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Ina Jens veröffentlichte ihre Kindheitserinnerungen in zwei Bänden. In dieser Ebook-Ausgabe sind sämtliche Erzählungen enthalten: Maja - Kindheitserinnerungen aus dem Bündnerland Rosmarin - Weitere Erlebnisse aus Majas Kindheit ... Wenn auch in unserm Haus kein Christbaum angezündet wurde und keine Seele an gegenseitiges Beschenken dachte, habe ich doch immer den Zauber der Weihnachtszeit in seiner ganzen Tiefe und Schönheit genossen. Das Lieblichste an diesem Zauber war die Vorfreude, die sich beinahe über den ganzen Christmonat hinzog, begann sie doch immer glücklich schon am ersten Sonntagabend im Dezember. Das war nämlich die Zeit, wo der Schülerchor der oberen Klassen, einem alten Brauch folgend, abends durch die Dorfstraßen zog und an bestimmten Plätzen Weihnachtslieder sang. Was bei diesem Singen nicht wenig zur Weckung der weihnachtlichen Stimmung beitrug, waren die merkwürdigen, zylinderförmigen Laternen, welche die Knaben bei der Gelegenheit auf den Köpfen trugen. Diese Laternen waren aus Karton verfertigt, aus denen man allerlei Figuren, wie Sonnen, Monde, Sterne, Kometen, Ringe und Kreuze herausgeschnitten hatte und die mit buntem Seidenpapier verklebt waren. Innen befand sich eine Vorrichtung zum Aufstellen einer Kerze, und wenn diese brannte, leuchteten die Figuren weithin. Die Laternen sahen dann wie Kronen aus und erinnerten mich immer an die Könige aus dem Morgenland. Schön und geheimnisvoll erschien mir alles, wenn ich den Zug der dunklen Gestalten mit den schimmernden Laternen von Weitem durch die Nacht daherkommen sah, und der dreistimmige Gesang so lieblich durch die winterlich weiße Dunkelheit klang. Obwohl vom Dach unseres Hauses die Eiszapfen wie lange Stöcke herunterhingen, obwohl an den Fenstern die üppigsten Eisblumen prangten und schneidend kalte Luft von den Bergen wehte, stand vor meiner Seele beim Hören dieser Weihnachtslieder immer ein ganz sommerliches Bild, das mich mit Andacht erfüllte. Ich sah eine weite, grüne Wiese, ringsum Wald, eine Herde Schafe, Hirten in blauen und roten Gewändern, in einer Ecke die Krippe mit dem Jesuskind und Maria und Josef daneben, und am dunklen Firmament einen einzigen, großen Stern. Das war der Weihnachtsstern. ...
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Seitenzahl: 290
Mein Heimatdorf liegt irgendwo im lieben Bündnerland friedlich eingebettet zwischen himmelhohen Bergen. Jeden Morgen, wenn ich der Sonne die Fenster öffnete, grüßten mich die vergoldeten weißen Häupter der rätischen Alpen. Andächtig sah ich dann wohl zu den stolzen Höhen empor, sah mit staunenden Kinderaugen, wie über den zackigen Firnen der goldene Sonnenball emporstieg und seinen Glanz wie einen schimmernden Schleier über weiße Hänge, dunkle Wälder, alte Burgen, ja über das ganze liebliche Tal hinwarf.
Schön, wunderbar schön schien mir dann die Heimat; aber die Seele eines Menschenkindes ist voller Rätsel. Wenn man es am besten und am schönsten hat, erwacht die Sehnsucht nach etwas noch Besserem, etwas noch Schönerem. Und so kam es denn auch, dass immer dann, wenn Berg und Tal besonders herrlich vor mir lagen, ich wie aus endlosen Weiten ein seltsames Locken und Rufen zu hören glaubte. Bald schien der silberne Ton aus den weltfernen Bergen zu kommen, bald schien er aus den Tiefen meines Herzens zu klingen, bald trafen sich die Stimmen der Seele in sehnsuchtsvollem Zusammenklang, und dann rang es sich wie ein Gebet von meinen Lippen: »Wie grenzenlos schön muss es erst dort hinter jenen Bergen sein! Einmal, ein einziges Mal nur über die hohen Felsentürme weg in die Welt hinaus, ach, wer das doch könnte!«
Und die Zeit kam, wo ich das wirklich konnte. Tief atmend ließ ich die Heimat hinter mir und fuhr mit tausend Erwartungen in die Welt hinaus, die wie ein Märchenland mir rief und winkte. Ich wanderte durch vieler Herren Länder, sah, wie sich überall Schönheit an Schönheit reiht, sah endlose Ebenen, leuchtende, breite Flüsse, wunderbare Städte, fremde Menschen, aber je weiter ich wanderte, um so größer, um so heißer wurde die Sehnsucht. Immer weiter! Immer weiter! rief es in mir. Wohin? Wohin denn eigentlich, du ruheloses Herz? Und ich fuhr über das uferlose, unbegrenzte Meer bis an die herrliche Küste des Stillen Ozeans, und da bin ich geblieben, denn irgendwo muss der Mensch eine Heimstatt haben. Das Land, in dem ich wohne, ist auch einzig schön. Die Berge sind noch höher als die im lieben Bündnerland, die Seen noch von tieferem Grün, die Wälder einsamer, dunkler und gewaltiger, der Boden fruchtbar wie Gartenreich; die Blumen von betäubendem Duft, jahraus, jahrein in ewiger Schönheit blühend, der Himmel in strahlendem Blau und das Meer wie ein blendender Spiegel, ewig wechselnd in Glanz und Farbenpracht . . .
Meine Sehnsucht müsste schweigen, aber ach . . .
»Heimat, süße Heimat«
Alle Schönheit der Welt gäbe ich hin, wenn ich einmal noch dein liebes Antlitz wiedersehen, einmal noch Heimatluft atmen dürfte, einmal noch mit Schnee und Winterkälte und Tannenduft beim Klang deiner Kirchenglocken Weihnachten feiern könnte in dem kleinen Dorf, wo ich meine Kinderzeit mehr als bescheiden und doch so glücklich verlebte, wie es die nachfolgenden, einfachen Erzählungen zeigen mögen!
