Majorin Barbara - Bernard Shaw - E-Book

Majorin Barbara E-Book

Bernard Shaw

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Beschreibung

Oscar- und Literaturnobelpreisträger Bernard Shaw ist schon lange tot, aber seine Bühnenstücke leben fort. 1909 schrieb der englische Schriftsteller und Journalist Gilbert Keith Chesterton über Majorin Barbara: „Fast jedes Bühnenstück von Shaw ist ein erweitertes Epigramm. Aber das Epigramm wird (wie bei den meisten Menschen der Fall ist) nicht auf hundert Gemeinplätze erweitert. Vielmehr wird das Epigramm auf mehrere Hundert andere Epigramme erweitert. Diese Erweiterung ist in allen Einzelheiten genauso brillant wie im Design. Aber es ist prinzipiell jedoch möglich, das ursprüngliche und zentrale Epigramm zu entdecken, das das Zentrum und den Zweck des Stückes darstellt. Auch unter blendenden Schmuckstücken Millionen Witzen ist es prinzipiell möglich, den schärfsten Spott und den tiefsten Sinn zu entdecken, weshalb das Stück geschrieben wurde.“ Sogar wenn Entdeckungsgeist vorhanden ist, scheitert oft seine Ausführung an der menschlichen Schwäche. Nach dem bekannten Glockenton beginnt der Speichel dem Pawlowschen Hund zu fließen. Wenn wir manche Beurteilungen künstlerischer Leistungen von Bernard Shaw lesen, entsteht oft der Eindruck, dass sein Name bei manchen Chesterton’s Berufskollegen auch eine bedingte Reaktion auslöst. Es wird naiven Leuten reflexartig suggeriert: Irgendwas stimme nicht mit dem Literaturnobelpreisträger und seinen Bühnenstücken. Die Liste ist lang und langweilig. Zur Erinnerung: Majorin Barbara ist wohl eines der wenigen Theaterstücke überhaupt, das fragwürdige Rüstungsgeschäfte im Visier hat, und zwar seit seiner Uraufführung 1905. Folglich beschrieb Bernard Shaw den militärisch-industriellen Komplex 56 Jahre davor, als dieser Begriff durch den US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower 1961 eingeführt wurde und eine Popularität erlangte. Trotzdem wiederholte sich immer wieder das gleiche Verhaltensmuster: Fake News greifen Majorin Barbara und Dramatiker Shaw an, weil ihre Verfasser lustlos sind und nicht die Eier haben, um gegen Waffenexporte Stellung zu beziehen. Der Dramatiker kann sich nicht gegen Fake News wehren, weil er 1950 starb. Aber trotz aller Widrigkeiten lassen sich denkende Menschen weder suggerieren noch bevormunden, da sie erkennen, dass Shaw über Probleme schrieb und Fragen stellte, die nach mehr als einem Jahrhundert größtenteils immer noch ungelöst und unbeantwortet sind. Also, wenn der Name Shaw fällt, suchen wir nach den Antworten: Wieso hat sich nicht viel geändert?

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Inhaltsverzeichnis

Bernard Shaw

Major Barbara

German translation

John Bull’s Other Island and Major Barbara:

also How He Lied to her Husband,

Constable and Company Ltd, London 1920

Translated from English by Vitaly Baziyan

Copyright © 2021 Vitaly Baziyan

Imprint: Independently published

All rights reserved

You can reach us via e-mail:

[email protected]

Majorin Barbara

Tragikomödie in drei Akten

Die vorliegende Übersetzung folgt der im Jahr 1920

erschienenen sechsten Auflage der englischen Edition.

Aus dem Englischen übersetzt

von Vitaly Baziyan

Den Bühnen und Vereinen gegenüber Übersetzung.

Aufführungsrecht nur durch den Übersetzer zu erwerben

Lieber Leser und Leserinnen!

