus. „Wo genau in Mississippi liegt Ashland?“
„In Ames. Zwischen Vicksburg und Greenville, mitten im Delta. Die Stadt ist nach den Plantagenbesitzern benannt. Damals hat man das sehr oft getan.“
Es klingt vertraut, überlegte Rush. Und doch so fremd. Sagten ihm diese Namen wirklich etwas? Oder war nur der Wunsch der Vater des Gedankens? Er wandte den Blick ab und betrachtete noch einmal die Spieluhr. Seine Erinnerung hatte ihm keinen Streich gespielt, als er sie erkannt hatte. Er hatte gewusst, wie die Melodie klingen würde, ehe das Spielwerk sich zu drehen begann. Er hatte diese Spieluhr tatsächlich in seiner Hand gehalten – irgendwann in seiner Vergangenheit. Es sei denn …
Rush sah zurück zu Marla. „Gibt es vielleicht noch eine Spieluhr, die genauso aussieht wie diese? Oder wenigstens so ähnlich, aber die gleiche Melodie spielt? Könnte es sein …“
„Um Himmels willen, nein!“ Marla schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr die feuerroten Locken um die Wangen flogen. „Diese Spieluhr wurde eigens für die Herrin von Ashland angefertigt. Sie ist einmalig.“
Rush lehnte sich zurück. Was würde er entdecken, wenn er nach Ames, Mississippi, ging? Würde er endlich die Wahrheit herausfinden? Die Wahrheit über jene fünf verlorenen Jahre seines Lebens? Oder würde er … gar nichts herausfinden und nichts als weitere Schatten sehen?
Erinnerungen an seine Kindheit, glasklar und messerscharf, schossen ihm durch den Kopf. Erinnerungen an jene Zeit, ehe er die Spielregeln des Lebens zu verstehen begann; als er noch vertrauensselig gewesen war und Hoffnungen hegte, die bitter enttäuscht worden waren. Damals hatte er sich geschworen, niemals mehr ein solcher Narr zu sein.
Doch was er nun dachte, war geradezu lächerlich. Was sollte er den Besitzern von Ashland denn sagen? Hallo, könnte sein, dass ich hierhergehöre? Vermissen Sie zufällig einen Familienangehörigen? Wie würden sie wohl darauf reagieren? Klar, kommen Sie doch rein! Bedienen Sie sich am Familiensilber.
Also wirklich! Rush ballte die Fäuste. Er brauchte seine Vergangenheit nicht zu kennen. Sie spielte keine Rolle. Schon lange hatte er den Wunsch aufgegeben, zu wissen, wer er war und woher er kam.
„Faszinierend, nicht wahr?“, murmelte Marla in seine Gedanken hinein. „Wie wir manchmal in unserer Vergangenheit etwas über unsere Zukunft erfahren.“
Rush betrachtete die Frau. Schwer und hämmernd ging sein Puls. Er spürte das Pochen bis in seinen Schädel. „Was haben Sie gesagt?“
Sie lächelte, und wieder war er gefangen vom klaren, hypnotisierenden Blau ihrer Augen. „Sie scheinen ein Mann mit guten Instinkten zu sein, Rush Cousins. Sie sollten auf sie hören.“
1. KAPITEL
Eine Woche später stand Rush vor dem Eingangstor von Ashland. Die unbarmherzige Junisonne brachte die Straße unter seinen Stiefeln zum Glühen, und die Hitze waberte in unsichtbaren Wellen zu ihm empor. Hinter ihm floss behäbig der Mississippi dahin, aber der Deich, der ihn zurückhielt, war ein unübersehbarer Hinweis auf die Launenhaftigkeit und die zerstörerische Gewalt des mächtigen Stroms.
Vor Rush erstreckten sich üppig wuchernde Magnolien von der Straße bis zum Haus. Sie säumten den Weg zur Plantage und wölbten sich zu einem lebenden grünen Himmel. Die herrlichen Bäume, gut und gerne zwei Meter im Durchmesser, standen in voller Blüte, die dunkel glänzenden Wipfel waren durchsetzt mit dichten weißen Kelchen. Selbst aus meterweiter Entfernung von den Gewächsen stieg Rush ihr schwerer süßer Duft in die Nase.
Er ließ den Blick von den Magnolien zum Haus schweifen. Es schimmerte am Ende der baumbestandenen Allee durch das Laub. Das imposante Gebäude überragte alles in seiner Umgebung: ein Stein gewordenes Traumbild der Vergangenheit. Sein Anblick weckte Erinnerungen an romantische Geschichten aus dem alten Süden, an Ladies und Gentlemen und an eine Zeit, in der Ehre noch etwas galt. Gleichzeitig ließ es andere Bilder auferstehen, die weder mit Romantik noch Ehre zu tun hatten – Bilder, die durchtränkt waren von Blut.
