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Herr Freytag befürchtet, "nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben", und wird ausgerechnet in einem Schrank geheilt. Einem Lokomotivführer kommen die Gefühle abhanden und erst, als er auf rasende Züge starrt, wird im klar, weshalb. Herr Bühler schläft neuerdings im Stehen, und ein anderer Patient überhaupt nicht mehr.
Christof Kessler erzählt äußerst unterhaltsam und lehrreich von Menschen, deren Leben plötzlich auf den Kopf gestellt scheint und die erkennen müssen, dass es nicht die Welt, sondern das eigene Ich ist, das sich verändert hat.
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Seitenzahl: 336
Christof Kessler, Jahrgang 1950, ist Spezialist für Hirnerkrankungen. Sein beruflicher Weg führte ihn nach Gießen, Berlin, Heidelberg, Köln und Lübeck. Seit 1992 ist er Professor für Neurologie und seit 1994 Direktor der Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Sein Interesse gilt einer praktisch ausgerichteten, patientenorientierten Neurologie. Er organisierte Veranstaltungen zum Thema Neurologie und Literatur und war wissenschaftlicher Berater bei der szenischen Umsetzung der Opernadaption von Oliver Sacks‘ »Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte«.
CHRISTOF KESSLER
MÄNNER,DIE INSCHRÄNKENSITZEN
Panik, Zwangund andere Störungen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Durch die tägliche klinische Arbeit wird der Neurologe mit einer Vielzahl unterschiedlicher Krankheiten konfrontiert und sieht die tiefen Einschnitte, die die Erkrankungen in den Biographien der Betroffenen hinterlassen. Da die Krankheitsverläufe und die Schicksale trotz aller Unterschiedlichkeiten häufig sehr ähnlich sind, mag es vorkommen, dass der eine oder andere Leser sich in einer der Figuren wiederzuerkennen glaubt. Dies wäre aber purer Zufall. Denn alle Geschichten könnten sich zwar auf die beschriebene Weise zugetragen haben und basieren auf den Erfahrungen des neurologisch Praktizierenden. Sie sind aber samt den handelnden Personen komplett erfunden.
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Matthias Auer
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-1327-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In der im September 2013 erschienenen Fallsammlung »Wahn« schilderte ich in zwölf Storys Schicksale von Menschen mit neurologischen Krankheitsbildern. Das Spektrum reichte vom Schlaganfall über die Multiple Sklerose bis zum Hirntumor. Im vorliegenden zweiten Buch »Männer, die in Schränken sitzen« verlasse ich zum Teil das Gebiet der reinen Neurologie und widme mich der Schnittstelle zwischen neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbildern. Das Gehirn hat nämlich nicht nur die Aufgabe, die Sinneseindrücke aufzunehmen und unsere Motorik zu steuern, es ist auch Sitz unseres Bewusstseins, mithin also das Organ, mit dem wir denken, fühlen und mit unserer Umgebung interagieren.
Eine ganze Reihe von Erkrankungen gehört sowohl zum Fachgebiet der Neurologie als auch zu dem der Psychiatrie, wobei hier besonders zwei Gruppen von Patienten dominant sind: zum einen diejenigen mit »somatoformen Störungen«, zu denen Spannungskopfschmerz, Schwindelzustände, das Erschöpfungs- oder auch Fatigue-Syndrom, chronische Rückenschmerzen sowie der nichtkardiale Herzschmerz gezählt werden; zum anderen die Patienten mit Neurosen, die häufig körperliche Symptome ohne eine organische Ursache haben. Diese Patienten kommen, wie das Beispiel von Bernd Freytag in der titelgebenden Geschichte »Der Mann im Schrank« zeigt, zunächst mit Verdacht auf eine Hirnerkrankung in die neurologische Notaufnahme, und dem Neurologen obliegt es dann, eine körperliche Ursache der Symptomatik auszuschließen. Hinter einem chronischen Schwindel oder chronischen Kopfschmerzen kann sich schließlich ein Hirntumor verbergen, und chronische Rückenschmerzen können durch entsprechende Bandscheibenschäden verursacht werden.
Mit meinem Buch möchte ich Sie unterhalten – sowie auch immer wieder auf die höchst emotionale Seite meiner beruflichen Tätigkeit hinweisen (wie in »Wasserkopf« oder »MRSA«) – und gleichzeitig auf kurzweilige Art Ihr Wissen über das geheimnisvolle Organ Gehirn vermehren. Aus diesem Grund werden authentische Krankengeschichten als spannende Storys erzählt, allerdings ohne die medizinischen Tatsachen zu verändern. Die Verfolgungsjagd auf der Autobahn in »Wasserkopf« hat also beispielsweise in dieser Form nicht stattgefunden, und die Hühnerfarmen haben nicht wie in »MRSA« gebrannt. Der gleichsam »medizinische Kern« der Geschichten aber entspricht der Wirklichkeit.
Durch die Fußnoten und Anmerkungen habe ich den Storys zusätzliche Informationen hinzugefügt, damit Sie sich über die spannende Unterhaltung hinaus gleichzeitig auch ganz sachlich über die Funktion des Gehirns und medizinische Aspekte informieren können.
Christof Kessler
Andreas Weinheimer drehte den Kopf zur Seite und blickte auf die Leuchtziffern des Weckers. Es war vier Uhr in der Früh. Warum nur hatte er immer diese schrecklichen Albträume? Wieder hatte er sich wie in einem Fieberdelirium die ganze Nacht hin und her gewälzt und war schweißgebadet aufgewacht. Die Morgendämmerung drang bereits durch die Lamellen des Rollos, und die Konturen des Schranks, seines Sekretärs und der alten Truhe traten allmählich aus dem Dunkel hervor. Er hatte Angst, sich noch einmal der Traumwelt auszuliefern, die übersät war von zerstückelten Menschenleibern und in der literweise Blut floss.
Andreas spürte Claudias kühle Hand auf der Wange. »Du Ärmster, komm, ich mach dir Milch mit Honig.«
Sie stand auf und ging die Treppe hinunter in die Küche. Die Geduldige, die Opferbereite. Als im Flur das Licht anging, sah er ihren birnenförmigen Hintern, sie hatte nur ein T-Shirt an. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ihn dieser Anblick erregt, schlagartig hätte er nur an das Eine denken können und ihre Nähe gesucht. Seit einiger Zeit aber kam Sex in seiner Gedankenwelt immer weniger vor, und das Gefühl, sexuell stimulierbar zu sein, war ihm vollkommen abhandengekommen.
Dann brachte ihm Claudia die Milch ans Bett, die er in kleinen Schlucken trank. Die Süße des Honigs nahm ihm den herben Geschmack der Tablette. Zwar war es nur Zolpidem1, ein unbedenkliches Schlafmittel, wie sein Hausarzt sagte, aber trotzdem hatte er immer wieder aufs Neue Mühe, es runterzubekommen. Die Tablette blieb regelmäßig gallebitter am Gaumen kleben, sodass er die ganze Nacht über einen Brechreiz verspürte. Da war die warme Honigmilch gerade richtig.
