«Man kann die Liebe nicht stärker erleben» - Oliver Fischer - E-Book

«Man kann die Liebe nicht stärker erleben» E-Book

Oliver Fischer

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Beschreibung

«Man kann die Liebe nicht stärker erleben», notiert Thomas Mann 1943 über seine Beziehung zu Paul Ehrenberg. Die beiden begegnen sich 1899 in einem Münchner Salon. Ehrenberg studiert Tiermalerei, Thomas Mann ist Redakteur des «Simplicissimus» und schreibt an seinem ersten Roman «Buddenbrooks». Die Begegnung reißt den schüchternen Thomas aus seiner sorgsam gepflegten Distanz. Paul besucht mit ihm Kaffeehäuser und die Schwabinger Faschingsbälle – für den Lübecker Patriziersohn eine neue Erfahrung von Leichtigkeit und Lebenslust. Vielleicht findet er bei Paul sogar körperliche Erfüllung, wie ein neuer Blick auf die Quellen zeigt. Mehrere Jahre hält diese enge Freundschaft an. Aber auch danach behalten beide füreinander große Bedeutung – auch als sich die Wege 1933 trennen: Paul bleibt in Deutschland und arrangiert sich mit den Nazis, Thomas geht ins Exil. Wie die Lebenswege der beiden verlaufen, wird von Oliver Fischer detailliert beschrieben – bis hin zum Roman «Doktor Faustus», in dem Thomas Mann der Liebe seines Lebens ein zwiespältiges Denkmal setzt: Als schillernder Geiger Rudi Schwerdtfeger geistert Paul Ehrenberg durch den Roman und wird am Ende von einer eifersüchtigen Geliebten erschossen.

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Oliver Fischer

«Man kann die Liebe nicht stärker erleben»

Thomas Mann und Paul Ehrenberg

 

 

 

Über dieses Buch

«Man kann die Liebe nicht stärker erleben», notiert Thomas Mann 1943 über seine Beziehung zu Paul Ehrenberg. Die beiden begegnen sich 1899 in einem Münchner Salon. Ehrenberg studiert Tiermalerei, Thomas Mann ist Redakteur des «Simplicissimus» und schreibt an seinem ersten Roman «Buddenbrooks». Die Begegnung reißt den schüchternen Thomas aus seiner sorgsam gepflegten Distanz. Paul besucht mit ihm Kaffeehäuser und die Schwabinger Faschingsbälle – für den Lübecker Patriziersohn eine neue Erfahrung von Leichtigkeit und Lebenslust. Vielleicht findet er bei Paul sogar körperliche Erfüllung, wie ein neuer Blick auf die Quellen zeigt. Mehrere Jahre hält diese enge Freundschaft an. Aber auch danach behalten beide füreinander große Bedeutung – auch als sich die Wege 1933 trennen: Paul bleibt in Deutschland und arrangiert sich mit den Nazis, Thomas geht ins Exil.

 

Wie die Lebenswege der beiden verlaufen, wird von Oliver Fischer detailliert beschrieben – bis hin zum Roman «Doktor Faustus», in dem Thomas Mann der Liebe seines Lebens ein zwiespältiges Denkmal setzt: Als schillernder Geiger Rudi Schwerdtfeger geistert Paul Ehrenberg durch den Roman und wird am Ende von einer eifersüchtigen Geliebten erschossen.

Vita

Oliver Fischer, geboren 1970, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und katholische Theologie. Er arbeitet als freier Journalist in Hamburg, unter anderem für «Geo Epoche» und «Merian». 2016 gründete er die Thomas Mann-Gesellschaft Hamburg, deren Vorsitzender er ist. Zudem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Uwe Naumann

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Paul Ehrenberg und Thomas Mann, um 1900 (ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/Fotograf: Unbekannt/TMA_0027)

ISBN 978-3-644-01846-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog am Pazifik

1. Schwabing 1899: Im Laboratorium der Moderne

2. Studieren im Stall, oder: «Paul erzählt nur von Pferden»

3. Ein Treffen im Salon – und eine ganz diskrete Liebesklärung

4. Jugendjahre eines Schriftstellers, oder: Der Schock, ein anderer zu sein

5. Pauls lange Sommerreise, oder: Mücken, Mädchen und ein Bild von Bismarck

6. Von der Kaserne in den Karneval: Thomas lebt, liebt und lobt

7. Gender Trouble: Wie sich Tommy und Paul in Adelaide und Rudolf verwandeln

8. Dem tapferen Maler, oder: Die vergiftete Widmung

9. «Schon wieder verstimmt!», oder: Es ist nicht leicht, mit Thomas Mann befreundet zu sein

10. «Besonders morgens nach dem Aufstehen …»: Wie weit geht die Beziehung von Thomas und Paul?

11. Zeitenwende 1903 (I): Ein Avantgardist in der Pfalz

12. Zeitenwende 1903 (II): Ein neuer Freund für Tommy

13. Zeitenwende 1903 (III): Wirren und wilde Zerwürfnisse

14. Der ‹Fall Mann›, oder: Adelaide heiratet den Pringsheim-Buben

15. Magenkrämpfe und Babyantipathie: Tommy und Paul als Ehemänner

16. Klaus, drei Knaben und ein alter Freund, oder: Von der Liebe in vielfältiger Gestalt

17. Die schwule Republik, oder: Lockerheit in der Lebensmitte

18. «Hittler Adolf, Kunstmaler», oder: In den Zeiten des Hasses

19. Der lange Weg zum kurzen Abschied, oder: Gerüchte, Geldsorgen und ein neues Glück

20. Feine Spitzen mit braunen Flecken, oder: Neustart im Vogtland

21. Große deutsche Kunst, oder: Die Renaissance der Tiermaler

22. Zu viel Liebe, oder: Der Mord an Rudi Ehrenberg

23. Das wahre Sterben, oder: Der Tod in Hof

Epilog

Bildteil

Literaturverzeichnis

Danksagung

Namenregister

Quellennachweis der Abbildungen

Für Artur Fischer-Meny

Prolog am Pazifik

Fast ein halbes Jahrhundert nachdem alles vorbei ist – das Herzklopfen, der Rausch, die Verachtung, die Angst –, sitzt Thomas Mann in seiner Zehn-Zimmer-Villa am Rand von Los Angeles und schreibt einen Brief.

Es ist Dienstag, der 22. November 1949, nachmittags. Herbststimmung selbst im Sonnenstaat Kalifornien. Vom Pazifik her zieht Nebel auf, Wind zaust die Palmen und Zitronenbäume im großen Garten der Villa.[1]

Erst kurz zuvor ist die Todesanzeige aus München im San Remo Drive 1550 angekommen. Thomas Mann ist aufgewühlt. Seit elf Jahren schon lebt er in den USA, ist inzwischen 74 – ein älterer Herr, der vor einiger Zeit eine schwere Lungenkrebsoperation überstanden hat. Doch als er nun den Kondolenzbrief aufsetzt, gehen seine Gedanken zurück in eine Zeit, in der er noch nicht der gravitätische Großmeister der deutschen Literatur war, der Repräsentant des deutschen Exils – sondern ein junger Mann, unternehmungslustig und manchmal albern.[2]

«Mit euch konnte ich übermütig sein», schreibt er an Carl Ehrenberg, den Bruder seines engen, kürzlich verstorbenen Freundes Paul.

