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Der Ex-Journalist Rufus Katzer folgt auf Mallorca der Spur des entlaufenen Mädchens Darja aus Ostberlin und gerät dabei in die Machenschaften eines milliardenschweren russischen Oligarchen und seines schwulen Sohnes in der balearischen Disco-Szene. Die heile Welt Mallorcas mit Kokainhandel und Bandenkrieg wird aufgemischt von Gerüchten über einen versteckten Goldschatz der Bank von Spanien, der während des Bürgerkrieges größtenteils nach Moskau und in kleinen Mengen nach Volksfront-Frankreich zum Waffenkauf geflossen ist. Ein ehemaliger DDR- Kampfschwimmer verliert dabei seinen rechten Arm und Katzer gelegentlich seinen Humor.
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Seitenzahl: 294
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Rufus Katzers dritter Fall
Impressum
Text:
© Rufus Katzer
Umschlag:
© Nasra Haetzel
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreihe 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
978-3-7469-3785-4 (Paperback)
978-3-7469-3786-1 (e-Book)
Copyright © 2016 Rufus Katzer
www.rufuskatzer.de
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Meiner liebsten Frontfrau und Soulsängerin Lynn
Ihr Schrei fuhr mit dem Biss einer Kreissäge ins Bewusstsein der Gaffer. Das Blut der Frau spritzte in alle Richtungen. Der Mann war mit dem Tranchiermesser auf den Balkon gestürzt und stach auf sie ein. Die Passanten von Port Pollença, die in der Nachmittagshitze zusammengelaufen waren, schrien gleichfalls. Einige wählten hastig den Notruf. Als die zwei Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene vor dem Haus stoppten und vier Guardia Civil heraussprangen, herrschte schon Totenstille. Die Beamten rasten die Treppe hoch, traten die Tür ein und überwältigten den Tobenden. Später wurde die Frau im Sarg aus dem Haus getragen.
Die Nachbarn wussten Bescheid. „Sie war eine Stunde vorher bei der Polizei und hat Anzeige erstattet. Der Mann hatte gedroht, sie umzubringen. Die Polypen haben gesagt, sie wäre nicht verletzt und angegriffen worden. Da seien sie machtlos. Es läge keine Straftat vor. Jetzt haben sie ihre Straftat.“
Die Horrornachricht breitete sich so fix aus wie ein Dackel bei der Verfolgung einer läufigen Hündin. Rufus Katzer im sechs Kilometer entfernten Pollença erreichte sie allerdings erst am Morgen danach. Seine Zeit als Polizeireporter lag lange zurück, Gewaltverbrechen waren nicht mehr sein Business.
Nicht dass Sie denken, Pollença oder sein Hafen seien ein Hort der Gewalt. Ganz im Gegenteil. Alles Friede, Freude, Eierkuchen. Wenn Sie an einem Haus vorbeikommen, aus dem laute Musik ertönt, ist es meist kein Ghettoblaster, sondern die Orchesterprobe von Hausmusikanten.
Aber diese Nacht hatte es Blut geregnet. Etwas lag in der Luft. Alle Autos waren rostrot. Ziemlich abgefahren das.
Katzer, Endsechziger mit Fitnessallüren, glaubte beim ersten Gassigang vor dem Frühstück mit seiner Hündin an Sehstörungen wegen Koffeinmangels, aber es war nur Saharastaub, den der Wind von Marokko nach Mallorca blies. Gassi hatte Vorrang bei jedem Wetter, auch wenn die alten Knochen lahmten.
Ein bisschen mehr oder weniger Dreck auf seinem schrottigen Escort war Katzer egal, aber selbst die Scheiben und Scheinwerfer trugen den rötlichen Schmier. Er hatte seine Karre nahe der Römerbrücke abgestellt, weil seine Wohnstraße zu schmal zum Parken war und er keine Garage besaß. Der Bauer, dem das Natursteinhaus vor hundert Jahren gehörte, hatte seinen Eselskarren samt Esel noch durch einen schmalen Gang von der Straße hinten in den Hof geführt, wo auch Küche und Klo standen. Katzer hatte den Gang samt Stall mit dem Vorschlaghammer weggehauen, weil er mehr Wohnraum wollte. Um in der winkligen Altstadt zu wohnen, nahm er gerne den Fußmarsch zum Auto in Kauf.
Und versuchte genervt, wenigstens die Frontscheibe mit einem Schwamm vom Schlamm zu befreien. Es war hoffnungslos, vor allem ohne den dampfenden Flüssigteer, den ein Koffeinjunkie braucht, um sein System zu stimulieren. Er hätte nichts dagegen gehabt, die rostbraune Tarnfarbe wenigstens auf der Kühlerhaube zu lassen. Seine Karre war ein Schnäppchen und der Vorbesitzer hatte den Kühler mit einer rot-gelben Flamme verziert. Katzer konnte sich an diese Zuhälterkarre schwer gewöhnen. Die Flamme war jetzt unsichtbar, leider war auch sonst nichts mehr zu sehen.
Öhrchen, seine Rottweilerdame, schnüffelte aufgeregt herum. Katzer hielt den dreckigen Schwamm unschlüssig in der Hand, während sie kackte. Weil er wieder mal die Tüte vergessen hatte, schob er das Zeugnis ihrer guten Verdauung mit dem Schwamm auf ein Tempotuch, um nach einem Papierkorb zu suchen. Neben dem Papierkorb stand ein toter Koffer, leer wie sein Kopf. Katzer gab ihm einen Tritt und fragte sich, was das Schicksal ihm damit sagen wollte. Vermutlich nichts, nur dass er es nicht lassen konnte, das Schicksal immer wieder herauszufordern, nur so zum Zeitvertreib.
