Glücksgefühle - Christof Kessler - E-Book

Glücksgefühle E-Book

Christof Kessler

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Beschreibung

Glück ist das große Thema von Werbung, Literatur und Filmen. Jeder Mensch will glücklich sein, und viele versuchen sich mit immer stärkeren Reizen oder Drogen kurze Momente des Glücks zu verschaffen. Aber was spielt sich im Gehirn ab, wenn wir glücklich sind? Welches Zusammenspiel der Neurone und Hormone bewirkt, dass ein Glücksgefühl erlebt wird, und welche Zusammenhänge bestehen zwischen Glück und Zufriedenheit und den Abgründen von Melancholie und Depression? Christof Kessler nimmt seine Leser mit in die Welt der 80 Milliarden Nervenzellen im Kopf. Die moderne Hirnforschung schlüsselt auf, wie unser Gehirn es bewerkstelligt, dass wir Gefühle erleben, und wie Motivation und Frustration entstehen. Kessler schildert die faszinierenden neuen Forschungsergebnisse zu den Themen Glück, Motivation, Liebe, Depression und Sucht und schöpft dabei aus reicher Erfahrung bei der Behandlung von Hirnerkrankungen.

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Buch

Glück ist das große Thema von Werbung, Literatur und Filmen. Jeder Mensch will glücklich sein, und viele versuchen sich mit immer stärkeren Reizen oder Drogen kurze Momente des Glücks zu verschaffen. Aber was spielt sich im Gehirn ab, wenn wir glücklich sind? Welches Zusammenspiel der Neuronen und Hormone bewirkt, dass ein Glücksgefühl erlebt wird, und welche Zusammenhänge bestehen zwischen Glück und Zufriedenheit und den Abgründen von Melancholie und Depression? Christof Kessler nimmt seine Leser mit in die Welt der 80 Milliarden Nervenzellen im Kopf. Die moderne Hirnforschung schlüsselt auf, wie unser Gehirn es bewerkstelligt, dass wir Gefühle erleben, und wie Motivation und Frustration entstehen. Kessler schildert die faszinierenden neuen Forschungsergebnisse zu den Themen Glück, Motivation, Liebe, Depression und Sucht und schöpft dabei aus reicher Erfahrung bei der Behandlung von Hirnerkrankungen.

Autor

Christof Kessler, geboren 1950, ist als Neurologe in eigener Praxis tätig. Er ist Professor für Neurologie und war Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Greifswald. Er forscht u. a. zu Hirnplastizität. Er ist Autor von »Wahn« und »Männer, die in Schränken sitzen«.

Christof Kessler

GLÜCKSGEFÜHLE

Wie Glück im Gehirn entsteht

und andere erstaunliche Erkenntnisse der Hirnforschung

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage© 2017 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenIllustrationen: © Stefan Dangl, MünchenBildredaktion: Bele EngelsSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19519-9V001www.cbertelsmann.de