Wir freuen uns auf Ihre Anregungen und Zuschriften

an [email protected]

Kommentar des Übersetzers

Oscar- und Literaturnobelpreisträger Bernard Shaw ist schon lange tot, aber seine Bühnenstücke leben fort. 1909 schrieb englischer Schriftsteller und Journalist Gilbert Keith Chesterton über Majorin Barbara: „Fast jedes Bühnenstück von Shaw ist ein erweitertes Epigramm. Aber das Epigramm wird (wie bei den meisten Menschen der Fall ist) nicht auf hundert Gemeinplätze erweitert. Vielmehr wird das Epigramm auf Hundert anderer Epigramme erweitert. Diese Erweiterung ist in allen Einzelheiten genauso brillant wie im Design. Aber es ist prinzipiell jedoch möglich, das ursprüngliche und zentrale Epigramm zu entdecken, das das Zentrum und den Zweck des Stückes darstellt. Auch unter blendenden Schmuckstücken Millionen Witzen ist es prinzipiell möglich, den schärfsten Spott und den tiefsten Sinn zu entdecken, weshalb das Stück geschrieben wurde.“

Sogar wenn Entdeckungsgeist vorhanden ist, scheitert oft seine Ausführung an der menschlichen Schwäche. Nach dem bekannten Glockenton beginnt der Speichel dem Pawlowschen Hund zu fließen. Wenn wir manche Beurteilungen künstlerischer Leistungen von Bernard Shaw lesen, entsteht oft der Eindruck, dass sein Name bei manchen Chesterton’s Berufskollegen auch eine bedingte Reaktion auslöst. Es wird naiven Leuten reflexartig suggeriert: Irgendwas stimme nicht mit dem Literaturnobelpreisträger und seinen Bühnenstücken. Die Liste ist lang und langweilig. Zur Erinnerung: Majorin Barbara ist wohl eines der wenigsten Theaterstücke überhaupt, das fragwürdige Rüstungsgeschäfte im Visier hat, und zwar seit seiner Uraufführung 1905. Folglich beschrieb Bernard Shaw den militärisch-industrieller Komplex 56 Jahre davor, als dieser Begriff durch den US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower 1961 eingeführt wurde und eine Popularität erlangte. Trotzdem wiederholt sich immer wieder das gleiche Verhaltensmuster: Fake News greifen Majorin Barbara und Dramatiker Shaw an, weil ihre Verfasser lustlos sind und nicht die Eier haben, um gegen Waffenexporte Stellung zu beziehen. Der Dramatiker kann sich nicht gegen Fake News wehren, weil er 1950 verstarb. Aber trotz aller Widrigkeiten lassen sich denkende Menschen weder suggerieren noch bevormunden, da sie erkennen, dass Shaw über Probleme schrieb und Fragen stellte, die nach mehr als einem Jahrhundert großenteils immer noch ungelöst und unbeantwortet sind. Also, wenn der Name Shaw fällt, suchen wir nach den Antworten: Wieso hat sich nicht viel geändert? Ist es fair, George Bernard Shaw dafür verantwortlich zu machen und wie in der griechischen Mythologie dem Überbringer schlechter Nachrichten und Fragesteller den schwarzen Peter zuzuschieben? Was ist mit unseren Zeitgenossen? Sind sie weiter? Sind sie über Majorin Barbara eigentlich hinaus?

Eine nette englische Familie – ihre Staatsangehörigkeit könnte austauschbar sein – genoss das Leben in einem mehrstöckigen Haus im Londoner Zentrum. Fünfzigjährige, alleinerziehende, adelige Lady Britomart Undershaft hat drei Kinder: Stephan, Barbara und Sarah. Eines Tages lud die Mutter ihren bürgerlichen Ex Andrew ein, der beruflich ein Waffenfabrikant und Waffenhändler war. Andrew Undershaft hat seine Familie seit mehreren Jahren nicht gesehen, weil sie wegen Streitigkeiten moralischer Natur getrennt lebten. In der Zwischenzeit erlangten seine Kinder die Ehemündigkeit, fortan fanden die Töchter heiratswilligen Männer. Aber weil ihre Verlobten Adolphus Cusins respektive Charles Lomax nicht flüssig waren, brauchten Barbara und Sarah Geld für ihre eigenen Häuser und sonstige Bedürfnisse. Als der einzige Erwerbstätige sei der Vater unterhaltspflichtig gewesen. Das war Mutti’s Businessplan und der Grund für die Einladung.