«Weisst Du noch, wie wir früh morgens zum Aumeister radelten (Dein Rad hieß ‹die Kuh›, weil es immer einen kotigen Bauch hatte) und nach dem Kaffeetrinken mit Steinen nach leeren Bierflaschen warfen? Fünfzig Jahre! Fünfundfünfzig! Und nun sitze ich, auch schon recht müde von all dem Leben, in Californien und schreibe Dir diesen Brief, weil Paul tot ist.»[3]

Thomas Mann beschwört ihre «Jugendfreundschaft zu Dritt», erinnert an die «guten, vertraulichen und begeisterten Stunden», die er mit den beiden verbrachte – Momente, die nie aufgehört hätten, «einen glücklichen Gefühlswert in meinem Leben zu bilden».[4]

Aufrichtig sind diese Zeilen, gewiss – und verbergen zugleich, was er Carl Ehrenberg auch nach Jahrzehnten nicht schreiben kann: dass er den verstorbenen Paul mehr geliebt hat als je einen Menschen zuvor und danach.[5]

Der Maler Emil Friedrich Paul Ehrenberg, geboren am 8. August 1876 in Dresden, war für Thomas Mann drei, vier Jahre lang das Zentrum der Welt. Ihn feierte er in sentimentalen Gedichten, ihm zuliebe besuchte er Bauernbälle und mittelmäßige Opern – litt unter ihm und ließ ihn leiden. «Man kann die Liebe nicht stärker erleben», notiert er noch vierzig Jahre später im Tagebuch.[6]

Die tiefe und zugleich unerfüllte Liebe zu Paul Ehrenberg hat Thomas Mann ein Leben lang beschäftigt. Paul war der einzige seiner Geliebten, mit dem er zeitweise so etwas wie einen Alltag geteilt hat, mit dem er mehrere Jahre lang eng befreundet war. Noch Jahrzehnte später spukt Paul durch Thomas’ Romane und Erzählungen, als begehrter und begehrender Mann. Paul erscheint in der Gestalt von Hans Hansen, Tonio Krögers Schwarm, der lieber in Pferdebüchern blättert als in Schillers Werken. Er ist der Joseph in Manns monumentalem Bibelroman, der «Schönste unter den Menschenkindern», «zum Gaffen und Sichvergaffen […] für Weib und Mann». Und schließlich – wohl näher am Original als jede andere Figur – Rudi Schwerdtfeger in Doktor Faustus, der Geiger des «Zapfenstößer-Orchesters», ein Salon-Charmeur im München des frühen 20. Jahrhunderts.[7]

Das Interesse der Forschung an Ehrenberg endet meist an diesem Punkt: seiner literarischen Verwertung in den Romanen und Novellen Thomas Manns. Aus Sicht der Literaturwissenschaft mag das nachvollziehbar sein. Doch wer die Perspektive auf diesen Punkt verengt, verpasst den Roman, den das Leben der beiden geschrieben hat: Ihre Biografien verlaufen über fünf Jahrzehnte hinweg – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die NS-Diktatur bis ins geteilte Deutschland – auf eine Weise gegenläufig, als hätte es ein Schriftsteller so arrangiert.

Thomas Mann, am Beginn seiner Freundschaft zu Paul noch ein Geheimtipp, steigt auf zu einem der wichtigsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte, erhält den Nobelpreis und zahlreiche Ehrendoktorate (darunter die von Cambridge und Oxford), wird im Weißen Haus und im Apostolischen Palast empfangen. Paul dagegen, der Maler, schafft trotz eines vielfältigen Werkes und zahlreicher Ausstellungen nie den großen Durchbruch und endet als Lokalgröße in der sächsischen Provinz.[8]

Thomas heiratet, zeugt sechs Kinder und kann kurz vor seinem Tod noch Goldhochzeit feiern – während Pauls erste Ehe, aus der sein einziges Kind stammt, mit einer schmutzigen Scheidung endet.

Tommy, wie Paul ihn nennt, wird durch seine Bücher reich, besitzt zeitweise eine Villa in München, ein Sommerhaus in Litauen und drei Autos – Paul dagegen hat ab Mitte der zwanziger Jahre ständig Geldsorgen und schreibt schließlich Bettelbriefe an seinen alten Freund. Und während Thomas Mann schon früh vor dem Nationalsozialismus warnt und von Kalifornien aus in Radioansprachen die Deutschen über die Verbrechen des Regimes aufklärt, tritt die Liebe seines Lebens in die NSDAP ein und zeigt seine Gemälde auf den Großen Deutschen Kunstausstellungen der Nationalsozialisten in München.[9]

*

Die Geschichte von Paul und Thomas zu schreiben, ist ein asymmetrisches Projekt: Manns Leben ist durch seine Tagebücher, Notizbücher und Briefe überreich und oft bis auf die Stunde genau dokumentiert und in Biografien ausgeleuchtet. Paul Ehrenberg dagegen hat kaum etwas Schriftliches hinterlassen, seine Gemälde lagern verstreut in Museumsdepots, hängen – oft unerkannt – in Wohnzimmern, sind auf Speichern abgestellt, werden auf eBay für wenig Geld verkauft.

Für dieses Buch konnte ich einige der wenigen erhaltenen Briefe und Postkarten Paul Ehrenbergs erstmals auswerten, außerdem die zahlreichen Briefe, die sein Bruder Carl ihm über fast vierzig Jahre schrieb und die auch Einblicke in Pauls Leben geben. Eine weitere wichtige Quelle sind die – bislang so gut wie nicht beachteten – autobiografischen Aufzeichnungen Carl Ehrenbergs sowie die Korrespondenz der Familie Distel, enge Freunde der Ehrenbergs aus Dresden.

Die Recherchen für dieses Buch führten mich quer durch Deutschland, nach Polen und in die Schweiz, in Großstädte und Dörfer, zu einem kunstsinnigen Hausmeister in der Pfalz, einem heruntergekommenen Gutshof bei Posen und zu Museen in Chemnitz und Plauen, die für mich ihre lange nicht gezeigten Ehrenberg-Bilder aus den Depots holten.

Und immer wieder nach München, der Stadt, in der die Geschichte von Paul und Thomas beginnt.

1.Schwabing 1899: Im Laboratorium der Moderne

Gut möglich, dass Thomas und Paul sich auf den Straßen von Schwabing schon einmal begegnet sind, Monate bevor sie sich in einem Münchener Salon näher kennenlernen. Vielleicht hat Thomas Paul sogar hinterhergeschaut, denn der junge Kunststudent ist genau sein Typ: blond, blaue Augen, volle Lippen, oft unbekümmert ein Lied vor sich hin summend.[10]

Und vielleicht fällt Thomas dann wieder ein, dass er Paul Jahre zuvor schon einmal getroffen hat: Eine Dresdener Freundin seiner Schwester hatte ihn zu einem Besuch bei Familie Mann in München mitgebracht. Die jungen Leute hatten damals sogar in der Wohnung der Manns Theater gespielt. Doch das ist Jahre her – eine wohl fast verblasste Erinnerung.[11]

Ihre Freundschaft beginnt erst jetzt, als das Jahrhundert endet, in den letzten Wochen des Jahres 1899. Thomas Mann ist 24, Paul Ehrenberg 23 Jahre alt – zwei junge Männer mit vielversprechender Zukunft: Paul besucht die renommierte Münchener Kunstakademie und studiert bei Heinrich Zügel, einem der innovativsten Lehrer der Hochschule. Thomas hat im S. Fischer Verlag einen ersten Band mit Novellen veröffentlicht; Kritiker schreiben, man müsse sich den Autor merken.[12]