I. J.
In unserem Dörfchen gab es eine Sommer- und eine Winterschule. Der Besuch der Winterschule war obligatorisch. In die Sommerschule konnte gehen, wer wollte. Selbstverständlich besuchte ich die Sommerschule, schon aus dem einfachen Grunde, weil, wäre ich zu Haus geblieben, ich tagelang im glühenden Sonnenbrande auf endlos weiten Wiesen hätte Heu nachrechen müssen.
Außerdem trieb mich in diesem meinem zehnten Lebensjahre ein fast krankhafter Ehrgeiz in diese Sommerschule. Ich hatte nämlich im vergangenen Jahre ein selten gutes Zeugnis erhalten, stand doch darin, dass ich während des Schulbesuchs »ausgezeichnet fleißig« gewesen sei, ein Zeugnis, das Generationen vor mir niemand aufzuweisen imstande gewesen wäre.
»Ausgezeichnet fleißig!« Das ganze Dorf sprach davon, nämlich wenn ein Huhn ein Ei legte, sprach auch das ganze Dorf darüber, so interessiert waren die lieben Mitmenschen damals in dem kleinen Dorf. Dieses Mal waren auch alle merkwürdig einer Meinung, nämlich dass ich dieses Zeugnis überhaupt nicht verdient habe, dass ich ein ganz nichtsnutziges kleines Mädchen sei und man den Lehrer einfach nicht begreifen könne. Ich jedoch kümmerte mich nicht im geringsten um die Giftworte, die ich rechts und links zu hören bekam, sondern blähte mich wie ein Frosch in der Sonne, sah nur von Zeit zu Zeit in mein Zeugnis, um mich zu vergewissern, dass das Wörtchen »ausgezeichnet« auch wirklich und wahrhaftig noch dastand und nicht etwa plötzlich wie ein Vogel davongeflogen sei. Es stand aber unverrückbar da, lachte mich an, entzückte mich, berauschte mich derart, dass ich den festen Vorsatz fasste, auch in diesem Jahre mir dieses wunderbare Prädikat zu verschaffen, und mit diesem, wie mir schien heiligen Entschluss, betrat ich die Sommerschule.
Drei Monate gingen wie im Fluge vorbei. Ich war während der ganzen Zeit geradezu überfleißig und überaufmerksam gewesen. Unter allen Arbeiten standen die besten Noten, und über mein Zeugnis brauchte ich mir gewiss keine Gedanken zu machen. Ein zweiter Triumph, ein zweites »Ausgezeichnet fleißig« leuchtete lieblich wie ein Stern vor meiner Seele.
Die letzte Schulwoche war da, und eine große Erwartung erfüllte mich. Ich ging wie auf Bergeshöhen unter meinen Mitschülern einher, sah innerlich geradezu verächtlich auf sie nieder und fühlte mich grenzenlos erhaben. Das Sprichwort von den Bäumen, die der liebe Gott nicht in den Himmel wachsen lässt, kannte ich nämlich nicht.
Es war Donnerstag. Am Freitag hatten wir noch Zeichnen und Naturgeschichte, und am Sonnabend sollten wir unsere Zeugnisse erhalten. Nun hatte unser Lehrer einmal den Wunsch geäußert, wir möchten Stechapfel suchen, eine Pflanze, die bei uns sehr selten vorkam, und die zu finden als ein besonderes Verdienst des betreffenden Schülers angesehen worden wäre.
Was lag meinem Ehrgeiz näher, als alle Hebel in Bewegung zu setzen, um diese seltene Pflanze zu finden! Nach vielen erfolglosen Fahrten durch Wälder, Wiesen und Felder und nach endlosem, vergeblichem Nachfragen traf ich eines Abends die Schinderliese, ein als Hexe weit und breit verschrienes altes Weib. Sofort kam mir der Gedanke, dass sie allein mir helfen könne. Furchtlos trat ich auf sie zu und fragte sie nach Stechapfel – und siehe – die Alte versprach mir das herrlichste Exemplar, wenn ich ihr dafür ein Körbchen Pflaumen bringe. Ich hätte ihr in meiner Freude die Kleider vom Leibe gegeben.
Am Donnerstagnachmittag, so gegen fünf Uhr, machte ich mich auf den Weg ins Schinderhaus. Der Tag war trübe und die Berge mit Nebel verhängt. Das Schinderhaus lag jenseits des Flusses.
Statt nun den Weg über die hohe steinerne Brücke zu nehmen, stieg ich den Abhang hinter dem Dorf hinunter und durchkreuzte das weite, steinige Flussbett, zwängte mich mühsam durch das dunkle, dichte Erlengebüsch und stand endlich vor dem rauschenden Wasser. Es ging nicht hoch, und überall standen gewaltige Steine, auf denen man leicht das jenseitige Ufer erreichen konnte. An einer Stelle teilte es sich sogar in zwei Arme, die ein kleines Stück Land umspannten, und die sich weiter unten wieder vereinigten. Ganz mühelos sprang ich über das Wasser und erreichte das Schinderhaus.
Nach ungefähr einer halben Stunde kehrte ich glücklich mit dem schönsten Stechapfel wieder zurück. Ich ging wie im Traum. Das Gelingen nach den vielen Bemühungen, das voraussichtliche Lob des Lehrers, meine besondere Stellung in der Schule – alles dies beseligte mich namenlos.
