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Manuellsen

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Beschreibung

RAP LIVES MATTER - Der wahre König des Deutschrap über sein Leben und seinen Kampf gegen den Rassismus - Endlich erzählt der König im Schatten seine ganze Story - wie er wurde, was er ist - Manuellsen ist die lauteste Stimme im HipHop gegen Rassismus - Keine Kompromisse: Aufstieg im Rap-Game, der Beef mit Bushido, die Verbindungen zu den MCs, die klare Kante gegen Rassismus Geboren ist Manuellsen in Kreuzberg. Als Baby wird er von einer super-deutschen Familie in NRW adoptiert. Früh mischt er bei allen wichtigen Rap-Camps mit und prägt die Szene. Später fährt er bei den Hells Angels mit, während er gleichzeitig Bushido und Animus bekämpft. Und heute: ist er die Lichtgestalt des Deutschrap und dessen hartnäckigste und lauteste Stimme gegen Rassismus. Manuellsen polarisiert mit einem Leben voller Widersprüche. 1979 kommt er als Sohn einer ghanaischen Aktivistin in Berlin zur Welt. Nach Abschiebung seiner Mutter wächst er auf in der weißen Malocherstadt Mülheim. Schnell zeigt sich sein musikalisches Talent und Manuellsen erwirbt einen Ruf als hochtalentierter Hitzkopf im Rap-Game, der vor nichts und niemandem zurückschreckt. Die Auseinandersetzung mit Bushido und diversen Rockerclubs der Hauptstadt gehört immer noch zu den legendärsten Fehden der Szene überhaupt. Aber während Bushido längst vom Thron gestürzt ist, bleibt Manuellsen der geheime König des Deutschrap. Als Label-Chef, Café-Betreiber, Familienvater, aber vor allem: als einer, der Rassismus ohne Kompromiss alles entgegensetzt. Seine Stimme ist jetzt wichtiger denn je.

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Seitenzahl: 341

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Manuellsen

Mit Nina Damsch

KÖNIG IM SCHATTEN

Respekt nur, wem Respekt gebührt

Knaur e-books

Über dieses Buch

Manuellsen, geboren 1979 in Berlin, ist eine lebende Legende des Deutschrap und dessen hartnäckigste und lauteste Stimme gegen Rassismus. Zugleich polarisiert er mit einem Leben voller Widersprüche. 1979 kommt er als Sohn einer ghanaischen Aktivistin in Berlin zur Welt. Nach Abschiebung seiner Mutter wächst er auf im Melting Pot Mülheim. Schnell zeigt sich sein musikalisches Talent und Manuellsen erwirbt einen Ruf als hochtalentierter Hitzkopf im Rap-Game, der vor nichts und niemandem zurückschreckt. Die Auseinandersetzung mit den Größen Berlins und diversen Rockerclubs der Hauptstadt gehört immer noch zu den legendärsten Fehden der Szene. Aber während diese längst vom Thron gestürzt ist, bleibt Manuellsen der wahre König des Deutschrap. Als Label-Chef, Café-Betreiber, Familienvater, aber vor allem: als aktiver Kämpfer gegen Rassismus. Seine Stimme ist jetzt wichtiger denn je.

Inhaltsübersicht

MottoVorbemerkungSpotify-Playlist1 Intro2 Moms3 Menace to Society4 Gangland5 Vom Beginner zum Gewinner6 Fick deine Story7 Du & Ich, ein Tödliches Versprechen8 Gerüchte9 Bewaffnetes Kadro10 Hand an den Wolken11 Hochs und Tiefs12 Savastano13 Lüge14 Immer für mich da15 Krieg an zwei Fronten16 Roots17 Santorini ReflektionGlossar
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Bruderschaft und Feindschaft ist Krieg an zwei Fronten.

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Dieses Buch schildert meine persönlichen Erfahrungen. Diese kann ich nicht darstellen, ohne auch vom Erlebten zu erzählen. Das geht nicht, ohne auch Personen zu beschreiben. Um deren Privatsphäre zu schützen, habe ich daher immer mal wieder Namen und anderes verändert, damit diese nicht erkennbar sind. Sollten dennoch Ähnlichkeiten zu realen Personen bestehen, sind diese rein zufällig.