Langsam beruhigte er sich und schlief wieder ein. Im Traum rannte er an einer Reihe parkender Pkw entlang. Schon sah er das Heck seines eigenen Wagens, als sich der Regen mit unerwarteter Gewalt über ihn ergoss. Die Tropfen waren klebrig und rot, sie nahmen ihm die Sicht, sodass er über das Gesicht wischen musste, um sein Fahrzeug im Blick zu behalten. Von den Innenflächen seiner Hände tropfte es ebenfalls rot, wie Blut, als hätte er in den geöffneten Kadaver eines ausgeweideten Tieres gefasst.
Als er endlich im Wagen saß, hörte er seinen gehetzten Atem. Er stellte die Scheibenwischer an, damit die grellroten Blutstropfen von der Frontscheibe gewischt wurden und er endlich losfahren konnte.
Der Wecker schnarrte, es war sechs Uhr fünfzehn. Er klammerte sich an Claudia. »Wieder so ein fürchterlicher Traum, ich kann nicht mehr«, keuchte er. Er hielt die blassen Hände in das Licht der Nachttischlampe: nur abgenagte Nägel, kein Blut, kein Gedärm. Das Auf und Ab der Wischerblätter jedoch, die abwechselnd breite und feine rote Schlieren wie einen Barcode auf die Scheibe malten – dieses Bild wurde er auch jetzt nicht los.
Andreas und Claudia Weinheimer besaßen ein kleines Reihenhaus am Rande der Stadt. Zu DDR-Zeiten nannte man diese Eigenheime mit Garage im Erdgeschoss und einer hohen Treppe zum Hauseingang im ersten Stock »Neckermannhäuser«. Sie wurden von einer westdeutschen Firma für Funktionäre des nahe gelegenen Kernkraftwerks gebaut, die sowohl über gute Beziehungen als auch genügend Devisen verfügten. Damals hatte Andreas Weinheimer oft staunend und voller Ehrfurcht vor diesen Häusern gestanden und die Bonzen, die darin wohnten, bewundert.
Nach der Wende konnte er eines der Endhäuser preiswert erwerben und in mühsamer Eigenarbeit schrittweise renovieren. Zuletzt baute er noch einen Wintergarten an. Hier, zwischen den liebevoll gepflegten Palmen und Kakteen, saß er dann nach Feierabend am liebsten auf seinem rötlich-braunen Rattan-Sessel und beobachtete den Abendhimmel, wie die Wolken sich rosarot färbten, als hätte jemand einen Topf Farbe ausgekippt. Er sah schnatternde Wildgänse über sich hinwegfliegen oder eine Formation riesiger Kraniche sich für den Flug nach Süden sammeln.
Seit geraumer Zeit jedoch hatte er die Freude an diesem grandiosen Schauspiel verloren. Ganz plötzlich war sie von ihm gewichen – wie nach einem Kurzschluss alle Lichter ausgehen und die Bewohner gezwungen sind, sich mühsam im Halbdunkel zu orientieren. Er konnte sich nur noch entfernt daran erinnern, wie es sich anfühlte, etwas zu genießen oder sich über etwas zu freuen. Daran zum Beispiel, wie er letztes Jahr eines Morgens in den Wintergarten getreten war und an dem kleinen, vor sich hin darbenden Kaktus, den er schon längst hatte entsorgen wollen, auf einmal eine wunderschöne feuerrote Blüte entdeckte. Als Claudia dann auch noch feststellte, dass die Blüte wohl ein Geschenk der Pflanze zu ihrem »Kennenlern-Tag« vor siebenundzwanzig Jahren sein müsse, hatte er gerührt ihren weichen schönen Körper umfasst und ein wohliges Glücksgefühl empfunden.
Dazu wäre er heute nicht mehr in der Lage, die Freude an den kleinen Dingen war erloschen. Ist es das Älterwerden, fragte er sich oft. Oder der Beruf? Als Zugführer bei der Deutschen Bahn kam er viel herum. München, Köln, Frankfurt, überall blieb er nur eine Nacht, mindestens viermal in der Woche schlief er in einem Hotelbett. Rezeption, Minibar, Zappen durch das Fernsehprogramm – es war immer das Gleiche: Monotonie und Routine gepaart mit der Sehnsucht nach seinem Haus und einem friedlicheren Dasein.
Erst letzte Woche war er von einer längeren Dienstfahrt nach Hause gekommen. Claudia hatte ihn bei der Begrüßung besorgt angesehen und gefragt: »Du siehst erschöpft aus, fühlst du dich krank?«
Unsinn, ihm gehe es so wie immer, war seine barsche Antwort gewesen. Trotzdem saß er wenig später erschöpft und ausgelaugt vor dem Flachbildschirm und versuchte sich auf das Länderspiel Deutschland gegen Kamerun zu konzentrieren, den letzten Test vor der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien.
»Da stehen sie herum, die Herren Millionäre, als wäre längst schon Feierabend!«, kommentierte er. Neuerdings wechselte seine Stimmung unvermittelt und übergangslos von tiefster Traurigkeit in den Zustand schlimmster Gereiztheit.
Tatsächlich wurden die deutschen Spieler von den wieselflinken Kamerunern ein ums andere Mal umlaufen. Und bei jedem Rückpass eines deutschen Spielers rastete er aus.
»Vorwärts«, rief er, »ist das die Möglichkeit! Leute, Fußball ist ein Laufsport.«
»Reg dich bitte nicht so auf, Andi«, versuchte ihn Claudia zu beruhigen, die sich das Bügelbrett in den Wintergarten gestellt hatte und die kleinen weißen Gästehandtücher bügelte. Besorgt schaute sie ihren Mann an. Längst war er nicht mehr der ruhige und ausgeglichene Mensch, den sie all die Jahre gekannt hatte. Häufig saß er nun völlig apathisch in seinem Sessel, nur um stundenlang vor sich hinzustarren, kaum noch auf sie reagierend. Und dann wieder war er plötzlich böse und aggressiv, ohne dafür einen ersichtlichen Grund zu haben.
Burnout2, dachte sie. Sie hatte sich im Internet informiert, die Symptome passten: die Veränderung seines Wesens, das Fehlen jeglicher Lebensfreude und die Gefühlsarmut, die ihr entgegenschlug wie ein eisiger Wind. Aber wenn sie versuchte mit ihm darüber zu sprechen oder ihn dazu zu bewegen, einen Arzt aufzusuchen, erzeugte das nur erneute Wutanfälle bei ihm und vergiftete die wenigen gemeinsamen Stunden ganz und gar.