Für Petra

INHALT

I. GLÜCKSAURA

1. Die Aura: Ein Lufthauch weht durchs Gehirn

2. Das Belohnungssystem im Gehirn: Glück, Lob und Motivation

II. GRUNDLAGEN: WIE FUNKTIONIERT DAS GEHIRN?

1. Ein Megacomputer: Viel Leistung mit wenig Energieverbrauch

2. Der größte denkbare Computer ist in unserem Kopf

3. Der Diebstahl von Einsteins Gehirn

4. Das menschliche Gehirn: Weich und fettig

5. Die vier Provinzen des Gehirns

6. Brodmann-Areale: Die Navigation auf der Hirnoberfläche

7. Die Milchstrasse in unserem Kopf

8. Die Hirnrinde: Sitz unserer Persönlichkeit

9. Alles wird weniger: Wenn das Gehirn altert

10. Weiße Substanz: Das »Social Network« des Gehirns

11. Vorsicht, Spannung: Die Kommunikation der Hirnzellen

12. Myelin: Highspeed im Gehirn

13. In den Tiefen des Gehirns

III. DAS LIMBISCHE SYSTEM: GRUNDLAGE VON GLÜCK UND MOTIVATION

1. Die archaische Urgewalt in uns

2. Erinnerung an glückliche Stunden: Hippocampus

3. Die Kasse ist geschlossen, nichts geht mehr: Demenz für ein paar Stunden

4. Der Kompass im Gehirn

5. Die Corpora Mamillaria: Verteilerkasten der Gedächtnisstrombahnen

6. Die Amygdala: Angst und Freude liegen eng beieinander

7. Cingulum: Zentrale für Interesse und Motivation

8. Liebe geht durch die Nase: Der Geruchssinn

IV. ZWISCHENHIRN UND HIRNSTAMM: SCHALTZENTRALEN FÜR HERZ UND NIEREN

1. Thalamus: Das Tor zum Bewusstsein

2. Hypothalamus: Überlebens-Kit auf engstem Raum

3. Yin und Yang: Stress, Burn-Out und andere Zustände

4. Locus Coeruleus: Bei Stress aktiv

5. Der Hirnstamm: Die Fabrik des Glücks

6. Dopamin: Bewegung und die Lust am Leben

7. Die Sprache des Glücks

V. SYNAPSEN UND TRANSMITTER

1. Synapsen: Talk im Hirn

2. Der Star unter den Glückshormonen: Dopamin

3. Gelassenheit und Ausgeglichenheit durch Serotonin

4. Durch Ernährung das Hirn-Serotonin erhöhen

5. Antoniusfeuer und LSD: Überreaktion der Serotoninrezeptoren

6. LSD: Die Halluzinationen des Doktor Albert Hofmann

7. Oxytocin – Vertrauen und Bindung

8. Arginin-Vasopressin: Ein naher Verwandter des Oxytocin

9. Acetylcholin – Bewegung und Gedächtnis

10. Botox dämpft Motorik und glättet Falten

11. Acetylcholin macht schlau

12. Endorphine: Glück zum Selbermachen

VI. FUNKTIONELLE MAGNETRESONANZTOMOGRAPHIE: DER BLICK IN DIE SEELE

1. Gefühle, denken und Bewegung: Das Sichtbarwerden komplexer Abläufe

2. Alarmstufe 1: Spinne in Sicht

3. Der Ort der Kreativität

4. Witze machen glücklich

5. Denken macht unglücklich

6. Macht Meditation glücklich?

7. Meditation, Achtsamkeit und das Gehirn

VII. DAS BELOHNUNGSSYSTEM

1. Die Entdeckung des Belohnungs- und Glückssystems im Gehirn

2. Das Mesolimbische Belohnungssystem: Karussell von Glück und Motivation

3. Mittelpunkt des Belohnungssystems: Die Area Tegmentalis Ventralis (Vta)

VIII. DIE ZERSTÖRUNG DES GLÜCKS

1. António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz

2. Der unbarmherzige Patriarch

3. Was ist Stereotaxie?

4. Mit Strom gegen Hirnkrankheiten

5. Hirnschrittmacher gegen Depression

6. Tiefe Hirnstimulation und der Zwang im Kopf

7. Tiefe Hirnstimulation bei Alkoholikern?

IX. BRAIN FOOD ODER DIE LUST AM ESSEN

1. Die giftige Wahrheit über Zucker

2. Falsche Ernährung drückt auf die Stimmung

3. Mediterrane Kost hebt die Stimmung

4. Ungesättigte Fettsäuren machen dich zum Schlaumeier

5. Die andere Seite der Medaille: Überfischung der Meere

6. Süchtig nach Fast Food: Wenn Essen abhängig macht

7. Da setzt die Vernunft aus

8. Körper, hör die Signale: Ghrelin und Leptin

9. Ghrelin: Wenn Essen zur Sucht wird

10. Ghrelin und Sucht

11. Ein Glas zu viel

12. Craving: Die Sehnsucht nach der Droge

13. Mit Medikamenten gegen den Alkohol

14. Diät gegen Alkohol-Craving

X. REWARD DEFICIENCY SYNDROME: WENN DAS BELOHNUNGSZENTRUM NICHT FUNKTIONIERT

1. Der Schlüssel zum Glück

2. Der Zocker

3. Money makes the World go round

4. Das Belohnungssystem versagt bei Zockern

XI. ALL YOU NEED IS LOVE

1. Das Casanova-Gen

2. Verliebt in der Röhre

3. Der Orgasmus im Gehirn

4. Sex ist gesund

5. Heroin und Co.: Die Glücksfälscher

6. Opioidrezeptoren: Die Glücklichmacher

7. Wie entsteht Sucht?

XII. MÄNNER UND FRAUEN

1. Weibliches Gehirn – männliches Gehirn?

2. Sind Männer glücklicher als Frauen?

3. Geld macht nicht glücklich

4. Fazit

DANK

QUELLENNACHWEIS

PERSONENREGISTER

SACHREGISTER

BILDNACHWEIS

I.GLÜCKSAURA

Katharina war einsam. Ihr Mann war Alkoholiker und vor einem halben Jahr an Leberkrebs gestorben. Das Leben mit ihm war nicht einfach, im wahrsten Sinne des Wortes hatte sie in ihrer Ehe nichts zu lachen gehabt. Doch trotz der Trunksucht und seiner cholerischen Ausbrüche vermisste sie ihren Mann, mit der Einsamkeit kam sie nicht zurecht – weder emotional noch finanziell. Um über die Runden zu kommen, putzte sie in mehreren Rechtsanwaltskanzleien frühmorgens die Büroräume.

Eines Morgens stand sie mit ihrem Fahrrad vor einer Ampel. Sie war auf dem Weg zur Kanzlei und wartete auf Grün. Sie hätte auch einfach losfahren können, denn die Straßen und Radwege waren noch nicht bevölkert. Nur ein großer gelber Wagen der Straßenreinigung überquerte die Kreuzung. Während sie müde an ihr Fahrrad gelehnt stand und wartete und der Wagen an ihr vorbeizog, stieg urplötzlich ein unerklärlich helles Gefühl in ihr auf. Es nahm seinen Ursprung in den tiefsten Regionen des Bauches, dort, wo die Eingeweide sitzen, breitete sich kopfwärts über die Brust aus und war schließlich bis in die Fingerspitzen zu spüren. Katharina fühlte sich mit einem Mal von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl durchströmt. Später in der Klinik rang sie mit den Worten, um dieses Gefühl beschreiben zu können. »Es war ein Glückssturm! Wie wenn alles schön wäre und von innen leuchten würde.« Kurz darauf verlor sie an der Ampel schlagartig das Bewusstsein. Ihr gesamter Körper verkrampfte sich, sie nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr; unfähig zu atmen, verfärbte sich ihr Gesicht und nahm einen tiefblauen Farbton an. Schließlich biss sie sich in die Zunge und fiel steif und lang hin wie ein umgeholzter Baum. Kurz darauf war sie in einem Krankenwagen auf dem Weg in die Notaufnahme – der Fahrer des gelben Straßenreinigungswagens hatte Katharinas Krampfanfall bemerkt und war ihr zu Hilfe gekommen.

Was Katharina passiert war, ist weniger außergewöhnlich, als man denken würde. Eine alte Bezeichnung dieses Phänomens ist »Fallsucht«, heute reden wir von Epilepsie. Mithilfe einer Messung ihrer Hirnströme, auch EEG (Elektroenzephalographie) genannt, konnte nachgewiesen werden, dass Katharinas Gehirn nicht mehr in geordneten Bahnen funktionierte, sondern Gewitterstürme elektrischer Entladungen über ihre Gehirnoberfläche hinwegtosten. Bei der Messung wurden Elektroden auf ihrer Kopfhaut platziert, ähnlich den auf die Brustwand aufgeklebten Elektroden beim EKG (Elektrokardiogramm), das für Herzuntersuchungen verwendet wird. Das bei der Patientin Katharina abgeleitete EEG belegte, dass ihre linke Hirnhälfte überschießend reagierte und eine hohe »Anfallsbereitschaft« zeigte.

Doch was hatte es mit den intensiven Glücksmomenten vor dem Anfall auf sich? Ganz offensichtlich waren sie nicht durch äußere Begebenheiten hervorgerufen worden. Eine rote Ampel und die Wagen der Straßenreinigung sind nicht gerade dazu angetan, Glücksgefühle zu erzeugen. Dieses intensive Glücksempfinden war das Symptom einer Epilepsie.

Katharina ist kein Einzelfall. Schon der russische Dichter Fjodor Dostojewski beschrieb in seinem Roman Der Idiot1 detailliert die Symptome und Gefühle einer seltsamen Krankheit, die seinen Protagonisten Fürst Myschkin wiederholt heimsucht: »Er dachte daran, dass es kurz vor dem epileptischen Zustand eine Pause gab, wo plötzlich mitten in all seinem Kummer, aller seelischen Finsternis und Niedergeschlagenheit sein Gehirn plötzlich aufloderte und Geist und Herz von einem ungewöhnlichen Licht erhellt wurden, und alle seine Erregungen, alle Zweifel, alle Unruhe wurden mit einem Mal besänftigt, lösten sich in eine heitere, von klarer harmonischer Freude erfüllte Ruhe aus.«

Ist das nicht seltsam? Glück als Fehlfunktion des Gehirns und Symptom eines Krampfleidens?

1. DIE AURA: EIN LUFTHAUCH WEHT DURCHS GEHIRN

Der plötzliche, den Patienten übermannende Affekt, wird als »Aura« bezeichnet. Galenos von Pergamon2, der berühmte Arzt des antiken Griechenlands, war der Erste, der diese Bezeichnung im Zusammenhang mit der Epilepsie verwendet hat. »Aura« bedeutet Lufthauch und beschreibt das eigentümliche Gefühl, welches sich seiner Patienten bemächtigte, bevor ein epileptischer Anfall kam. Bei dem Glücksgefühl von Katharina handelt es sich um eine Glücksaura, dem Vorboten eines epileptischen Anfalls. Wenn die epileptische Erregung von einem umschriebenen Bereich des Gehirns ausgeht, spricht man von einem fokalen Anfall. Je nachdem, welches Areal des Gehirns betroffen ist und welche Funktionen dort angesiedelt sind, werden ganz unterschiedliche Empfindungen erlebt. Manche Patienten spüren vor dem Anfall ein Entfremdungsgefühl, die ansonsten vertraute Umgebung, zum Beispiel die eigene Wohnung, erscheint fremd, als hätten sie diese noch nie gesehen. Umgekehrt können Déjà-vu-Erlebnisse aufkommen: Zum Beispiel steigt während der Unterhaltung in einem Café das sichere Gefühl auf, dass es sich bei dieser Situation um eine Wiederholung handelt; man ist sich sicher, dieses Gespräch früher schon einmal geführt zu haben.