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Die Spotify-Playlist zum Buch: »König im Schatten – das Buch«

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1

Intro

 

Die Sonne glänzt so hell, dass es fast in den Augen wehtut. Ich starre auf den goldenen Streifen, den sie auf dem Lack meines Motorrads wirft. Feuerrot und makellos steht die Maschine im Glanz der Augustsonne. Mitten vor dem Gerichtsgebäude in Gelsenkirchen. Nicht auf dem Parkplatz. Nicht in irgendeiner überteuerten Garage und auch nicht auf dem Parkstreifen ein paar Seitenstraßen entfernt, brav in Reih und Glied hinter irgendwelchen Opels, Hondas oder Benzern. Yani, nein. Mitten auf dem Pflaster vor dem Gerichtsgebäude hab ich sie abgestellt. Von der kleinen Mauer aus, die das Gerichtsgebäude umsäumt und auf der ich es mir gemütlich gemacht habe, hab ich sie perfekt im Blick. Ich checke meine Rolex Yachtmaster, das Metall blitzt roségolden in der Sonne auf. In 15 Minuten geht meine Verhandlung los. Ich nehme einen Zug von meiner Zigarette. Lang und genüsslich. Ja, der Customizer hat seinen Job wirklich gut gemacht. Es war die richtige Entscheidung, das Motorrad rot zu lackieren.

Ich hab mal gelesen, dass der Farbe Rot ein übergeordneter Stellenwert in unserer Wahrnehmung zukommt. Wer Rot trägt, wird als selbstbewusster wahrgenommen. Bei den Römern und Griechen trugen die Krieger Rot. Rot, das bedeutet Kraft und Stärke. Im Islam und auch im Christentum gilt es als Farbe des Blutes und des Lebens. Aber auch als Farbe der Gewalt, des Leids und der Gefahr. Die Farbe der Märtyrer. Die Glut meiner Zigarette glimmt auf, als mein Anwalt sich leise neben mich auf die Mauer setzt.

»Alles gut, Herr Twellmann?«

Ich lasse den Rauch langsam aus meinen Nasenlöchern steigen. »Alles gut, Herr Muffert. Ficken wir heute Mütter?«

»Bleiben Sie bei unserer Strategie?«

»Aynen.«

Es bringt gar nichts, groß drum herumzureden. Jeder hat das Video gesehen. Ja, ich hab sein Studio gestürmt. Ja, ich hab ihm drei Ohrfeigen geklatscht und der Dicke ist schlafen gegangen. In der Sache geht’s mir um Stolz – und nicht darum, dass ich irgendeine Dummheit gemacht habe, vor der ich mich zu drücken versuche. Der Typ hat meine Frau beleidigt und hat dafür was vor den Kopf gekriegt. Und zwar nicht irgendein Typ, sondern der Typ, den ich wiederbelebt hatte: Animus.

Animus’ Rapkarriere war tot, als er damals zu mir kam. Die gesamte Deutschrapszene hat ihn gemobbt wie ein fettes Schulkind mit Brille und Tigerentenpflaster. Alle haben ihn rumgeschubst. Er hat in Essen Schläge bekommen. Tot. Lachnummer. Man musste schon Mund-zu-Mund-Beatmung machen. Alle haben auf den geschissen. Und zu wem kam er damals und bat um Hilfe? Zu mir. Ich habe ihm geholfen. Aber wofür das Ganze? Für nichts! Dafür, dass er über meine Ehefrau im Internet herzieht und hinter meinem Rücken darüber lästert, wie sie auf Instagrambildern posiert. Dafür, dass er sie als Schlampe bezeichnet, weil sie selbstbewusst ist und sich kleidet, wie sie möchte. Animus: Der Typ macht einen auf Islam und kann vermutlich nicht mal die Al-Fātiḥa aufsagen. Tsss. Dass er nur ein paar Ohrfeigen kassiert hat, ist eigentlich ein Wunder, ein Zeichen meiner Güte. Denn Charakter offenbart sich im Streit. Also lak ja, das war ich, und zwar mit Stolz. Das werde ich auch heute hier aussagen. ICH WAR’S!

»Wir hören erst mal an, was die Staatsanwaltschaft anklagt«, sagt mein Anwalt, nimmt seine Aktentasche von der Mauer und richtet sein Jackett. »Wenn das wie besprochen abläuft, nehmen wir das an und gehen nach Hause. Wie besprochen, Herr Twellmann. Herr Twellmann? Hören Sie eigentlich zu?« Während Muffert so redet, wandert mein Blick vorbei an ihm, vorbei an meiner Harley Davidson Road Glide Special Bagger in ihrem roten Hochzeitskleid und heftet sich auf eine Gruppe Männer. Fünf stämmige Kerle mit Corona-Masken kommen um die Ecke des grauen, kalten Klotzes, in dem angeblich Recht gesprochen wird. Einer davon mit einem solch runden Schädel, dass ich ihn sofort erkenne. Animus.