Nicht nur ihr eigenes Leben, auch die Welt um sie herum ist in diesen Jahren voller Dynamik und Aufbruch. Zwar residiert in den Schlössern von Berlin und Potsdam nach wie vor Kaiser Wilhelm II., umsorgt von einem Hofstaat aus 3500 Bediensteten. Juden ist noch immer eine Laufbahn als Offizier, Professor oder Diplomat weitgehend versperrt. Und im Alltag ist der Kommandoton der Militärs allgegenwärtig, denn jeder ausgeschiedene Unteroffizier erhält eine Stelle bei der Polizei, der Bahn oder anderen Behörden.[13]

Doch das ist nicht das ganze Bild. Wie Historikerinnen und Historiker in den vergangenen Jahren gezeigt haben, ist Deutschland zu dieser Zeit auch ein Land der rasanten Modernisierung. Kurz vor 1900 rumpeln die ersten, noch kutschenartigen Automobile über die Straßen, bis zu 25 Stundenkilometer schnell. In Ämtern und manchen Wohnungen klingeln Telefone, über 100000 Anschlüsse gibt es schon. In vielen Städten eröffnen Warenhäuser, staunend fahren Kunden mit Rolltreppen und Aufzügen von Etage zu Etage – oder drängen sich draußen vor den Schaufenstern, erhellt von elektrischem Licht.[14]

Gesellschaftliche Gruppen machen sich bemerkbar, die bislang kaum gehört wurden: Frauen schließen sich in Vereinen zusammen, fordern Wahlrecht und Zugang zu Universitäten.

Juden richten 1893 den «Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens» ein, um dem immer bedrohlicheren Judenhass etwas entgegenzusetzen (wie ihn u.a. die 1879 ins Leben gerufene Antisemiten-Liga schürt). Der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld sammelt eine kleine Gruppe um sich, die vorurteilsfrei über Homosexualität informieren will und die Abschaffung des Paragraphen 175 fordert.[15]

Ungeheuer jung ist Deutschland in dieser Zeit: Wie Thomas und Paul ist mehr als die Hälfte der Einwohner unter 25 Jahre. Jedes Jahr steigt die Zahl der Deutschen um gut eine halbe Million. Und immer mehr Menschen ziehen in die Metropolen, in denen Arbeiter in kurzer Zeit ganze Stadtteile hochziehen.[16]

Eines dieser neuen Viertel ist München-Schwabing – der Mikrokosmos, in dem Thomas Mann und Paul Ehrenberg leben und arbeiten. Einst ein Dorf nördlich der Stadt, ragen nun zwischen den letzten Bauernhöfen vier- oder fünfstöckige Mehrfamilienhäuser auf. Dienstboten mit Schirmmützen und Damen mit knöchellangen Kleidern eilen über Straßen, die oft erst halb fertig sind. Häuserzeilen enden abrupt, dahinter beginnen Wiesen und Schutthalden.[17]

Für zwei angehende Künstler ist die Großbaustelle Schwabing eine naheliegende Wahl. Die Mieten sind oft noch bezahlbar, und so haben sich neben Thomas und Paul weit über tausend Maler, Literaten, Journalisten und Musiker hier angesiedelt.[18]

Zu ihren Schwabinger Mitbürgern gehören Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, die mit dem Blauen Reiter gut zehn Jahre später eine der größten Revolutionen der Kunst seit der Renaissance starten werden. Die Schriftstellerin Franziska Gräfin zu Reventlow wohnt hier, die offen polygam lebt und sich in Artikeln für die sexuelle Befreiung der Frauen einsetzt. Die Zeichner und Schreiber des Simplicissimus’ – darunter Frank Wedekind und Ludwig Thoma – verspotten Woche für Woche Kaiser, Kanzler und Prälaten.[19]

Dazu kommen zahlreiche Möchtegerngenies, Aussteiger und selbst ernannte Propheten, die abends in Künstlerkneipen wie dem Café Stefanie sitzen. Darunter viele Anhänger der Lebensreform-Bewegung, die – erschöpft von Hektik und Lärm der modernen Zeiten – nach einer Alternative zur technisierten Welt suchen. Sie hoffen auf neue Kraft bei Nackt- und Sonnenbädern, ernähren sich fleischlos und treiben kaum bekleidet Sport im Freien.[20]

Schwabing, das ist ein Laboratorium der Moderne, das Kreuzberg des Fin de Siècle – und Thomas und Paul sind mittendrin.

Thomas Mann lebt 1899 allein im Nordosten des Stadtteils in der Feilitzschstraße 5 (und damit nur eine Straße von Gräfin Reventlow entfernt). Das Haus gehört zu den vielen Neubauten des Viertels und ist noch nicht einmal komplett fertig. Aber der Englische Garten ist nahe. Nur zwei, drei Minuten läuft Thomas die leicht abschüssige Straße hinunter zum Park.[21]

In seiner kleinen Mietwohnung im dritten Stock steht ein Kanapee, auf dem er «tagelang hingestreckt» etwa Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung liest. Ein paar Schritte entfernt der Schreibtisch mit dem Porträt des von Mann hochverehrten Leo Tolstoi, von dessen Werk «Ströme von Kraft und Erfrischung» ausgehen (so wenigstens empfindet es Thomas).[22]

Das Bild dieses Mannes soll ihm wohl in den einsamen Arbeitsstunden helfen, in denen er mit seinem ersten Roman kämpft, den Buddenbrooks. Seit zwei Jahren arbeitet er an dem Buch, Hunderte eng beschriebene Seiten stapeln sich auf dem Tisch, viel mehr als geplant. Immerhin kommt langsam der Schluss in Sicht. Doch Thomas ist unsicher: Was wird der Verleger zu dem überlangen Werk sagen? Was die Leser? Wer wird sich für eine alte Familiengeschichte interessieren – jetzt, in diesen Jahren voller Aufbruch und Fortschritt?[23]

Wenn Thomas nicht am Schreibtisch sitzt, ist er mit seinem Fahrrad unterwegs. Es ist kein Hochrad – dessen Zeiten sind längst vorbei –, sondern ein modernes Tourenrad, das heutigen Modellen bereits ähnelt.[24]

Solche Räder gehören zu den Innovationen der Epoche. Sie sind die ersten technischen Fortbewegungsmittel, mit denen man individuell weite Strecken zurücklegen kann, bis zu hundert Kilometer pro Tag. Ein Versprechen von Freiheit und Ferne, das viele junge Leute begeistert, auch Thomas Mann.[25]

In seinem Lebensabriß schreibt er:

«Ich war in jenen Jahren ein so leidenschaftlicher Radfahrer, daß ich fast keinen Schritt zu Fuße ging und selbst bei strömendem Regen […] alle meine Wege auf dem Vehikel zurücklegte.»[26]

Fast täglich sehen ihn seine Nachbarn, wie er sich das Rad auf die Schulter wuchtet und vom dritten Stock hinunter auf die Straße trägt. Im Sommer radelt er nachmittags gerne allein, «ein Buch an der Lenkstange», in den gut 15 Kilometer entfernten Schleißheimer Wald, um dort zu lesen und – so darf man annehmen – von künftigem Ruhm zu träumen.[27]