Unterdessen war es aber dunkel geworden. Ein heftiger Wind jagte durch die Erlen, die sich rauschend bogen und mich fast zur Erde warfen. Als ich an den Fluss kam, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Das Wasser war merklich gestiegen und wälzte sich als eine schwarze, drohende Flut an mir vorbei. Ich stutzte wohl einen Augenblick, aber ohne eine Gefahr zu ahnen, sprang ich dort, wo sich das Wasser teilte, von Stein zu Stein über den ersten Arm hinweg und stand nun auf festem Boden, zu beiden Seiten die schäumenden Wasser. Als ich den zweiten Flussarm überspringen wollte, sah ich plötzlich, dass es eine Unmöglichkeit war. Die Wogen schossen hoch über den Steinen weg. Ein gewaltiger Schrecken erfasste mich, und ich entschloss mich rasch, wieder über den anderen Arm zurückzukehren, aber als ich mich umdrehte, sah ich, wie auch dort das Wasser in den wenigen Augenblicken gestiegen war, dass ich nicht mehr zurück konnte. Das Stückchen Land, auf dem ich stand, wurde zusehends kleiner und kleiner. Ich sah die schreckliche Flut auf mich zukommen, und eine rasende Angst ergriff mich. Mein Stechapfel schoss auf den Wogen davon. Ich sank auf die Knie, sprang wieder auf, hob die Arme empor, schrie, schrie wie eine Verzweifelte. Auf der fernen Brücke sammelten sich Menschen, die mir alle heftige Zeichen machten, dass ich zurück sollte. Die Entfernung ließ sie die große Gefahr nicht erkennen, in der ich schwebte.
Der Wind jagte mich fast in die Flut hinein. In den Erlen rauschte es unheimlich. Die Wogen tobten. Aus der fernen Schlucht schien sich ein Weltmeer über mich ergießen zu wollen. Die Leute schrien. Ich schrie, und die Nacht sank immer tiefer.
Da – teilten plötzlich zwei Hände das Gebüsch, und ein junger Bursche tauchte am Ufer auf. Mit einem gewaltigen Satze sprang er in die Flut von Felsblock zu Felsblock bis in die Mitte des Wassers. Dort blieb er, wie ein Fichtenbaum umrauscht von den tosenden Wassern, fest stehen und reichte mir eine Hand hinüber, riss mich dann so gewaltig über den Fluss, dass ich beinahe fliegend das andere Ufer erreichte.
Als ich mich nach meinem Retter umsah, war er verschwunden. Ich kehrte wie betäubt ins Dorf zurück. Auf dem Rathausplatz stieß ich mit den Leuten zusammen, die auf der Brücke gewesen waren. Sie schimpften ganz entsetzlich auf mich ein und meinten, ich verdiente solche Prügel, dass ich davon acht Tage lang nicht gehen könnte.
Innerlich wie erstarrt kam ich nach Hause. Meiner Großmutter wagte ich nichts zu erzählen, aber als ich im Bette lag, konnte ich lange nicht einschlafen. Ich musste alles noch einmal klar durchleben und durchdenken, und bei dieser Gelegenheit wurde mir erst recht bewusst, wie nah ich dem Tode gewesen war und was für eine große Tat jener Bursche eigentlich an mir vollbracht hatte. Ganz deutlich stand er vor mir.
Mein Lebensretter! Er hieß Johann Martin Ambühl und war fünfzehn Jahre alt. Seine Eltern waren arme Leute, und er hatte noch vier jüngere Geschwister. Wir kannten ihn als einen klugen, aber wilden und rohen Mitschüler, jedoch in meinen Augen war er nun ein Engel.
Eine grenzenlose Dankbarkeit für ihn erfüllte mich. Lebensretter pflegt man zu belohnen. Das wusste ich, und plötzlich ließ mich der Gedanke nicht mehr los, ich musste ihm irgendetwas schenken, irgendetwas, das ihm Freude machte.
Prüfend erwog ich alles, was ich besaß, aber nichts, nichts war da, das man einem jungen Burschen schenken konnte. Mein Besitz gipfelte damals in einem Nähkörbchen mit rosa seidenen Kissen, einem Spiegelchen und einem silbernen Fingerhut. Ich hätte ihm das alles mit übervollem Herzen gegeben, aber was sollte er damit? Er hätte mich nur ausgelacht, und das wäre mir schrecklich gewesen.
Krampfhaft suchte ich weiter in meinen Schätzen. Ich besaß eine Knopfsammlung, etwa hundert Bilder, einen Band von »Heidi« – aber das genügte mir alles nicht – doch – ja – ich besaß noch etwas.
Blitzschnell sprang ich aus dem Bett und durchsuchte die Taschen meiner Schürze, und wirklich – nun hatte ich es, hielt es in meiner Hand und schlüpfte damit wieder ins Bett. Es waren zwanzig Rappen! Zwanzig Rappen! Für uns Kinder damals ein Vermögen, denn – was konnte man nicht alles für zwanzig Rappen haben!
Also ich überlegte nun, was ich meinem Lebensretter für zwanzig Rappen kaufen sollte. Rote Zuckerstangen? Ein Lebkuchenherz? Kandiszucker? Bärendreck? Nein, nein, das schien mir alles nicht das Treffende zu sein. Wer wusste denn, ob der Johann Martin Ambühl überhaupt Bärendreck aß? Ich kannte Kinder, denen er viel zu süß war.
Also etwas anderes! Aber was? – Plötzlich fiel es mir ein, womit ich das Herz meines Lebensretters erfreuen konnte, denn um dieses Geschenk, das ich ihm machen wollte, lag auch noch das strengste Verbot sämtlicher Eltern, Lehrer und überhaupt der ganzen dörflichen Obrigkeit. Also war es um so köstlicher.
So fasste ich denn an diesem unseligen Donnerstag, abends um neun Uhr, im Bette den Entschluss, meinem Lebensretter in ewiger Dankbarkeit für zwanzig Rappen Zigarren zu kaufen!
Selig schlief ich ein, und selig wachte ich am Freitag auf. Am Vormittag war es mir unmöglich, meine Einkäufe zu machen. Am Nachmittag jedoch trat ich mit pochendem Herzen in den kleinen Laden des Bäckers Schmid am Rathausplatz. Ich musste lange warten, bis jemand kam, mich zu bedienen, und ich hatte reichlich Zeit, nachzudenken, welche Zigarren wohl die feinsten seien.
Bei Schmid gab es damals zwei Sorten. Die einen waren kurz und dick und hießen »Stumpen«, die andern waren lang und dünn, mit einem Strohhalm durch die Mitte, »Brissago« genannt. Diese kosteten zehn, die Stumpen dagegen nur fünf Rappen!