Rush starrte das Gebäude an. Er empfand die unterschiedlichsten Gefühle. Ehrfurcht vor dieser Pracht. Bewunderung für die Beständigkeit, mit der das Haus nicht nur Kriege und Witterungseinflüsse überdauert hatte, sondern auch den gesellschaftlichen Wandel. Ashland war gleichermaßen von atemberaubender Schönheit wie auch Sinnbild des Verfalls.
Aber ein Déjà-vu? Enttäuscht schüttelte Rush den Kopf. Er hätte es nicht mit Bestimmtheit sagen können.
Jemand trat hinaus auf die Veranda. Eine Frau. Sie trug ein helles Kleid, das ihre Knie umspielte.
Annabelle Ames, dachte er. Die Herrin von Ashland. Seit fast einer Woche war er nun schon in Ames und bemühte sich, wie ein Tourist zu wirken. Wie in allen Kleinstädten waren auch hier die Leute äußerst klatschsüchtig. So hatte er bereits eine Menge über Annabelle und Lowell Ames erfahren. Und vieles von dem, was er gehört hatte, war alles andere als schmeichelhaft gewesen.
Sie nannten sie alte Jungfer, spröde wie ein Novembermorgen. Sie galt aber auch als freundlich und fleißig. Sie unterrichtete die Erstklässler in der örtlichen Grundschule, und die Kinder liebten sie. Sie konnte ein wenig hochnäsig wirken, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, und ausgesprochen arrogant werden, wenn sie sich ärgerte.
Und sie war davon besessen, den Familienbesitz zu bewahren. Diesem Anwesen hatte sie ihr Leben geweiht, und sie widmete ihm jede freie Minute – und jeden Cent. Genau wegen dieser Hartnäckigkeit hielten alle sie für verrückt.
Ihr Bruder Lowell, so die einhellige Meinung, war ein Taugenichts.
Als Rush nun Annabelle Ames betrachtete, wie sie allein auf der Veranda dieses prächtigen Hauses stand, empfand er ein unbestimmtes Gefühl. Bittersüß und gefährlich nahe an den Empfindungen, die ihn früher schon heimgesucht hatten. Eine Art Sehnsucht. Ein Gefühl von Fremdheit.
Rush runzelte die Stirn und schulterte seinen Rucksack; darin lag die sorgfältig verpackte Spieluhr. Er durfte auf keinen Fall vergessen, was er in der Vergangenheit gelernt hatte. Er durfte sich nicht erlauben, Gefühle zu nahe an sich heranzulassen. Er war nach Ashland gekommen, um Antworten zu bekommen, nicht mehr und nicht weniger. Falls es hier tatsächlich welche gab, würde er sie auch finden.
Entschlossen presste Rush die Lippen zusammen. Annabelle Ames suchte einen Handwerker, der ihr bei der Instandhaltung von Ashland helfen sollte. Nach den Worten von Bubba im Supermarkt hatte sich allerdings noch niemand bei ihr gemeldet, und allmählich geriet sie in Panik – so wie jedes Jahr.
Entschlossen machte Rush sich auf den Weg zum Haus. Heute würde Annabelle Ames’ Glückstag sein.
Annabelle sog die Morgenluft ein, die erfüllt war vom schweren Duft des Sommers. Gestern um diese Zeit hatte sie noch im Klassenzimmer gestanden und versucht, eine Bande von Sechsjährigen im Zaum zu halten, die genau wussten, dass es ihr letzter Schultag vor den Ferien war. Dabei hatte sie selbst die ganze Zeit an nichts anderes als an den Sommer denken können, der ihr vor ihr lag.
Glücklich genoss Annabelle das Gefühl der Freiheit an diesem ersten Ferientag. Sie freute sich auf die kommenden Tage und Wochen auf Ashland. Die Leute in der Stadt, ihre Freunde und Kollegen, sogar ihr eigener Bruder fanden ihre Liebe zu ihrem Zuhause seltsam und hielten die Hartnäckigkeit, mit der sie den Besitz bewahren wollte, für mehr als nur ein wenig verrückt.
Sie wusste, was über sie geredet wurde. Niemand verstand sie. Liebevoll ließ sie ihren Blick durch den Garten wandern: über die alten Eichen mit den moosbewachsenen Stämmen, die wild wuchernden Azaleen, Kamelien und Gardenien und den antiken Springbrunnen mit seinen zwar reparaturbedürftigen, aber wunderbar nostalgischen Putten.
Ashland war ihr Zuhause. Die Plantage war seit sechs Generationen in Familienbesitz. Alles an diesem Ort war von besonderer Schönheit und strahlte tiefen Frieden aus.
Aber wie sollte sie das den Leuten erklären, die sich über sie lustig machten? Wie konnte sie in Worte fassen, welche Empfindungen sie mit Ashland verband oder was es ihr bedeutete, diesen Ort zu erhalten?
Sie hatte es oft versucht – immer vergeblich. Annabelle lächelte resigniert. Sollten sie doch denken, was wie wollten. Was andere dachten, war ihr im Grunde ziemlich gleichgültig.