Was zum Teufel hatte es mit diesem Foto auf sich, das gestern im Briefkasten lag und seinen Vater in den besten Jahren am Radaktionstisch zeigte, ohne Anschreiben und Erklärung. Die Entfremdung zwischen ihnen hatte erst kurz vor dessen Tod geendet. Das Foto schien vor der Erfindung des Internet auf die Reise gegangen zu sein. Schwarz-weiß, glänzend, wie ein Zeitungsabzug zu alten Zeiten.
Er nahm Kurs auf sein Lieblingscafé „Can Rasca“, wo die Müllkutscher nach der Schicht für eine Stärkung einkehrten. Uép! Com anam? Hallo, wie geht’s? Es war laut und familiär wie immer. „Rufus, gönn‘ deinem Kalb ein Bier, es sieht durstig aus.“ Der größte Kerl vom Mülltütenräumkommando hatte seine Pranken um Katzer geschlungen und ihm ein Bier vom Fass unter die Nase gehalten. Privat fuhr er einen protzigen Jeep, feuerwehrrot, während Katzer sein Ego mit dem schwarzen Kalb an seiner Seite pushte.
„Müsst ihr beide probieren, iss gut!“
Katzer verzog die Nase. Bier am frühen Morgen, igitt!
Öhrchen sah Handlungsbedarf, legte die Vorderpfoten auf die Schultern des Riesen und brachte ihre knapp 40 Kilo zur Geltung, ordnungsgemäß von einem anschwellenden Knurren begleitet.
„Du kannst ihr den Bauch kraulen oder ihr ein Würstchen spendieren, wir hatten noch kein Frühstück. Satt ist sie keine Gefahr für die Menschheit.“
Katzer quatschte Mallorquin mit der Meute, um Solidarität zu simulieren, und schnippte mit den Fingern. Die Hündin stellte das Knurren ein, um den Mann dafür mit der Zunge über das Gesicht zu lecken. Er lachte nur.
„Was du nicht sagst. Du solltest sie unserem neuen Bürgermeister vorstellen, der hat sicher dringenden Bedarf an Liebesbeweisen, nachdem ihm bei den letzten Wahlen so viele Schäfchen abhandengekommen sind.“
„Jedes Unglück fängt mit mangelnder Menschenkenntnis an. Meiner Hündin machst du nichts vor. Die hat den Urinstinkt für Gut und Böse.“
„Und warum fehlt ihr dann ein halbes Ohr?“
„Sie war ein herrenloser Straßenhund. Da läuft Dreckzeug rum, das kriegt selbst die Müllabfuhr nicht weg.“ Die Truppe in ihren grellen Warntrachtfarben lachte schallend. Die Phonzahl in der Kneipe überstieg jede Wirtshausschlägerei. Echt gemütlich.
Schon war man beim Thema. Escolta, acab de sebre . . . Ich höre da eben . . . die in aller Öffentlichkeit abgeschlachtete Frau hatte Hilfe gesucht und nicht bekommen. Wenn einer sich die Mühe gemacht hätte, mit dem tobenden Irren vorher zu sprechen und ihn gegebenenfalls ein paar Stunden in die Ausnüchterungszelle zu sperren, wäre die Bluttat vielleicht verhindert worden. Für viele Machos waren Frauen und Tiere immer noch Sachen. Katzer wollte mit Isabel darüber sprechen. Sie, die ehemalige Dorfpolizistin, kannte die Kollegen am Hafen und würde wissen, welcher Grad der Frauenverachtung sich in ihrem alten Revier gehalten hatte.
Öhrchen kroch ungestört unter den Tischen herum. Einer hatte ihr ein Frühstücksbrot zugesteckt, ein anderer einen süßen Krapfen aus der Schüssel der Wirtin geklaut, den sie ohne zu kauen verschlang. Sie hatte sich ihre Meinung gebildet. Müllkutscher, Rentner und einsame Witwen, dem nächtlichen Alleinsein entkommen, waren die Guten. Das gemeinsame Elend, das die Menschen am Abend aller Tage zusammenpappt, trug sie mit tierischem Gleichmut, für den Katzer sie liebte.
Als Sackhüpfen noch olympische Disziplin war, hielt man Blutregen für ein schlechtes Omen. Jetzt bildete sich nur eine Schlange vor der Waschstraße von Pollenças einziger Tankstelle, um den Dreck zu beseitigen. Die Schlange war viel zu lang. Katzer gab auf, brachte die Hündin nach Hause und ging zum Bus, um Einkäufe in Palma zu machen. Wenigstens die Parkplatzsuche bleibt dir erspart. Denk positiv.
Seit Tagen hatte er vergeblich versucht, einen guten Calvados in seinem Dorf zu kriegen. Außerdem warteten ein paar Neuerscheinungen in der deutschen Buchhandlung von Palma auf ihn.
Vor der Haltestelle das übliche Gedrängel, als der marode Bus sich näherte. Vier davon waren in den letzten Wochen abgebrannt. Katzer hoffte, nicht den fünften von der Todesliste erwischt zu haben. Es war alles wie immer, bis auf ein paar Carteristas, die ihm auffielen. Hinter verspiegelten Sonnenbrillen getarnt, zog die eingespielte Truppe maghrebinischer Taschendiebe ihren Opfern das Geld frecher aus den Taschen als die Andenkenhändler.
Vor Katzer und einem deutschen Touristen, der seine Herkunft wie ein Schandmal mit sich schleppte, hatte sich eine Zigeunerin dreist zum Fahrer gedrängelt und gefragt, ob dies der Bus nach Sóller sei.
Jeder wusste, dass man von Pollença nur nach Inca und Palma kam. Der Fahrer schüttelte mürrisch den Kopf, die Frau machte kehrt und drängte den Touristen am Ausgang rüde zur Seite.