»Okay«, denk ich mir. »Er kommt mit vier Männern. Ich bin allein.« Klar, das hier ist vor Gericht und nicht auf der Straße, aber ich bin vorsichtig in solchen Situationen. »Die wollen ein linkes Ding abziehen, Herr Muffert«, raune ich mit ruhiger Stimme meinem Anwalt zu und ziehe noch mal an meiner Zigarette. Muffert dreht sich zu Animus und den Männern um. »Vielleicht nicht unbedingt jetzt«, antworte ich auf seinen fragenden Blick, »aber vielleicht nachher, wenn wir aus dem Gericht kommen. Ich muss jemanden anrufen.« »Herr Twellmann …«, setzt er an, aber mein iPhone ist bereits gezückt. Das iPhone, mit dem ich die Welt erobern kann. Meine Versichertenkarte. Mein Rücken. »Sollen wir warten, bis Ihre Freunde kommen?«, fragt der Muffert zögerlich. »Scheiß drauf, yani«, antworte ich. »Gehen wir rein.«

»Guten Tag. Wir haben uns heute hier versammelt, um den Fall Amouei gegen Twellmann zu verhandeln«, beginnt der Staatsanwalt. »Ihnen wird zur Last gelegt, am soundsovielten den Kläger angegriffen und mit Faustschlägen gegen den Kopf, tralali und tralalo …«, ich kann kaum zuhören. Mein Blick richtet sich nur auf einen Mann. Glatze, unscheinbar, sehr deutsch. Aber mit einer Brille, die zeigt, dass er es zu was gebracht hat. Und einem Blick, der verrät, dass er mit allen Wassern gewaschen ist. Woher kenne ich den nur?

»Herr Muffert, wer ist der Anwalt von dem Stinker?«, frage ich, doch bevor der Muffert antworten kann, fällt es mir selbst siedend heiß ein: Das ist dieser Staranwalt von Bushido! Extra aus Berlin ins schöne Gelsenkirchen angereist! So, so.

»Herr Twellmann: Wie möchten Sie sich zu der Anklage gegen Sie bekennen?«, unterbricht der Staatsanwalt meine Gedanken. »Ja, ich war’s. Schuldig.« Meine Antwort ist so kalt und glatt wie die Mauern dieses Gerichtsgebäudes. »Geben Sie mir meine Strafe, damit ich schnell nach Hause kann. Das Frühstück wird kalt.« Einen musste ich einfach doch noch bringen.

»So schnell geht’s nun aber doch nicht«, antwortet die Richterin und blickt mich scharf an. »Möchten Sie Angaben zu Ihren Mittätern machen?«

»Meine Mittäter?«, frage ich die Richterin mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich verschränke meine Arme und lehne mich in meinem Stuhl zurück. »Keine Aussage.«

»Herr Twellmann, Sie wissen, dass sich eine Aussage gegen Ihre Mittäter positiv auf Ihr Strafmaß auswirken kann?«, fügt sie hinzu. »Keine Aussage. Ich weiß nichts, hab nichts, bin nichts, keine Aussage.«

»Frau Richterin«, schaltet sich mein Anwalt ein. »Ich erbitte ein Juristengespräch zur Festlegung des Strafmaßes.« Das kommt mir gerade gelegen. Sollen die Jura-Abis das untereinander klären und ich kann einen genaueren Blick auf diese Jungs werfen. Inzwischen sind nämlich auch meine Männer angekommen. Firat, Orkan, die Ali Khans. Und die wollen zu gern wissen, wer oder was sich da um Animus herum versammelt hat.