Der vorsorgliche Vater freute sich auf das Wiedersehen und erklärte sich netterweise bereit, das nötige Geld zuzuschießen. Kriegswaffen herzustellen und zu verkaufen, war und ist ein lukratives Geschäft. Sein Unternehmen existierte schon in der achten Generation. Andrew, der sich selbst als Industrieller bezeichnete, der Waffen für Verstümmelung und Mord produziert, hielt nicht viel von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Gegenteilig war seine flexible Vertriebspolitik der Bestandteil des Erfolges. Sie bestand darin, „keine Rücksicht weder auf Persönlichkeit der potenziellen Käufer noch auf ihre Prinzipien zu nehmen und hergestellte Rüstungsgüter an alle, zu allen Zahlungs- und Lieferungsbedingungen abzusetzen, die einen guten Preis anbieten. …Waffen sowohl für eine gerechte Sache als auch für eine schwere Straftat zu verkaufen, und zwar an Aristokraten und Republikaner, an Nihilisten und den Zaren, an Kapitalisten und Sozialisten, an Protestanten und Katholiken, an Einbrecher und Polizisten, an Schwarzen, Weißen und Gelben; an Personen aller Nationalitäten, aller Verrücktheiten, aller Glaubensrichtungen.“

Der Waffenfabrikant selbst war nicht besonders religiös: „Ich bin ein Millionär. Das ist meine Religion… Euer Christentum, das euch vorschreibt, dem Bösen nicht zu widerstehen, sondern wenn Sie jemand auf die rechte Wange schlägt, ihm auch die linke hinzuhalten, wird mich bankrott machen.“

Seinem naiven Sohn Stephan erklärte der Waffenhändler, wie der militärisch-industrieller Komplex funktioniert: „Dein frommer Mob füllt Wahlzettel aus und sich einbildet, dass er seine Herrscher regiere... Ich bin die Regierung deines Landes: ich und [mein Geschäftspartner] Lazarus. Meinst du, dass du und ein halbes Dutzend Amateure wie du, die in diesem albernen, schwätzenden Laden hintereinander sitzen, Undershaft und Lazarus regieren können? Nein, mein Freund: Du wirst tun, was uns den maximalen Gewinn einbringt. Du wirst einen Krieg führen, wenn er uns passt und du wirst den Frieden bewahren, wenn der Krieg uns nicht passt. Du wirst herausfinden, dass die Wirtschaft bestimmte Maßnahmen braucht, wenn wir uns für diese Maßnahmen entschieden haben. Wenn ich etwas will, um meine Gewinne hochzuhalten, wirst du feststellen, dass mein Wunsch im nationalen Interesse ist. Wenn andere Leute etwas wollen, um meine Gewinne niedrig zu halten, wirst du die Polizei und das Militär rufen. Und als Gegenleistung erhältst du die Unterstützung und den Beifall meiner Zeitungen und die Freude der Einbildung, dass du ein großer Staatsmann sei. Regierung deines Landes! Pack dich deiner Wege, mein Junge, mit deinen Fraktionssitzungen, Leitartikeln, Volksparteien und großartigen Anführern und brennenden Fragen und dem Rest deiner Spielzeuge. Ich gehe in mein Büro zurück, um die Melodie zu bestimmen und die Musik zu bezahlen.“