„Aufgepasst“ warnte Katzer den Landsmann. „Geld festhalten!“ Der Deutsche griff erschrocken zur Hosentasche und streifte die Hand der Frau, die mit flinken Fingern nach seiner Geldbörse angelte. „Scheiße“, entfuhr es dem Mann, aber die Schwarzgelockte war schon wieder auf der Straße. Ein zweiter Carterista folgte dicht neben ihr und drei weitere Männer machten sich mit ihnen aus dem Staub. „Drecksgesindel“, schnaubten die Fahrgäste und drängten weiter in den Bus.
„Carteristas“, erklärte Katzer seinem Mitreisenden, „die sind besonders an den Markttagen zu Dutzenden unterwegs, professionelle Taschendiebe, immer in Gruppen zu fünft oder sechst. Bevor du einen erwischst, gibt er das Portemonnaie schon an den nächsten weiter und der wieder an einen anderen. Die wären für jedes Basketballteam ein Gewinn. Wenn sie einen kriegen, hat er die Papiere längst fortgeworfen. Die Polizei ist machtlos und muss sie gehen lassen. Es wimmelt von ihnen am Bus, auf dem Markt und in den Kaufhäusern. Immer schön aufpassen.“
Der Touri war erschöpft neben Katzer auf einer der abgewetzten Bänke niedergesunken und suchte vergeblich nach einer Ablage für seinen Aktenkoffer. Er trug Anzug, das Hemd über der hageren Brust stand offen, sein Gesicht ließ Katzer auf Rentner tippen. Was wollte dieser verhärmte Spießer im sonnigen Süden? Wenn etwas zusammenpasst wie Galle mit Schlagrahm, gibt das schon mal eine Story. Mit so was hielt der alte Zeilenschinder seinen Adrenalinpegel auf Betriebslevel. Bis Palma war eine Stunde Fahrzeit. Katzer gab sich gesprächsbereit.
„Gepäck können Sie in diesen Bussen kaum mitnehmen, Aircondition funktioniert auch nur bis Reihe drei und es stinkt nach Benzin, aber auf die regelmäßige Fahrpreiserhöhung ist Verlass.“
„Bin ja bloß froh, überhaupt noch liquide zu sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das hätte mir noch gefehlt.“ Seine scharfe Nase und die buschigen Augenbrauen gaben ihm etwas Bestimmtes, das durch den schmalen Mund noch unterstrichen wurde. Er klammerte den Aktenkoffer fester. Katzer fielen die zwei Eheringe am Ringfinger auf, einfach, fast ärmlich, wie alles an dem Mann. Katzer taxierte seinen Anzug auf zehn Jahre Laufzeit mit einer Erwartung auf weitere zehn, solange die Bügelfalte hielt. Nur seine krankhafte Blässe fiel aus dem Rahmen. Wie einer, der zu viel denkt – oder über die falschen Sachen grübelt. So ein Typ von der Seitenscheitelfraktion.
„Wollen Sie nach Inca, ins Krankenhaus?“ schoss Katzer ins Blaue. „Der Bus hält direkt davor.“
„Ganz und gar nicht. Ich muss zum deutschen Konsulat nach Palma. Ich suche meine Tochter Darja. Sie hat sich seit zwei Jahr nicht mehr gemeldet. Wie vom Erdboden verschwunden. Sie träumt von einer großen Zukunft als Sängerin.“
„Wie alt ist denn die junge Dame?“
„Darja war 19, als sie verschwand. Wir leben nicht mehr zusammen, seit ihre Mutter starb, aber wir hatten immer Kontakt. Ihre Mutter hat sie immer in ihren verrückten Plänen unterstützt. Jetzt gibt Dari mir die Schuld am Tod ihrer Mutter.“
„Und hat sie Recht?“
„Weiß ich nicht. Ich hatte andere Ziele. Aber die sind seit dem Mauerfall Makulatur. Sie dagegen glaubte sich dem Himmel näher. Partys, erste Auftritte, Backstage-Gerüchte. Es geht nicht ums Recht haben. Es geht um ihr Glück und ihre Zukunft. Ich habe sie überall gesucht, bisher ohne Erfolg. Die Polizei sagt, sie ist volljährig, da kann man nichts machen.“
„Da hat die Polizei sicher Recht. Kinder werden erwachsen und machen sich selbständig.“
„Aber sie verschwinden nicht einfach von der Bildfläche. Darja hat bei ihrer Tante gelebt. Die hatte nach ihrem Verschwinden einen Nervenzusammenbruch. Ich habe alle Bekannten und Kontaktpersonen abgeklappert, nichts. Auch über ihr Smartphone ist sie nicht mehr erreichbar. Sie stand kurz vor dem Abi.“
„Aha, Prüfungsangst?“
„Darja war eine gute Schülerin, etwas zurückgezogen, aber nicht unbeliebt. Daheim hat sie ein Kätzchen, das hätte sie nie zurückgelassen.“
„Kann ich verstehen. Klingt nicht gut. Aber wie kommen Sie ausgerechnet auf Mallorca?“
„Wegen ihres Freundes. Ich fürchte das Schlimmste. Aber ich gebe nicht auf, bevor die letzte Spur kalt ist. Darja wurde zuletzt mit einem windigen Typ gesehen, der sich angeblich nach Mallorca abgesetzt hat. Näheres wollte die Polizei nicht sagen. Laufende Ermittlungen und so. Ich weiß nur, dass er in Berlin schon mal eingesessen hat und Boris Losowski heißt.“
„Sie sind aus Berlin?“
„Ja, entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Pfitzner, Alfred Pfitzner aus Berlin-Pankow.“
„Aus dem Osten also, dachte ich gleich.“
„Was heißt hier Osten, wir waren schon vor der Wende die Hauptstadt.“
„Na ja, zur Hälfte. Uns habt Ihr nie gekriegt. Mein Name ist übrigens Katzer. Ich war mal Journalist im Westen der Stadt. Ganz erfolgreich, aber eine Straße ist nicht nach mir benannt und auch das Denkmal ist überfällig. Immerhin kann ich mein Bier selbst bezahlen und fürs Hundefutter reicht‘s auch noch.“