Seine Ausbrüche fürchtete sie ganz besonders. Banalitäten machten ihn vom einen auf den anderen Moment so wütend, als wäre er von einer Hornisse gestochen worden. Zuletzt war er sogar außerstande gewesen, sich im Fernsehen die Nachrichten anzusehen. Allein schon das Auftreten von Wladimir Putin, Angela Merkel oder Barack Obama lösten schlimmste cholerische Anfälle aus, beim Betrachten der Günther-Jauch-Diskussionsrunde oder von Anne Wills Talkshow konnte ihn ein unkontrollierter Furor erfassen, ganz so, als würden die Streitgespräche über die Ukraine oder die Autobahnmaut ihn persönlich betreffen.
»Unausgeglichen« nannte ihn Claudia in diesen Momenten, und das war noch eine sehr beschönigende Bezeichnung für das, was sie in den letzten Monaten über sich hatte ergehen lassen müssen …
Während Claudia dann in die Küche gegangen war, um sich um das Geschirr zu kümmern, erregte der Spielverlauf Andreas zunehmend. Gegen Mitte der zweiten Halbzeit verspürte er im Stirnbereich, exakt zwischen den Augenbrauen, urplötzlich ein Stechen, das sich wellenförmig und hämmernd über den gesamten Schädel ausbreitete. Es war so, als hätte er einen zu engen Stahlhelm an, der tonnenschwer auf seinem Kopf lastete. Dazu drehte sich auf einmal die Welt um ihn herum: das Wohnzimmer samt Terrassentür, die große Yucca-Palme und das Regal mit der Kakteen-Sammlung gerieten in karussellartige Bewegung. Wie wenn man beim Walzertanzen abrupt stehenbleibt und der Raum sich weiterdreht!
Er krallte sich an die Lehne des Sessels. Ihm wurde übel. Und wenn er die Augen schloss, wurde es noch schlimmer.
Andreas versuchte aufzustehen, fiel lang auf den Boden hin und rief: »Claudia, du musst mir helfen. Ich muss auf die Toilette. Alles dreht sich.« Erschrocken stürzte Claudia aus der Küche. Sie fasste ihm unter die Arme und richtete ihn auf. Er schwankte.
Um sein Gleichgewicht zu stabilisieren, starrte er auf die roten Tupfen des Klatschmohnfeldes auf dem gerahmten Poster über der Couch. Als er sie fokussierte, vergrößerten sie sich und wuchsen zu großen Ketchup-Flecken heran. Vor dem weißen Hintergrund sahen sie aus wie Blutlachen im Schnee.
Mit Claudias Hilfe erreichte er schließlich das Badezimmer. Dort beugte er sich über das Klobecken und erbrach schwallartig die Landjäger und das Bier vom Abendbrot. Ihm war noch immer elend zumute, und er krümmte sich zusammen. Seine Umgebung nahm er wie durch eine Milchglasscheibe wahr, alles weit weg, gedämpft und fremdartig.
Claudia öffnete das Badezimmerfenster: »Du brauchst Sauerstoff, komm, steh auf und schnapp etwas frische Luft!«
Mit letzter Kraft stand er auf, wischte sich das Gesicht ab und drückte sich einen Zentimeter Colgate in den Mund, um den säuerlichen Geschmack des Erbrochenen loszuwerden. Dann folgte er Claudia zur weit geöffneten Tür des Wintergartens. In tiefen Zügen atmete er die kühle Luft ein, das Drehen des Raumes wurde langsam erträglicher.
Er setzte sich in einen Plastiksessel und schaute in Richtung Ostseezentrum. In diesem Moment bemerkte er, dass seine Hände nicht mehr funktionierten, er konnte seine Hände nicht mehr zur Faust ballen, sie muteten gefühllos an, als gehörten sie nicht mehr zu ihm, als wären sie abgestorbene Anhängsel, die er nicht mehr steuern konnte.
Das ist das Ende, schoss es ihm durch den Kopf.
»Ich spüre meine Arme nicht mehr«, stammelte er. »Sie kribbeln und sind ganz gefühllos, wie tot.«
»Andi, ich rufe jetzt den Notarzt, ich mache mir ernsthaft Sorgen.«
Erst neulich hatte sie im Fernsehen einen Gesundheitsratgeber gesehen: Lähmungen, Empfindungsstörungen oder Sprachstörungen, hatte es dort geheißen, könnten Symptome eines Schlaganfalls3 sein, bei denen man dringend einen Notarzt rufen solle.
»Quatsch, das wird schon wieder«, erwiderte er, ohne seinen Worten Glauben zu schenken. »Ich gehe jetzt erst mal ins Bett.«
Doch Claudia hatte das Telefon schon in der Hand: »Du hast einen Schlaganfall, du gehörst in ein Krankenhaus!«
Es war Montagmorgen und der Konferenzraum abgedunkelt, damit wir die an die Wand gebeamten radiologischen Aufnahmen gut erkennen konnten. Wie so oft zu Wochenanfang herrschte eine schläfrige, fast schon erschöpfte Stimmung. Über das Wochenende waren viele Patienten aufgenommen worden – vierzehn an der Zahl. Es war Sommer, und die Touristen auf Rügen und Usedom mussten von uns mitversorgt werden. Auch sie wurden im Urlaub krank, erlitten Schlaganfälle, Migräneattacken oder Bandscheibenvorfälle. Wir besprachen in der Morgenkonferenz jeden Patienten einzeln, der neu aufgenommen worden war. Das konnte dauern, vor allem am Montagmorgen.
Das Ritual lief immer gleich ab: Ich rief den Namen der Neuaufnahme auf, und der zuständige Arzt schilderte die Symptome des Patienten.
Zwischenzeitlich war es schon neun Uhr dreißig, und in einer halben Stunde begannen die Sprechstunden der Oberärzte. Die noch offenen Vorstellungen mussten also knapp behandelt werden.
»Der Patient hatte sich gerade zwei Spiegeleier in die Pfanne gehauen …«, begann einer der Ärzte mit der Schilderung einer Krankengeschichte.
»Fassen Sie sich bitte kurz«, warf ich streng ein. »Wir müssen zu einem Ende kommen.«
Der junge Arzt mit verwegenem Dreitagebart und Beatnik-Frisur sah mich verunsichert an, dann machte er mit dem rechten Arm eine entschlossene Bewegung, als würde er mit einer Lanze zustechen, und sagte: »Jedenfalls, als er die beiden Spiegeleier essen wollte, bemerkte er Schwindel, Doppelbilder und konnte plötzlich nicht mehr sprechen. Seine Frau hat dann den Notarzt verständigt …«
Der Rest war Routine, man führte eine Computertomographie durch, untersuchte außerdem mit Ultraschall die Halsarterien, um zu sehen, ob eine der lebenswichtigen Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen, von einem Gerinnsel verstopft wurde. Bisher waren indes alle Befunde normal.