Das Auftreten von Glücksauren ist ein Beweis dafür, dass das Gehirn ein spezielles Glückszentrum ausgebildet hat, das beim epileptischen Anfall gereizt wird und Glücksgefühle erzeugt.

Der Erlanger Epilepsieforscher Hermann Stefan3 hat herausgefunden, dass Auren mit Glücksgefühlen von einem kleinen Bereich des Schläfenlappens ausgehen. In diesem Areal befindet sich der Hippocampus, ein Hirnteil, welcher beim Kurzzeitgedächtnis und der Einstellung der Gemütslage eine Rolle spielt. Wenn von hier aus das Gewitter eines epileptischen Anfalls losbricht, kommt es zu einem Glücksgefühl.

Wir wussten also bei unserer Patientin Katharina, wo wir suchen mussten. Und siehe da: mit der Magnetresonanztomographie konnte im linken Schläfenlappen ein noch nicht einmal kirschgroßer Tumor nachgewiesen werden. Der Tumor wurde operativ entfernt, und die Untersuchung im Mikroskop ergab, dass es sich um eine gutartige Geschwulst handelte. Katharina hatte nach der Operation keine epileptischen Anfälle mehr – allerdings auch keine Glücksauren. Gefragt, ob sie die Glückszustände vermisse, sagte sie: »Ja, schon, es war stets ein ganz wunderbares Gefühl, aber es gab auch eine Schattenseite, die Angst vor den großen Anfällen, zu stürzen und sich zu verletzen. Angst, dass ich dem Geschehen hilflos ausgeliefert bin.«

2. DAS BELOHNUNGSSYSTEM IM GEHIRN: GLÜCK, LOB UND MOTIVATION

Jeden Tag erleben wir unzählige Situationen, die unser Gehirn filtert und nach Wichtigem und Unwichtigem sortiert: Welches Erlebnis ist bedeutend genug, um vom Kurzzeitgedächtnis in den Langzeitspeicher, die Festplatte unseres Gehirns, übernommen zu werden? Welche Eindrücke können gelöscht und vergessen werden? Ein Hauptkriterium für den Prozess des Lernens ist die Intensität der inneren Beteiligung – und ganz besonders: unser Glücksgefühl bei dem Erlebnis.

Es gibt im Gehirn ein spezielles Zentrum, das Belohnungs- und Motivationssystem, auch mesolimbisches System genannt4, welches dafür sorgt, dass wir in bestimmten Situationen Glück empfinden. Wenn wir etwas Schönes erleben oder eine Herausforderung bewältigt haben, signalisiert das mesolimbische System: »Gut gemacht!«, und es wird das Glückshormon Dopamin aktiviert. Im Ergebnis fühlen wir uns stolz und glücklich und, was besonders wichtig ist: Wir sind motiviert zu neuen Anstrengungen, um diesen Moment des Glücks wiederholen zu können und erneut zu erleben, wie das Gehirn mit den Botenstoffen des Glücks geflutet wird. Ganz wie ein Hund, der zum hundertsten Male das Stöckchen apportiert, um ein Leckerli als Belohnung zu bekommen, laufen wir den unterschiedlichsten »Stöckchen« nach, um immer wieder das »Gut gemacht«-Gefühl zu erleben, um Erfolgserlebnisse zu haben, Prestige zu erlangen und gelobt zu werden.

Einfachste Dinge vermögen das Glücks- und Belohnungssystem zu aktivieren: Im Supermarkt öffnet eine weitere Kasse, und Sie stellen als Erster Ihren Einkauf auf das Band – tolles Gefühl! Ein Stau, der sich plötzlich auflöst, und Sie drücken das Gaspedal durch bis zum Boden. Oder Ihre Lieblingsmannschaft gewinnt unerwartet haushoch, obwohl niemand damit gerechnet hat. Glücksgefühle können aber auch durch bedeutende Ereignisse ausgelöst werden, wenn elementare Dinge geschehen, die von uns als positiv angesehen werden: das Ja-Wort im Standesamt (nicht immer!), die Geburt eines Kindes oder ein erfolgreicher Schulabschluss.

Ein Glücksgefühl ist stets mit einem Motivationsschub verbunden. Die Erfahrung dieses Moments, in dem man glücklich und zufrieden mit sich war, spornt zu neuen Anstrengungen und Leistungen an. Man will diesen Glücksmoment wiederholen, ja vielleicht sogar noch steigern.

Dieses System der Koppelung von Glücksempfinden und Motivation war für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation von größter Bedeutung. Darin liegt der Ansporn zu geistigen und körperlichen Höchstleistungen und der Weiterentwicklung von Ideen. Es hat den Menschen weit über die Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse – Nahrungsaufnahme, Sicherheit, Fortpflanzung – hinaus immer kreativer werden lassen. Die Beherrschung des Feuers, die Entwicklung von Werkzeugen, die Ausbreitung über die Kontinente sind nur möglich gewesen, weil die Menschen sich davon etwas versprochen haben: das Erleben einer Belohnung, zum Beispiel in Form größerer Nahrungsressourcen oder besserer Lebensbedingungen.

Das Belohnungssystem hat jedoch nicht nur positive Aspekte. Es kann uns einerseits zu Höchstleistungen antreiben. Andererseits lässt es sich relativ leicht austricksen. So lassen sich die Mühen und Anstrengungen, die normalerweise nötig sind, um das Hochgefühl des Glücks zu erleben, mühelos durch Konsum von Alkohol und Drogen umgehen, die uns für kurze Momente einen euphorischen Zustand erreichen lassen. Es kommt zu einer künstlichen Stimulation des Belohnungssystems, und es entsteht die Illusion, eine lobenswerte Leistung vollbracht zu haben und zufrieden mit sich und der Welt sein zu können. Zugleich wird der Körper vergiftet und bei anhaltendem Missbrauch schwer geschädigt. Doch das Gehirn merkt davon nichts. Es signalisiert dem Alkoholiker: Mach weiter, das Zeug ist gut für dich. Viele Menschen sind daran zugrunde gegangen.

Wie aber stellt es unser Gehirn an, dass wir Glück und Zufriedenheit empfinden? Und wie können wir es dabei unterstützen und vielleicht auch bemerken, wann es uns hinters Licht führt? Warum ist das Erleben von Glück auch heute noch so wichtig für unser Leben und Überleben? Woran liegt es, dass die gleichen Mechanismen, die dafür bestimmt sind, uns glücklich zu machen, auch Essstörungen, Süchte und Depressionen hervorrufen können?

Um das zu verstehen, lohnt es, sich mit einigen grundlegenden Dingen über die Funktion des Gehirns zu befassen, damit wir ungefähr verstehen, wie die Schaltzentrale in unserem Kopf funktioniert.

II.GRUNDLAGEN: WIE FUNKTIONIERT DAS GEHIRN?