Abgesehen von Lowell. Ihr Lächeln erstarb, und sie lehnte gegen eine der massiven Säulen, deren Putz trotz der wärmenden Sonne kühl und feucht war. Was hatte sie ihrem Bruder nur getan, dass er ihr so grollte? Wieso waren sie einander im Laufe der Jahre so fremd geworden, dass sie nicht einmal mehr miteinander reden konnten, ohne sich zu streiten?
Ein Gefühl der Traurigkeit überkam sie. Und des Bedauerns. Sie waren doch alles, was von ihrer Familie übrig geblieben war. Wenn sie sich doch wieder so gut verstehen würden wie früher!
Wenn sie ihn doch nur glücklich machen könnte.
Sie zwang sich, nicht länger an ihren Bruder zu denken, sondern an die Arbeit, die vor ihr lag. Ihr blieb nur der Sommer, ganze drei Monate. Dabei hätte sie eigentlich neun gebraucht, um den Verfall von Ashland abzuwenden.
Annabelle holte tief Luft. Ob sie einen Handwerker gefunden hatte oder nicht – sie musste mit der Renovierung beginnen. Was gäbe sie um die Hilfe eines Profis! Dann könnte sie das Ziel erreichen, das sie sich für diesen Sommer gesteckt hatte.
Doch wie sollte sie so jemanden bezahlen?
Zwischen den Magnolien erschien ein Mann, und Annabelle richtete sich auf. Er kam mit energischen und weit ausholenden Schritten auf sie zu. Von Weitem wirkte er groß und kräftig. Er eine trug abgewetzte Jeans und ein weißes T-Shirt. Den Rucksack hatte er lässig über die Schulter geworfen.
Annabelle spürte seinen durchdringenden Blick. Er sagte kein Wort und hob auch nicht die Hand zur Begrüßung. Ihr Herz schlug schneller, und ihre Handflächen wurden feucht. Sie kannte jeden in Ames. Diesen Mann hatte sie jedoch noch nie gesehen.
Vorsichtshalber trat sie einen Schritt vom Geländer der Veranda zurück. Der Fluss und Hunderte von Hektar unbebauten Landes trennten die Plantage vom Rest der Gemeinde. Sie war ganz allein.
Sie drehte sich um, ging zur Tür und pfiff. Sofort schoss Blue, ihr schwarzer Labrador, heraus. Er nahm die Witterung des Fremden auf und knurrte leise.
„Braver Junge“, flüsterte Annabelle und griff nach seinem Halsband, damit er bei ihr blieb. Dann ging sie zu den Stufen zurück und wartete auf den Fremden.
Am Fuß der Treppe blieb der Mann stehen, hob den Kopf und schaute ihr ins Gesicht. Im ersten Moment erinnerte er sie an Blue. Er war groß und kräftig und wirkte unzähmbar und wild. Er sah unverschämt gut aus; er schien viel Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Sein sandfarbenes Haar war dicht und wellig, seine grünen Augen waren umrahmt von Fältchen. Entweder lachte er viel oder blinzelte häufig in die Sonne. Obwohl er etwa so alt war wie sie, strahlte er etwas sehr Jungenhaftes aus, als ob er viel Spaß im Leben hätte oder es in vollen Zügen genoss.
Während sie ihn stumm musterte, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen, und in seiner rechten Wange zeigte sich ein Grübchen. Jetzt sah er nicht nur gut, sondern geradezu unwiderstehlich aus. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verwandelte er sich von einem ganz normalen Mann in einen charmanten Schelm. Ein verdammt attraktiver Kerl. Die Sorte von Mann, in deren Gegenwart sie sich unbehaglich fühlte und ziemlich unscheinbar vorkam.
Genau die Art von Männern, denen eine Frau niemals trauen sollte. Vor allem nicht eine Frau wie sie.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie, und das Grübchen wurde noch tiefer. „Sind Sie vielleicht Annabelle Ames?“
Nicht nur groß und gut aussehend, sondern auch noch ein Yankee. Zu schade. „Vielleicht“, entgegnete sie abweisend. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Möglicherweise.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Aber vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Sie umklammerte Blues Halsband fester, während sie hochmütig die Augenbrauen hochzog. „Tatsächlich?“
Lachend stieg er die Stufen empor und blieb vor ihr stehen. Dann streckte er die Hand aus. „Rush Cousins. Ich komme wegen des Jobs.“
Einen Moment lang betrachtete Annabelle seine ausgestreckte Hand, ehe sie sie ergriff. Obwohl sich seine Finger nur sanft um die ihren schlossen, spürte sie ihre Stärke. Seine Haut fühlte sich warm an, die Handfläche schwielig. Bei seiner Berührung kam sie sich klein und verletzlich vor. Und in die Enge getrieben.