Anschließend wurde der nächste Patient besprochen: »Aufgenommen haben wir auch Andreas Weinheimer, zweiundfünfzig Jahre alt, Bundesbahnbeamter mit Verdacht auf einen Schlaganfall. Akut auftretende Symptome von Kopfschmerzen, Drehschwindel mit Erbrechen und sensiblen Störungen in beiden Armen«, berichtete die diensthabende Ärztin, die trotz einer anstrengenden Schicht, bei der sie garantiert nicht eine Minute die Augen zugemacht hatte, perfekt geschminkt mit akkuratem Lidstrich vor uns saß.
»Beidseitige Sensibilitätsstörung?«, fragte ich. »Das klingt eher nicht nach einer Schlaganfallsymptomatik.«
Bei Schlaganfällen tritt in der Regel eine Halbseitensymptomatik auf. In Folge der Minderdurchblutung einer Hirnhälfte sind in der gegenüberliegenden Körperhälfte Gesicht, Arm oder Bein gelähmt beziehungsweise das Empfinden gestört. Die Ausnahme von dieser Faustregel ist ein Schlaganfall im Bereich des Übergangs zwischen Großhirn und Rückenmark, des sogenannten Hirnstamms. In diesem Teil des Gehirns liegen die Leitungsbahnen beider Hirnhälften sehr eng beieinander und werden gemeinsam von einer einzelnen Arterie, der Basilararterie, mit Blut versorgt. Bei einem Verschluss dieser wichtigen Arterie können beidseitige Lähmungen oder Sensibilitätsstörungen auftreten.
»Gibt es Hinweise auf einen Hirnstamminsult4?«, fragte ich Dr. Schröder, den diensthabenden Oberarzt, einen hageren Mann mit scharfen Gesichtszügen, der aber um die Augen herum Lachfalten hatte und aktuell für einen Iron Man in Norwegen trainierte. Bisher hatte er wie geistesabwesend dagesessen und sich an den Gesprächen nicht beteiligt, obwohl er Andreas Weinheimer nachts persönlich untersucht hatte. Stattdessen starrte er die ganze Zeit versonnen den Kaffeefleck auf der Platte des Konferenztisches an. Vermutlich war er hundemüde.
»Nein«, sagte er, ohne von der Tischplatte aufzublicken. »Keine weitere Symptomatik. Als der Patient bei uns eintraf, war der klinische Befund normal. Wir haben außerdem die Halsarterien mit dem Ultraschall untersucht, auch hierbei fand sich nichts Verdächtiges, vor allem war die Basilararterie frei durchgängig.«
Dann schaute er plötzlich doch hoch und deutete auf die Leinwand. »Die Magnettomographie ist ebenfalls normal, kein Hinweis auf einen Schlaganfall. Ich glaube, dass es tatsächlich etwas anderes gewesen sein muss.«
»Und was kommt Ihrer Meinung nach in Frage?«, wollte ich wissen.
»Es kann ein Morbus Menière gewesen sein.« Er knetete seinen Unterarm, als wollte er mir signalisieren: »Jetzt haben wir aber genug über Andreas Weinheimer gesprochen.«
Morbus ist das lateinische Wort für Krankheit, danach folgt häufig der Name jenes Arztes, der die Krankheit als Erster beschrieben hat. Der Pariser Mediziner Prosper Menière hatte 1861 ein Syndrom von anfallartigem Schwindel mit Hörstörung und Erbrechen beschrieben und es als Symptomatik des im Innenohr gelegenen Gleichgewichtsorgans erkannt.
»Ich glaube nicht, dass es ein Menière war. Kein Ohrgeräusch, die Symptomatik war nicht heftig genug, dann die Kopfschmerzen …«, meinte daraufhin Frau Dr. Husenke, eine der älteren, selbstbewussten und erfahrenen Oberärztinnen, die sich für alle Krankheiten interessierte, bei denen Patienten ein Drehen, Rotieren oder Wackeln verspürten, und die für die Schwindelsprechstunde zuständig war.
Ich schaute auf die MRT-Bilder des Patienten, die an die Wand projiziert wurden.
»Ein Schlaganfall ist unwahrscheinlich. Normales MRT, normaler Ultraschall, die Symptomatik ist völlig untypisch.«
»Was war es dann?«, fragte Dr. Husenke nachdenklich.
Wir beschlossen, eine ausführliche Diagnostik zu machen. Vor allem wollten wir eine transitorische ischämische Attacke, kurz TIA5, ausschließen. Dabei handelt es sich um Vorboten eines Schlaganfalls, bei denen Schlaganfall-Symptome nur kurzzeitig auftreten und von allein wieder verschwinden. Wenn eine wichtige Hirnarterie durch ein Gerinnsel verstopft wird, bemerkt der Patient eine entsprechende Symptomatik: Lähmungserscheinungen, Empfindungs- oder Sprachstörungen. Manchmal auch Schwindel. Das Gerinnsel kann sich dann aber von alleine wieder auflösen, sodass sich die akute Symptomatik nicht mehr manifestiert. Die Patienten sind nach einer solchen TIA zwar beschwerdefrei und fühlen sich wohl; sie sind allerdings weiterhin stark gefährdet, doch noch einen Schlaganfall mit bleibender Behinderung zu erleiden.
Also wurde bei Andreas Weinheimer das TIA-Programm durchgeführt. Dieses beinhaltet unter anderem eine sorgfältige Untersuchung des Herzens. Im Herzen können sich Gerinnsel bilden, die sich bei einem unregelmäßigen Herzschlag ablösen und ins Gehirn verschleppt werden. Besonders gefährlich ist das Vorhofflimmern6, bei dem das Herz unkontrolliert zu schlagen beginnt.
Ein Herzspezialist untersuchte also Weinheimers Herz mit einem Echogerät, aber es war alles normal. Dann hängten wir dem Patienten einen Recorder um, mit dem die Herzaktion vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen aufgezeichnet wurde. Es war kein Vorhofflimmern zu entdecken. Auch sämtliche anderen Untersuchungen brachten kein fassbares Ergebnis für die Symptomatik, mit der sich der Patient in seinem Wintergarten inmitten all der Palmen und Kakteen konfrontiert sah.
Während der Visite lernte ich Andreas Weinheimer schließlich persönlich kennen. Sein adrett nach hinten gekämmtes Haar war schon sehr ergraut, genauer gesagt, es war komplett weiß, wie eine gekalkte Wand, völlig depigmentiert. Dieses greisenhafte Haar stand in seltsamem Kontrast zu seiner ansonsten jugendlichen Erscheinung. Markante Gesichtszüge, zwischen Unterlippe und Kinn trug er ein kleines Haarbüschel, das jedoch ebenfalls schlohweiß war. Die muskulösen Arme zeugten von regelmäßigen Besuchen im Fitnessclub. Die Hände hielt er, ähnlich wie die Bundeskanzlerin, vor dem Bauch zu einer Raute gefaltet.