Wenn er tatsächlich «alle seine Wege» mit dem Rad zurücklegt, dann auch den zu seiner Mutter Julia, die nur einen halben Kilometer entfernt in der Schwabinger Herzogstraße lebt. Die «Senatorin», wie sie genannt wird, war nach dem Tod ihres Mannes in der Hoffnung auf ein ungezwungeneres Leben von Lübeck ins Münchener Künstlerviertel gezogen. Dort wohnt sie nun mit ihren drei jüngsten Kindern. Thomas, ihr zweitältester Sohn, schaut täglich zum Mittagessen vorbei – kaum jemanden sieht der 24-Jährige so oft wie seine Familie.[28]

Auf dem kurzen Weg zu seiner Mutter überquert Thomas jedes Mal Schwabings Hauptachse, die Leopoldstraße. Manchmal muss er einen Moment warten, um die weiß-blaue Pferdetram vorbeizulassen, die alle paar Minuten durch die Pappelallee klappert. Doch ihre Zeit läuft ab, die Oberleitung für die elektrische Nachfolgerin ist Ende 1899 schon gespannt (so berichtet es der Maler Paul Klee, der in dieser Zeit in der Straße wohnt).[29]

Häufig muss Mann auch die Leopoldstraße in Richtung Innenstadt hinuntergeradelt sein bis zum Siegestor. Denn ganz in der Nähe dieser bajuwarischen Triumphbogenkopie liegt sein Arbeitsplatz: die Redaktion des Simplicissimus.[30]

Thomas Mann ist Ende 1899 nur Teilzeitschriftsteller. Im Hauptberuf arbeitet er als Angestellter bei einer der interessantesten Zeitschriftenredaktionen Deutschlands. Erst drei Jahre zuvor gegründet, ist der Simplicissimus das wohl bedeutendste Oppositionsblatt des Deutschen Reichs, bekannt für böse Karikaturen und einen scharfen Blick auf die wilhelminische Gesellschaft. Die Arbeit ist alles andere als harmlos: Frank Wedekind, einer der Autoren, sitzt gerade wegen eines Hohngedichts auf Wilhelm II. in Festungshaft; Albert Langen, der Verleger, ist aus demselben Grund ins Ausland geflohen.[31]

In dieser Redaktion der Spötter und Provokateure hat Thomas Mann ein eigenes Büro. Er arbeitet sich durch die großen Stapel eingesandter Manuskripte, schreibt auf einige Briefumschläge ein ‹Ja›, lehnt andere Texte ab, bittet Autoren wie Richard Dehmel um Beiträge. Manchmal ist er genervt von der Arbeit: «Sie glauben nicht, wie zeitraubend der Quark ist!», schreibt er seinem Bekannten (und späteren Freund) Kurt Martens einmal.[32]

Doch der Simplicissimus zahlt ihm 100 Mark im Monat. Dazu kommen knapp 200 Mark aus dem Erbe seines Vaters, insgesamt hat er damit monatlich umgerechnet auf heutige Verhältnisse etwa 2400 Euro brutto – kein schlechtes Einkommen für einen kaum bekannten Schriftsteller. Einen Teil der Arbeit darf er zu Hause in der Feilitzschstraße erledigen; für die Buddenbrooks bleiben ihm mit Glück etwa zwei Stunden täglich.[33]

Wenn es Abend wird, trifft er sich manchmal mit den Simplicissimus-Mitarbeitern zum Stammtisch, häufig in dem von Künstlern gern besuchten Café Luitpold, einem prachtvollen Bau mit Palmengarten. Doch auf die Kollegen wirkt Mann oft distanziert, erscheint «sehr zurückhaltend, sehr gemessen im Ton», wie sein Schriftstellerkollege Ludwig Thoma festhält.[34]

Thomas Mann empfindet sich selbst als problematisch. Einen «Scheuen» und «Schwierigen» nennt er sich im Rückblick auf diese Zeit, beschreibt sie als seine «einsamsten Jahre».[35]

Er hat weder Partnerin noch Partner. Sein engster Vertrauter, sein Lübecker Schulkamerad Otto Grautoff, lebt weit weg in Dresden. Die Menschen, denen er am häufigsten begegnet, sind seine Mutter und die Geschwister. In einer vor Geselligkeit berstenden Stadt mit ihren Biergärten, Faschingsbällen und Theaterfoyers fühlt er sich oft entsetzlich allein. In einem Gedicht beschreibt er seine Gefühle in dieser Zeit als «Erstarrung», «Öde» und «Eis».[36]

Dabei ist der Mensch, der Thomas aus seiner Einsamkeit befreien wird, ihm in diesen letzten Wochen 1899 schon nahe: Paul Ehrenberg arbeitet nur gut hundert Meter von der Simplicissimus-Redaktion entfernt auf der anderen Seite der Leopoldstraße.

2.Studieren im Stall, oder: «Paul erzählt nur von Pferden»

Ein kleines Steinhaus im Garten der Kunstakademie, halb verborgen zwischen Bäumen. Mit seinen steilen Dächern, dem Rundbogen und dem Dreiecksgiebel über dem Eingang erinnert es an eine mittelalterliche Kapelle. Doch wer eintritt, der hört weder Orgelspiel noch Litaneien, sondern ein Muhen und Wiehern. Und statt Weihrauch steigt einem der durchdringende Geruch von Mist in die Nase. Ein paar Schritte weiter, und man steht in einem überraschend hellen Saal: Der hintere Teil des Raumes ist ein Anbau aus Glas, mit durchsichtigem Dach und Wänden, wie in einem Gewächshaus.[37]

Willkommen am Arbeitsplatz von Paul Ehrenberg: dem Tieratelier der Münchener Kunstakademie. Auf dem strohbedeckten Boden steht oder liegt mal ein Rind, mal ein Pferd. Davor sieht man Paul und mehrere andere Studenten, wie sie konzentriert an Staffeleien arbeiten.[38]

In diesem ungewöhnlich sonnigen Herbst 1899 fällt stechendes Licht durch das Glasdach.[39] Immer wieder muss Paul blinzeln, während er versucht, Schulterpartie oder Beine eines Tieres mit Pinsel und Farbe festzuhalten. Doch das Vieh schnaubt und scharrt, und wenn es allzu abrupt seine Haltung ändert, flucht Paul leise auf.[40]

Paul studiert Tiermalerei, ein inzwischen von der Kunstgeschichte fast vergessenes Fach. Um 1900 aber ist es so populär, dass die Münchener Akademie erst wenige Jahre zuvor das Atelierhäuschen im Garten hatte bauen lassen, um den Trend nicht zu verpassen.[41]

Schon in der Höhle von Altamira haben Menschen vor mehr als 12000 Jahren Tiere gemalt. Zur eigenen Gattung aber wurde die Tiermalerei erst im 17. Jahrhundert in den Niederlanden. Das Tier – so der zentrale Gedanke der Maler damals – sollte keine Staffage mehr sein, sondern Protagonist der Bilder. Künstler begannen, Pferde, Rinder, Schafe und Hühner mit der Akribie von Porträtisten zu malen.[42]

Ab 1850, mit dem Boom realistischer Kunst, steigt das Interesse an der Tiermalerei noch einmal an (und es ist sicher kein Zufall, dass zur selben Zeit die Industrialisierung rasant voranschreitet und vielerorts ländlichen Lebensraum zerstört). In Karlsruhe, Berlin und Weimar richten Kunstakademien Tiermalklassen ein; auf der Elbinsel Finkenwerder bei Hamburg treffen sich in den Jahren nach 1890 jeden Sommer Künstler, um mit dem hanseatischen Maler Thomas Herbst im Freien Tierbilder anzufertigen. Kurz vor der Jahrhundertwende existiert in Deutschland ein weites Netz von Spezialisten für Tiermalerei, dazu eine beachtliche Zahl von Tiermalklassen an den Akademien.[43]