Mit klopfendem Herzen zog sie ihre Hand zurück. Er schien ihr Unbehagen nicht zu spüren, während er zu einer der Säulen ging und eine Stelle begutachtete, von der der Mörtel abgesprungen war und die Ziegelsteine zum Vorschein kamen. „Ein herrlicher Besitz“, murmelte er. „Ist bestimmt eine Menge Arbeit, das in Schuss zu halten.“
„Oder eine Freude“, entgegnete sie. „Kennen Sie sich mit Herrenhäusern aus?“
„Ich habe vor Kurzem einiges über sie gelesen.“ Er fuhr mit dem Finger über die Säule. Obwohl er groß und raubeinig aussah, lag etwas Weiches, fast Gefühlvolles in der Art, wie er die Oberfläche der Säule erkundete.
„Dann wissen Sie ja, dass die Ziegelsteine ausnahmslos hier auf der Plantage hergestellt worden sind.“
„Der Mörtel ist eine unglaublich langlebige Mischung aus Moos und Schlamm aus dem Flussbett“, ergänzte er. „Soviel ich weiß, wurden fast nur Materialien aus der Gegend benutzt, um Herrenhäuser zu bauen. Lehm aus dem Mississippi, Moos, Zypressen und Eichen.“ Wieder strich er mit dem Finger über die Oberfläche, und erneut ertappte sie sich dabei, wie sie ihn anstarrte. „Faszinierend.“
Es kostete sie Mühe, den Blick abzuwenden. „Ich kenne Sie nicht, Mr Cousins. Wie haben Sie von der Stelle erfahren?“
Er trat auf sie zu, zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche seines T-Shirts und reichte es ihr. „Daher.“ Annabelle musste es nicht auseinanderfalten, um zu wissen, dass es einer der Zettel war, die sie überall aufgehängt hatte. „Hilfe gesucht.“ Trotzdem nahm sie das Papier in die Hand.
„Ich habe es in Bubbas Schaufenster entdeckt“, fuhr er fort. „Ich bin erst vor einer Woche nach Ames gekommen.“
„Wirklich? Woher denn?“
„Aus Boston.“
Als ob er das Unbehagen seiner Herrin spüren konnte, begann Blue erneut zu knurren. Beruhigend tätschelte sie den Kopf des Tieres – aber gleichzeitig sollte die Geste dem Mann zu verstehen geben, dass sie nicht allein war. Rush Cousins schien nichts darum zu geben, obwohl ihn der Hund in Stücke hätte reißen können, wenn sie es ihm befahl.
„Bubba hat gesagt, Sie suchen dringend jemanden.“
Annabelle runzelte die Stirn. Eines Tages würde sie den geschwätzigen Bubba noch erwürgen. „Hat er das?“
„Er nannte Sie geradezu verzweifelt.“
Vor Verlegenheit wurde sie ein wenig rot. Verzweifelt! Die Bedeutung dieses Wortes, die nichts mit der Suche nach einem Handwerker zu tun hatte, traf sie wie ein Stich. So dachten die Leute in Ames über sie. Und gewiss hatte man sie diesem Fremden gegenüber so beschrieben.
Annabelle straffte den Rücken. Sollte dieser große, von sich absolut überzeugte und ungehobelte Yankee doch im Fluss ersaufen. Den würde sie ganz gewiss nicht einstellen. Sie brauchte weder ihn noch sonst einen Mann. „Tut mir leid, Mr Cousins, aber Bubba hat sich geirrt. Ich bin ziemlich anspruchsvoll.“
„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Wieder lächelte er. „Ich bin Handwerker von Beruf. An der Ostküste habe ich eine Menge renoviert und restauriert. Häuser, die noch um einiges älter sind als dieses hier. Warum versuchen Sie’s nicht einfach mit mir? Sie werden es nicht bereuen.“
Arrogant, dachte Annabelle. Und aufdringlich. Ganz die Art Mann, die sie keinesfalls auf Ashland haben wollte. Andererseits … Wenn er so viel Erfahrung hatte, wie er sagte … Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Boston ist ziemlich weit weg. Darf ich fragen, was Sie nach Ames geführt hat?“
Er zögerte einen Moment. Dann steckte er die Hände in die Taschen seiner Jeans und hob die Schultern. „Eine Fahrt ins Blaue. Ich war noch nie im Süden, und jetzt bot sich die Gelegenheit. Deshalb bin ich hier.“
Er sagte ihr nicht die Wahrheit. Seine Antwort klang ausweichend, fast wie einstudiert. Als ob sie ihm nicht erst in diesem Moment eingefallen wäre. Annabelle musterte ihn forschend und fragte sich, was er ihr wohl verheimlichte. Und warum.
Er schulterte seinen Rucksack. „Vergessen Sie’s. Offenbar sind Sie nicht interessiert. Für jemanden mit meiner Qualifikation gibt’s immer irgendwo was zu tun.“ Er stieg die Treppe hinunter und schlug den Weg zum Magnolienwald ein. „Wiedersehen.“
„Warten Sie.“
Sofort blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. Er wusste, dass er sie am Haken hatte. Verdammter Kerl!