Nach schwerem Kampfe entschloss ich mich für eine Strohhalmzigarre und zwei »Stumpen«. Mein kleines Paket unter der Schürze versteckt, ging ich in die Schule.
Ich war die Erste. Nicht lange darauf erschien – wie war mir das Glück doch gewogen! – mein Lebensretter. Als er mich sah, lachte er. Da ging ich auf ihn zu, und, ohne ein Wort zu sagen, steckte ich ihm das Paket in seine Rocktasche und lief davon.
Wir hatten an diesem Nachmittage, wie schon gesagt, Zeichnen und Naturgeschichte und waren alle in einem einzigen Klassenraum vereinigt.
Nach einer Stunde lautlosen Arbeitens stand der Johann Martin plötzlich auf und bat um Erlaubnis, hinauszugehen.
Da er mir durch das Ereignis des vorhergehenden Tages so nahe gerückt war, interessierte mich alles, was er tat und ließ, und ich wartete daher auch gespannt auf seine Rückkehr, aber – man stelle sich mein Entsetzen vor – eine halbe Stunde war vergangen, und er war nicht wiedergekommen. Eine weitere Viertelstunde – und noch war er nicht da. Was war geschehen? Wo mochte er sein?
Vom Kirchturm her klang es mahnend dreimal voll und schwer. Da stutzte der Lehrer und fragte ganz erschrocken: »Ist der Johann Martin nicht schon vor drei Viertelstunden hinausgegangen?« Alle bejahten es.
Da ging der Lehrer hinaus und kam auch nicht wieder. Nun standen wir alle auf und gingen ebenfalls hinaus, denn wir wussten, dass irgendetwas vorgefallen war.
Als wir in die Nähe eines gewissen Ortes kamen, bot sich uns ein wirklich mitleiderregendes Bild. Die Türe stand weit offen. An der Wand lehnte mein Lebensretter – bleich wie eine Leiche, das schwarze Haar wirr über der Stirn, die Augen wie im Tode gebrochen, die Arme schlaff herunterhängend. Von Zeit zu Zeit machte er eine seltsame Bewegung. Es war wie ein Krampf. Das Kinn schnellte nach vorn, Hals und Brust nach hinten, und dazu ertönten seltsame, gurgelnde Laute. Am Boden lagen ein paar Dutzend Streichhölzer, Überreste von Zigarren – – meiner Zigarren – und – – na – – lasst mich schweigen!
Der Lehrer schäumte vor Wut. Er packte den vollständig willenlosen Burschen hinten am Kragen und stieß ihn vor sich her in die Klasse zurück. Dort schleuderte er ihn gegen die Wand und schrie: »Du Lump! . . . Du elender Lümmel! . . . Deinen Eltern stiehlst du das Geld . . .«
Da war es mir, als ob mir jemand einen gewaltigen Stoß nach vorn gegeben habe. Ohne Besinnen trat ich aus der Menge der totenstillen Schar und rief: »Das ist nicht wahr! Ich habe ihm die Zigarren gegeben, weil er mir das Leben gerettet hat!«
Der Lehrer sah mich verständnislos an. Dann fragte er ungläubig: »Du hast ihm die Zigarren gegeben?«
Und ich antwortete mit ganz unerhörtem Mute: »Ich wollte gestern über den Fluss nach Hause und war auf einmal mitten im Wasser. Wenn er mich nicht gerettet hätte, wäre ich tot, und darum habe ich ihm Zigarren geschenkt.«
Unter den Schülern begann ein boshaftes Kichern. Da schickte der Lehrer alle hinaus. Nur Ambühl und ich sollten dableiben.
Der Lehrer ging ein paarmal schweigend im Zimmer auf und ab. Währenddessen war mir auch erschreckend klar geworden, was für ein Unrecht ich begangen und in was für eine schlechte Lage ich mich durch mein Geständnis gebracht hatte. Mein Zeugnis fiel mir ein, und das Weinen saß mir zuoberst.
Der Lehrer stand jetzt am Fenster und rieb sich die Hände. »Wenn er doch sprechen möchte!«, dachte ich mit würgender Angst im Herzen. Endlich kam er auf uns zu und sah uns lange an. Dann sagte er zu mir mit einem so hämischen Ausdruck im Gesichte, wie ich ihn noch nie bei einem Menschen gesehen hatte: »So eine bist du also!?« – Eine lange Pause und dann jedes Wort betonend: »Den Knaben läufst du nach und – verführst sie – zu solchen Schlechtigkeiten!!« Wieder eine Pause. »Das« – er atmete tief und schwer – »das hätte ich von dir wahrlich nicht erwartet!«
Dann setzte er sich ans Pult und begann in die Zeugnisliste zu schreiben.
Ich hätte in die Erde versinken mögen. Ich – den Knaben nachlaufen?! Ich – sie zu Schlechtigkeiten verführen?! Mir lief ein Zittern durch den ganzen Körper, aber keine Träne löste sich. Es war, als sei jeder Tropfen vor solch grenzenloser Verachtung, die mich getroffen, schon im Auge vereist.
Wir mussten uns dann auf unsere Plätze setzen, bekamen aber merkwürdigerweise keine Strafe.
Am andern Morgen jedoch erhielten wir die Zeugnisse. Ich war aus allen Himmeln gestürzt und schlich als das unglücklichste Kind nach Hause, denn in meinem Zeugnis stand groß und breit: »Ihr Verhalten während der Sommerschule war kaum befriedigend.«
So lernte ich unter bitteren Tränen das Sprichwort von den Bäumen, die der liebe Gott nicht in den Himmel wachsen lässt.
Die Schule hatte wieder begonnen. Wir waren von der ersten Klasse in die zweite hinaufgerückt, und mit dieser Beförderung war natürlich viel Neues verbunden.
In einem langen schwarzen Rock stand neben dem Pult unser Pfarrer, ein ernster, ehrwürdiger Herr, und wir blickten bewundernd zu ihm auf.
Er sprach vom Glauben und Beten und erzählte uns eine gar seltsame Geschichte, über die ich mich damals nicht genug wundern konnte.