Trotz dieser sportlichen Erscheinung wirkte er allerdings bedrückt und niedergeschlagen. Fragen zur Krankengeschichte beantwortete er einsilbig und abweisend. Ich untersuchte ihn und konnte nur normale Befunde erheben. Symptome eines Schwindels hatte er auch nicht mehr. Ich besprach daraufhin mit dem Stationsarzt eine baldige Entlassung.
Am nächsten Tag jedoch steckte meine Sekretärin Frau Sommer nach der Sprechstunde den Kopf zur Tür herein: »Da ist noch ein Patient, Herr Weinheimer, er möchte Sie unbedingt persönlich sprechen.«
Zerstreut schaute ich von meinen Akten hoch.
»Ich habe ihn doch erst gestern während der Visite gesehen und mit ihm gesprochen.«
Frau Sommer legte mir eine Mappe auf den Schreibtisch. »Offensichtlich nicht ausführlich genug, er besteht darauf, noch einmal mit Ihnen zu sprechen.«
»Also gut, er soll reinkommen.«
In Weinheimers Stirn waren tiefe Sorgenfalten eingegraben. Den Kopf hielt er gebeugt wie bei einer Bußprozession. Ich musterte ihn erwartungsvoll.
Nachdem er sich gesetzt hatte, straffte sich sein Körper, was ihn große Anstrengung zu kosten schien. Als er schließlich kerzengerade wie ein Soldat vor mir saß, sagte er mit bebender Stimme: »Herr Professor, mir geht es schlecht.«
»Aus diesem Grund sind Sie Patient in unserer Klinik. Warum wollten Sie noch einmal gesondert mit mir sprechen? Was kann ich für Sie tun?«
»Ich finde, bei der Visite kam alles nicht deutlich genug rüber«, antwortete er. »Sie müssen mir glauben, dass ich ernsthaft krank bin, auch wenn Ihre junge Ärztin erzählt, ich sei symptomfrei.«
Weinheimer sah mich durchdringend an. »Aber das ist Unsinn, ich habe massive Symptome! Es dreht sich alles in meinem Kopf, außerdem höre ich ein inneres Klappern im Schädel.«
Er drehte den Kopf schnell nach rechts und links.
»Es ist so, als ob mein Gehirn hin und her schwappt, Herr Professor. Wenn ich gehe, merke ich, dass etwas in meinem Kopf nicht in Ordnung ist. Es ist unerträglich!«
»Wir sind dabei, die Ursache Ihrer Beschwerden zu finden. Ich schlage vor, dass wir uns in zwei bis drei Tagen noch einmal unterhalten. Vermutlich sind wir dann schon einen Schritt weiter. Fest steht, dass Sie mit Verdacht auf Schlaganfall bei uns eingeliefert worden sind, den wir ausschließen konnten.«
Andreas Weinheimer machte einen stark niedergedrückten und gehemmten Eindruck. Er wirkte blockiert. Es fehlte etwas, das man vielleicht am besten mit dem Begriff »emotionale Schwingungsfähigkeit« umschreiben kann. Bei einem Gespräch nimmt das Gegenüber in der Regel die feinen Nuancen der Konversation wahr. Es lächelt oder nickt, wenn es etwas bekräftigen, Zustimmung oder Aufmerksamkeit signalisieren möchte. Und in seiner Mimik spiegeln sich Unsicherheit, Vorsicht oder Distanz, wenn es zweifelt oder ängstlich ist. Weinheimer hingegen war zwar höflich und korrekt, wirkte im Gespräch jedoch so, als wären ihm die Gefühle vollkommen abhandengekommen. In seinem Gesicht tat sich gar nichts, während wir sprachen, es wirkte wie eine Maske.
Mir saß ein schwer depressiver Mensch gegenüber.
Konkrete Fragen nach seiner Lebenssituation beantwortete er knapp und sachlich: Bahnbeamter von Beruf, verheiratet seit fast fünfundzwanzig Jahren, ein Sohn, der in Wismar Ingenieurswissenschaften studierte.
Als ich fragte: »Wie ist Ihre Ehe?«, antwortete er knapp: »Gut.«
Auf die Frage, ob es Probleme am Arbeitsplatz gebe, erwiderte er: »Nein, überhaupt nicht.«
Dann jedoch fiel die distanzierte Haltung plötzlich wieder von ihm ab, als würde er einen zu engen Anzug ablegen, um es sich endlich gemütlich zu machen.
»Sie müssen mir helfen, mein Leben läuft aus dem Ruder«, flüsterte er mir zu. Er nahm einen Kugelschreiber vom Tisch und zeichnete auf das Blatt vor ihm Spiralen. Erst wollte ich ihn daran hindern, da es sich um eine Krankenakte handelte. Dann aber ließ ich ihn gewähren und betrachtete das Gekrakel.
»Sie zeichnen Labyrinthe«, sagte ich. »Befinden Sie sich aktuell vielleicht in einer schwierigen Situation?«
Da brach bei ihm der Damm. Er legte den Stift beiseite und klagte: »Ich kann kein normales Leben führen. Ich träume die schrecklichsten Dinge.«
Er streckte mir die Hände mit den Handflächen nach oben entgegen. »In meinen Träumen sind diese Hände voller Blut. Dabei habe ich nie etwas mit Blut zu tun gehabt.«
Als Neurologe war ich mit einer solchen Situation durchaus vertraut: Der Patient hatte keinerlei körperliche Symptome, seine Beschwerden rührten eindeutig von einem seelischen Konflikt her.
In der Neurologie kommt das nicht selten vor. Einer unserer Doktoranden hatte dieses Phänomen gesondert untersucht und festgestellt, dass rund zehn Prozent der Patienten einer neurologischen Klinik kein organisches, sondern ein psychisches Problem haben. Obwohl sie unter Symptomen wie Lähmungen oder Schwindelanfällen leiden, kann ihnen oft nur ein geschulter Psychotherapeut helfen.
So gab ich auf die Station durch, dass bei Andreas Weinheimer noch ein ausführlicher Termin bei unserem Psychologen nötig sei, da Verdacht auf eine dissoziative Störung7 bestehe.
Abschließend einigte ich mich mit ihm auf ein erneutes Gespräch kurz vor seiner Entlassung.
Doch bevor er ging, fragte ich noch: »Was machen Sie eigentlich bei der Bundesbahn?«
Er wandte sich in der Tür zu mir um. »Lokführer. Ich fahre einen ICE.«
Selbst als Andreas Weinheimer längst mein Arbeitszimmer verlassen hatte, hing noch die Aura von Traurigkeit und emotionaler Leere im Raum, als hätte man eine Tiefkühltruhe geöffnet.