„Ich brauche nur jemanden für den Sommer.“
„Im September wird’s sowieso Zeit für mich, weiterzuziehen.“
„Ich zahle nicht viel.“
„Kost und Logis?“
„Im Gästehaus gibt es eine Küche.“
„Kalte Getränke tagsüber und Mittagessen?“
Annabelle kniff die Augen zusammen. Dieser Mann irritierte sie kolossal. Am liebsten hätte sie ihn zum Teufel gejagt. Aber sie brauchte seine Hilfe. Ashland brauchte seine Hilfe. Wenn er wirklich so fähig war, wie er behauptete, war er ein Geschenk des Himmels.
Sie dachte daran, wie er über den rissigen Putz gefahren war. Dieser Mann hatte tatsächlich mit seinen Händen gearbeitet. Er kannte sich mit Baumaterial aus und hatte Respekt vor handwerklichem Können. Daran zweifelte sie keine Sekunde. Außerdem würde sich ohnehin niemand bewerben, der Erfahrung oder entsprechende Kenntnisse hatte. Dessen war sie sich ebenfalls ziemlich sicher.
Sie brauchte ihn, daran war nicht zu rütteln – sosehr ihr das auch missfiel. Deshalb holte sie tief Luft und unterdrückte einen Seufzer. „Sie sind engagiert, Mr …“
„Rush“, verbesserte er sie.
„Mr Cousins“, wiederholte sie steif. „Morgen früh fangen wir an. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft.“
Ohne auf seine Antwort zu warten, stieg sie die Treppen hinunter und schlug den Weg ein, der hinter das Haus führte. Der Hund trottete neben ihr her. Mit zusammengekniffenen Augen sah Rush ihr nach. Dreißig Grad im Schatten, und er hatte eine Gänsehaut. Annabelle Ames beherrschte die Rolle der Hausherrin perfekt. Er hätte es wissen müssen. In seiner Jugend war ihm diese herablassende Art nur allzu oft begegnet. Doch damit war endgültig Schluss. So etwas ließ er sich nicht mehr gefallen.
Ihr Händedruck war kräftig. Er dachte daran, wie sich ihre Hand in seiner angefühlt hatte. Obwohl sie klein und zierlich war, war ihre Haut rau von harter Arbeit. Und ihre Augen … Nachdenklich legte Rush den Kopf zur Seite. In ihren Augen hatte er eine unglaubliche Weichheit und eine gewisse Unsicherheit entdeckt. Etwas, das seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte.
Rush stieß ein spöttisches Lachen aus, ehe er ihr folgte. Da hatte er sich doch tatsächlich für einen Moment von der romantischen Atmosphäre des Ortes hinreißen lassen. Annabelle Ames war genau das, was sie zu sein schien – nicht mehr und bestimmt nicht … zugänglicher.
Doch das bedeutete ja nicht, dass er ihre Spielregeln befolgen musste. Und ganz gewiss ließ er sich von einer hochnäsigen Südstaatenschönheit nicht geringschätziger behandeln, als er es verdiente. Er war genauso gut wie jeder andere, und er lebte nach seinen eigenen Regeln. Immer.
Er nannte das überleben.
Rush holte sie ein und passte sich ihrem Tempo an. „Miss Ames?“, fragte er mit einem amüsierten Blick aus den Augenwinkeln.
Sie schaute ihn an. „Ja?“
„Werden Sie mich den ganzen Sommer Mr Cousins nennen?“ Seine Frage überraschte sie. Er bemerkte es an ihrem Gesichtsausdruck, auf dem sich ihre Verwirrung abzeichnete. „Seien Sie ehrlich, Miss Ames.“
„Nun, ich …“ Sie holte tief Luft und schüttelte verneinend den Kopf. „Wahrscheinlich nicht.“
„Warum schaffen wir dann nicht gleich klare Verhältnisse und verzichten auf die Formalitäten?“ Wieder steckte er seine Hände in die Taschen seiner Jeans und schaute sie durchdringend an. „Was meinen Sie, Boss?“
Sie lächelte flüchtig, fast widerwillig. Ihre Miene wurde weicher, als sich ihre Mundwinkel nach oben verzogen. Es machte sie jünger und ließ sie weniger … herrisch erscheinen. Sie war eigentlich recht attraktiv. Nicht hübsch im klassischen Sinne – dafür waren ihre Gesichtszüge zu ausgeprägt. Aber sie besaß eine ruhige Schönheit, prägnante Züge, die ihr Gesicht ganz einzigartig machten.