Irgendwo in Afrika, dort wo es damals noch Menschenfresser gab, war eine kleine Gemeinde frommer Christen im Haus eines Missionars versammelt. Selbstvergessen sangen sie geistliche Lieder und merkten in ihrer tiefen Andacht nicht, dass die wilden Kannibalen in Scharen draußen das Haus umringten, um sie zu überfallen und ihnen unter Qualen ein schreckliches Ende zu bereiten. Als sie schließlich ihre Feinde doch am Fenster gewahrten, wussten sie, dass nur Gott allein ihnen noch helfen könnte.
Sie fielen auf die Knie und beteten und glaubten, glaubten felsenfest an die Hilfe des Himmels, fanden aber in ihrer Verzweiflung und Todesangst nur wenige Worte, die sie immer wieder vor sich hinstammelten: »Herr, unser Heiland und Gott, verbirg uns vor den Augen des Feindes! O, verbirg uns vor seinen Augen!«
Und siehe, ihre Hoffnung und ihr Glaube sollten nicht getäuscht werden. Das Wunderbare geschah. Die Betenden sahen wohl die Feinde draußen, aber die Feinde sahen die frommen Menschen in der Stube nicht mehr. Es war, als habe Gott den Wilden die Fähigkeit zu sehen genommen. Leer und öde erschien ihnen durch die Fenster das Zimmer, und langsam verzogen sie sich wieder in der dunklen Nacht.
Der Pfarrer nannte dieses Ereignis das Wunderbarste, das je durch den Glauben geschehen sei.
»Seht, Kinder«, sprach er, »so wunderbar hilft Gott den Menschen, die an ihn glauben. Ein herrlicher Spruch in der Bibel schon sagt: ›So ihr Glauben habt, könnt ihr Berge versetzen.‹ Das heißt: das scheinbar Unmögliche ist doch möglich durch unseren gütigen Gott im Himmel, aber glauben, ja glauben muss der Mensch. Und nun wiederholt mir mal die schönen Bibelworte: ›So ihr . . .‹« Und wir fielen alle im Chor ein: »So ihr Glauben habt, könnt ihr Berge versetzen.«
»Ja«, nickte er, »so ihr Glauben habt, könnt ihr Berge versetzen, und nun wollen wir beten.«
Während wir andächtig im Gebet versunken waren, tönten vom Kirchturm her dumpf und feierlich elf Schläge zu uns herein. Die Schule war aus.
Wir waren gerade im Begriff, mit Geschrei und Mappenschwingen hinauszustürmen, als unser Lehrer erschien und uns noch einmal zurückschickte.
Als wir endlich mäuschenstill und erwartungsvoll wieder auf unsern Bänken saßen, begann er: »Für morgen habt ihr denn also folgende Bücher und Hefte zu kaufen: Ein Rechenbuch, zweites Schuljahr, kostet sechzig Rappen, ein Rechenreinheft, kostet fünfundzwanzig Rappen, und ein einfaches Rechenheft, kostet zehn Rappen. Das macht zusammen fünfundneunzig Rappen. Wie viel habe ich gesagt?«
Und wir brüllten alle zur Antwort: »fünfundneunzig Rappen!«
»Das ist sehr wenig«, fuhr der Lehrer fort, »und darum erwarte ich, dass alle morgen ihre Sachen haben. Und nun geht nach Hause! Auf!«
Mit einem Ruck standen wir auf, und wenige Minuten später gingen wir die Dorfstraße entlang.
Als ich nach Hause kam, stieß ich gerade auf die Großmutter. Sie kam aus dem Hühnerstall und machte ein recht niedergeschlagenes Gesicht.
«Großmutter!«, rief ich. »Denk dir, es kostet nur fünfundneunzig Rappen! Das ist doch nicht viel, nicht wahr?«
Ich sah, ihre Zustimmung erwartend, an ihr empor. Sie aber sagte: »Was denn, Maja?«
Und ich begann: »Ein Rechenbuch, zweites Schuljahr, kostet sechzig Rappen, ein Rechenreinheft, kostet fünfundzwanzig Rappen, ein einfaches Rechenheft, kostet zehn Rappen.«
Als ich schwieg, sagte die Großmutter etwas zögernd: »Maja, so viel Geld habe ich heute nicht.«
Ich war ganz erschrocken. »Ist das denn viel?«, fragte ich, dem Weinen nahe.
»Nein«, sagte sie, »das ist gar nicht viel, aber ich habe es nicht.« Und als sie meine Tränen sah, wischte sie mir dieselben mit ihrem Schürzenzipfel aus den Augen: »Weine nur nicht, Kind! Übermorgen haben wir's schon. Du weißt ja, das Perlhühnchen, das Schopfhennli, die Spanierin und die Lahme haben seit vorgestern keine Eier mehr gelegt, also werden sie es morgen gewiss tun. Dann habe ich ein Dutzend, und die kannst du dann beim Bäcker verkaufen. Dafür kriegst du einen Franken und zwanzig Rappen, und damit kaufst du dir die Bücher.«
Ich ging wortlos von der Großmutter weg in den Garten. Hinter dem Hühnerstall war ein großer Stein und daneben ein alter, mit seinen Ästen bis auf den Boden reichender Holunderbaum.
Ich setzte mich auf den Stein und war zu Tode betrübt.
So arm waren wir also! Ärmer als die Ärmsten! Denn das war gewiss, es gab kein Kind, das morgen die verlangten Sachen nicht mitbrachte. Und ich war sonst immer die Erste gewesen. Immer hatte man mich wegen meines Fleißes und meiner Ordnungsliebe gelobt. Und morgen würden alle nun ihre schönen neuen Sachen haben, und ich würde dastehen und sagen müssen, wir hätten kein Geld gehabt. Alle würden auf mich sehen, und in der Pause würden die Ärmsten und Schlechtesten und Dümmsten mir eine »lange Nase drehen« und mir nachschreien: »Bettlerliese! Bettlerliese!« Und meine Aufgaben würde ich auch noch lange nicht machen können, und ich schrieb doch so gern auf das feine neue Papier, und der Lehrer würde wütend auf mich werden, und ich würde nicht mehr die Erste sein . . .