1. EIN MEGACOMPUTER: VIEL LEISTUNG MIT WENIG ENERGIEVERBRAUCH

Der US-amerikanische Psychiater Allen Frances hat den Satz formuliert: »Das menschliche Gehirn ist das bei Weitem komplizierteste Gebilde im bekannten Universum.« Dieser Aussage kann ich als Neurologe, der es in der Klinik täglich mit Patienten zu tun hat, die an Störungen der Hirnfunktionen leiden, nur zustimmen.

Denn unser Gehirn ist nichts weniger als ein Wunderwerk. Man muss sich klarmachen: Jeder Mensch besitzt unter seiner Schädeldecke ein gigantisches datenverarbeitendes System, das in der Lage ist, hochkomplexe Aufgaben besser, schneller und effizienter auszuführen als jeder Computer – und zwar mehrere differenzierte Tätigkeiten gleichzeitig. Atmen, den Herzschlag regulieren, Temperatur und Luftdruck prüfen, visuelle Reize aufnehmen und mit Erfahrungen abgleichen, den Telefonhörer abnehmen, den Tonfall der Angebeteten am Ohr interpretieren, zum Kühlschrank laufen, sich ein Glas Milch einschütten, dabei halbwegs kluge Sätze in charmantem Tonfall von sich geben – all das tut das Gehirn gleichzeitig, und zwar spielend. Es ist außerdem in der Lage, seine eigene Leistungsfähigkeit ununterbrochen durch Lernen zu verbessern.

Ipke Wachsmuth1 vom Center for Cognitive Interaction Technology der Universität Bielefeld bringt zusätzlich den Aspekt der Energieeffizienz eines Gehirns ins Spiel: Das Gehirn, schreibt er, käme mit einer Leistung von etwa 20 Watt aus. Der derzeit schnellste Supercomputer hingegen benötigt 18 Millionen Watt. Das bedeutet: Für einen Supercomputer, der in der Lage wäre, die Arbeit eines einzigen menschlichen Gehirns zu simulieren, würde man ein eigenes Kraftwerk bauen müssen. Nur, damit Sie mal ein Gefühl dafür bekommen, was für ein Wunderwerk jeder Mensch in seinem Kopf mit sich herumträgt.

2. DER GRÖSSTE DENKBARE COMPUTER IST IN UNSEREM KOPF

Das menschliche Gehirn wiegt in etwa so viel wie ein herkömmliches MacBook Pro, nämlich im Durchschnitt 1400 Gramm. Bei Männern sind es rund 100 Gramm mehr. Man könnte denken, die Hirngewichtsdifferenz zwischen Mann und Frau ließe sich dadurch erklären, dass Männer im Schnitt größer und schwerer als Frauen sind. Aber dem ist nicht so: Sie bleibt auch nach Einbezug des geschlechtsspezifischen Gesamtgewichtsunterschieds bestehen.2 Das Gehirn eines Schimpansen hingegen wiegt nur 400 Gramm, wesentlich größer hingegen sind die Gehirne von Elefanten (5000 Gramm) und Pottwalen (8500 Gramm). Entscheidend für die Intelligenz eines Lebewesens allerdings ist nicht das absolute Hirngewicht, sondern das Verhältnis von Gehirn- zu Körpergewicht. Beim Menschen macht es zwei Prozent des Körpergewichts aus, beim Schimpansen allerdings nur schlappe 0,9 Prozent und beim Elefanten gar nur 0,2 Prozent.3

Für den proportionalen Gewichtsunterschied zwischen einem menschlichen Gehirn und einem Schimpansengehirn ist vor allem die gigantische Ausbildung des Frontalhirns beim Menschen verantwortlich, jenes Hirnteils, der für das bewusste Denken zuständig ist, unsere Instinkte und Emotionen im Zaum hält und unser Verhalten so reguliert, dass wir im sozialen Zusammenleben nicht ständig Katastrophen erleben.

Interessanterweise lassen auch beim Menschen Gewicht und Größe des Gehirns nicht unbedingt auf die Intelligenz seines Besitzers schließen. Dies lässt sich nicht zuletzt an den Gehirnen genialer Geister veranschaulichen. Die Gehirne von Goethe, Mozart und Kant können leider nicht mehr untersucht werden, dafür jedoch haben wir ziemlich genaue Angaben über Größe, Gewicht und Struktur des Gehirns von Albert Einstein.

3. DER DIEBSTAHL VON EINSTEINS GEHIRN

Eigentlich hat Albert Einstein noch zu Lebzeiten verfügt, dass er nach seinem Tod verbrannt und seine Asche an einem anonymen Ort verstreut werden sollte. Als er im Alter von 76 Jahren an inneren Blutungen in der Stadt Princeton verstarb, wollte es das Schicksal jedoch, dass er von dem Pathologen Thomas Harvey seziert wurde, der die Todesursache festzustellen hatte. Harvey arbeitete zwar am pathologischen Institut, war im Grunde genommen jedoch auch Neurologe. Getrieben vom krankhaften Ehrgeiz, der Welt mitteilen zu müssen, über welch außergewöhnliche Hirnstrukturen der Begründer der Relativitätstheorie verfügt hatte, entnahm er ohne jede Erlaubnis Einsteins Denkapparat. Er sägte den Schädel des Verstorbenen auf und raubte das Gehirn.4 Als er es wog, war er überrascht: Es wog weniger, als er es vom Gehirn eines durchschnittlichen Mannes erwartet hätte, nämlich nur 1320 Gramm. Dann fixierte er es mit Formalin und zerteilte es, nachdem er eine Serie von Fotografien von der Hirnoberfläche angefertigt hatte, in 240 kleine Blöcke. Anschließend legte er die Hirnwürfel in ein mit Formalin gefülltes Glas, einem Einmachglas nicht unähnlich. In ein zweites Einmachglas gab er die ebenfalls illegal entnommenen Augen Einsteins. Um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen, kontaktierte er Einsteins Sohn, Hans Albert Einstein, und erwirkte die Erlaubnis, das illegal erworbene Gehirn seines Vaters wissenschaftlich untersuchen zu dürfen. Bei seinem eigenen Arbeitgeber nutzte ihm dieser Persilschein allerdings wenig. Er wurde nicht nur gefeuert, sondern verlor auch seine Zulassung als Arzt, sodass er fortan als Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen musste.

Die zwei Einweckgläser mit Einsteins Hirn und Augen jedoch lagerte er im Keller seines Hauses. Da er öfters umzog, nahm er sie immer wieder mit. Erst im hohen Alter von über 80 Jahren unternahm er einen Versuch, das gestohlene Gehirn doch noch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zusammen mit dem Reporter Michael Paterniti bereiste er in einem alten Buick die USA, um einen interessierten Neurowissenschaftler zu finden, dem er das Gehirn des Genies überlassen konnte. Zuallererst fuhren die beiden zu Einsteins Enkelin, mit der Absicht, ihr die Überreste des genialen Großvaters, geruchlos verpackt in einer Tupperdose, zu schenken. Diese lehnte jedoch dankend ab, denn das eingelegte Gehirn erinnerte sie an eine zu lang gekochte Hühnersuppe.

Michael Paterniti hat diese skurrile Reise in dem Buch Unterwegs mit Mr. Einstein festgehalten.5 Thomas Harvey starb zehn Jahre nach dieser Reise, und seine Erben übergaben die übrig gebliebenen Reste von Einsteins Gehirn dem National Museum of Health and Medicine in Chicago.6 Im Nachlass fanden sich auch die 14 Fotos des frisch entnommenen Gehirns.