»Sho Manuellsen, wie gehts? Was machst du hier, und wallah, wer sind die? Was wollen die?«, begrüßt mich mein Freund Gazi auf dem Gang vor unserem Gerichtssaal, während wir warten, bis die Jura-Füchse ihren Deal fertig haben. Gazi ist Teil der Ali Khans, eine sehr mächtige arabische Großfamilie hier in Gelsenkirchen. »Alles cool, Bruder«, antworte ich. Ich blicke rüber und sehe, dass die Jungs von vorhin ihre Corona-Masken abgenommen haben. Und siehe da: Einen der Jungs kenne ich. Unter Animus’ Entourage befindet sich doch tatsächlich einer von uns Ruhrpottern. Einer, der mit uns groß geworden ist. Eigentlich müsste er wissen, unabhängig davon, ob wir uns mögen oder nicht, dass wir Kooperateure, die im Zeugenstand sitzen und aussagen, nicht dulden. Wir arbeiten nicht mit der Polizei und wir unterstützen auch niemanden, der mit der Polizei arbeitet. Trotzdem treffe ich ihn hier. Ich bin geschockt. In diesem Moment erkennt Gazi einen weiteren Jungen aus Gelsenkirchen. »Sho, was machst du hier?!«, fragt er ihn laut. Der Junge ist sichtlich eingeschüchtert.

»Ja, öh, wir sind nur so hier.«

»Was ›öhhh, wir sind nur so hier?‹ Sho was das? Ihr unterstützt einen Typen, der mit der Polizei kooperiert?«

Der Junge weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Bevor er zu einem Erklärungsversuch ansetzen kann, kommt ein etwas Größerer aus der Gruppe zu uns rübergelaufen, den ich bis dato nicht kannte. »Salam Alaikum«, sagt er zu mir, zugegebenermaßen in sehr höflichem Ton.

»Aleikum salam.«

»Manuel, können wir kurz reden?« Wir verziehen uns in eine Ecke.

»Bruder, guck mal, wir haben mit Animus geredet. Der will nicht, dass du heute hier verknackt wirst. Du hast Kinder, eine Frau. Du sollst nicht in den Knast gehen.« Der Junge scheint es aufrichtig zu meinen, gerade zu sein. Ich bin dennoch skeptisch, doch bevor ich ihm antworten kann, geht die Tür auf und Herr Muffert kommt heraus. Die Verhandlung geht weiter. Mit einem guten Gefühl, smooth wie Sahne, betrete ich wieder den Gerichtssaal. Alles scheint nach Plan zu verlaufen. Ich bin geständig und geläutert, Animus sagt »Hallas, ist jetzt auch gut« und der Rest wird außerhalb geklärt. Dachte ich zumindest. Aber wie ich bereits sagte: Charakter offenbart sich im Streit.

»Sind Sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert«, fragt die Richterin Animus, als der seinen fetten Arsch in den Sitz des Zeugenstandes gepflanzt hat. »Möchten Sie Aussagen zum Tathergang machen?«

»Ja, möchte ich«, antwortet er. Das gute Gefühl, mit dem ich den Saal betreten hatte, stockt, flockt – die Sahne war offenbar schlecht. Wieso will Animus denn jetzt eine Aussage machen, wenn der Typ gerade eben doch noch meinte, er wollte, dass nichts Schlimmeres passiert?

In genau diesem Moment, als meine Hirnwindungen diesen Gedanken fertig ausgespuckt haben und Animus seinen Mund noch nicht aufgemacht hat, um weiterzureden, befinden wir uns an einer moralischen Kreuzung. Die Kreuzung, an der sich Animus dazu hätte entscheiden können, wieder ein Mann zu werden. Ein Mann zu werden und sein Gesicht in der Szene zurückzuerlangen. Hätte er in diesem entscheidenden Moment gesagt: »Es war ein Streit, er hat gestanden, belassen wir es dabei«, wäre ich danach zu ihm gegangen, hätte ihm die Hand gegeben, nach seinen Kontodaten gefragt und ihm sofort Geld überwiesen auf bonne chance. Weil er die Straße geehrt hätte. Ach, lass die Straße beiseite: Er hätte einfach Ehre bewiesen. Einen Männerkodex geehrt. Ein fünfstelliges bonne chance hätte ich ihm dafür geschmissen! Ich bin in Mitleidenschaft gezogen worden, er ist in Mitleidenschaft gezogen worden, aber er hätte mich nicht vor dem Gericht verraten. Das hätte man honorieren müssen, und das hätte ich auch getan.

»Ja, ich will aussagen«, sagt er aber stattdessen und entscheidet sich für seinen Weg an der Kreuzung. Ein Weg, der niemals meiner sein würde. Und dann fing die Show an.