Oh, ich schämte mich schrecklich schon im Voraus, und ich schluchzte so lange in meine Hände hinein, bis ich ganz müde davon wurde.
Dann merkte ich auf einmal, wie still es um mich herum war. Nah und fern kein Laut, kein Klang! Nur hin und wieder fiel ein Blatt von den Bäumen.
Ich horchte in die Stille hinein, und da war es mir plötzlich, als hörte ich unsern Pfarrer, so wie er an diesem Morgen geredet hatte: »So ihr Glauben habt, könnt ihr Berge versetzen.«
Glauben? – Die in Todesangst betenden Christen in Afrika schwebten vor meiner Seele, und ihre wunderbare Rettung fiel mir ein.
Glauben? – Das könnte ich doch auch!? Aber natürlich! O, ich konnte glauben, felsenfest, eisenfest, heilig glauben!
Mir war's, als ob mir plötzlich eine wunderbare Kraft verliehen sei, als ob mich ein Feuer durchglühte, durch das ich das Unmöglichste selbst möglich machen konnte.
Ich stand auf und sagte ganz laut vor mich hin: »Lieber Gott! Ich glaube, ich glaube, dass ich jetzt auf dem Wege durch den Garten und über die Mauer bis zum Haus zurück fünfundneunzig Rappen finden werde.«
Und ich wandelte wie im Traum dahin, krallte meine Hände zu Fäusten, um die Stärke meines Glaubens zu zeigen, und plapperte immer todernst vor mich hin: »Ich glaube, dass ich fünfundneunzig Rappen finden werde. Ich glaube . . .«, und ich stieg über die Mauer.
Noch hatte ich nichts gefunden, aber der Weg war ja auch noch nicht zu Ende.
»Ich glaube ...«, begann ich wieder und starrte wie gebannt auf den Boden und spähte hinter jeden Stein und musterte jedes Fleckchen Erde mit meinen Blicken.
»Ich glaube, dass ich fünfundneunzig Rappen finde«, sagte ich, schon wieder mit den Tränen kämpfend und langte wieder bei dem Stein neben dem Holunderbaum an, ohne auch nur ein kupfernes Einrappenstück gefunden zu haben.
»Also, das mit dem Glauben ist nichts«, dachte ich, »ist falsch, ist eine elende Lüge.«
Ich war nahe daran, an Gottes Dasein zu zweifeln. Da fiel mir in meiner Betrübnis ein, dass der Pfarrer uns nicht nur das Glauben, sondern auch das Beten empfohlen hatte.
Noch einmal richtete ich mich auf wie ein Ertrinkender an der rettenden Hand. Ich wollte es doch noch mit dem Beten versuchen.
Einen Augenblick sann ich nach. Dann kroch ich unter den Holunderbaum, wo mich niemand sehen konnte, kniete nieder und fing an ganz selbstvergessen zum lieben Gott zu sprechen.
Ich habe ihm alles erzählt, ihm meinen ganzen Kummer gestanden und schließlich recht innig um die fünfundneunzig Rappen für die neuen Schulbücher gebeten.
Als ich damit fertig war, stand ich auf und war merkwürdigerweise ganz ruhig.
Fast getröstet ging ich endlich ins Haus. Ein frohes Erwarten erfüllte mich.
Als ich auf der Treppe stand, rief von oben die Großmutter ganz aufgeregt, ganz ungeduldig: »Maja, so komm doch! Wo bist du denn? Schnell, ich muss dir was sagen!«
Mir klopfte das Herz, und ich sprang über drei Stufen weg hinauf.
Vor mir stand die Großmutter. Ihr Gesicht strahlte. Sie hielt mir wortlos die offene Hand hin, und darauf lag – man denke sich mein grenzenloses Staunen – – ein funkelnagelneues Fünffrankenstück! –
»Großmutter!«, schrie ich, »wo hast du das her?«
Sie nahm mich bei der Hand und zeigte mir ein altes Ofenbankpolster, das sie eben ausgeklopft hatte, und erzählte, dass aus einem Riss beim Klopfen das Geldstück herausgefallen sei.
»Großmutter«, sagte ich bebend, »das hat der liebe Gott da hineingetan.«
Da meinte sie lächelnd: »Vor einigen Jahren ist ein Onkel von dir aus Amerika gekommen und hat mir Geld gebracht, viel Geld, und alles waren Fünffrankenstücke, und eines davon hat sich wohl damals in das alte Polster verloren, denn ich saß darauf, als ich das Geld zählte. Der liebe Gott hat also dies Fünffrankenstück zwar nicht dort hineingetan, er hat es aber zur rechten Zeit wieder herausfallen lassen. Darum wollen wir ihm von Herzen danken.«
Ich habe denn auch noch an diesem Abend mein Rechenbuch für sechzig Rappen, mein Rechenreinheft für fünfundzwanzig Rappen und ein einfaches Rechenheft für zehn Rappen kaufen können, und niemand hat mich am andern Tage verhöhnt.
Alles war gut und schön – eben weil mir der liebe Gott so wunderbar geholfen hatte. –
Es war ein herrlicher Sonnabendnachmittag im Winter. Alles lag tief im Schnee versteckt. Überall war Sonne, und der Himmel leuchtete wie eine große, blaue Kristallglocke.
Da sagte die Großmutter: »Schnell, Maja, zieh dich warm an! Nimm die Kapuze, die Handschuhe und bringe den Schlitten! Wir fahren mit Mais in die Mühle.«
Hu, ging das Anziehen aber schnell! Sogar die grässliche Kapuze aus grauem Flanell setzte ich ohne Bedenken auf, hing mir an einer bunten Wollschnur die dicken, grauen Handschuhe um den Hals und holte meinen himmelblauen Schlitten mit den zehn silberglänzenden Glocken.
Ich stand schon auf der Straße, sah erwartungsvoll um mich und dachte, es sei doch wunderbar schön, wenn man einmal nicht zur Schule zu gehen brauchte. Fast feierlich kam mir alles vor: der weite, weiße, stille Weg, die verschneiten Bäume, die schneebedeckten Wiesen und Wälder und Berge, die strahlten, als ob Millionen von Silberkörnchen über sie gestreut wären, dass es einen ordentlich blendete vor lauter Licht und Glanz.