„Katzer, sagen Sie, Journalist, muss man Sie kennen? Egal, seit der Wende lese ich keine Zeitung mehr. Das einzige, was für mich zählt, ist meine Tochter. Es geht um Leben und Tod, glauben Sie mir. Keiner nimmt mich ernst. Sie nennen mich einen Querulanten. Ich stoße auf Gleichgültigkeit und Ablehnung.“
„Haben Sie Feinde?“
„Mehr als ich zählen kann. Ich habe für die gerechte Sache gekämpft. Die hat einen Rückschlag erlitten. Ich gehöre zu den Verlierern. Verlierer haben keine Freunde.“
„Darf ich fragen, als was Sie gearbeitet haben?“
„Sie wären kein Journalist, wenn Sie es nicht täten. Ich möchte dazu nichts sagen.“
„Muss schlimm sein, von einem Tag auf den anderen die Macht über die Menschen zu verlieren. Jeder macht, was er will, und dann läuft auch noch die eigene Tochter weg. Es könnte doch sein, dass das Verschwinden Ihrer Tochter etwas mit Ihrem ehemaligen Beruf zu tun hat.“
„Das kann ich nicht ausschließen. Darja ist nicht weggelaufen. Ich glaube, sie ist entführt worden. Sie braucht meine Hilfe, das ist alles, was ich noch tun kann.“
„Entführt? Das passiert normalerweise nur im Fernsehen. Wie kommen Sie auf so was?“
„Ich hatte vor einiger Zeit einen Anruf. Die Nachricht bestand aus einem einzigen Satz: Du wirst für alles bezahlen. Mehr nicht. Ich habe vergeblich auf neue Nachrichten gewartet.“
„Haben Sie die Polizei verständigt?“
„Die glauben mir nicht. Leider bin ich bei meiner Suche auf mich allein gestellt. Ich glaube nicht mehr, dass mir irgendwer helfen will. Ist das nun die bessere Welt, in der Menschen einfachen vom Erdboden verschwinden, ohne dass es jemanden stört?“
„Das passiert überall und täglich, in Ihrer Welt war das ziemlich normal.“
„Blödsinn. Nichts ist mehr normal. Ich bin der einzige, der sie sucht, ich muss wissen, was passiert ist und warum. Ich werde nicht aufhören, nachzuforschen. Ich habe mich beim Deutschen Konsulat angemeldet, um Unterstützung bei meiner Suche zu erbitten. Ich muss sie finden.“
Der spacke Typ schien sich förmlich aufzulösen auf seiner Kunstlederbank. Das war kein Querulant, das war ein Fanatiker. Sein Hemd zeigte Schweißflecken, sein ganzes Ego triefte. Er hatte die Augen eines in die Enge getriebenen Wolfs. Katzer schwankte zwischen Mitleid und Ekel.
„Ich kenne unsere neue Konsulin Emilie Liefers. Patente Frau. Hab nach ihrem Amtsantritt ein Interview mit ihr für ein deutsches Magazin gemacht. Hab sie anschließend auf Redaktionskosten in Palmas ältester Bäckerei „Forn des Teatre“ bei den Wirtsleuten vorgestellt und mit ihr die Ensaimadas gekostet. Müssen Sie auch probieren. Eine Frau von Welt, schon viel rumgekommen, Belgrad, New York, Mexiko City, Brüssel.“
Der hagere Mann blickte Katzer an wie der letzte Überlebende eines Flugzeugabsturzes. Ein Bild zum Erbarmen. Katzer war damit geschlagen, alles Unglück der Welt auf sich zu ziehen und glich diese Schwäche aus, in dem er sich ab und zu in Zynismus flüchtete. Ein Stasi-Typ auf der Jagd nach dem eigenen Fleisch und Blut, das den Verlockungen des Klassenfeindes erlegen war. Das Leben konnte komisch sein. Solche Typen haben mal einen ganzen Staat am Laufen gehalten und dann laufen ihnen alle davon. Es war einer der Tage, an dem Katzer ein Schleudertrauma vom Kopfschütteln über die Welt bekam. Das Schlimmste an der DDR war gar nicht die Stasi, sondern die Langeweile, die sich unter ihrem Mief breit machte wie ein Ölteppich, hatten gute Bekannte aus dem Osten ihm anvertraut.
„Nehmen Sie meine Karte und berufen Sie sich im Konsulat auf mich. Wenn Sie trotzdem keinen Roten Teppich ausgerollt kriegen, war mein Artikel schlecht.“
Am Zentralbahnhof Plaza d’España trennten sie sich und der Seitenscheitel nahm den Linienbus zum Konsulat am Hafen. Er wirkte nicht wie ein Kindermädchen. Eher wie einer, vor dem man seine Kinder in Sicherheit brachte. Du solltest mit deinen Hochglanzvisitenkarten nicht so um dich schmeißen, dachte Katzer. Auch wenn du deinem Beruf vom Zeitungsschreiber zum Schriftsteller ein Update verpasst hast. An allem waren nur die Scheiß-Carteristas Schuld, die ihn über diesen Unglücksraben hatten stolpern lassen.
Er war froh, Edgar von der Buchhandlung „Dialog“ an der Rambla persönlich anzutreffen. Die deutsche Buchhandlung war Katzers zweite Wohnung. Er kannte den Besitzer aus Kreuzberger Tagen, als die „Rote Harfe“ noch Zentrum des schwäbischen Anarchismus war. „Des müsse mer erscht dischkutiere“, war eine der meistgebrauchten Phrasen in der Hütte.
Edgar, gestandener Weltbürger, hatte sich was vom Pfeffer der Hausbesetzertage bewahrt und tauschte mit Katzer bei einem Cortado gern Anekdoten aus alten Zeiten aus. Ein feuerroter Haarschopf hätte ihm gut gestanden, mangels dieser Trophäe musste strohblond genügen. Dafür war sein Gesicht umso mehr von Sonne und Salzwasser gepökelt.