Mit seiner Tochter Barbara kam der Waffenfabrikant nahe, obwohl sie eine Heilsarmee Majorin war. Die Heilsarmee ist eine militärisch strukturierte Freikirche mit dem Schwerpunkt Sozialarbeit und christliche Verkündigung. Effizient und effektiv bekehrte Barbara viele Menschen zu Sinnesänderung und zum Christentum, daher wurde ihre Arbeit sehr geschätzt. Sie bekam nach einer kurzen Zeit ausnahmsweise einen Offiziersrang Majorin, den man in der Heilsarmee gemäß den Regelungen nur nach 20 Dienstjahren bekommen darf. Feuer und Flamme für Heilsarmee, wurde Barbara von ihrem Vater durch seine Spendenaffäre im übertragenen Sinne geköpft: Nachdem ihre Leitung große Geldspenden von ihm und einem Whiskyhersteller angenommen hatte, sah sie sich gezwungen, freiwillig zurückzutreten. Die edle Seele war offen mit ihrem Vater: „An Ihren Händen klebt ein böses Blut und nur ein gutes Blut kann sie reinwaschen. Das Geld nützt nichts.“

Wie die Leidensgeschichte Majorin Barbara’s religiöser Prototyp exemplarisch zeigt, ist eine Vater-Tochter-Beziehung häufig prägend für das Leben und Tod einer jungen Frau. Die frühchristliche Nothelferin Barbara von Nikomedien wurde der Überlieferung zufolge von ihrem Vater Dioscuros, einem reichen Kaufmann, im wahrsten Sinne enthauptet, weil sie sich zum Christentum bekehrte. Barbara starb den Märtyrertod. Am 4. Dezember, dem Barbaratag, wird die Märtyrerin, Heilige und Schutzpatronin gedacht.

Aber unserer Geschichte wurde ein unerwarteter, glücklicher Ausgang betriebswirtschaftlich eingeleitet. Andrew Undershaft plante die Unternehmensübergabe aus Altersgründen. Traditionelle Nachfolgeregelung sah vor, dass er seine Waffenfabriken nur an einen Findling übergeben durfte. Deswegen konnte (auch wollte) der Waffenfabrikant nicht seinen leiblichen Sohn zu seinem Erben einsetzen. Naturgemäß war seine Ex-Frau Lady Britomart dadurch über die Maßen verärgert. Eines Tages machte die ganze Familie samt Verlobten einen Ausflug nach betriebseigener Werkssiedlung St. Andrews. Die schöne Arbeiterkolonie hat die Besucher fröhlich gestimmt. Und da macht der Waffenfabrikant und Waffenhändler dem Barbara’s Verlobten Adolphus – Professor für Altgriechisch – ein Angebot, das er nicht abschlagen konnte, nämlich in seine Fußstapfen zu treten. Der Hellenist nahm das Angebot des Prinzen der Finsternis, wie er den zukünftigen Schwiegervater metaphorisch nannte, dankend an. Der Generationenwechsel wurde erfolgreich vollzogen. Barbara begab sich gleich auf der Suche nach einem Eigenheim in der Arbeiterkolonie und ist voller Hoffnung, ihre Seelenrettung da fortzusetzen. Die Familiengeschichte hat happyendet.

„Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce“, meinte Shaw’s Zeitgenosse, ein bekannter deutscher Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx (05.05.1818 – 14.03.1883), der heutzutage überraschenderweise wieder en vogue ist. Unsere Geschichte erweitert sich auf mehrere Geschichten: über die beiden Barbaras, ihre Väter, Bernard Shaw und Fakes News. Vor hundert Jahren wurde Shaw wegen persönlicher Ambivalenz attackiert, heute wegen besonderer Aktualität seiner Theaterstücke.

Majorin Barbara auf der Bühne und Bildschirm

28.11.1905 fand eine Weltpremiere im Royal Court Theater in London in der Regie von John Eugene Vedrenne und Harley Granville-Barker mit Annie Ellen Russell und Louis James Calvert in den Hauptrollen statt.

27.03.1909 war die erste Aufführung in den deutschsprachigen Raum, und zwar im Deutschen Volkstheater in Wien.

05.11.1909 zeigte die Kammerspiele am Deutschen Theater in Berlin das Stück in der Regie von Felix Holländer, der als Regisseur bei Max Reinhardt, dem Gründer der Salzburger Festspiele, wirkte. In den Hauptrollen spielten Lucie Höflich, Paul Wegener und Alfred Peter Abel. Das Stück lief 28 Mal.