Abb. 2.1: Aufsicht auf Einsteins Hirn mit der gefalteten Hirnoberfläche beider Hirnhälften, wie sie von Thomas Harvey direkt nach der Entnahme fotografiert worden ist.

Die Anthropologin Dean Falk veröffentliche 2012 in der Zeitschrift Brain7 die Ergebnisse einer genauen Analyse der Fotografien. Es ergaben sich einige Besonderheiten: Das Vorderhirn war im Vergleich zu Normalgehirnen besonders markant ausgeprägt (hierbei handelt es sich um den Anteil des menschlichen Gehirns, der im Vergleich zum Schimpansen weitaus stärker entwickelt ist). Aber auch die Schläfenlappen, die für das Abstraktions- und das visuell-räumliche Vorstellungsvermögen zuständig sind, waren bei Einstein auffallend prominent ausgebildet.

Spannend sind die Ergebnisse des chinesischen Physikers Weiwei Men8, der die Verbindungsbahnen zwischen Einsteins beiden Hirnhälften, die sogenannten Balken, vermessen hat und feststellte, dass diese Datenautobahn unseres Gehirns, welche blitzschnell die Informationen zwischen den beiden Hirnhälften hin und her transferiert, bei Einstein im Vergleich zu vielen anderen Gehirnen besonders breit und ausgeprägt war, die beiden Hirnhälften also extrem gut miteinander verknüpft waren.

Abb. 2.2: Die beiden Hirnhälften von Einsteins Gehirn sind getrennt worden, wir schauen auf eine der Innenseiten. Etwas heller hebt sich die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären, der Balken, ab.

Hoch spezialisierte Zentren, die mit einem großen Aufgebot an Nervenzellen besetzt und gut miteinander vernetzt waren – das also machte aus neurologischer Sicht das Genie Albert Einsteins aus, nicht das Gewicht und Gesamtvolumen seines Gehirns. Klasse statt Masse, könnte man sagen.

4. DAS MENSCHLICHE GEHIRN: WEICH UND FETTIG

Normalerweise bekommt man eher selten Gelegenheit, ein menschliches Gehirn in Händen zu halten. Als Medizinstudent jedoch bot sie sich mir schon in den ersten Wochen meines Studiums während des Anatomiekurses. Ich weiß es noch wie heute: Das Exemplar, das ich in die Hände nahm, war eineinhalb Kilogramm schwer, erstaunlich weich und etwas glitschig. Wenn man es aufschnitt und von innen betrachtete und berührte, fühlte es sich fettig an. Ich bekam ein Gefühl dafür, dass die Nervenstränge von einer stark fetthaltigen Isolierschicht umgeben sind, auf die ich später nach näher eingehen werde. Ich wurde in diesem Moment von einem starken Gefühl der Ehrfurcht ergriffen: Dieses kugelförmige Gebilde war das Organ eines konkreten Menschen gewesen, mit dem er nachgedacht, sich gefreut und Trauer empfunden hatte. Es war der Sitz seiner Persönlichkeit gewesen, es hatte den Charakter, die Wesensart und das Verhalten dieses Menschen ausgemacht, der sich entschieden hatte, seinen Körper der Anatomie zu hinterlassen, um die Ausbildung künftiger Ärzte zu fördern. Die Ehrfurcht und Faszination meiner ersten Begegnung mit dem Gehirn waren sicherlich ausschlaggebend dafür, dass ich später die Ausbildung zum Neurologen aufnahm.

5. DIE VIER PROVINZEN DES GEHIRNS

Doch das Gehirn lässt sich in weit mehr als nur zwei Hälften unterteilen. Die Neurologie unterscheidet in den beiden Hemisphären jeweils vier Hirnlappen, die es folgerichtig doppelt gibt, einmal in der rechten und einmal in der linken Hemisphäre. Es sind dies der Frontallappen (Lobus frontalis), der Scheitellappen (Lobus parietalis), der Schläfenlappen (Lobus temporalis) und der Hinterhauptlappen (Lobus occipitalis). »Lappen« klingt etwas respektlos und weckt Assoziationen an ein Putzutensil. Doch die lateinische Bezeichnung »Lobus« bedeutet eben Lappen oder lappenförmiges Teil. »Lobus« klingt natürlich viel besser als »Lappen«.

Abb. 2.3: Die Hirnlappen des Gehirns: Frontallappen, Schläfenlappen, Scheitellappen und Hinterhauptlappen.

Diese Unterteilung in vier Bereiche ist nicht rein willkürlich, sondern hängt mit der Aufgabenteilung innerhalb der Hirnhemisphäre zusammen. Es ist wie in einer großen Stadt: In einem Viertel steht das große Einkaufszentrum, im anderen die Kläranlage, im nächsten konzentrieren sich die Wohnblocks, und in einem weiteren finden sich die Partymeile und das Fußballstadion. Sie alle tragen auf ihre Weise zum Leben in der Stadt bei.

So ist im Hinterhauptslappen das Sehzentrum lokalisiert, im Schläfenlappen unter anderem das Sprachzentrum. Der Scheitellappen beherbergt die Zentren für Motorik und Sensorik, der Frontallappen die Regionen für die Kontrolle von Antrieb und Sozialverhalten. Woher aber weiß man, in welchem Teil des Gehirns welche Funktion beherbergt ist? Genauso wie wir über eine Kartendarstellung der Weltkugel verfügen, die von allen Menschen und in allen Ländern als Abbild der Meere und Kontinentalplatten akzeptiert wird, gibt es eine unter Neurologen international anerkannte Karte der Hirnoberfläche, auf der sich wunderbar navigieren lässt: die Brodmann-Areale.

6. BRODMANN-AREALE: DIE NAVIGATION AUF DER HIRNOBERFLÄCHE

Der Erfinder dieser Karte ist Korbinian Brodmann. Seine Lebensgeschichte ist erstaunlich, da er sich mit einfachsten Mitteln in die Annalen der Geschichte der Neurologie einschrieb.

Abb. 2.4: Korbinian Brodmann (1868–1918), Pionier der Neuroanatomie.