Nicht nur entscheidet sich Animus an der Kreuzung für die falsche Abzweigung in Richtung Verrat, er nimmt sogar die Schnellstraße und Abkürzung in Richtung Lügenhausen. Mit einem Messer hätte ich ihn geschlagen, behauptete er nun. Wir seien in einer Gruppe gekommen, weil wir gewusst hätten, dass er mich alleine fertiggemacht hätte. Wäre es nicht so ernst, hätte ich herzhaft lachen müssen ob der Show, die der Fettsack da im Zeugenstand veranstaltete. Mir war inzwischen klar, was die vorhatten. Von wegen ›Du sollst nicht verknackt werden!‹! Die versuchen gerade, aus einer Körperverletzung einen versuchten Mord zu spinnen. Unterm Tisch zerre ich so an der schwarzen Robe von meinem Anwalt, dass sein Ellenbogen fast von der Tischkante rutscht. »Herr Muffert, was macht dieser Hundesohn da?!«, frage ich in inzwischen leicht aufgebrachtem Ton. »Bitte bleiben Sie ruhig«, wiederholt der Muffert sein Mantra, aber ich sah in seinen Augen, auch er wollte Mütter ficken.

Als der Hammer knallt, steht mein Urteil fest: Ein Jahr und drei Monate, aber auf drei Jahre Bewährung. Drei Jahre Bewährung. Für drei Ohrfeigen! Aber Hauptsache, kein Knast. In der Revision klären wir das schon noch, dafür ist später noch Zeit. Jetzt stürme ich erst mal aus dem Gerichtsgebäude, mein Kopf am Rattern. Warum ist Animus mit dem Staranwalt aus Berlin aufgetaucht? Warum hat er sich nicht an die Abmachung gehalten? Warum war da ein Junge, der mit uns aufgewachsen ist? Was passiert hier gerade?

Meine Vermutung: Bushido, dessen Ende wir gebracht haben, den wir seit Jahren beleidigt und bedroht haben, der nichts, aber wirklich nichts gegen uns machen konnte – er muss mit Animus zusammengesessen und angeordnet haben, »Guck mal, ich schick dir meinen Anwalt mit und egal, was ihr da morgen macht, bringt Manuel ins Gefängnis. Wir können ihn auf der Straße nicht ficken, also ficken wir ihn so.« Und deswegen hat sich Animus nicht an die Abmachung gehalten. Ich blicke um mich herum. Außer meiner wunderschönen roten Harley und meinen Jungs ist nichts und niemand zu sehen. Kein Animus, kein Rücken, nicht mal ein Fußabdruck von dem fetten Hundesohn ist im Staub kleben geblieben. Ich zücke mein Handy.

»Unser Friedensabkommen ist hinfällig. Ein Abkommen zwischen Löwen und Hyänen gibt es nicht.« Gesendet an Bushido, zwei Haken lügen nicht.

Ich zünde mir eine Kippe an und inhaliere den ersten Zug, während ich auf meine blutrote Braut blicke. Ich habe jetzt über 20 Jahre Deutschrap und 15 Jahre Rockerleben hinter mir, ein Drittel davon waren Krieg. Kugeln, Fallen, Anschläge, Beerdigungen. Messer fliegen, Messer kommen, Messer gehen. Ich bin geboren im Krieg. Ich bin gegossen im Krieg. Die wollen Krieg? Gerne. Aber vorher erzähle ich euch, wie es dazu gekommen ist. Wie ich zu dem wurde, der ich bin. Warum ich zu dem werden musste, der ich bin: ein Krieger.

 

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2

Moms

 

Ich weiß nicht, ob ihr an Liebe auf den ersten Blick glaubt. Ich persönlich glaube nicht daran. Zumindest nicht im romantischen Sinne. Aber wenn man meine Adoptivmutter fragen würde, ob sie daran glaube, dann würde sie mit einem breiten, potter »Jo« antworten.

Als sie mich das erste Mal erblickte, war es um sie geschehen. Das erzählt sie zumindest so. Damals war ich 14 Tage alt und meine biologische Mutter gerade aus Berlin-Kreuzberg nach Mülheim an der Ruhr ins Asylheim gezogen. Wenn ich also im Folgenden von meiner Mutter erzähle, meine ich meine Adoptivmutter.

Mama, endlich zu Hause

Pott, 1979: Eine Region im Umbruch und doch noch verharrend in einem Märchen, das längst zu Ende erzählt ist, einem Traum, der längst ausgeträumt ist. Und ich mittendrin. Wie eine Figur aus einer ganz anderen Geschichte, die aus Versehen zwischen die Seiten des Buchs gerutscht ist.