„Nun gut“, sagte sie schließlich zögernd. „Nennen Sie mich Anna.“
Anna. Das passte besser zu ihr als ihr voller Name. Es war kurz und bündig. Keinerlei Schnörkel. Rush lächelte. „Noch etwas. Könnten Sie diesem Hund bitte sagen, dass ich nichts Böses im Schilde führe? Er sieht mich immer noch so an, als würde er mir am liebsten ein Stück Fleisch aus dem Hintern beißen.“
Anna lachte. Es war ein weiches, elegantes Lachen, und der Klang brachte Rushs Nervenenden zum Vibrieren. Fast wie ein kostbarer Wein, der ihm auf der Zunge zerging. Es war die Art von Lachen, die einen Mann auf dumme Gedanken brachte und seinen Puls beschleunigte.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte sie ihn. „Blue wird Sie nur angreifen, wenn ich es ihm befehle oder Sie mich bedrohen. Er ist sehr gut erzogen.“
„Wie beruhigend“, murmelte Rush trocken, ohne das Tier aus den Augen zu lassen.
„Wenn Sie wirklich so viel Erfahrung haben, wie Sie sagen, haben Sie nichts zu befürchten.“
„Und wenn nicht?“
„Dann hetze ich Ihnen Blue auf den Leib.“
Jetzt musste er lachen. „Ich schätze, Sie meinen das ernst.“
„Glauben Sie mir, Mr Cousins, das tue ich.“
Sie erreichten das Haus – ein kleines, schlicht konstruiertes einstöckiges Gebäude mit einer breiten Veranda. Gemeinsam stiegen sie die Treppen hinauf. „Das war das Haus des Aufsehers“, erklärte Anna, während sie die Tür öffnete, „als Ashland noch eine Plantage war. Es wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche Haus in den Vierzigern abgebrannt ist.“
Sie trat über die Schwelle, und Rush folgte ihr ins Innere. Er hatte ein Déjà-vu – so intensiv, dass er kein Wort herausbrachte. Anna schien es nicht zu bemerken und redete weiter. „Hier ist alles, was Sie brauchen. Bettwäsche ist in dem Schrank da drüben.“ Sie zeigte nach rechts. „Die Schlafzimmer sind …“
Dort hinten. Es gibt zwei. Rush atmete tief ein, um die Fassung zu bewahren. Er kannte den Grundriss, er erkannte die Lampen, die Position der Fenster, den gemauerten Kamin.
„Nehmen Sie das erste“, sagte sie gerade. „Das andere ist kleiner, wie ein …“
Kinderzimmer. Rush sah in die Richtung, in die sie zeigte. Ob er das gleiche überwältigende Gefühl empfinden würde, wenn er zum ersten Mal in dieses Zimmer schaute? Er fragte sich, ob er nicht dabei war, den Verstand zu verlieren.
Anna ging zur Tür. „Die Küche ist ganz ordentlich ausgestattet – Töpfe, Geschirr und solche Sachen. Leider gibt es kein Telefon. Wenn Sie telefonieren müssen, kommen Sie zu mir. Und wenn Sie sonst etwas brauchen oder Fragen haben … ich bin in der Nähe.“
Und ob er Fragen hatte! Fragen, wer er war und wer hier vor Jahren gelebt hatte. Rush sah ihr in die Augen und musste sich zusammennehmen, um sie nicht mit diesen Fragen zu überfallen. Er war es nicht gewohnt, zu warten oder untätig zu sein. Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln. „Hübsch hier. Wer, sagten Sie, hat hier gewohnt?“
„Der Aufseher der Plantage und seine Frau. Aber Ashland ist seit vierzig Jahren keine Plantage mehr.“ Annas Seufzer klang frustriert. „Dad hat das Land vor Jahren Stück für Stück verpachtet oder verkauft.“
Vor vierzig Jahren. Zwei Jahre vor seiner Geburt. Rush knetete seine Finger. „So lange steht es schon leer?“
Anna schaute ihn ein paar Sekunden lang an, ehe sie antwortete. „Nein. Der Aufseher und seine Frau haben das Haus eine Zeit lang gemietet. Macy ist unsere Haushälterin geblieben. Und ihr Mann hat eine Stelle in Greenville gefunden.“
„Sie hatten keine Kinder?“
Sie zog die Augenbrauen zusammen. Offenbar überraschte sie seine Frage. „Sie hatten einen Sohn. Er ist als Kind gestorben.“
Als Kind? Oder als Jugendlicher? Es kostete Rush einige Mühe, seine wachsende Aufregung zu verbergen. Ob es wirklich so einfach war? Ein Leben lang hatte er nach seinen Wurzeln gesucht – und jetzt hatte er sie tatsächlich so schnell und problemlos gefunden?
„Warum interessieren Sie sich so dafür?“, fragte sie ihn und musterte ihn neugierig.