Anders als Schriftsteller, die fast immer Autodidakten sind, lernen junge Maler bei einem Meister. Paul hat es – wohl dank einer guten Mappe mit Arbeitsproben[44] – geschafft, bei einem der besten Tiermaler Deutschlands angenommen zu werden: Heinrich Zügel. Kaum einer malt Schafe, Schweine und Kühe so kraftvoll und sensibel wie er.[45]

Zügel, Sohn eines schwäbischen Schafhalters, gehört zu der kleinen Zahl progressiver Lehrer an der Münchener Akademie – nicht nur wegen seiner Tierbilder: Neben Franz Stuck ist er einer der wenigen Professoren, die nach Art der französischen Impressionisten arbeiten;[46] deutsche Künstler haben diesen Stil bislang nur zögerlich aufgegriffen.[47]

Die Studenten sind begeistert: Wie ein «Bote aus einer neuen Welt» sei ihm Zügels Kunst erschienen, schreibt einer seiner Schüler später.[48] «Da war mit einemmal wieder Erde zu riechen, da war Bewegung, Temperament und Licht», schwärmt ein anderer.[49] Auch Paul scheint hochzufrieden: Einem Bekannten aus Dresden, Julius Paul Junghanns, berichtet er so enthusiastisch von seinem Studium, dass der sich im Wintersemester 1899 ebenfalls bei Zügel einschreibt.[50]

An jedem Werktagmorgen im Wintersemester läuft Paul um kurz vor acht auf das Steinhäuschen im Akademiegarten zu. Vor dem Eingang sieht er meist schon Milchbauern und Pferdehändler warten, die den Malschülern ihre Tiere für die nächsten Stunden leihweise überlassen.[51]

Drinnen im Glasatelier trifft er dann auf eine internationale Gruppe – München gehört in diesen Jahren mit Paris, Wien und London zu den wichtigsten Kunstmetropolen Europas.[52] Unter Pauls knapp zwanzig Kommilitonen finden sich ein Italiener, zwei Ungarn und ein Brite[53] (allerdings keine Frauen, sie werden an der Akademie erst 1920 zugelassen)[54].

Immer wieder schärft Heinrich Zügel während der Unterrichtsstunden den Studenten ein, wie wichtig Anatomie-Kenntnisse für ihre Arbeit sind. So exakt wie möglich sollen Paul und die anderen den Körperbau der Tiere studieren. Denn nur wenn sie das Zusammenspiel von Knochen, Muskeln und Sehnen im Tierkörper genau verstehen – so der Professor –, können sie die Beugung eines Gelenks oder das Drehen des Kopfes auf der Leinwand richtig zum Ausdruck bringen. Zur Anschauung hängen an den Wänden Gipsmodelle von gebeugten und gestreckten Tierbeinen, dazu steht ein komplettes Pferdeskelett im Saal.[55]

Bis zu sieben Stunden am Tag malt und zeichnet Paul im Atelierstall. Als Student im mittlerweile fünften Semester fertigt er sicher schon ganze Kompositionen an. Wie die Bilder seiner Mitschüler verraten auch seine Werke auf den ersten Blick den Einfluss seines Professors. Denn Heinrich Zügel ist ein Lehrer, der nur einen Stil wirklich gelten lässt: seinen eigenen. (Anders als etwa sein Kollege Franz Stuck, der die Studenten ermutigt, eigene Wege zu gehen.)[56]

Und so sieht man auf Pauls Bildern und denen seiner Mitschüler die für Zügels Werk typischen Motive: Ochsen, die gleichmütig Pflüge ziehen, Pferde mit dampfenden Nüstern, Lichtflecken auf Ackerkrumen und Tierleibern.[57]

Die Bilderwelt Heinrich Zügels ist voll von solch magischen Darstellungen animalischer Kraft. Auf seinen Gemälden sind die Menschen Staffage, klein und oft gesichtslos. Fast nie zu sehen sind Fabriken, Eisenbahnen, Fahrräder – die Insignien der Moderne, die längst auch aufs Land vorgedrungen sind. Die Kunst, die Paul und seine Kommilitonen lernen, ist die pathetische Feier einer archaischen Welt, die es in der Realität kaum noch gibt und so wohl auch nie gegeben hat – und damit bewusst oder unbewusst eine künstlerische Reaktion auf die Veränderungen, die der radikale Fortschritt gebracht hat.[58]

Was fasziniert Paul Ehrenberg an dieser Art von Malerei? Warum verbringt ausgerechnet er Jahre seines Lebens mit der Produktion von Kuh- und Pferdebildern?

Paul ist ein Stadtkind, aufgewachsen in einem Künstlerhaushalt am dicht bebauten Dresdner Moltkeplatz.[59] Sein Vater Carl ist ebenfalls Maler, Mutter Sophie Konzertsängerin und Gesangslehrerin.[60]

Ihre Kinder führt sie sensibel an die Musik heran, ahmt am Klavier die Laute von Bären, Vögeln und anderen Tieren nach.

Alle drei Söhne entwickeln eine große Zuneigung zur Tonkunst.

Paul spielt schon bald ausgezeichnet Geige (später überlegt er eine Zeitlang, die Musik zu seinem Beruf zu machen). Er ist ein äußerst talentierter Junge, schreibt in der Schule Bestnoten in allen Fächern.[61]

Doch zugleich fühlt er sich früh zu Tieren und dem Landleben hingezogen. Er ist noch nicht mal vier, da notiert seine Mutter in ihrem Tagebuch: «Paul […] erzählt nur von Pferden.» Sie beschreibt ihn, ihren Ältesten, als «derb, frisch, rasend wild und übermütig». Ihren Zweitgeborenen Carl dagegen nennt sie «zierlich und puppenhaft fein».[62]

Einige Zeit später, bei Ferien in der Dresdner Heide, ist Paul Teil einer «Indianerbande», so erinnert sich sein Bruder Carl: «Ganz erfüllt von ‹Lederstrumpf› und Karl May» versuchte «einer den anderen an Waffen, Federschmuck und phantastischer Bemalung zu übertreffen […] und natürlich auch an Wildheit».[63]

Und über einen Urlaub 1892 bei reichen Verwandten auf dem Land berichtet Carl, da ist Paul schon fast 16:

«Da war eine riesige Dampfmühle mit eigener Schlosserei und Schreinerei, ein ganzer Gutshof mit Kühen und Pferden (welche Wonne für Paul!).»[64]

Es ist wohl diese Begeisterung für Tiere, Abenteuer und das Leben an der frischen Luft, die Paul gut fünf Jahre später zum Studium bei Zügel führt. Im Frühjahr siedelt der Professor mit den Schülern für mehrere Monate in ein Dorf in der Pfalz über, um dort im Freien Tiere zu malen. Die Studenten verbringen ihre Tage in der kargen, mit Büschen und Weiden bewachsenen Landschaft am Altrhein, arbeiten an Staffeleien – und machen zur Entspannung Kopfsprünge in den Fluss.[65]

Als «junge kräftige Naturburschen» charakterisiert ein Zügel-Schüler die Gruppe einmal.[66] Darin steckt sicher ein beträchtliches Stück Selbststilisierung – viele der jungen Maler sind Stadtkinder wie Paul, stammen aus Familien des Bürgertums und der Mittelschicht.[67] Doch für Paul dürfte wichtig sein, dass er bei Zügel auf Kommilitonen trifft, die zu ihm passen – keine entrückten Ästheten, sondern junge Männer mit einem eher unkomplizierten Zugang zu Kunst und Leben. Das Studium muss für ihn so etwas gewesen sein wie das Wiederaufleben der Indianerspiele und Gutshof-Ferien seiner Kindheit.