Über diese Übersetzung

Um zu verdeutlichen, dass englische Personennamen im Genitiv stehen, bekamen den Apostroph nicht nur Eigennamen, deren Nominativform auf einen s-Laut wie z. B. Lomax’ endet (geschrieben: -s, -ss, -ß, -tz, -z, -x, -ce), sondern auch wurde der Apostroph vor der Genitiv-Singular-Endung anderer Vor- und Nachnamen (Barbara’s bzw. Stephen’s) gesetzt. Für den vorliegen Dramentext wurde eine traditionelle deutsche Vorlage benutzt, die für die meisten Schillers Dramen auch verwendet wurde.

Erster Akt

Es ist die Zeit nach dem Abendessen an einem Januarabend im Bibliothekszimmer des Hauses von Lady Britomart Undershaft in der Wilton Crescent Straße. Ein bequemes,großes schwarzes Ledersofa, das im Augenblick unbesetzt ist, steht in der Mitte des Raums. Falls einer drauf sitzt, hat er rechts von ihm Lady Britomart’s Schreibtisch, an dem sich Lady Britomart im Moment mit „Wirtschaften“ in ihrem privaten Haushalt beschäftigt, einen kleineren Schreibtisch hinter ihm links, eine Tür hinter ihm auf Lady’s Seite und ein Fenster mit einem Fensterplatz direkt zu seiner Linken. Neben dem Fenster steht ein Lehnsessel.

Lady Britomart ist ungefähr fünfzigoder auch etwas älter. Sie ist gut gekleidet und doch unbesorgt um ihr Kleid; gut erzogen und völlig rücksichtslos in ihrem Benehmen; mit guten Manieren und doch zum Erbarmen direkt und gleichgültig gegenüber den Meinungen ihrer Gesprächspartner; liebenswürdig und doch gebieterisch; willkürlich und erregbar bis zum letzten erträglichen Grad. Mit all dem ist sie eine sehr typische haushaltsführende Matrone der Oberschicht, die als unartiges Kind behandelt wurde, bis sie zu einer zänkischen Mutter heranwuchs. Schließlich hat Lady Britomart sich mit viel praktischem Können und Welterfahrung, die seltsamerweise häuslich und klassenmäßig beschränkt war, niedergelassen. Sie begreift das Universum exakt so, als ob es ein großes Haus in der Wilton Crescent Straße in London wäre. Das hindert sie aber nicht daran, ihre Ecke nach dieser Annahme sehr effektiv zu managen, und ziemlich aufgeklärt und liberal zu sein, und zwar im Hinblick auf die Bücher in der Bibliothek, die Bilder an den Wänden, die Schallplatten in den Schutzhüllen und die Artikel in den Zeitungen.

Ihr Sohn Stephen kommt herein. Er ist ein junger Mann unter 25 Jahren, mit übertrieben korrekten Manieren, der sich selbst zu ernst nimmt. Er hat immer noch ein bisschen Ehrfurcht vor seiner Mutter, aber eher aus kindlicher Gewohnheit und junggeselliger Schüchternheit als aus Charakterschwäche.

STEPHEN: Haben Sie mich gerufen, Mutter? Was ist passiert?

LADY BRITOMART: Einen Moment Geduld, Stephen.

Stephen geht gehorsam zum Sofa und setzt sich. Er nimmt eine Wochenzeitschrift The Speaker.

LADY BRITOMART: Fang nicht an, zu lesen, Stephen. Ich brauche deine volle Aufmerksamkeit.

STEPHEN: Es ist nur, während ich warte –

LADY BRITOMART: Keine Ausrede, Stephen. (Er legt The Speaker nieder) Voilà! (Sie beendet ihr Schreiben, steht auf und geht zum Sofa) Ich habe dich nicht sehr lange warten lassen, denke ich.