„Noch immer ins Studium des mallorquinischen Monetenmachers Juan March vertieft?“ erkundigte sich Edgar, weil Katzer eine neue Biografie über den Magnaten bestellt hatte.
„Nichts da, diesem Gauner habe ich meine besten Jahre geopfert mit Recherchen und Zeitzeugenbefragung. Immer auf der Suche nach einer Wahrheit, die nie aufgeschrieben wurde. Meine Bücher haben trotzdem nicht den erhofften Entrüstungssturm ausgelöst. Drogenschmuggel, Kriegstreiberei und Korruption sind inzwischen unter Bankern nur noch Kavaliersdelikte. Sein Clan hat noch immer die Macht, nicht nur auf dieser Insel. Auch wenn sein Geheimdienst inzwischen vom Staat übernommen wurde. Dienste sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Allein die richtigen Connections zählen.“
Edgar grinste. „Du lebst noch. Wie langweilig für dein Publikum. Du musst als Märtyrer sterben oder Amok laufen, um Schlagzeilen zu machen. Das ist jetzt modern.“
„Wenn’s der Auflagensteigerung hilft, könnte ich ja mal ein paar Scheiben der Banca March einschmeißen.“
„Katzer, Du bist der geborene Looser, such dir ein anderes Hobby. Revoluzzer sind out. Unsere Symbole taugen nur noch für die Werbung. Entrüstungsstürme verkommen bei Facebook zu Reflexgewittern. “
„Sagt einer, der die akademische Laufbahn beschritten und wissenschaftliche Bücher geschrieben hat. Facebook, like mich am Arsch. Nur auf die Opportunisten ist Verlass. Die bleiben sich immer treu.“
Die Ladentür hatte sich einen Spaltbreit geöffnet, um einen dürren Jungen hereinzulassen. Er verharrte unschlüssig am Eingang, offensichtlich von Katzers Anwesenheit irritiert. Edgar drehte sich freundlich zu ihm um.
„Komm rein, Amade, ich hab‘ was für Dich.“
Amade kam zögernd näher. Edgar gab ihm drei Bücher, die der Junge hastig in eine Tüte vom Buchladen steckte.
„Der junge Mann hier heißt Amade, er ist das hellste Köpfchen von ganz Palma. Erst zwölf Jahre, aber hat schon mehr Bücher gelesen als die meisten Mallorquiner zusammen. Amade, dieser Caballero hier ist Rufus Katzer, ein Schreiberling aus Deutschland, er produziert auch Bücher.“
Amade nickte mäßig interessiert und verdrückte sich mit dem schlechten Gewissen eines streunenden Hundes, der eine Wurst geklaut hat, wieder auf die Straße.
„Amade ist mein treuester Kunde, er liest alles, was ich ihm beiseite lege, Abenteuerromane, Geschichtsbücher, Fantasy, er hat den gefräßigen Geist einer siebenköpfigen Raupe. Mindestens einmal pro Woche holt er Nachschub.“
„Erinnert mich an meine eigene Kindheit. Ich habe regelmäßig die Stadtbibliothek geplündert, nachdem der Bücherschrank meines Vaters nichts Neues mehr bot.“
„Bei ihm zu Hause lesen sie nicht mal Zeitung. Er kommt aus einer Gitano-Familie. Da gibt da es kein einziges Buch.“
„Ich glaube, manche halten Lesen für ein Laster von Schwächlingen. Lesen als Handlungsersatz. Übrigens - hast du mal wieder von Jürgen Mai gehört?“
Katzer und Mai hatten sich unter einem Polizeipferd in Berlin kennengelernt. Sie waren beide Reporter, Katzer bei der „Welt“ und Mai als Volontär der „Bild“. Beide standen unter einem aufbäumenden Gaul und schwenkten hektisch ihren Presseausweis bei einer Großdemo. Sie entkamen nur knapp der Kampfpeitsche des Polizeireiters auf seinem schäumenden Ross. Mai hatte schnell Karriere gemacht und war politischer Berater des Justizsenators geworden. Er war in die Teppichetagen der Macht aufgestiegen, nicht zuletzt dank guter Kontakte zu Apo-Anwälten in die Terrorszene. Ein begnadeter Strippenzieher, der sein gutes Herz gern hinter Zynismus tarnte. Darin ähnelten sie sich ein wenig.
Je mehr die Offiziellen auf Distanz zu ihm gingen, desto unentbehrlicher machte er sich bei der Lösung kniffliger Konflikte wie Flugzeugentführungen, Geiselnahmen und Botschaftsbesetzungen. In den Kanzleien wurde er als ‚Organ M‘ geführt. Er selbst hielt die Berufsbezeichnung „Troubleshooter“ für angemessen. „Ich spreche auch mit dem Teufel, wenn es um Menschenleben geht.“
„Hab ewig nix vom ‚Marschall‘ gehört, aber seine Telefonnummer schmückt noch meine Sammlung“, brüstete sich Edgar. Den Spitznamen hatte sich Mai eingefangen, weil sein Vater, ein Wehrmachtsoffizier, beim Aufbau der Bundeswehr aktiv gewesen war. In der linken Szene nicht unbedingt eine Empfehlung.
„Sei nett und such mir die Nummer raus, vielleicht kaufe ich auch mal wieder ein Buch bei dir.“
Katzer tippe die Nummer des Marschalls in sein Handy, klemmte die Bücher unter den Arm und entfernte sich Richtung Policia Nacional. Niemand hatte ihn darum gebeten, doch sein Reporterinstinkt trieb ihn, bei der frischgebackenen Elevin der Mordkommission vorbeizuschauen, die jetzt im Betonneubau der Polizeidirektion thronte. Isabel hatte nach Jahren als Dorfpolizistin in Pollença ihren Dienst bei Hauptkommissar Caplonch von der Mordkommission aufgenommen. Bei ihm wusste er seine Freundin in guten Händen, obwohl der Comisario ein noch größerer Starrkopf war als er. Katzer schätzte Caplonch als bedingungslosen Demokraten, hingebungsvollen Kriminalisten und Mitglied der größten Polizeigewerkschaft Sindicato Unificado, was in seiner Position einen fast selbstmörderischen Bekennermut bewies.