Aber die Ausbildung bei Heinrich Zügel bedeutet für ihn wohl noch mehr – sie ist womöglich die erste wichtige eigene Entscheidung, die er in seinem Leben getroffen hat.

Bevor Paul nach München ging, hatte er schon vier Jahre lang an der Akademie in Dresden studiert, seiner Heimatstadt. Dort lernte er bei zwei Lehrern, die geprägt waren von Klassizismus und Historienmalerei: zwei Strömungen, die in diesen Jahren rasant an Bedeutung verloren haben – aber Pauls Vater gefallen haben dürften.[68]

Denn Carl Ehrenberg senior arbeitet selbst als Historienmaler, fügt dieser untergehenden Gattung noch zahlreiche Bilder germanischer Götter und Mythen hinzu, für die er sich besonders zu interessieren scheint.[69] Er ist ein nationalistisch gesonnener Mann, hat für Neuerungen wenig Sinn. Den impressionistischen Stil verachtet er als «Freilichtgeflimmer der Franzosen» – so schreibt er in seiner 1891 anonym erschienenen, reaktionären Streitschrift Halt – mehr rechts! Ein Wort zur Abwehr unwürdiger Fremdherrschaft. Er nennt die «neueste Münchener Schule» abschätzig eine «Filiale von Paris» – und meint damit wohl Strömungen wie den beginnenden deutschen Impressionismus.[70]

Sein Sohn Paul aber sieht das anders und wagt im Spätsommer 1897 einen Neuanfang. Nur wenige Wochen nachdem er 21 und damit volljährig geworden ist,[71] verlässt er Dresden und schreibt sich in München ein – ausgerechnet bei Heinrich Zügel, dem innovativen, stark vom Impressionismus geprägten Professor. Der Vater muss das als Affront empfunden haben.

Für Paul aber ist der Umzug nach München wohl die Gelegenheit, sich vom alten Ehrenberg und seinen überkommenen Kunstauffassungen frei zu machen und gut 400 Kilometer weiter südwestlich sein Erwachsenenleben zu beginnen.

3.Ein Treffen im Salon – und eine ganz diskrete Liebesklärung

Im Herbst 1899 lebt Paul Ehrenberg bereits seit zwei Jahren in Bayerns Hauptstadt. Er ist ein vielseitiger junger Mann. Wenn er nicht im Atelierstall beschäftigt ist, genießt er das aufregende Leben in Deutschlands drittgrößter Stadt, ist unterwegs auf Empfängen, besucht Opern- und Konzerthäuser. Ein «junger Herr mit weltmännischen Allüren» – so beschreibt ihn ein Mitstudent aus der Tiermalklasse.[72]

Häufig taucht Paul auch in den Salons Münchener Bürger auf, die zu ihren Geselligkeiten gerne Künstler hinzubitten. Paul ist – wie Fotos zeigen – ein gut aussehender Mann. Elegant gekleidet mit Frack und Stehkragen, fällt er auf den Gesellschaften schnell auf, ist ein Schwarm der Damen. Doch auch manche Herren werden auf ihn aufmerksam – und an einem Abend auch Thomas Mann.[73]

In welchem der insgesamt etwa fünfzig Münchener Salons Paul an diesem Abend kurz vor der Jahrhundertwende auf Thomas getroffen ist, weiß man nicht.[74] Zwei Versionen über ihre erste Begegnung sind im Umlauf – und in beiden spielen Thomas’ Schwestern eine zentrale Rolle.

Möglicherweise hat Paul an diesem Abend den Salon des Brauereidirektors Ludwig Pricken besucht, so wird es Pauls Schwägerin Blanche Ehrenberg mehr als ein halbes Jahrhundert später berichten.[75] Die Prickens, ursprünglich Rheinländer, leben in einer Wohnung nahe der Theresienwiese, ihre Geselligkeiten sind bekannt für hervorragendes Essen und erlesene Weine.[76]

Eine Tochter der Prickens ist eng befreundet mit Carla Mann, Thomas’ jüngster Schwester. Vielleicht hat Carla ihren «scheuen und schwierigen» Bruder an diesem Tag eingeladen, sie in den Salon der Prickens zu begleiten – wo er dann Paul Ehrenberg begegnet ist.[77]

Wahrscheinlicher aber ist, dass eine Besucherin aus Dresden die beiden Männer zusammengebracht hat: Hilde Distel, eine melancholische 19-Jährige, die sich gerne in Wagneropern versenkt. Ihr Vater Dr. Theodor Distel ist Archivrat in Dresden, hat fast 300 – meist kürzere – Schriften zur sächsischen Landes- und Kulturgeschichte verfasst. Die Mutter stammt aus der Lübecker Kaufmannsfamilie Souchay, ist weitläufig mit den Manns verschwägert. Dank dieser familiären Verflechtungen hat sich Hilde Distel mit Thomas’ älterer Schwester Julia angefreundet.[78]

Dazu ist Hilde bestens bekannt mit Familie Ehrenberg. Ihre Eltern waren eng mit Pauls Eltern befreundet. Die Kinder beider Familien – Hilde und ihre Schwester Lilli, Paul und seine Brüder Carl und Walther – haben in ihrer Jugend in Dresden so viel Zeit miteinander verbracht, dass sie sich wie Geschwister fühlen und mit «Bruder» und «Schwester» anreden.[79] (Anders als häufiger zu lesen, sind die Ehrenberg-Brüder aber nicht bei den Distels aufgewachsen.[80])

Als Hilde im Herbst 1899 einen Besuch in München macht, wohnt sie sogar bei ihrer Freundin Julia und Thomas’ Mutter in der Schwabinger Herzogstraße – das zeigt eine bislang unbeachtete Postkarte vom Oktober 1899 aus dem Lübecker Stadtarchiv.[81] Sie bekommt viel vom Leben in der Sieben-Zimmer-Wohnung mit, in der Mutter Mann ebenfalls einen kleinen Salon führt; Künstler und Bohemiens aus der Schwabinger Nachbarschaft schauen hier gerne vorbei.[82]

Es wäre merkwürdig, wenn Hilde ihren «Bruder» Paul nicht bei der einen oder anderen Gelegenheit in die Herzogstraße mitgenommen hätte. Gut möglich, dass Thomas im Salon seiner Mutter auf die Liebe seines Lebens gestoßen ist![83]

Denkbar auch, dass beide Überlieferungen stimmen: Erst treffen sich Thomas und Paul bei den Prickens, Wochen später ein überrascht-freudiges Wiedersehen in der Herzogstraße – oder umgekehrt.

Egal, wo sie sich begegnet sind: Thomas muss sich schnell zu Paul hingezogen gefühlt haben. Mit seinen blonden Haaren und den kräftigen Lippen erinnert ihn der Malstudent an einen Schulfreund aus Lübeck, Armin Martens, in den er gut zehn Jahre zuvor heftig verliebt gewesen ist. Eine «Auferstehung meiner Empfindungen für jenen […] blonden Schulkameraden», so beschreibt er seine Gefühle für Paul im Lebensabriß von 1930.[84]

An diesem ersten Abend werden die beiden Männer schnell ins Gespräch gekommen sein. Denn Paul, den man sich ohnehin als einen unkomplizierten jungen Mann vorstellen muss, blüht noch einmal mehr auf, sobald er in das Gläserklirren und Stimmengewirr eines Salons eintaucht. Nach allem, was man über ihn weiß, ist es selbst für «sehr zurückhaltende» Menschen wie Thomas fast unmöglich, mit ihm nicht ins Gespräch zu kommen.