STEPHEN: Überhaupt nicht, Mutter.

LADY BRITOMART: Bringe mir mein Kissen. (Er nimmt das Kissen vom Stuhl am Schreibtisch und arrangiert es für sie, während sie sich aufs Sofa hinsetzt) Setz dich. (Er setzt sich und fingert nervös an seine Krawatte herum) Fummele dich nicht an deiner Krawatte, Stephen: Sie ist nicht verkehrt.

STEPHEN: Sorry. (Stattdessen fummelt er sich an seiner Uhrenkette)

LADY BRITOMART: Bist du jetzt bereit, mich zuzuhören, Stephen?

STEPHEN: Natürlich, Mutter.

LADY BRITOMART: Nein, natürlich nicht. Ich möchte viel mehr als deine selbstverständliche Aufmerksamkeit. Ich habe vor, mit dir sehr ernsthaft zu reden, Stephen. Deswegen wäre es wünschenswert, wenn du diese Kette in Ruhe lässt.

STEPHEN (lässt hastig die Uhrkette los): Habe ich irgendetwas getan, was Sie verärgerte, Mutter? Wenn ja, dann war es ziemlich unbeabsichtigt.

LADY BRITOMART (erstaunt): Unsinn! (mit etwas Reue) Mein armer Junge, du dachtest, dass ich über dich verärgert bin?

STEPHEN: Was ist es dann, Mutter? Sie beunruhigen mich sehr.

LADY BRITOMART (im ziemlich aggressiven Tonfall): Stephen, darf ich dich fragen, wann du endlich begreifen wirst, dass du ein erwachsener Mann bist und ich nur eine Frau bin?

STEPHEN (erstaunt): Nur eine –

LADY BRITOMART: Wiederhole nicht meine Worte, bitte: Es ist eine äußerst ärgerliche Angewohnheit. Du musst lernen, das Leben ernst zu nehmen, Stephen. Ich kann die ganze Last unserer Familienangelegenheiten nicht mehr allein tragen. Wirklich nicht. Du musst mir beratend zur Seite stehen: Du musst die Verantwortung übernehmen.

STEPHEN: Ich?

LADY BRITOMART: Ja, natürlich. Du warst im letzten Juni vierundzwanzig. Du hast die Harrow Public School besucht. Du hast an der Universität von Cambridge studiert. Du bist schon mal in Indien und Japan gewesen. Du musst jetzt über viele Dinge Bescheid wissen, es sei denn, dass du deine Zeit skandalös und leichtfertig, ohne entsprechenden Nutzen verschwendet hast. Also gib mir Ratschläge.

STEPHEN (sehr verwirrt): Sie wissen, dass ich mich nie in den Haushalt eingemischt habe –

LADY BRITOMART: Du sollst nicht einmischen. Ich möchte nicht, dass du hinsichtlich des Abendessens Anweisungen gibst.

STEPHEN: Ich meine in unsere Familienangelegenheiten.

LADY BRITOMART: Aber jetzt musst du dich einmischen, denn ich bin damit ziemlich überfordert.

STEPHEN (besorgt): Ich habe manchmal gedacht, dass ich vielleicht es sollte, aber wirklich, Mutter, ich weiß so wenig darüber, und was ich weiß, ist so schmerzhaft – es ist praktisch unmöglich, einige Themen mit Ihnen anzusprechen – (Er hält beschämt inne)

LADY BRITOMART: Ich vermute, du meinst deinen Vater.

STEPHEN (fast unhörbar): Ja.

LADY BRITOMART: Mein Lieber, wir können nicht unser ganzes Leben lang weitermachen, ohne ihn zu erwähnen. Natürlich hattest du recht, das Thema nicht anzusprechen, bis ich dich darum bat. Aber jetzt bist du alt genug, um in mein Vertrauen gezogen zu werden und mir zu helfen, mit ihm über die Mädchen zu verhandeln.

STEPHEN: Aber den Mädchen geht es gut. Sie sind verlobt.