Ich saß nachdenklich in meinem Sessel, und schaute aus dem Fenster auf einen der Innenhöfe des Klinikums. Draußen beschnitten gerade ein paar Gärtner ihre Pflanzen, im Fenster gegenüber lackierte Frau Halse, die Sekretärin der Augenklinik, ihre Fingernägel. Im Wartebereich der radiologischen Abteilung sah ich Andreas Weinheimer auf seine MRT-Untersuchung warten, die zu Kontrollzwecken wiederholt werden sollte. Er saß auf einem Stuhl und fixierte einen Punkt gegenüber an der Wand. Während andere Patienten sich mit Zeitungslektüre oder Unterhaltungen die Zeit vertrieben, saß Weinheimer bewegungslos auf der rötlichen Plastikbank, wie aus Holz geschnitzt.
Ich rief unseren Psychologen, Herrn Kowalski, an und schilderte ihm den Fall. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob die Beschwerden eine organische oder eine psychische Ursache hatten, hielt ich es nach dem heutigen Gespräch für wahrscheinlich, dass die tiefe Traurigkeit, die von ihm ausging, Ursache seiner Krankheit war.
Kowalski versprach, dem Patienten auf den Zahn zu fühlen.
Dann setzte ich mich an den Computer und tippte in eine Suchmaschine den Begriff »Lokführer« ein. Ich fand zunächst Informationen der Bundesbahn über das Berufsbild des Zugführers, ferner konnte ich mir auf Youtube einen Film anschauen, der das Leben eines Lokführers schilderte: Sie waren viel unterwegs, übernachteten häufig in bahnhofsnahen Hotels, morgens ging es dann wieder zurück an den Ausgangsort, und das alles mehrmals in der Woche. Nicht gerade ein Traumjob, wenn man mich fragte.
Dann stieß ich auf einen Artikel in der TAZ vom 13. 11. 2009 mit dem Titel: »Das Leiden der Lokführer«. Die Unterzeile lautete: »Tausend Menschen begehen pro Jahr Selbstmord auf den Gleisen – ein Münchner Lokführer erzählt.« Jeder Lokführer überrolle, rein statistisch gesehen, im Laufe seines Lebens drei Selbstmörder, erfuhr ich. In dem klugen Artikel wurde das Schicksal eines Lokführers geschildert, der an solch einem schrecklichen Erlebnis zerbrochen war und unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt.
Ich wusste, dass die posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS8, in Folge traumatischer Erlebnisse wie Vergewaltigung, einem Angriff auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, einem Terroranschlag oder Naturkatastrophen auftreten kann. Die belastenden Gedanken oder Erinnerungen, die mit dem Ereignis verknüpft sind, führen häufig zu Albträumen und körperlichen Symptomen wie Lähmungen oder Schwindel. In dem Artikel wurden auch Erinnerungslücken als Symptom einer PTBS beschrieben.
Ich erinnerte mich an einen Vortrag von Dr. Kauert, einem erfahrenen Wissenschaftler unserer psychiatrischen Klinik. Er hatte über psychologische Untersuchungen bei ehemaligen Flakhelfern gesprochen, die das Hitler-Regime bis zuletzt, als die Russen bereits vor Berlin standen, zu verteidigen hatten. Die inzwischen alten Männer konnten nur sehr wenig über ihren damaligen Einsatz berichten. An ihre Angst, die Gräuel und das Leid, das sie zweifellos erfahren hatten, vermochten sie sich gar nicht zu erinnern, als wäre ein Delete-Knopf gedrückt und der Inhalt der Festplatte zur neuen Benutzung gelöscht worden.
Als ich später bei einem Essen meinen Schwiegereltern von diesem Vortrag erzählte, versteinerten die Gesichtszüge meines mittlerweile achtzigjährigen Schwiegervaters. Er sah geistesabwesend auf die Schaumkrone seines Biers und sagte: »1945 musste ich als Vierzehnjähriger in Dresden ans Geschütz, dann kam der Feuersturm, wir beobachteten ihn von Pirna aus. Als die Stadt aufgehört hatte zu brennen, wurden wir geholt, wir Pimpfe.« Er schaute mich mit seinem faltig gewordenen Gesicht an, nahm einen Schluck Bier und fuhr fort: »Die verkohlten Leichen mussten wir aus den noch rauchenden Ruinen holen oder von der Straße aufsammeln. Wir haben sie auf Karren gepackt und auf den Elbwiesen gestapelt. Ich dachte, dass ich das schon längst vergessen hätte, aber es holt mich doch immer wieder ein …«
Meine Schwiegermutter war ungehalten: »Was redest du für einen Unsinn? Du weißt doch, du sollst dich nicht aufregen. Komm, iss deine Roulade, und dann gehen wir schlafen.«
Der alte Mann fiel daraufhin in sich zusammen wie ein Gummiball, aus dem die Luft entweicht.
»Ich versuche ja zu vergessen, aber es gelingt mir nicht immer.«
Ich hielt inne. War das vielleicht eine Spur?
Sofort rief ich Dr. Kauert an und fragte ihn, ob es sein könne, dass ein Mensch, der unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, sich nicht mehr an das Ereignis erinnern könne, welches das Trauma ausgelöst habe.
Der Experte bestätigte mir, dass Vergessen und Verdrängen normale Mechanismen der Psyche seien, um mit dem Erlebten fertig zu werden. Die Flakhelfer konnten sich größtenteils nicht mehr an das erlittene Leid und die Gräuel der letzten Kriegstage erinnern. Ähnlich wie bei ihnen kämen auch in Folge der Suizide auf Bahngleisen für die direkt beteiligten Zugführer verschiedene Faktoren zusammen: Zum einen Schuldgefühle und Zweifel. (»Habe ich alles richtig gemacht? Hätte ich den Selbstmord verhindern können?«) Hinzu komme die Wut auf den Selbstmörder, der den Zugführer in sein Unglück mit hineinziehe. Auch dürfe man die Dramatik des Ereignisses nicht vergessen: den Aufprall, die Leichenteile, das Blut. Das Gehirn, schloss Dr. Kauert, würde sich vor der enormen emotionalen Belastung der Erinnerung schützen, indem es das Ereignis aus dem Gedächtnis lösche. Ob endgültig oder nur vorübergehend, sei von Fall zu Fall verschieden.
Ich dankte ihm und legte auf. Nun war ich mir fast sicher.
An seinem Entlassungstag hatte Andreas Weinheimer wie besprochen noch einen Termin in meiner Sprechstunde. Er kam in Begleitung seiner Frau Claudia, die mich freundlich aus tiefblauen Augen anschaute.