Worüber die beiden bei ihrem ersten Treffen reden? Vielleicht über die bevorstehenden Silvesterfeiern, den Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenn sie sich länger miteinander unterhalten haben, wird ihnen aufgefallen sein, dass sie einiges gemeinsam haben, etwa die Liebe zur Musik. Beide spielen Geige – Paul, der Sohn einer Sängerin, der schon als Kind bei den Schülerkonzerten seiner Mutter auftrat, allerdings deutlich besser als Thomas.[85]

Sobald Thomas Mann sich für seine Verhältnisse locker fühlt, wird er Paul vielleicht zu seiner Arbeit im Atelierstall befragen – und sollte er dabei mit einem ironisch-amüsierten Unterton sprechen, wird Paul, der wohl ein wenig arglos ist, es vermutlich nicht bemerkt haben.

*

Wie geht es weiter nach dieser ersten Begegnung? Ist Thomas schon verzaubert von Paul? Denkt er oft an seine jungenhafte Art zu lachen? Oder seine Lieblingsphrase «in netter Weise», die Paul ständig an passender und unpassender Stelle in Gespräche einbaut?[86]

Sicher ist, dass Thomas an ihn denkt. Am 28. Dezember 1899, kurz vor dem epochalen Jahreswechsel, setzt er sich an seinen Schreibtisch in der Feilitzschstraße – auf dem sich nach wie vor das Manuskript der Buddenbrooks stapelt – und schreibt einen Brief an Hilde Distel. Sie ist inzwischen nach Dresden zurückgekehrt – genau wie Paul, der über die Feiertage seinen verwitweten Vater besucht (die Mutter ist bereits 1892 an einer Angina gestorben).[87]

Im vorletzten Absatz seines Briefes fügt Thomas einen Gruß ein: «Sobald Sie mit Ihrem Herrn Bruder Paul Ehrenberg zusammentreffen, übermitteln Sie, bitte, auch ihm meine Neujahrsglückwünsche.» Es ist, soweit bekannt, das erste Mal, dass Thomas Mann den Namen ‹Paul Ehrenberg› niederschreibt.[88]

Drei Tage später: Das 20. Jahrhundert beginnt, mit Feuerwerk, Luftschlangen und großen Mengen Punsch. Feiert Thomas mit? Und wenn ja, wo? «Bei Bekannten oder mit ein paar Freunden» habe er den Abend verbracht, so glaubt sich sein jüngster Bruder Viktor – damals neun – später zu erinnern. Doch von Mann selbst gibt es kein einziges Wort zu dieser epochalen Nacht. Weder in Briefen noch anderen Texten hat er je verraten, wo und mit wem er sie verbracht hat – gut denkbar, dass er wie so oft allein zu Hause in der Feilitzschstraße gewesen ist.[89]

Doch in der Zeit um den Jahreswechsel muss in Thomas Mann etwas in Bewegung geraten sein. Denn kurz nach Pauls Rückkehr nach München kommt es zu einem für seine Verhältnisse unerhörten Schritt: Er beginnt, sich mit Paul zu duzen! Vielleicht kam es dazu auf einer Faschingsfeier: «Das Du stammt aus dem Carneval», schreibt er etwas kryptisch in seinem Notizbuch an einer Stelle, in der es auch um Paul geht.[90]

Abgesehen von Verwandten und Schulfreunden geht Thomas Mann im Laufe seines Lebens nur mit fünf, sechs Menschen zum Du über – bei manchen erst nach über dreißig Jahren Bekanntschaft. Und meist bleibt es bei der Anrede mit dem Nachnamen, wie bei Otto Grautoff («Lieber Grautoff. Meinen besten Dank für Deinen schönen langen Brief […]»).[91] Dass Paul Ehrenberg schon nach wenigen Wochen sogar «Tommy» zu ihm sagen darf, kann man nur als emotionalen Erdrutsch deuten.

Die beiden sehen sich häufiger in diesem Winter. Auf verschneiten Straßen sind sie bei bis zu minus 15 Grad unterwegs, besuchen wohl Opern, Konzerte und Cafés, so wie sie es auch in den folgenden Jahren tun werden. Überraschend oft scheinen sie auch bei Thomas’ Mutter zu Gast zu sein. Paul wird schnell zu einem Freund, fast Vertrauten der gesamten Familie. So rät er in diesen ersten Wochen des neuen Jahres Thomas’ Schwester Julia von einer Vernunftehe mit einem promovierten Bankdirektor ab. Und malt ein Bild der jüngeren Schwester Carla, wobei es während der Porträtsitzungen zu Zärtlichkeiten kommt – von denen Thomas zunächst nichts bemerkt. Als er ein Jahr später davon erfährt, ist er tief gekränkt.[92]

Aber schon in dieser frühen Phase ihrer Bekanntschaft geht es ihm nicht immer gut. Sein fröhlicher und lebendiger neuer Freund überfordert ihn oft. «Du kamst so lebensvoll daher, das schüchterte mich ein […] machte mich für eine volle Stunde stumm, unliebenswürdig und hoffnungslos», schreibt er später in sein Notizbuch.[93]

«Stumm» macht Thomas wohl nicht nur Pauls Überschwänglichkeit, sondern auch die Unmöglichkeit, ihm seine Gefühle mitzuteilen. Wie soll er mit diesem Schwarm der Salons, der Frauen anzieht und sich offensichtlich von Frauen angezogen fühlt, über seine Empfindungen für ihn sprechen? Wie ihm seine Zuneigung offenbaren, ohne Skandal oder Abweisung zu riskieren?

Anfang März verlässt Paul für ein halbes Jahr München, bricht zu privaten und beruflichen Reisen in die Provinz Posen, nach Dresden und in die Pfalz auf.[94]

Zum Abschied schenkt Thomas dem Maler ein Foto von sich, aufgenommen im Hof-Atelier Elvira, einem der damals angesagtesten Fotostudios Münchens: Lässig steht Mann da, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben, die Frackschöße zurückgeschlagen – doch die selbstbewusste Pose wird dementiert durch seinen schüchternen Blick.

Auf die Rückseite schreibt Thomas: «Meinem lieben Paul Ehrenberg zur freundlichen Erinnerung bis auf Wiedersehen!» – und setzt darüber ein Zitat aus einem Gedicht von Joseph von Eichendorff:

«Wo zwei sich treulich nehmen und ergänzen,

Wächst unvermerkt das freud’ge Werk der Musen.»[95]

Zwei zunächst unauffällige Zeilen, wie für ein Poesiealbum gemacht. Der Literaturwissenschaftler Karl Werner Böhm, der eine der ersten großen Arbeiten über Thomas Mann und die Homosexualität publiziert hat, interpretierte die Widmung so, dass Thomas seiner Freundschaft zu Paul das «Ansehen eines ‹rein› platonischen Künstlerbundes» geben wollte – eine Tarnung also. Böhm liegt damit richtig, allerdings umfassender und komplexer, als er es selbst gesehen hat.[96]

Denn die niedergeschriebene Widmung ist offenbar nicht die ganze Botschaft. Schlägt man das Gedicht nach, findet man hinter dem von Thomas Mann zitierten Satz schon in der nächsten Zeile die Worte:

«Drum laß mich wieder, Freund, an’s Herz dich drücken!»[97]

Diese Zeile – die bislang offensichtlich nicht die Aufmerksamkeit der Forschung fand – ist wohl die eigentliche Mitteilung, die Thomas seinem Freund Paul machen möchte: Nicht (nur) das schöngeistige «Werk der Musen» ersehnt er, sondern Pauls Umarmung.