Diese Frage hatte ja kommen müssen! Selbst nachdem er sie gerade eine Stunde kannte, hätte ihm klar sein können, dass Zurückhaltung nicht ihre Art war. Wieder bemühte er sich um eine möglichst beiläufige Antwort. „Dieser Ort strotzt nur so vor Geschichte, da wird man neugierig.“ Und an einer Sache war er ganz besonders interessiert. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe?“
Sie zögerte, und ihr schmales Lächeln erstarb. Schließlich nickte sie. „Na gut. Aber das Herrenhaus ist tabu.“
Ihr Tonfall ließ ihn erstarren. „Ich hatte nicht vor, herumzuschnüffeln.“
„Das wollte ich damit nicht sagen.“
Von wegen! Er ging zur Tür. Er brannte darauf, sie loszuwerden und sich umzusehen. „Wenn Sie nichts dagegen haben, lasse ich einen Telefonanschluss einrichten. Natürlich auf meine Kosten.“
Wieder zögerte sie, ehe sie zustimmend nickte. „In Ordnung.“
„Gut.“ Er öffnete die Tür für sie. „Dann sehen wir uns morgen früh um acht.“
Sie ging an ihm vorbei und trat auf die Veranda. Dort drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Noch zwei Dinge. Hoffentlich sind Sie wirklich so kompetent, wie Sie behaupten. Wenn nicht, werfe ich Sie sofort hinaus. Und zweitens: Blue schläft in meinem Zimmer, und ich habe eine Waffe unterm Kopfkissen.“
Aus zusammengekniffenen Augen sah Rush sie ein paar Sekunden lang an. „Ich werde daran denken, Annabelle Ames.“
Sie wich seinem Blick nicht aus. „Das sollten Sie tun, Rush Cousins.“
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ließ ihn stehen. Als sie um die Ecke des Hauses verschwand, legte er den Kopf zurück und lachte. Allmählich begann er, diese Frau zu bewundern. Annabelle Ames war ein harter Brocken. Möglicherweise gefiel es ihm überhaupt nicht, für sie zu arbeiten. Aber langweilig würde es bestimmt nicht werden.
2. KAPITEL
Die Nacht glitzerte vor Feuchtigkeit. Kurz nach Einbruch der Dämmerung wogte der Nebel vom Fluss herüber und hüllte die Erde in durchsichtige weiße Wolken. Die Atmosphäre erinnerte Anna an die Nächte von einst, in denen sie in genau diesem Schaukelstuhl gesessen und gebannt den aufregenden, romantischen Geschichten ihres Vaters gelauscht hatte, die von ihren Vorfahren und dem Alten Süden erzählten.
Bei der Erinnerung lächelte Anna versonnen. Jetzt hörte sie dem Gesang der Grillen und des Ochsenfroschs zu, während das rhythmische Knarren des Schaukelstuhls sie einlullte. Der Tag war angenehm gewesen und schnell vergangen. Sie hatte sich den Luxus erlaubt, keinerlei produktive Tätigkeiten zu verrichten. Sie hatte Blumen gepflückt auf dem Bereich des Grundstücks, wo einmal der gepflegte Garten gewesen war, war zum Deich gegangen und hatte eine Stunde lang auf den trägen Fluss geschaut. Sie hatte sich unter die größte Magnolie gesetzt, die auf der Plantage wuchs, und ein Buch gelesen – einzig und allein deswegen, weil es ihr Spaß machte. Und jetzt saß sie wieder einfach so auf der Terrasse und genoss die angenehme Wärme der schwarzblauen Nacht.
Sie legte den Kopf an die hohe Rückenlehne des Stuhls. Ihr Tag wäre ausgesprochen entspannend gewesen, wäre da nicht Rush Cousins gewesen. Egal, wo sie sich auf der Plantage aufhielt – sie war sich seiner in jeder Sekunde bewusst gewesen, hatte stets und ständig seine Gegenwart gespürt. Dieses Gefühl machte sie ausgesprochen nervös – und verwundbar. Er war in ihre Privatsphäre eingedrungen, wie es noch keiner der Handwerker getan hatte, die in der Vergangenheit auf Ashland gearbeitet hatten.
Rush Cousins gehörte zu jener Sorte Mann, die einen Raum betraten und ihn sich zu eigen machten. Seiner dominierenden Ausstrahlung konnte sich niemand entziehen.
Gänsehaut kroch über Annas Rücken. Es würde nicht einfach für sie sein, mit ihm zu arbeiten. In Gegenwart solcher Männer fühlte sie sich überhaupt nicht wohl – Männer, die groß, selbstbewusst und sich ihrer Männlichkeit sehr bewusst waren. Sie wurde nicht gerne an ihre Weiblichkeit erinnert oder an die Verletzlichkeit, die damit Hand in Hand ging. Als sie die Augen schloss, blitzte ein Bild vom Sommer ihres fünfzehnten Lebensjahrs hinter den Lidern auf. Auf dem Bild sah sie sich, wie sie schluchzend mit den Fäusten gegen die Brust dieses Jungen trommelte. Sie schlug so fest, wie sie konnte, aber sie war zu klein, zu schwach, um sich aus seinem Griff zu befreien.