LADY BRITOMART (selbstgefällig): Ja: Ich habe eine sehr gute Partie für Sarah gefunden. Charles Lomax wird mit fünfunddreißig eine Million besitzen. Aber es werden zehn Jahre vergehen und in der Zwischenzeit kann ihm sein Testamentsvollstrecker gemäß dem Testament seines Vaters nicht mehr als achthundert Pfund pro Jahr billigen.

STEPHEN: Aber im Testament steht es auch, dass, wenn er sein Einkommen durch seine eigenen Anstrengungen erhöht, kann diese Erhöhung verdoppelt werden.

LADY BRITOMART: Die Anstrengungen von Charles Lomax werden sein Einkommen viel wahrscheinlicher reduzieren, als es zu erhöhen. Sarah muss zusätzlich mindestens achthundert Pfund pro Jahr in den nächsten zehn Jahren finden und selbst dann wird das Paar arm wie Kirchenmäuse bleiben. Und was ist mit Barbara? Ich dachte, Barbara würde die glänzendste Karriere von euch allen machen. Und was macht sie? Sie schließt sich der Heilsarmee an, entlässt ihr Dienstmädchen, lebt von einem Pfund pro Woche und kommt an einem Abend mit einem Professor für Griechisch, den sie auf der Straße abgeholt hat und der vortäuscht, ein Heilssoldat zu sein, und spielt tatsächlich eine große Trommel für sie in der Öffentlichkeit, weil er sich in sie bis über beide Ohren verliebt hat.

STEPHEN: Ich war sicherlich ziemlich überrascht, als ich hörte, dass sie sich mit ihm verlobt hat. Cusins ist bestimmt ein sehr netter Kerl: Niemand würde jemals vermuten, dass er in Australien geboren wurde. Aber –

LADY BRITOMART: Oh, aus Adolphus Cusins wird ein sehr guter Ehemann. Schließlich kann niemand ein Wort gegen die griechische Sprache sagen: Sie stuft einen Mann sofort als gebildeten Gentleman ein. Und wir sind Gott sei Dank keine dickköpfigen Torys. Wir sind Whigs und glauben an die Freiheit. Mögen snobistische Leute sagen, was sie wollen: Barbara wird nicht den Mann heiraten, den die Snobs mögen, sondern den Mann, den ich mag.

STEPHEN: Natürlich mache ich mir Sorgen um sein Einkommen. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass er verschwenderisch wird.

LADY BRITOMART: Sei dir nicht so sicher, Stephen. Ich kenne diese ruhigen, einfachen, kultivierten, poetischen Leute wie Adolphus – sie sind ganz zufrieden, aber mit dem Besten von allen! Sie kosten mehr als extravagante Leute, die immer gleichermaßen knauserig und zweitklassig sind. Nein: Barbara braucht mindestens zweitausend pro Jahr. Jetzt begreifst du, dass es zwei zusätzliche Haushalte bedeutet. Außerdem, mein Lieber, du musst bald auch heiraten. Ich halte nicht viel von promiskuitiven Junggesellen und späteren Ehen, die heute in Mode sind. Ich versuche nun, auch für dich etwas zu arrangieren.

STEPHEN: Es ist sehr lieb von Ihnen, Mutter, aber wäre es nicht vielleicht besser, dass ich selbst für mich etwas arrangiere.

LADY BRITOMART: Unsinn! Du bist viel zu jung, um mit Partnersuche anzufangen: Du wirst von einer hübschen kleinen Schießbudenfigur vereinnahmt werden. Natürlich meine ich nicht, dass du nicht konsultiert werden solltest. Das weißt du genauso gut wie ich. (Stephen lässt seine Verstimmung im Gesichtsausdruck erkennen und schweigt) Jetzt schmolle nicht, Stephen.

STEPHEN: Ich schmolle nicht, Mutter. Was hat das alles mit – mit – mit meinem Vater zu tun?