Die zitierten Zeilen stammen aus Eichendorffs Gedichtzyklus «Die Freunde».[98] In ihm hallt der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts nach – einer Zeit, in der sich Männer in zarten und schwelgerischen Briefen ihrer Gefühle füreinander versichern konnten, ohne dass damit erotische Absichten verbunden sein mussten.[99]

Um 1900 aber wirkt eine Formulierung wie «Drum laß mich wieder, Freund, an’s Herz dich drücken!» bereits irritierend und anstößig, weswegen Thomas sie auch nicht auf dem Foto notiert hat. Sie ist der Widmung wie eine Geheimschrift eingeschrieben, lesbar nur für den, der das Gedicht kennt oder nachschlägt.[100]

Was aber erwartet Thomas von dem versteckten Bekenntnis? Glaubt er, dass Paul die Anspielung versteht? Und wenn ja, was wäre Pauls Reaktion? Freude, wilde Umarmungen? Oder klammes Schweigen, Verärgerung, vielleicht Ekel?

Thomas Mann hat seine Botschaft äußerst geschickt arrangiert. Dank der eingebauten Mehrdeutigkeit bleibt ihm je nach Pauls Reaktion immer ein Ausweg. Sollte Paul die Anspielung verstehen und peinlich berührt sein, könnte Thomas behaupten, dass er die dritte Zeile gerade deswegen weggelassen habe, weil sie nicht zutreffe. Oder dass sie nur zutreffe im Sinne der veralteten Rhetorik des Freundschaftskultes. Doch sollte Paul die Botschaft freudig zustimmend entschlüsseln, könnte Thomas ihn tatsächlich «ans Herz sich drücken» – oder, wenn er sich plötzlich überfordert fühlt von den Konsequenzen, die eine solche Liebe hätte, Paul erklären, er habe da wohl etwas falsch verstanden.

Gut zwei Jahre zuvor hatte Thomas Mann nach Fertigstellung seiner Novelle Der kleine Herr Friedemann an seinen Schulfreund Otto Grautoff geschrieben, er habe nun «öffentlichkeitsfähige Formen und Masken» gefunden, «um meine Liebe, meinen Haß, mein Mitleid […] von mir zu geben».[101]

Die beiden ausgeschriebenen Widmungszeilen sind eine solche «öffentlichkeitsfähige» Maske, die es Thomas erlaubt, seinen Wunsch nach Nähe und Berührung diskret und mit zahlreichen Rückzugsmöglichkeiten «von sich zu geben». Die Widmung zeigt damit zugleich die ungeheure Anspannung, unter der er gestanden haben muss: das Schwanken zwischen dem Wunsch, von seiner Liebe zu sprechen, und die Angst vor den möglicherweise existenzvernichtenden Folgen dieses Wunsches.

Es ist ein vertrautes Gefühl, für ihn und für viele gleichgeschlechtlich liebende Männer.

4.Jugendjahre eines Schriftstellers, oder: Der Schock, ein anderer zu sein

Gut dreißig Jahre bevor Thomas und Paul sich in München kennenlernen, tritt im Herzen der Stadt ein Mann auf, der wohl zu den mutigsten Menschen des 19. Jahrhunderts gehört: Karl Heinrich Ulrichs, 42 Jahre alt, ehemaliger Gerichtsassessor des Königreichs Hannover.[102]

Auch er kennt die innere Zerrissenheit zwischen Sprechen wollen und Schweigen müssen, zwischen dem Wunsch, seine Liebe zu offenbaren, und dem Zwang, sie zu tarnen. Doch anders als Thomas Mann später wählt er den Weg einer radikalen Offenheit. Ulrichs macht die bislang schamvoll beschwiegene Liebe der Gleichgeschlechtlichen sichtbar, wird zu ihrem ersten Vorkämpfer und fordert eine peinlich berührte Öffentlichkeit zu Debatten heraus – auf spektakulärste Weise bei einem Auftritt in München am Morgen des 29. August 1867.[103]

An diesem sonnigen Vormittag tritt Ulrichs an das Rednerpult des Odeon, dem großen klassizistischen Konzertsaal im Zentrum der Stadt. In dem weiten, von Säulen flankierten Raum blickt er auf über 500 Anwälte, Richter und Rechtsgelehrte, versammelt zum Sechsten Deutschen Juristentag. Sie wollen einheitliche Gesetze für den neuen deutschen Nationalstaat schaffen, dessen Gründung sich in diesen Jahren abzeichnet. Doch der Vorschlag, den Ulrichs ihnen nun präsentiert, ist für die meisten Zuhörer ein empörender Angriff auf Moral, Sitte und ihr Verständnis von Männlichkeit.[104]

Denn der Mann mit der hohen Stirn und dem langen Kinnbart fordert die Abschaffung der «Sodomiegesetze» (so genannt nach der kanaanitischen Stadt Sodom, laut der biblischen Überlieferung ein Ort unaussprechlicher Laster). Diese Gesetze stellen in Preußen, Sachsen und mehreren anderen deutschen Staaten Sex zwischen Männern unter Strafe.[105]

In flammenden Worten klagt Ulrichs die «Verfolgung einer […] auch in Deutschland nach tausenden zählende Menschenclasse» an, der «viele der größten und edelsten Geister unsrer so wie fremder Nationen angehört haben». Einer Gruppe, die «aus keinem andren Grunde einer strafrechtlichen Verfolgung, einer unverdienten, ausgesetzt ist, als weil die räthselhaft waltende schaffende Natur ihr eine Geschlechtsnatur eingepflanzt hat, welche der allgemeinen gewöhnlichen entgegengesetzt ist».[106]

Die letzten Worte spricht Ulrichs schon in einen gewaltigen Tumult hinein. «Schluß! Schluß!» rufen viele der Juristen, manche sogar «Kreuzige!». Einige aber werden neugierig und fordern: «Fortfahren!» Andere sind verwirrt und haben noch gar nicht verstanden, um welche «Menschenclasse» es geht. Der Präsident der Versammlung weist den Redner an, angesichts des offenbar heiklen Themas auf Latein weiterzusprechen. Aber das Geschrei im Saal hört nicht auf, Ulrichs kann seine Rede nicht zu Ende bringen, erschöpft verlässt er das Pult.[107]

«Aber, mein Gott!», sagt nach dem Eklat einer der Teilnehmer. «Der Antragsteller setzt sich ja dem größesten Verdacht aus, selber so zu sein!»[108]

Zu diesem Zeitpunkt weiß Ulrichs schon seit mehr als zwanzig Jahren, dass er «selber so» ist. Bereits beim Jurastudium in Göttingen hatte er sich in junge Männer verliebt. Seitdem hat er viele juristische und wissenschaftliche Schriften über das sexuelle Begehren zwischen Männern gelesen und daraus eine eigene Theorie der Homosexualität entwickelt, genauer: des «Uranismus» – so das von ihm erfundene Wort für die gleichgeschlechtliche Liebe (nach der Aphrodite Urania, die dem Mythos zufolge aus dem abgetrennten Geschlechtsteil ihres Vaters, des Gottes Uranos entstanden ist).[109]