Katzers Vorwand, unangemeldet aufzuschlagen, war ebenso scheinheilig wie sozialengagiert – eine inoffizielle Nachfrage, ob ein Boris Losowski oder eine Darja Pfitzner in Mallorca aktenkundig geworden waren. Nebenbei wollte er aus erster Hand wissen, was von den Kollegen am Hafen von Pollença zu halten war, die eine Frau ihrem tobsüchtigen Mann überlassen hatten.
Er und Isabel waren vor Jahren ein Paar gewesen, und manchmal begleitete ihr Geruch ihn noch in den Schlaf. Er hatte sie an einem saufrühen Sommermorgen am Strand von Cala Molins kennengelernt, nachdem er mit seinem Kajak fast im Meer ersoffen, eine Nacht auf den Klippen gestrandet und vom Hubschrauber der Gendarmerie wieder an den Strand geleitet worden war, wo Isabel ihn mit einer Flasche Wasser begrüßt hatte. Eine kleine Flasche Wasser ist der Himmel, vor allem, wenn sie von einem Engel in Uniform gereicht wird und der Hals noch trockener ist als die Platzwunde am Kopf. Stand ihr gut, die Uniform.
Er hatte weder Augen für die Ambulanz noch für die Kameraden der Küstenwache im Heli gehabt und in den folgenden Tagen die Wiederbelebungsversuche mit Isabel erfolgreich fortgeführt.
Eine gute Zeit, die sein Malheur zur See mit einem Happyend zu Lande versöhnt hatte. Der Ruf der taffen Dorfpolizistin und ihrer eigenwilligen Ermittlungsarbeit war bis nach Palma gedrungen. Sie war zur Polizeiakademie in Avila empfohlen worden und als Lehrgangsbeste aus der kastilischen Festungsstadt zurückgekehrt. Seit sie bei der Mordkommission in Palma arbeitete, waren ihre Begegnungen mit Katzer seltener geworden. Er vermisste sie, Öhrchen vermisste sie auch, manchmal fand er den Preis für das Leben als Single zu hoch.
„Rufus der Einsiedler“, frotzelte sie und strich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Der Rest ihres Blondschopfes war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. „Welcher Tsunami hat dich aus dem Norden in den sündigen Süden des Eilands verschlagen?“
„Ich brauche dich.“
„Was du nicht sagst.“
„Ich wünsche mir Tag und Nacht, von dir mal wieder das Gleiche zu hören.“
„Gib Acht, dass die böse Fee dich nicht erhört und deinen Wunsch erfüllt.“ War das nun neckisch oder niederträchtig? Ihr Blick war cool. „Du kommst doch nicht, um Nettigkeiten loszuwerden.“
„Nicht nur, aber eigentlich doch. Es ist ein Fluch, unwiderstehlich zu sein. Aber ich will dich nicht ausnutzen. Sag nein, wenn ich deine Karriere gefährde. Kannst du rausfinden, ob zwei Deutsche hier in Mallorca aufgetaucht sind, Darja Pfitzner und Boris Losowski, ich habe die amtlichen Daten für dich aufgeschrieben. Darja aus Berlin-Pankow ist jetzt 21, Boris Alter weiß ich nicht, aber er war in Berlin im Knast.“
„Weswegen?“
„Krieg ich raus. Sie ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden, ihr Vater sucht sie und ist heute beim deutschen Konsulat. Ist völlig durch den Wind. So einer wie der dreht gern schon mal durch. Wahrscheinlich lassen die verschwundenen Youngster hier irgendwo die Sau raus und suchen den Höhenflug.“
„Vale. Nimm das Diensttelefon und frag in Berlin nach, wann und weswegen Boris Losowski gesessen hat. Ich schau in den Computer, ob wir was über die beiden haben.“
Während Isabel mit flinken Fingern in die Tastatur griff, gab Katzer die Nummer des ‚Marschalls‘, die er von Edgar bekommen hatte, ins Telefon. Er erfuhr, dass sein gewählter Anschluss umgeleitet wird. Schließlich meldete sich ein Büro des Justizsenators mit dem Hinweis, dies sei eine Rufumleitung und der gewünschte Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.
„Hören Sie, hier spricht die Policia Nacional von Palma de Mallorca, Apparat Comisaria Isabel Cifre Cerda. Mein Name ist Rufus Katzer. Wir müssen dringend Herrn Jürgen Mai sprechen.“
„Kleinen Moment. Ich verbinde weiter.“
Schließlich meldete sich eine sonore Männerstimme mit einem knappen „Ja“, während im Hintergrund eine Lautsprecherdurchsage wie auf einem Flughafen oder Bahnhof zu hören war. Katzer grinste und nickte.
„Hier spricht Rufus Katzer, derzeit im Einsatz für Kommissarin vom Dienst Isabel Cifre in Palma. Bin ich mit Jürgen Mai verbunden?“
„Biste, alter Junge. Mach hinne, mein Flieger geht gleich. Wie kommt‘s, dass Du noch lebst oder sprichst Du schon aus dem Jenseits? Ich dachte, Du bist im Waschgang für Wollsocken verschütt gegangen. Stattdessen tauchst Du bei den Schönen und Reichen in Malle auf. Immer noch auf dem Rennrad unterwegs?“
„Längst vorbei. Ich hatte meine Rennmaschine schon neben dem Schreibtisch, als die Yuppies noch ihren Porsche auf dem Bürgersteig parkten. James Dean machte die Jeans populär, mein Carbonflitzer hängt im Deutschen Sportmuseum. Und wohin bist du unterwegs?“.