»Glauben Sie wirklich, dass es kein Schlaganfall gewesen ist?«, wollte sie wissen. »Ich hätte wetten können, dass es einer war. Andreas hatte sich damals wegen des Fußballspiels so sehr aufgeregt. Völlig grundlos übrigens.«
Sie strahlte mich an. Claudia Weinheimer war eine fröhlich dreinblickende, etwas füllige Blondine. Unwillkürlich erinnerte sie mich an Frau Antje aus Holland in der Fernsehwerbung für niederländischen Käse.
»Deutschland hat trotz seines Gemeckers immerhin zwei zu zwei gespielt, aber das hat Andreas gar nicht mehr mitbekommen …«
Während sie sprach, saß ihr Mann wie bei seinem ersten Besuch auf dem Sessel vor meinem Schreibtisch und war in sich zusammengesunken, mit hängenden Schultern und tiefen Sorgenfalten im Gesicht.
Ich erläuterte den beiden noch einmal, dass sämtliche Untersuchungen normal ausgefallen seien und kein Anhaltspunkt für einen Schlaganfall vorliege. Auch waren inzwischen andere in Frage kommende Möglichkeiten, eine Hirnentzündung oder ein Tumor zum Beispiel, ausgeschlossen worden.
»Organische Ursachen, welche die Symptomatik erklären könnten, sind aus unserer Sicht ausgeschlossen. Deswegen sollten wir nun auch die Möglichkeit berücksichtigen, dass die Beschwerden seelischer Natur sind.«
Frau Weinheimer schaute mich verwundert an. Sie ergriff die Hand ihres Mannes und drückte sie fest.
»Wollen Sie damit sagen, dass die Psyche meines Mannes aus dem Gleichgewicht geraten ist?«, fragte sie verunsichert. Sie knabberte an der Unterlippe. Diese Möglichkeit schien sie offensichtlich bisher nicht in Betracht gezogen zu haben.
»Mein Mann war stets ein Musterbeispiel an seelischer Ausgeglichenheit und Ruhe. Das hat mir an ihm stets gefallen. Seit einiger Zeit jedoch ist er verändert, einerseits abweisend und in sich gekehrt, dann wieder sehr aufbrausend«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Was soll das?«, fragte Andreas Weinheimer plötzlich, wie aus einer tiefen Meditation erwachend. »Das ist doch alles Quatsch! Wenn Ihnen nichts anderes einfällt, als mir eine Macke anzudichten, dann bedanke ich mich. Bei mir ist alles in Ordnung im Oberstübchen, das können Sie mir glauben, sonst könnte ich keinen ICE fahren. Da ist nämlich Power dahinter – zwanzigtausend PS und hundert Tonnen. Die wollen beherrscht werden, und dazu gehört ein kühler Kopf.«
Wie schon während unseres letzten Gesprächs sah er mich dabei durchdringend und beinahe ein wenig drohend an. Anscheinend gefiel ihm nicht, in welche Richtung ich das Gespräch lenkte.
Aufgebracht fuhr er fort: »Das, was Sie hier äußern, befriedigt mich überhaupt nicht. Ich habe massive Beschwerden, ein Schwindelgefühl und dazu das Scheppern, wenn ich gehe. Aber anscheinend kann ich niemandem erklären, wie es mir geht, zumindest versteht mich hier niemand. Ich weiß jetzt auch nicht mehr weiter.«
Er sah hilfesuchend zu seiner Frau Claudia, dann wieder zu mir.
»Sie waren unsere letzte Hoffnung.«
Ich deutete auf den Befund unseres Psychologen: »Hier steht, dass bei Ihnen eine schwere Depression vorliegt, Sie jedoch eine weiterführende psychologische Untersuchung abgelehnt und die Sitzung bei unserem Psychologen abgebrochen haben.«
»Ich habe eben etwas gegen diesen Psychokram«, murmelte Andreas Weinheimer ungehalten. »Die haben auch bei der Bundesbahn so ein Psychologenteam. Doch mich muss niemand betreuen. Ich bin okay, mit den Schwierigkeiten in meinem Beruf komme ich auch allein zurecht.«
Einem Bauchgefühl folgend, beschloss ich, das Ehepaar mit meinen Erkenntnissen über die Traumatisierung von Lokführern durch Selbstmörder zu konfrontieren.
»Ich habe mich über Ihren Beruf informiert. Psychische Belastungen von Lokführern sind gar nicht so selten, nicht nur wegen der großen Verantwortung, die das Fahren der schnellen Züge mit sich bringt, sondern auch …« – ich machte eine Pause – »… auch die Belastung durch schlimme Erlebnisse gehören dazu. Zum Beispiel, wenn sich Menschen vor einen Zug werfen, um Selbstmord zu begehen.«
Weinheimers Gesichtsausdruck blieb unbewegt und starr, nach wie vor hielt er die Hand seiner Frau fest umklammert.
»Ich habe so etwas noch nie erlebt«, sagte er gleichmütig.
Er schaute auf seine Frau und lächelte: »Gott sei Dank.«
»Das heißt, Sie können sich an so ein Ereignis nicht erinnern?«, fragte ich und hielt ihm einen Ausdruck des Artikels hin, den ich im Netz gefunden hatte.
»Hier steht«, fuhr ich fort, »dass statistisch gesehen jeder Lokführer im Laufe seines Berufslebens dreimal die Erfahrung macht, dass sich ein Mensch vor seinen Zug wirft.«
Er schaute mich triumphierend an: »Dann falle ich anscheinend aus der Statistik, von mir ist noch keiner überrollt worden.«
»Das hätte Andreas mir doch erzählt!«, schaltete sich Claudia Weinheimer ein. »Es ergibt doch gar keinen Sinn, wenn man so etwas verheimlicht.« Sie drückte Weinheimers Hand so kräftig, dass er sie überrascht wegzog.
Ich bot Andreas Weinheimer dann noch an, das Gespräch mit unserem Psychologen ambulant fortzusetzen, und verabschiedete das Ehepaar in nachdenklicher Stimmung.
Als Weinheimer und seine Frau auf dem Parkplatz vor dem grauen Passat standen und er gerade die Fahrertür öffnete, wurde sein Blick mit einem Male starr, die Kiefer begannen zu mahlen. Ein Beben und Schütteln erfasste ihn.
Claudia Weinheimer lief erschrocken um das Auto herum, fasste seine Hand, die sich schweißnass und kalt anfühlte, und spürte, wie das Zittern den Körper ihres Mannes in unregelmäßigen Stößen durchlief.
»Komm, ich setze mich hinter das Steuer«, entschied sie. »Hat dich das Gespräch so aufgeregt?«
»Das war alles Unsinn!«, gab Andreas Weinheimer erbost zurück. »Ich bin ein guter Zugführer und lasse mir diesen Mist nicht einreden.«
Als er wenig später auf dem Beifahrersitz saß, drehte er sich zu ihr, presste den Kopf gegen ihre warme Schulter und begann zu weinen. Claudia strich mit der linken Hand durch sein weißes Haar. »Es wird alles gut«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während die Tränen sich über ihr lachsfarbenes Kostüm ergossen und dunkle Flecken hinterließen. Doch Claudia bemerkte dies gar nicht, so sehr rührte sie der elende Zustand ihres Ehemanns.