Mitten in mein stilles Freuen hinein kam die Großmutter und legte ein Säckchen Mais auf den Schlitten. Ich nahm die Leine in die Hand und setzte mich auf den Sack. Die Großmutter gab mir einen kräftigen Stoß in den Rücken, und ich fuhr lustig auf der hartgefrorenen Straße dahin.
Beim »Teufelshäuschen« wartete ich, bis die Großmutter mich eingeholt hatte. Dann gab sie mir wieder einen ordentlichen »Schubs«, die Glocken klingelten hell, und ich sauste wieder davon. So ging es, bis wir nach ungefähr einer Stunde am Ketznerbach und bei der Tobelmühle ankamen.
Die Mühle lag tief im Schnee und sah wie ein verzaubertes Schlösschen aus. Vom Dach hingen meterlange, leuchtende Eiszapfen herunter, aber trotzdem rauschte und lief das Wasser und drehte hurtig das Rad.
Wir hielten an, und die Großmutter zog die Klingel. Da kam die dicke Müllerin, Frau Schwandener, heraus. Sie grüßte sehr laut und sehr freundlich, warf sich den Sack, wie es die Männer tun, im Bogen auf die Schultern und ging uns voran.
Wir schritten durch einen langen, dämmerigen Flur. In diesem Flur stand ein Tisch mit allerlei altem Gerümpel darauf. Da war eine zerbrochene Stalllaterne, eine ölige Petroleumkanne, ein geblümter Milchtopf ohne Henkel, ein schmutziges Kälberfass und anderes unnützes Zeug.
Dazwischen aber – – nein – – so etwas! Ich musste stehen bleiben und die Augen weit aufreißen, um das ordentlich zu sehen, was Wunderbares dazwischen lag!
Es war ein allerliebstes, etwa fingerhohes Teekännchen aus Kupfer. Etwas so Niedliches und Zierliches und Reizendes hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen.
Obwohl ich mir niemals ein Spielzeug gewünscht hatte und nie wie andere Kinder mit Puppensachen spielte, nach dieser kleinen Kanne ergriff mich ganz plötzlich ein so heftiges Verlangen, ja geradezu eine so brennende Gier, dass ich mir gar nicht mehr bewusst war, was ich eigentlich noch tun und lassen sollte, aber – eins – zwei – drei – ohne Überlegung ließ ich das Kännchen in meiner Rocktasche verschwinden.
Das Herz klopfte mir wild in der Brust. Meine Gefühle mochten denen eines Diebes gleichen, der sich eben mit einer geraubten Million davonschleicht. Es waren Glück und Angst und Freude und Schuldbewusstsein durcheinander.
Ich tat aber recht harmlos, sang sogar leise vor mich hin und ging zur Großmutter. Sie hatte eben mit der Müllerin den Mais gewogen und verabschiedete sich. Ich hörte gerade noch, wie sie sagte: »Den Schlitten lasse ich denn auf ein Stündchen bei euch. Wir wollen nur noch schnell bis ins Kloster nach Rotenbrunn.« Damit nahm sie mich bei der Hand, und wir gingen zu Fuß weiter.
Im Kloster wurden wir von den frommen Nonnen recht liebreich aufgenommen. Meine Großmutter brachte ihnen ein paar willkommene Aufträge, und wir erhielten Kaffee und Kuchen mit schönen, großen Rosinen darin, und die Nonnen streichelten mir immerzu die Backen und sagten: »So ein liebes Kindchen!«, und: »Nicht wahr, du betest auch recht, recht viel, damit dich der gute Herr Jesus nicht in Sünde fallen lässt und damit du einmal auch zum lieben Gott in den Himmel kommst und nicht in die Hölle musst . . .«
Und sie schenkten mir ein kleines, niedliches Bild. Darauf war das Jesuskind mit einem Kreuz im Arm, und daneben stand ein Lämmchen mit einem rosafarbenen Bändchen um den Hals.
Mir war mit der gestohlenen Teekanne in der Tasche nicht sehr behaglich zumute in dieser frommen Umgebung, und ich atmete ordentlich erleichtert auf, als die Großmutter sagte, sie wolle noch in die Kirche.
Wir schritten durch eine kleine Pforte und traten in die hohen, weiten Räume der Klosterkirche. Wie schön und feierlich und geheimnisvoll war es darin! Über uns das gewaltige, düstere Gewölbe, an den Seiten in den Nischen der Wände alle die Heiligen und ganz hinten über dem Altar die Jungfrau Maria in blauem, sternenbesätem Mantel mit dem Jesuskinde auf dem Arm und oben, hoch über ihr wie ein blinkender Stern das »Ewige Licht«. Und keine Seele war da, nur die Großmutter und ich, und überall ein Duft nach Weihrauch und das »ewige Licht« über uns. Ich war so in Staunen und Ehrfurcht versunken, dass ich meine gestohlene Teekanne ganz vergaß.
Nun kniete die Großmutter auf den Stufen vor dem Altare nieder, und ich kniete neben ihr.
Wie erhaben, wie heilig war das alles! Vor lauter Ergriffenheit faltete ich meine Hände und begann bebend und leise: »Heilige Maria . . .« Da – ich dachte, eine Kugel sei mir durch den Leib gefahren – so durchzuckte es mich – da rollte meine gestohlene Kanne aus der Tasche heraus und polterte und kullerte und klapperte die steinernen Stufen hinunter und lärmte noch ein großes Stück weiter über die Fliesen hin zum Beichtstuhle. Dort blieb sie endlich liegen.
Der Lärm in der totenstillen Kirche war so entsetzlich gewesen, dass ich ihn tausendmal verstärkt noch von allen Wänden zu hören glaubte.
Nun war es mit mir für mein ganzes Leben aus und fertig. Dies war der erste Gedanke, der mich vernichtend durchfuhr. Die Jungfrau Maria, alle die guten Heiligen und der arme Herr Jesus, der da für unsere Sünden blutend am Kreuze hing, vor allem aber meine Großmutter, sie alle, alle wussten nun, was für ein elendes, erbärmliches Kind ich war. Da gab es kein Verstecken, kein Verbergen mehr. Da half kein Lügen, kein Bitten und kein Gestehen. Ich war in den heiligen Räumen der Kirche als eine Diebin entlarvt worden.