Anna stieß einen Laut des Schreckens aus und öffnete die Augen. Die Schweinwerfer eines Autos schnitten durch die Nebelwand und erhellten schemenhaft die Umgebung. Sie erkannte den Wagen ihres Bruders Lowell und seufzte. Warum musste ihr Bruder ausgerechnet heute Abend kommen? Warum in diesem Moment, wo sie sich so verletzlich und unsicher fühlte?
Blue, der zu ihren Füßen lag, begann zu winseln. Sie streckte die Hand aus und streichelte die seidigen Ohren und den Kopf. „Ich weiß, mein Junge. Mir geht es genauso.“
Von der anderen Seite des Hauses vernahm sie das Geräusch einer zuschlagenden Autotür und das Gemurmel von Männerstimmen. Lowell, dachte sie und fragte sich, wie ihr Bruder auf Rush wirken mochte.
Lowell tauchte aus dem Nebel auf und steuerte auf die Veranda zu. Er war das Bild eines Gentleman aus dem Süden, dachte Anna ironisch: hochgewachsen, schlank und blond. In seinem eleganten Abendanzug schien er geradewegs aus der Vergangenheit zu kommen, aus einer der romantischen Erzählungen ihres Vaters. Lowell hätte schallend gelacht, wenn er ihre Gedanken hätte lesen können.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen und schaute mit ernstem Gesicht zu ihr empor. „Guten Abend, Annabelle“, sagte er schließlich halblaut.
„Lowell“, erwiderte sie und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. „Was führt dich heute Abend hierher?“
Er stieg die Stufen empor. „Ashland ist mein Zuhause. Wenigstens gehörte mir noch die Hälfte, als ich das letzte Mal hier war.“ Angewidert verzog er den Mund, als er sich umschaute.
Es war also einer von diesen Besuchen. Anna spürte einen Kloß in der Kehle, und sie bemühte sich, ruhig weiterzuatmen. „Das tut es auch jetzt noch. Aber du lässt dich ja nicht mehr oft blicken.“
„Warum sollte ich?“
Seine Worte trafen sie wie ein spitzer Pfeil. Sie umklammerte die Armlehnen des Schaukelstuhls. „Ich bin hier, Lowell. Bedeute ich dir gar nichts mehr?“
Ein paar Sekunden lang schaute er ihr in die Augen. Dann drehte er sich abrupt um und ging zu einer der großen Säulen hinüber. Grübelnd betrachtete er den rissigen Putz.
Anna betrachtete seinen abweisenden Rücken und sehnte sich nach dem kleinen, liebevollen Jungen, der er einmal gewesen war. Sie sehnte sich zurück nach der Zeit, als er sie geliebt und gebraucht hatte.
Tränen traten ihr in die Augen, und sie wandte den Blick ab. „Erst Juni“, murmelte sie, „und schon so warm. Von Jahr zu Jahr scheint es heißer zu werden.“
Über seine Schulter warf Lowell ihr einen Blick zu. „Das sagst du jedes Jahr.“
„Wahrscheinlich.“
Erneut lastete das Schweigen bleischwer zwischen ihnen. Lowell nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hemdtasche, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an. Im Licht der Streichholzflamme wirkte sein hübsches Gesicht verspannt und abweisend. Und sehr, sehr unglücklich.
Anna schlug die Augen nieder. Sie konnte diesen Anblick nicht ertragen. Es schmerzte sie, seine verbitterte Miene zu sehen. „Du hast den neuen Handwerker also schon kennengelernt“, sagte sie schließlich, um das Schweigen zu beenden. Als ihr Bruder nicht reagierte, fuhr sie fort. „Angeblich hat er eine Menge Häuser an der Ostküste renoviert. Wenn das stimmt, könnten wir …“
„Was soll das, Anna?“
Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und verschränkte die Finger. „Ich wollte dir nur erzählen …“
„Warum? Findest du die Ruhe nicht angenehm?“
Sie schob das Kinn vor. Ihre Handflächen wurden feucht. Er war gekommen, um mit ihr zu streiten. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie ihn um nichts in der Welt davon abbringen konnte. Trotzdem versuchte sie es. „Du bist mein Bruder. Ein Teil von Ashland gehört dir. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.“
„Die Hälfte gehört mir“, verbesserte er sie. „Und es interessiert mich nicht.“
Sie erhob sich und ging zu ihm hinüber. „Was interessiert dich dann, Lowell?“, wollte sie wissen. Als er keine Antwort gab oder sonst irgendwie auf ihre Frage reagierte, packte sie ihn am Arm. „Oder interessiert dich gar nichts?“
Ihre Blicke trafen sich. In seinem lag ein Ausdruck von Hass. Ihr stockte der Atem. „Lowell, was …“
„Zu verkaufen“, sagte er gepresst. „Daran bin ich interessiert.“
„Nein.“ Anna schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. „Kommt nicht infrage. Niemals.“
„Die Hälfte gehört mir.“