„Petersburg. Was treibst Du in Palma?“
„Ich helfe der Polizei wegen zwei verschwundener Berliner Bürger, deren Spur nach Mallorca führt. Einer ist Boris Losowski, der in Berlin gesessen hat, seine Begleiterin ist die unbescholtene Darja Pfitzner, jetzt 21. Was kannst du mir auf dem kleinen Dienstweg über Boris sagen, Jürgen, und komm nicht mit Datenschutz.“
„Wird erledigt. Ich lasse dir ein Fax schicken. Wir müssen mal wieder quatschen, und bleib ein schlechter Mensch, nur Schurken interessieren das Publikum.“
Katzer war happy. Das Keyboard seiner Connections lief geschmiert wie zur Kampfzeit. Kein Grund zur Euphorie, aber befriedigend. Ein Mann wie der ‚Marschall‘ hätte einen prima Paten in jedem Mafiafilm gegeben. Amoralisch wie eine Amöbe, ständig dabei, die Grenzen seiner Macht über gute Beziehungen zu erweitern, wobei den guten Beziehungen manchmal mit Knete zweifelhafter Herkunft nachgeholfen wurden. Er provozierte Widerspruch, nur um den Gegner zu zwingen, sich schließlich selbst in Frage zu stellen. Was hatte der Mann mit dem Ölkännchen, wie er sich selbst gern nannte, in Mütterchen Russland verloren?
„Eine Konferenz der europäischen Justiz-Gurus, angestoßen von diversen Denktanks und Politikberatern. Unsere Minister für Justiz, Inneres und Äußeres haben sich auf mich als kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt und lassen mich inoffiziell auf dem Ticket der Hanns-Seidel-Stiftung reisen.“
„Der alte Marschall wie er leibt und lebt. Undurchschaubar, aber nicht zu ignorieren. Und was treibt den Monsterwels in den diplomatischen Schlamm von Mütterchen Russland?“
„Ich muss einen Typen treffen, den Mann mit dem Kinn. Gehört zum oberen Dutzend der russischen Oligarchen. Ein enger Vertrauter von Putin. Sein Wort hat mehr Gewicht als das ganze russische Parlament. Seit der Krim-Annektion hat er Einreiseverbot in die EU und seine Konten im Westen sind eingefroren, umso besser läuft sein Geschäft mit China und den arabischen Ländern. Es gibt da Gerüchte, Sachen, die Kindern Angst machen. Sorry, muss jetzt mein Handy ausmachen.“
Katzer hatte selbst einige Erfahrungen als Problemlöser der Berliner Regierung gesammelt, aber der ‚Marschall‘ toppte jeden. Er gönnte ihm den Kick seiner exklusiven Kumpaneien und drückte den Anflug von Wehmut weg.
Ziellos schaute er Isabel über die Schulter, die sich vom Bildschirm zurücklehnte. Er riskierte einen Blick zwischen ihre festen Brüste von der Form frischer Äpfel, die zum Reinbeißen reizten.
„Wie ist Caplonch eigentlich so als Chef. Steht er auf große Titten, lacht er manchmal, ist er ein Gentleman oder was. Ich kenne ihn nur als Arbeitstier, private Kontakte hatten wir nie, dazu ist er zu mürrisch.“
„Was er an Frauen schätzt, ist solide Arbeit und Intelligenz, nicht ihr Aussehen. Für seine Mitarbeiter geht er durchs Feuer und wenn einer einen Fehler macht, arbeiten wir alle doppelt, damit keiner was merkt. Bei den Konferenzen wird jeder nach seiner Meinung gefragt aber niemand erfährt, was er selber denkt. Am Ende heimst einer von uns die Lorbeeren ein. So wird man nie heiliggesprochen.“
„Ich glaube, dieser Mann hält die himmlische Ordnung für ebenso korrupt wie die irdische.“
„Möglich. Was wir beide hier machen, ist jedenfalls bestimmt nicht korrekt. Ich werde Caplonch auf jeden Fall über unser Tun informieren. Bei deiner Darja ist Fehlanzeige, aber bei Boris Losowski gibt’s einen Treffer. Er soll Mitglied einer Motorradbande sein, die mehrfach mit Rauschgiftschmuggel auf Mallorca in Verbindung gebracht wurde. Ihm selber kann bisher nichts nachgewiesen werden. Wenn Caplonch einverstanden ist, bleibe ich dran.“
„Na, das ist doch ein Anfang. Du kriegst gleich ein Fax aus Berlin mit allen Infos zu Boris Losowski. Lass uns inzwischen einen Cortado trinken.“
„Kann nicht weg, ich habe Bereitschaft. Aber wenn du einen guten Cortado besorgst, könnte das meine Kooperationsbereitschaft deutlich erhöhen. Der Kaffee im Büro schmeckt nach Katzenpisse.“
„Allzeit bereit. Du hast mir einmal das Leben gerettet, ich bleibe ewig in deiner Schuld. Apropos Schuld – was hältst du von deinen Kollegen in Port Pollença, die gestern eine Bürgerin ihrem tobsüchtigen Mann zum Abschlachten überlassen haben?“
„Da war öfter Streit. Woher sollten die armen Kerle wissen, dass diesmal ernst ist?“
„Also Frauenschicksal in Macho-Land. Frauen und Tiere sind Sachen oder so. Lang lebe das Matriarchat.“
Katzer suchte ein Café, was nahe der Polizeizentrale von Palma so leicht ist wie eine Eisdiele in Grönland zu finden. Seit die Straße zum Polizeihauptquartier nicht mehr nach dem Faschistenführer Ruiz de Alda hieß, sondern nach einem mittelalterlichen Haudegen namens Simó de Ballester umbenannt worden war, gab es hier nur noch Umleitungen und Baustellen. Hauptkommissar Caplonch hatte die Umbenennung seiner Dienstadresse gegen den Groll der alten Garde mit einem Cardenal Mendoza Brandy gefeiert und sein Verhältnis zur Präsidentin des Inselrats deutlich verbessert.