Die Großmutter war gleich, als die Kanne fiel, aufgestanden. Einen Augenblick sah sie sich das verhängnisvolle Ding von weitem an. Dann ging sie langsam hin, hob es auf, behielt es in der Hand und ging aus der Kirche – ich hinter ihr her.
Sie sprach nicht ein einziges Wort. Schweigend wanderten wir den Weg zur Mühle zurück.
Dieses Mal läutete die Großmutter nicht erst. Sie trat gleich in den Flur und sagte zu mir gar nicht unfreundlich, nur etwas ernst, fast traurig: »Nimm die Kanne und stelle sie genau wieder dorthin, wo du sie hergenommen hast!«
Ich stellte sie mit gesenktem Blick knapp an den Rand des Tisches. Die Großmutter fragte: »War sie genau an dieser Stelle?«
Da sagte ich »Nein« und stellte sie genau dorthin, von wo ich sie weggenommen hatte.
Dann brachte man uns den Schlitten, und wir traten den Heimweg an. Mit der rechten Hand zog ich den Schlitten, an der linken hielt mich die Großmutter.
Schon sank die Nacht. Überall läuteten die Abendglocken. Am Himmel zogen die ersten Sterne auf. Es war ein stiller, wunderlicher Heimweg. Das Schweigen meiner Großmutter und meine schwere Schuld lasteten beklemmend auf mir, und die Glocken meines Schlittens wimmerten kläglich dazu.
Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass eine solche Tat straflos ausgehen sollte, aber meine Großmutter musste wohl ganz anders darüber gedacht haben.
Nie hat sie ein Wort über dieses Ereignis verloren, und das hat tiefer und nachhaltiger auf mich gewirkt, als tausend Reden es vermocht hätten.
Großmutters Schweigen war mir so unheimlich, war so beschämend für mich gewesen, dass ich seit jenem verhängnisvollen Tage nie mehr fremdes Eigentum angerührt habe.
Als ich neun Jahre alt war, fiel mir ein wunderbares Buch in die Hände, das ich nicht weniger als zehnmal hintereinander gelesen habe. Die Geschichte handelte von einem schönen, armen Mädchen, das sich in einer fremden Gegend auf einem einsamen Bauernhofe als Magd dingen ließ. Jeder staunte über die wunderbare Art der neuen Magd, denn sie war fleißiger als alle anderen, aber seltsam schweigsam und verschlossen. Niemand wusste, woher sie kam, noch wem sie angehörte, aber jeder liebte und achtete und bewunderte sie.
Der eigentümliche Zauber, den der Schriftsteller um das Mädchen wob, hielt auch mich gefangen, ja, er zog mich so in seine Kreise, dass ich eines Tages den festen Entschluss fasste, ebenfalls meine Heimat zu verlassen, über den Lenzerberg zu wandern und im nächsten Dorf irgendwo bei einem Bauern in Dienst zu treten. Ich wollte ebenso still, ebenso fleißig und dafür ebenso von allen geachtet und geliebt werden wie jenes Mädchen, dessen wunderbare Geschichte ich gelesen hatte.
Die Zukunft lag in jenen Tagen schön und geheimnisvoll vor mir. Einen namenlosen Reiz barg der Gedanke, dass ich nun selbst weltfremd unter ganz unbekannten Menschen fortan arbeiten und gewissermaßen als Wundertier leben würde. Mein Entschluss hielt mich so gefangen, dass ich alles vergaß. Ich erwog weder die Schwierigkeiten der Reise noch den Jammer meiner Großmutter. Ich dachte weder an meine neun Jahre, mit denen man doch nicht Dienstmädchen werden kann, noch an die schöne Heimat, die ich im Begriff war, zu verlassen. Ich hatte nur den einen Gedanken, bettelarm auszuwandern und etwas Besonderes zu werden.
Lieblich strahlte die Sonne über meiner herrlichen Heimat. Ich stand am Gartentor bereit, meine große Reise in die Fremde anzutreten. Die Berge hoben ihre Häupter wie Fürsten in die blaue Luft empor, und die Wälder standen ernst und feierlich da und waren voll Vogelsang und murmelnder Quellen. Es war Hochsommerzeit. Die Rosen leuchteten und glühten in unserem Garten, und die Levkojen strömten Wolken von Wohlgerüchen aus.
Mich rührte und mahnte nichts. Mit einem ganz kleinen Bündel unter dem Arme trat ich vor unser Haus, spähte straßauf und straßab. Den Höhen zu war kein Mensch zu sehen.
Da begann ich zu laufen – bergauf, über die Halde, durch den Wald ohne Aufenthalt, bis ich die Bergstraße erreichte, und nun ging ich langsamer, aber wohlgemut und rüstig meinem neuen Ziele, meiner zukünftigen Heimat entgegen.
Nach ungefähr einer Stunde gelangte ich in den Tobelgrund. Das war eine kleine Talmulde mit dem Armenhaus der nächsten Gemeinde in der Mitte und von lieblichen Halden umsäumt.
Wie schön war da alles ringsum! Ein rosafarbiges Blütenmeer begrüßte mich. Lichtnelken bedeckten zu Tausenden die Abhänge, und ich verweilte einen Augenblick ganz benommen von der Pracht der Natur.
Da erblickte ich auf der Schwelle der Armenhütte die Vroni Tanner. Sie war eine Schulfreundin von mir und wohnte mit ihrer Mutter, einer Wäscherin, und vier großen Brüdern, die alle Schuhmacher waren, im Armenhaus. Man sagte, sie hätten es eigentlich nicht nötig, der Gemeinde zur Last zu fallen, und sie lebten recht gut, wenn es niemand sehe.
Die Vroni war ein niedliches, blondes Mädchen, und die Mutter hielt viel darauf, sie recht sauber und ordentlich ins Dorf zu schicken.