LADY BRITOMART: Mein lieber Stephen: Woher soll all das Geld kommen? Es ist leicht genug für dich und die anderen Kinder, von meinem Einkommen zu leben, solange wir im selben Haus wohnen. Aber ich kann nicht für den Lebensunterhalt von vier Familien in vier separaten Häusern aufkommen. Du weißt, wie arm mein Vater ist: Er hat jetzt kaum siebentausend im Jahr und wenn er nicht der Graf von Stevenage wäre, müsste er das Gesellschaftsleben aufgeben. Er kann nichts für uns tun. Er sagt zu Recht, dass es absurd wäre, ihn zu bitten, für die Kinder eines Mannes zu sorgen, der in Geld schwimmt. Du verstehst schon, Stephen, dass dein Vater sagenhaft reich sein muss, weil es immer irgendwo einen Krieg gibt.

STEPHEN: Sie brauchen es nicht, mich daran zu erinnern, Mutter. Ich habe in meinem Leben kaum eine Zeitung geöffnet, ohne unseren Namen darin zu sehen. Der Torpedo von Undershaft! Die Schnellfeuerkanone von Undershaft! Die 10-Zoll-Kanone von Undershaft! Die Verschwindlafette, ein Geschütztyp für Küstenbatterien von Undershaft! Das U-Boot von Undershaft! Und jetzt das fliegende Schlachtschiff von Undershaft! In Harrow hänselten mich meine Mitschüler „der Woolwich Infant“ nach der 35-Tonnen-Kanone, die in Woolwich Arsenal für das Schiff ihrer Majestät Devastation gebaut wurde. In Cambridge war es dasselbe. Ein kleiner Rowdy an dem King’s College, der in die Wiederbelebung der Religion vernarrt war, verunstaltete meine Bibel – Ihr erstes Geburtstagsgeschenk – indem er unter meinem Namen schrieb: „Sohn und Erbe von Undershaft und Lazarus, Todeshändler und Zerstörer. Adresse, Christenwelt und Judäa.“ Aber das war nicht so schlimm im Vergleich zu unterwürfigen Ehrenerweisungen, die mir nur deswegen zugeteilt wurden, weil mein Vater mit dem Verkauf von Kanonen Millionen gemacht hat.

LADY BRITOMART: Nicht nur mit Kanonen, sondern auch mit Kriegsanleihen, die Lazarus unter dem Deckmantel von Krediten für Kanonen immer wieder arrangiert. Du weißt, Stephen, dass es absolut skandalös ist. Diese beiden Männer, Andrew Undershaft und Lazarus, haben bestimmt Europa in der Hand. Deswegen kann sich dein Vater so verhalten, wie er es tut. Er steht über dem Gesetz. Denkst du, dass sich Kanzler Bismarck oder Premierminister Gladstone oder Premierminister Disraeli während ihrer ganzen Amtszeit jeder sozialen und moralischen Verpflichtung offen widersetzen konnten, wie dein Vater es tut? Sie hätten es einfach nicht gewagt. Ich bat Gladstone, einzumischen. Ich bat The Times, das Thema aufzugreifen. Ich bat Lord Chamberlain, darauf zu reagieren. Aber es war genau so, als würde man sie bitten, dem Sultan einen Krieg zu erklären. Sie werden es nicht tun. Sie sagten, dass sie ihn nicht antasten können. Ich glaube, sie hatten Angst.

STEPHEN: Was können sie tun? Er verstößt eigentlich nicht gegen das Gesetz.

LADY BRITOMART: Verstößt er nicht gegen das Gesetz? Er verstößt immer gegen das Gesetz. Er hat gegen das Gesetz verstoßen, als er geboren wurde: Seine Eltern waren nicht verheiratet.

STEPHEN: Mutter! Ist es wahr?

LADY BRITOMART: Aber natürlich ist es wahr: Deswegen haben wir uns getrennt.

STEPHEN: Er hat Sie geheiratet und Ihnen nicht darüber erzählt!

LADY BRITOMART (einigermaßen überrascht von dieser Schlussfolgerung): Doch, doch.

---ENDE DER LESEPROBE---