Man kann nicht gerade sagen, dass Korbinian Brodmann mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, geschweige denn, dass es ihm in die Wiege gelegt war, noch hundert Jahre später als Kartograph des Gehirns anerkannt und geehrt zu werden. Brodmann wurde 1868 in Liggersdorf (heute Teil der Gemeinde Hohenfels) unweit des Bodensees als Sohn eines Landwirts und einer Hofmagd geboren. In seiner Geburtsgemeinde gibt es heute ein kleines Museum, auf dessen Website sich eine Abbildung des ärmlichen Geburtshauses findet. Das Haus macht einen kaum bewohnbaren Eindruck und ist mittlerweile abgerissen. Brodmann besuchte zunächst die Volksschule in Liggersdorf, wo er durch gute Leistungen auffiel. Mit zwölf Jahren wechselte er zunächst auf die Bürgerschule in Sigmaringen, schließlich auf das Gymnasium in Konstanz. Er studierte Medizin in München, Würzburg, Berlin und Freiburg und erhielt 1895 seine Zulassung als Arzt. Um die Folgen einer Diphterieerkrankung auszuheilen, ging er zur Kur ins Fichtelgebirge. Dort lernte er den renommierten Hirnforscher Oskar Vogt kennen, in dessen Institut für Hirnforschung er eintrat. Hier erarbeitete er die nach ihm benannte Einteilung der Großhirnrinde, die er in seinem Hauptwerk 1909 veröffentlichte. 1918 wurde er Leiter der topographisch-histologischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, aus dem später das Max-Planck-Institut für Psychiatrie hervorging. Dort zog er sich während einer Sektion einen Schnitt zu. Damals war das Tragen von Handschuhen bei der Leichenöffnung noch unüblich, und Brodmann verstarb mit nur 49 Jahren an den Folgen einer Blutvergiftung.9

Wenn eine Autopsie damals schon derart schiefgehen konnte, wie hat Brodmann es dann geschafft, mithilfe der damaligen, im Vergleich zu heute bescheidenen Mittel solch eine genaue, heute noch gültige Topographie des Gehirns zu entwerfen? Ohne die bildgebenden Verfahren, über die wir heute verfügen? Gut, er war nicht allein. An dem von Oskar Vogt geleiteten Institut war eine ganze Reihe von fähigen Hirnforschern beschäftigt, und die kritische Diskussion des Untersuchungsobjekts stand auf der Tagesordnung. Außerdem war Brodmann ungewöhnlich fleißig und hatte offensichtlich schon sehr früh eine genaue Vorstellung von seinen ehrgeizigen Zielen. Trotzdem: Brodmanns einziges Werkzeug war das Mikroskop. Damals gab es noch keine Computer, keine Scans, keine Lasermikroskope.

Abb. 2.5: Mikroskopische Darstellung der Hirnrinde aus dem Klassiker der Anatomielehrbücher: Henry Gray, Anatomy of the Human Body (1918), bekannter als Gray’s Anatomy. Die Illustrationen stammen von Henry Vandyke Carter.

Was erblickte Brodmann, wenn er durch das Mikroskop die Rinde des menschlichen Gehirns betrachtete? Nun, er sah Nervenzellen, jede Menge Zellen. Und die waren sowohl in der Form als auch in der Anordnung sehr unterschiedlich.10

Abbildung 2.5 ist dem Klassiker der Anatomiebücher, Gray’s Anatomy von 191811, entnommen. Sie zeigt, dass die Hirnrinde aus mehreren Schichten von Nervenzellen besteht: pyramidenartige Zellen, Sternzellen, Körnerzellen und viele andere mehr. Abhängig von der Funktion der Hirnrinde – je nachdem, ob der entsprechende Teil für die Motorik, die Sprache, das Gedächtnis, die Aufnahme visueller oder auditiver Eindrücke oder anderes zuständig ist – variiert der Zellaufbau der Hirnrinde. Das erscheint logisch, denn natürlich ist die Hirnrinde spezialisiert: Wenn ich einen Schlager höre, erfordert dies andere Fähigkeiten, als wenn ich mich am Kopf kratzen will. Diese Unterschiede in den Zellformationen hat Brodmann im Mikroskop erkannt und in seinen Skizzen festgehalten. Brodmanns Großtat war es, dass er mit seinem Mikroskop die gesamte Hirnrinde durchforstet hat und die Gebiete mit gleicher Struktur als Brodmann-Areale durchnummerierte, um danach eine Karte der Hirnoberfläche zu erstellen. So ist es ihm gelungen, die vielen Mosaiksteine wie bei einem Puzzle zu einem Ganzen zusammenzusetzen.

Abb. 2.6. Von Korbinian Brodmann gezeichnete topographische Karte der Großhirnrinde. Aus seinem Buch Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde: in ihren Principien dargestellt auf Grund des Zellenbaues (1909).

Es ergaben sich schließlich 52 verschiedene Areale. Die unterschiedlichen Funktionen dieser Areale waren Brodmann zum größten Teil noch nicht bekannt. Dennoch ist seine Einteilung erstaunlich exakt, denn tatsächlich lassen sich jedem Areal bestimmte Funktionen zuordnen. Die Verwendung der Brodmann-Areale zur Einteilung der Hirnrinde ist bis heute internationaler Standard. So entspricht zum Beispiel die Sehrinde dem Brodmann-Areal 17 und das Zentrum für Sprachverständnis dem Brodmann-Areal 22.

7. DIE MILCHSTRASSE IN UNSEREM KOPF

Die Hirnrinde ist ein gigantisches Wunderwerk der Natur. In ihren Windungen und Furchen sind 80 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt, dicht aneinandergepackt. Man stelle sich vor: Jeder Mensch besitzt fast ebenso viele Nervenzellen, wie unsere Milchstraße Sterne hat. In ihr tummeln sich zwischen 100 und 300 Milliarden Sterne. Allerdings hat sie einen Durchmesser von 100000 Lichtjahren (1 Lichtjahr sind rund 9500000000000 Kilometer). Da ist unser Gehirn doch deutlich kleiner. Aber Zellen sind ja auch millionenfach kleiner als Sterne.

Trotzdem berührt es mich, wenn ich mir das Gehirn als Galaxie vorstelle. Denn wenn ich nachts in den Sternenhimmel schaue, empfinde ich das gleiche Gefühl von Ehrfurcht wie damals, als ich zum ersten Mal ein Gehirn in Händen hielt. Jeder von uns trägt eine solche Galaxie in sich, Milliarden von miteinander verknüpften Nervenzellen, die allerdings auf allerengstem Raum zusammengepackt sind und sich nicht in die Unendlichkeit ausdehnen können. Und es herrscht Ordnung. Die etwa 80 Milliarden Nervenzellen eines Gehirns sind nicht etwa wie ein dicker Brei auf die Hirnoberfläche gekleistert wie der Zuckerguss auf eine Torte, sondern sie sind nach festen Regeln angeordnet.

8. DIE HIRNRINDE: SITZ UNSERER PERSÖNLICHKEIT

Abb. 2.7: Normale Magnetresonanztomographie eines 31-jährigen Patienten mit Kopfschmerzen. Die Hirnrinde zeichnet sich dunkel ab, zu erkennen sind die Hirnfurchen und im Inneren des Gehirns die »weiße Substanz«, die aus den Verbindungsbahnen zwischen den Hirnzentren besteht. Bei jüngeren Menschen sind die Hirnfurchen noch eng im Vergleich zu älteren (siehe Abb. 2.8).

In Abbildung 2.7 sehen wir das Magnetresonanztomogramm (MRT) eines 31-jährigen Patienten, der wegen starker Kopfschmerzen bei uns in der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität Greifswald untersucht wurde. Zum Glück konnten wir keine auffälligen Befunde erheben. Eine Hirnhautentzündung, ein Schlaganfall oder eine Hirnblutung konnten ausgeschlossen werden. Um letzte Gewissheit zu erlangen, wurde ein MRT gemacht, mit dem sich auch feinere Veränderungen in der Hirnstruktur, zum Beispiel Tumore, nachweisen lassen.