»Ich träume immerzu von Blut, die Hände triefen, und ich muss die Scheibenwaschanlage in Gang setzen, damit das Blut von der Frontscheibe abgewaschen wird. Die Bilder sind so schrecklich.«
Sie hörte nicht auf, ihn zu streicheln.
»Hat der Professor vielleicht doch recht, wenn er fragt, ob du etwas Furchtbares erlebt hast, was dich jetzt quält?«
Andreas schüttelte sich wie in einem Krampf und schluchzte auf: »Ich weiß es nicht, ich weiß von nichts, es ist nichts geschehen.«
Sie fuhren nach Hause, und er legte sich sofort ins Bett. Seine Frau machte ihm einen Pfefferminztee und blieb bei ihm sitzen, während er sich langsam beruhigte. Die Rollos im Schlafzimmer musste sie herunterlassen, da die helle frühsommerliche Sonne ihn störte.
Sie saß da und streichelte seinen Handrücken.
»Du musst zu diesem Psychologen gehen«, sagte sie nach einiger Zeit. »Es ist etwas in dir, das du mit Gewalt unterdrückst, wie ein Ball, der im Meer unter die Wasseroberfläche gedrückt wird. Es hat gar keinen Sinn, er kommt doch immer wieder hoch. Da kannst du dich noch so sehr anstrengen.«
Er drückte sie an sich. »Halt mich fest.«
Auf dem Schlafzimmerschrank sah er den Tirolerhut vom Wanderurlaub auf der Seiser Alm. Glücklich und unbeschwert waren sie damals gewesen, bis das mit den Träumen anfing.
Das Rollo war nicht vollständig geschlossen, einige Sonnenstrahlen drangen in den Raum, und die Auerhahn-Feder am grauen Filzhut schimmerte bräunlich rot …
Die Schwalben flogen in geringer Flughöhe akrobatische Kurven über die Rosen und Ligusterhecken und ließen einen Wetterumschwung erahnen. Ich saß auf der Terrasse, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Mit einem riesigen Satz sprang der zugelaufene schwarze Kater auf meinen Schoß. Die Berührung seines weichen, samtigen Felles tat gut.
Das Gespräch mit Andreas Weinheimer und seiner Frau Claudia hatte mich nachdenklich gestimmt. Es hallte wie ein Echo in mir nach. Nach schweren traumatischen Erlebnissen breite das Gehirn eine Schutzfolie über das Geschehene, hatte mir Dr. Kauert erklärt. Es komme nicht zum Abspeichern des Erlebnisses, die Erinnerung an die Schrecken werde nicht in das Langzeitgedächtnis übernommen. Etwas Ähnliches war wahrscheinlich bei Weinheimer der Fall. Dieser Mechanismus des Vergessens stellt sicher, dass der Betroffene normal weiterleben kann, ohne dass unentwegt die schrecklichen Bilder des Traumas vor seinem geistigen Auge ablaufen und seine Handlungen negativ beeinflussen.
Das Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung gab es wohl schon immer, es ist zumindest keine Modeerscheinung. Ein Beispiel sind die »Kriegszitterer«, Soldaten des Ersten Weltkriegs, die nach langem Martyrium im Schützengraben an einem groben Zittern von Händen und Beinen litten und daraufhin von der Front in heimatnahe Lazarette verlegt worden waren. Damals ging man davon aus, dass es sich um eine Schädigung des Gehirns infolge von Druckwellen detonierender Granaten in den Schützengräben handelte. Andere wurden mit einem Male blind, waren taub oder konnten nicht mehr sprechen.
So saß ich also, in Gedanken versunken, in der untergehenden Sonne und schaute in den dämmrig werdenden Garten. Die Katze auf meinem Schoß schnurrte wohlig. Nachbarn radelten vorbei und winkten mir zu.
Meine Gedanken konzentrierten sich nach wie vor auf Andreas Weinheimer. Sie sprangen von Punkt zu Punkt, als versuchten sie einen Bach vermittels einer Reihe von Steinen hüpfend zu überqueren.
Ich bedauerte die Umstände, unter denen ich mich vom Ehepaar Weinheimer getrennt hatte. Es war kein wirklicher Abschluss gewesen, unser Gespräch hatte ohne Resultat geendet. Der neutrale Blick und die Kühle, welche die Erwähnung der Selbstmorde auf den Gleisen bei Andreas Weinheimer ausgelöst hatte, waren für mich so unerwartet gekommen, dass mein ursprüngliches Konzept, langsam und sachte ein Problembewusstsein in ihm zu wecken, nicht aufgegangen war.
Ich hoffte insgeheim auf ein Wiedersehen, um diese Scharte wieder auszuwetzen.
Schon am nächsten Tag sollte ich dazu Gelegenheit bekommen. Während der Morgenkonferenz meinte Frau Dr. Schmidt, eine kräftige, schon etwas ältere Ärztin mit Bubikopf und großer schwarzer Brille, ironisch: »Wir haben Ihren Patienten Weinheimer wieder aufgenommen. Erneut mit Verdacht auf einen Schlaganfall.«
»Wieso meinen Patienten?«, fragte ich verwundert.
»Es ist uns nicht verborgen geblieben, dass Sie ein besonderes Interesse an Herrn Weinheimer haben. Immerhin hatte er zwei Termine in Ihrer Sprechstunde.«
»Und in welchem Zustand befindet er sich jetzt?«
»Offensichtlich wieder ein hysterischer Anfall, Luftnot, Schreien, er hat den rechten Arm nicht mehr bewegen können und geklagt, dass er gelähmt sei. Das hat auch den Notarzt bewogen, ihn nicht in die Psychiatrie, sondern zu uns zu fahren.«
»Ok, ich werde ihn mir ansehen, ist ja mein Patient.«
»Was ist los, Herr Weinheimer?«, fragte ich wenig später in der Notaufnahme, wo der schlohweiße Zugführer auf einer Untersuchungsliege lag, angeschlossen an einen Monitor, der in regelmäßigen Abständen Blutdruck, Puls und EKG aufzeichnete. »Ich hätte Sie nicht so rasch wieder in unserer Klinik erwartet.«
Er schaute mich ängstlich an. »Ich glaube, jetzt ist es passiert: Ich habe einen Schlaganfall. Ich kann meinen rechten Arm nicht bewegen.«
Ich forderte ihn auf, beide Arme zu heben. Er hob nur den linken an, der rechte blieb schlaff auf der Bettdecke liegen. Daraufhin nahm ich den rechten Arm, hob ihn hoch und ließ los.