Als Katzer endlich ein Café gefunden hatte, bestellte er einen Cortado für gleich und zwei Americanos zum Mitnehmen. Die Pappbecher in jeder Hand hinderten ihn nach seinem Hürdenlauf, den Schweiß von der Stirn zu wischen, als er wieder das Büro betrat. Isabel fächelte ihm mit dem gerade eingetroffenen Fax frische Luft zu. Ihre Fürsorge weckte in ihm den Wunsch, sie zu küssen. Sie ließ es geschehen, bevor sie dienstlich wurde.
„Sex, Alkohol und Nikotin sind im Büro tabu. Hier hast du deinen Boris. Scheint ein nettes Früchtchen zu sein. Mehrere Vorstrafen einschließlich Körperverletzung, was ihm anderthalb Jahre Haft eingebracht hat. Ein Typ, dem man nicht nachts allein auf dem Bahnhof begegnen möchte.“
Katzer nickte, steckte das Fax ein und legte die Hand um ihre Hüfte. Sie blickte ihn streng an.
„Ich weiß, no sex, drugs and rock’n roll im office. Rufst du mich an, wenn du frei hast?“
„Schauen wir mal. Langsam wird Deine Geschichte knuffig.“
„Toll. Du bist die Größte. Wenn’s nicht zu sehr nervt, könntest du vielleicht noch das Konsulat anrufen und wissen lassen, dass ein gewisser Boris hier auf der Insel sein Unwesen treibt. Das macht dort sicher mehr Eindruck, als wenn ein Privatmann sich meldet und gibt einem gramgeplagten Vater, der seine Tochter sucht, ein bisschen Hoffnung.“
„Wird gemacht.“
Katzer machte sich angetörnt auf den Heimweg, was ihn mit Umsteigen, Warterei und Benzingestank im Bus bloß zwei lausige Stunden kostete. Das hätte er früher auch auf dem Rennrad geschafft, allerdings genussvoller. Daheim stolperte er über seine fünf Katzen und die Hündin. Öhrchen musste dringend Gassi, was etwas länger dauerte, weil sie unterwegs auf ein dreigängiges Müllmenue stieß, das der dringenden Verkostung harrte. 90 Prozent seiner Zeit verbringt ein Tierhalter damit, dem Hund alles wieder aus dem Hals zu holen, was nicht hinein gehört.
Die Warteschlange an der Waschstraße hatte sich inzwischen aufgelöst. Als Katzer sich durch die Walzen geschoben hatte, sah er klarer. Er hatte so was wie einen neuen Fall am Hals, dessen Dimensionen er nicht einmal annähernd ahnte. Für eine Heiligsprechung zu wenig, aber für ein Bierchen, einen Cortado und Hundefutter würde es reichen. Wenn da bloß nicht sein Bauchgefühl wäre. Auf der Rückfahrt im Bus war ihm eingefallen, woran ihn das Gesicht von Darjas Vater erinnerte, der im Bus neben ihm gesessen hatte wie Josefs Ältester zwischen Kreuz und Auferstehung – er sah aus wie Adolf Hitler, nur ohne Lippenbart. Aber wer denkt bei 35° und kaputter Aircondition schon an den Führer, es sei denn, er hätte ihn gerade zum Teufel gewünscht.
Der ‚Marschall‘, nie um einen flotten Spruch verlegen, liebte keine Mätzchen. Statt die reichhaltigen Petersburger Kulturofferten zu nutzen wie die übrigen Konferenzteilnehmer, hatte er in seinem Fünfsternehotel herumtelefoniert und mehrere Treffen mit russischen Journalisten arrangiert. Bei Kollegen der „Trud“, „Nowaja Gaseta“ und „Nowosti“ streute er die Info, dass er dringend an einem Gespräch mit einem der reichsten und mächtigsten Männer Russlands interessiert war. So einen Termin konnte man nicht einfach vereinbaren. Jürgen Mai wusste, dass die Dornenhecke der Höflinge um Dorschi Batomunkajew im Normalfall undurchdringlich war. Sein Dutzend Leibwächter und die Flotte gepanzerter Autos waren nur der letzte Verteidigungsring der Festung.
„Batomunkajew ist kein Journalist und braucht auch keine Journalisten“, erfuhr er bei seiner Spurensuche. „Obwohl er sich neuerdings manchmal als einer ausgibt und einen Presseausweis hat. So konnte er an einer Pressesafari im umkämpften Donbas der Ukraine teilnehmen. Wie man hört, nicht nur mit Kamera, sondern mit dem Sturmgewehr. Er hat gezielt auf ukrainische Zivilisten geschossen, nicht nur auf Soldaten.“
Jürgen Mai hatte dergleichen von Kollegen schon zuzeiten des Jugoslawienkrieges gehört, als Sarajewo jahrelang von den Serben belagert wurde. Auch damals hatten sich „Großwildjäger“ bei den Serben eingekauft, um ihrem „Hobby“ zu frönen und auf Passanten in der Hauptstraße zu schießen.
Du musstest nur im richtigen Moment bei den richtigen Leuten antichambrieren und hoffen, dass sie die happige Abschußprämie wert waren. „Der Mann mit dem Kinn macht keine Termine“, bekam Mai mehr als einmal zu hören. „Aber wenn du Glück hast und interessant genug für ihn bist, kommt er von selbst auf dich zu.“
Am Hof Katharinas der Großen waren Audienzen eine vergleichsweise leichte Übung im Vergleich zu den russischen Oligarchen der Gegenwart. Die hundert reichsten Männer des Landes verfügen zusammen über mehr Devisen als das Bruttosozialprodukt ihres Landes ausmacht. Da ist es normal, persönliche Marotten wie Menschenjagd zu ignorieren.