Laut der International Headache Society leiden mehr als 50 Prozent aller Kopfschmerzpatienten nicht an organisch fassbaren Beschwerden, sondern an sogenanntem »Spannungskopfschmerz«. Dessen Ursache sind Stress und Überforderung. So war es auch bei dem 31-jährigen Patienten: Er war soeben als Teilhaber in eine Computerfirma eingestiegen und arbeitete 14 Stunden am Tag. Nebenher betreute er seine allein lebende kranke Mutter. Seine Freundin hatte sich auch schon beschwert und fühlte sich vernachlässigt. Es war einfach zu viel, der Körper reagierte. Um Spannungskopfschmerzen loszuwerden, sind regelmäßiger Ausdauersport und genügend Erholungsphasen nötig. Das gibt es natürlich nicht auf Rezept, aber diese Umstellung der Lebensweise wurde dem jungen Mann dringend empfohlen.

Zurück zum unauffälligen MRT unseres gestressten Patienten: Wir sehen, dass die Hirnoberfläche einen dunklen Rand aufweist, der auch in die Hirnfurchen hineinreicht. Dabei handelt es sich um den zwei bis fünf Millimeter dicken Cortex cerebri, auch Großhirnrinde genannt. Die Hirnrinde wird auch als »graue Substanz« bezeichnet, weil die Nervenzellen dort in gigantischer Zahl so dicht gepackt sind, dass sie im Hirnschnitt grau erscheinen. Außerdem ist die Hirnrinde gefurcht wie eine Walnuss. Die Fältelung ist notwendig, um die Oberfläche des Gehirns zu vergrößern, damit alles in die enge Schale des Schädelknochens hineinpasst.

Wir sehen auf der MRT-Aufnahme ferner, dass im Inneren des Gehirns weitere Abschnitte dunkel gefärbter Zellstrukturen verborgen liegen. Hierbei handelt es sich um die Basalganglien, die unter anderem für die Motorik zuständig sind. Die unfassbar vielen Nervenzellen der dunklen Substanz sind durch Nervenfasern miteinander verbunden und funktionieren als Netzwerk, in dem eine sehr lebhafte Kommunikation zwischen ihnen stattfindet. Wie in einer großen Stadt, deren Häuser und Betriebe durch ein gigantisches Netz aus Freileitungen, Erdkabeln sowie Umspannwerken und Relaisstationen elektrisch miteinander verbunden sind, leiten auch die Nervenzellen Impulse einander weiter. Diese Nervenkabel verlaufen als Nervenfasern unterhalb der Hirnrinde und bilden die auf dem Scan gut erkennbare »weiße Substanz«. Gemeinsam mit den 80 Milliarden Nervenzellen bilden sie das Kernstück des komplexen Netzwerkes unseres Gehirns.

Die Großhirnrinde funktioniert dabei im Wesentlichen als Aufnahmestation für die auf uns einstürmenden Sinneseindrücke. Hier kommt alles an, was wir sehen, fühlen, hören oder schmecken. Wichtige Eindrücke werden dort abgespeichert oder als Information an das motorische System weitergeleitet: Achtung! Balken liegt auf dem Joggingpfad, also rüberspringen! Was ist das da im Busch für ein verdächtiges Geräusch gewesen? Sofort Kopf wenden und nachsehen! Aber die äußeren Reize müssen auch verstandesmäßig, also intellektuell verarbeitet werden: Warum liegt da der Baumstamm, es hat doch gar keinen Sturm gegeben? Hat ihn jemand gefällt? Ist das da im Busch wieder die Katze vom Nachbarn, die herumstreunt? Der gibt ihr wohl nicht genug zu fressen. Diese Vorgänge werden als kognitive Funktionen bezeichnet und beinhalten alles, was wir unter intellektueller Leistung des Menschen verstehen: Gedächtnis, Lernen, Abstraktionsvermögen, Erkennen von Zusammenhängen, Planen, Entscheidungen treffen – und vieles mehr. Auch sie spielen sich in der Hirnrinde ab.

Abb. 2.8: Magnetresonanztomographische Aufnahme eines gesunden 70-Jährigen mit Schwindel. Die Hirnfurchen sind im Vergleich zu jüngeren Menschen wesentlich breiter, das Gehirn ist »geschrumpft«.

Abbildung 2.8 zeigt uns die Magnetresonanztomographie eines gesunden 70-Jährigen, der sich bei mir wegen immer wieder auftretender Schwindelgefühle vorstellte, die vor allem beim Zurückbeugen des Kopfes auftraten. Er sei Segler und müsse oft zur Mastspitze hochschauen, um die Stellung des Verklickers, eines kleinen Fähnchens, das die Windrichtung anzeigt, zu beobachten. Dieses Hochschauen falle ihm immer schwerer, da er dabei starke Schwindelgefühle verspüre. Ansonsten sei alles bestens, er genieße sein Leben als Rechtsanwalt im Ruhestand und habe nur die üblichen altersbedingten Wehwehchen. Namen könne er sich schlechter merken als früher, und zum Einkaufen brauche er jetzt schon mal einen Zettel, weil es ihm sonst passieren könne, dass er nur mit der Hälfte der benötigten Einkäufe nach Hause kommt.

9. ALLES WIRD WENIGER: WENN DAS GEHIRN ALTERT

Wir fertigten das abgebildete MRT an. Es war normal, allerdings erkennt man bereits als Laie einige Unterschiede im Vergleich zu den Hirnaufnahmen des 31-Jährigen: Die Hirnfurchen sind schmaler, und die Zwischenräume sind wesentlich breiter. Das Gehirn sieht tatsächlich einer geknackten Walnuss ähnlich.

Der Baseler Biostatistiker Peter Hartmann hat gemeinsam mit einem Team von Pathologen die Gehirne Tausender Verstorbener untersucht, vermessen und gewogen.12 Er hat herausgefunden, dass ein gesundes Gehirn von Jahr zu Jahr auch bei völlig gesunden Menschen kontinuierlich an Gewicht verliert. Übrigens geschieht dies bei Männern schneller als bei Frauen, die also in puncto Hirngewicht aufholen. Mit MRT-Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass der Verlust an Hirnmasse im Laufe des Lebens nicht alle Hirnteile gleichmäßig betrifft, sondern dass der Untergang von Hirnzellen schwerpunktmäßig jene Hirnareale betrifft, die für das Gedächtnis und die Verarbeitung von Gefühlen und Emotionen benötigt werden. Dies ist einer der Gründe, warum bei vielen älteren Menschen im Laufe der Jahre nicht nur das Gedächtnis nachlässt, sondern auch warum sie starken emotionalen Schwankungen unterworfen sind. »Altersstarrsinn«, »altersmilde«, »nah am Wasser gebaut« sind Ausdrücke, die dann häufig verwendet werden.

Das Dünnerwerden der Hirnrinde im Alter aufgrund des Untergangs von Nervenzellen ist allerdings ein schleichender und sehr langsam fortschreitender Prozess, sodass es viele ältere Menschen gibt, die geistig noch fit sind. Man denke nur an den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der noch mit über 90 Jahren beachtliche Analysen zur politischen Lage anstellen konnte.

Es gibt allerdings auch einen krankhaften Untergang von Nervenzellen in der Hirnrinde. Dies ist bei der Alzheimer-Krankheit der Fall. Sie führt zu einer Zerstörung der in der Hirnrinde lokalisierten Nervenzellen und damit zu einem Verlust der höheren kognitiven Fähigkeiten. Das Gedächtnis, die Orientierung und die sozialen Bezüge werden nach und nach ausgelöscht. Aber wir wollen in diesem Buch nicht die Demenz besprechen, sondern dem Glück auf die Schliche kommen – gleichwohl wir uns immer vor Augen halten müssen, dass Gesundheit und Krankheit, genauso wie Glück und Unglück, Geschwister sind.

10. WEISSE SUBSTANZ: DAS »SOCIAL NETWORK« DES GEHIRNS

Kehren wir zurück zum Bild der Stromversorgung einer Stadt. In jedem Winkel der Stadt, in jedem Badezimmer, im verlassensten Keller, sogar auf jeder Turmspitze gibt es in der Regel einen Schalter, den man nur umlegen muss, und schon geht das Licht an. Oder der Computer fährt hoch. Oder der Föhn trocknet die Haare. All das wäre nicht möglich ohne die Vielzahl unterschiedlicher Stromkabel, welche die gesamte Stadt kreuz und quer durchziehen. Genauso müssen wir uns auch die Funktionsweise des Gehirns vorstellen: Die Hirnzellen der Hirnrinde (die Glühbirnen, Computer, Föhne, Küchengeräte und so weiter) sind durch ein gigantisches Netzwerk miteinander verbunden, das unter der Hirnrinde verläuft (die Kabel).

Und das ist auch gut so, denn die Neuronen der Hirnoberfläche kommunizieren heftig miteinander. Sie palavern und schnattern ununterbrochen – wie an einem Stammtisch. Jede dieser Nervenzellen besteht aus einem Zellkörper, einem Hauptfortsatz, Axon genannt, und vielen kleinen Fortsätzen, den Dendriten.

Abb. 2.9: Zwei Nervenzellen der motorischen Hirnrinde (Pyramidenzellen). Gut zu erkennen ist der Zellkörper mit mehreren dünnen Fortsätzen, den Dendriten, und einem schlauchartigen Nervenfortsatz, dem Axon.

Die Zellkörper der Nervenzellen können je nach ihrer Funktion ganz unterschiedlich aussehen und auch unterschiedlich groß sein (zwischen 0,001 und 0,1 Millimeter). Besonders groß sind die Pyramidenzellen der motorischen Hirnrinde, also des Teils des Gehirns, von dem die Bewegungen ausgehen. Bei dieser Art Zellen sind auch die Axone außerordentlich lang. Ich stelle mir vor, was passiert, wenn ich anfange, mit meinem rechten großen Zeh zu wackeln: Die zuständigen Pyramidenzellen im Bereich meiner linken motorischen Hirnrinde tun sich als Verbund zusammen und beginnen gemeinsam zu feuern. Die elektrische Erregung wird vom Zellkörper an die Axone weitergegeben, die sehr dünn und sehr lang sein können, manchmal länger als ein Meter. Die Axone der Pyramidenbahnzelle stellen die Verbindung zwischen der Hirnrinde und der Muskulatur her. Sie sind sozusagen die Stromkabel, die den Lichtschalter mit der Glühbirne verbinden. Der elektrische Impuls pflanzt sich über die Leitungsbahnen der Axone durch das Gehirn zum Rückenmark fort. Am Übergang des Gehirns zum Rückenmark kreuzen die Axone zur anderen Seite und verlaufen bis zur Höhe der Lendenwirbelsäule. Erst jetzt docken sie an die nächste motorische Zelle an, deren Axone nun ihrerseits das Rückenmark verlassen. Viele Axone vereinen sich außerhalb der Wirbelsäule zu den peripheren Nerven. In unserem Beispiel wird der Befehl »Mit den Zehen wackeln!« über den Ischiasnerv zum Fuß weitergeleitet, der an der Hinterseite des Beines die Muskulatur erreicht, mit der die große Zehe bewegt wird. Ich bin 186 Zentimeter groß. Ich stelle mich an eine Wand und markiere die Entfernung zwischen meinem Scheitel und der vermuteten Höhe im Bereich der Lendenwirbelsäule, wo das Axon der motorischen Hirnzelle auf ein zweites Neuron umgeschaltet wird. Es sind 110 Zentimeter. Ist es nicht unglaublich? Eine einzige, gerade einmal 0,1 Millimeter große Nervenzelle in unserem Gehirn besitzt einen Fortsatz, der über einen Meter lang ist!

Die weiße Substanz besteht nicht nur aus diesen verblüffend konstruierten motorischen Stromkabeln, die in das Rückenmark hinabführen. Auch umgekehrt erreichen das Gehirn Kabelstränge, die sensible Empfindungen aus der Peripherie unseres Körpers zum Gehirn leiten. Dazu gibt es noch jede Menge an kurzen Assoziationsbahnen: Das sind quasi die Leitungen von Haus zu Haus. Sie verbinden die verschiedenen Zentralen der Hirnrinde miteinander, damit diese kommunizieren können.

Nervenzellen agieren nicht einzeln, sondern bilden stets ein Netzwerk von Verbindungen und Kombinationen, welches die Leistungsfähigkeit jedes nur denkbaren Computers weit übertrifft. Jedes Gehirn besitzt rund 10 Billionen Axone und Dendriten. Dies ist eine gigantische, kaum vorstellbare Zahl (eine Eins mit 13 Nullen). Sämtliche Dendriten eines menschlichen Gehirns aneinandergereiht würden eine Strecke ergeben, die dem Umfang der Erdkugel entspricht.13

11. VORSICHT, SPANNUNG: DIE KOMMUNIKATION DER HIRNZELLEN

Das gewählte Bild des Stromnetzes in einer Stadt ist auch in anderer Hinsicht passend: Tatsächlich benutzen die Nervenzellen zur Kommunikation elektrische Stromimpulse, die über die Dendriten von Zellkörper zu Zellkörper geleitet werden. Jede Nervenzelle ist ganz leicht elektrisch aufgeladen. Diese Spannung entsteht durch den Eintritt von Natrium- und Kalium-Ionen, also elektrisch geladenen Atomen oder Molekülen, durch winzige Kanäle in der Zellwand. Wenn ein elektrischer Reiz von einer Zelle zur nächsten übertragen wird, verändert sich die Konzentration der Ionen. Die Nervenzelle entlädt sich schlagartig und gibt den Impuls an die nächsten Zellen weiter, mit denen sie durch die Dendriten verbunden ist. Das klingt kompliziert, aber im Grunde genommen funktioniert eine Taschenlampenbatterie nach dem gleichen Prinzip. Plus und Minus, der Spannungsunterschied, erzeugt den elektrischen Strom.

Die Gesamtheit aller Leitungsbahnen zwischen den Nervenzellen bildet die weiße Substanz. Beim Menschen ist sie besonders stark ausgeprägt und nimmt im Vergleich zur grauen Substanz, in der die Nervenzellen untergebracht sind, mehr als die Hälfte des Hirnvolumens ein. Umgeben sind die Nervenfasern von einer fetthaltigen Isolierschicht – daher fühlt sich das Gehirn, wie bereits geschildert, so fettig an. Sie sind mit Myelin umwickelt, so wie jedes Stromkabel eine Plastikhülle besitzt. Myelin besteht zu 70 Prozent aus Fett und zu 30 Prozent aus Protein.

12. MYELIN: HIGHSPEED IM GEHIRN