Viele sind stolz darauf, aus Kreuzberg zu kommen. Ich nicht. Im Gegenteil. Für mich ist mein Geburtsort ein dunkler Fleck in meiner Geschichte. Jan van der Toorn, mein späterer Mentor, sagte mal, er glaube, das liege daran, weil ich Berlin mit meiner leiblichen Mutter verbinde und dadurch mit dem ersten Gefühl, das ich auf dieser Welt kennenlernte: Ablehnung. Jan ist ein Esoteriker, der denkt immer alles etwas deeper. Ich glaube, ich hasse Berlin einfach nur wegen des ganzen Lärms, der Wichtigtuer und Pseudo-Verrücktheit. Jeder muss sich abheben. Lak was für Chiasamen, gib mir Spaghetti mit Scampi und noch ordentlich Parmesan obendrauf! Nein, nicht veganen, einfach Parmesan. Ein Glück, dass mich meine biologische Mutter nach zwei Wochen da rausgeholt und in den Pott gebracht hat. Das ist das einzige Geschenk, das sie mir je gegeben hat, und es war ein ziemlich gutes. Denn auch wenn es vielleicht nicht Liebe auf den ersten Blick war, ist der Ruhrpott doch meine große Liebe. Der Ruhrpott, und natürlich die Musik.

Auch wenn ich das Herz meiner Adoptivmutter direkt eroberte, ging es für mich in den ersten Monaten meines Lebens auf dieser Welt erst mal hin und her. Als meine biologische Mutter einige Wochen nach meiner Geburt ins Krankenhaus musste, übernahm mich eine Kindergärtnerin. Das war das erste Mal, dass ich von meiner biologischen Mutter getrennt wurde. Angeblich war sie eine politische Aktivistin, aber so richtig viel weiß ich nicht über ihre Ansichten und Interessen, und auch meine Adoptivmutter konnte mir nie so richtig was darüber erzählen. Ich weiß nur, dass sie immer wieder plötzlich verschwand und mich zurückließ, nur um dann einige Wochen oder Monate später wieder aufzutauchen, als wär nichts gewesen.

Das erste Mal machte sie das, als ich ein paar Wochen alt war. Ich wanderte zu der Kindergärtnerin und von der zu einer Nachbarin. Und dann zu einer zweiten Nachbarin. Danach zu irgendeiner dritten Frau. Ich ging also erst mal durch ein paar Hände, die mich wickelten, in den Schlaf schaukelten und auf meinen Rücken klopften, nachdem sie mir das Fläschchen gegeben hatten, und mich trösteten, wenn ich weinte. Dann tauchte meine Mutter wieder auf und erledigte ihre mütterlichen Pflichten, bis sie abermals ins Dunkle verschwand, ohne irgendwem richtig mitzuteilen, was sie so trieb. Dieser Zyklus wiederholte sich immer wieder, bis ich schließlich bei meiner Adoptivmutter, der Frau, die ich bis heute meine Mama nenne, bleiben durfte. Für immer. Nur noch das vertraute Paar Hände von einer Person, die von ihrem Beruf als Floristin zwar etwas rau geworden waren, aber dennoch die liebevollsten Hände sind, die ich bis heute kenne. Ich war etwa ein halbes Jahr alt, als sie mich endlich im Kinderwagen stolz durch Mülheim fahren konnte und wusste, dass ich von nun an ihr Sohn war. For real.

Es war ein heißer Sommertag, damals Anfang der 80er in Mülheim. Meine Mutter hat mir ein kurzes buntes T-Shirt und eine rote Hose angezogen, meine Füße zappeln über meinem Kopf in der Luft wie ein Mobile, das einen im Kinderwagen beschäftigt hält. Zwischen meine kleinen Zehen hindurch strahlt mir die Sonne freundlich ins Gesicht. Wenn ich die Augen zusammenkneife, gluckse ich vor Lachen. Als der Bus vor uns an der Bushaltestelle hält, verschwindet die Sonne hinter dem pfeifenden, ratternden und schnaufenden Berg aus Metall und mein kleines, selbst inszeniertes Lichtspiel endet abrupt.

Fast genauso ächzend und pfeifend wie das Ungetüm auf Reifen beginnt meine Mutter, den Kinderwagen mit mir die Stufe hoch in den Bus zu hieven. »Moment einmal, nee, Sie haben ja wohl nen Vogel!«, unterbricht der Busfahrer die Anstrengungen meiner Mutter. Sie lächelt und tritt zurück. Sicher will er ihr seine Hilfe anbieten. Eine Frau allein mit Baby und schwerem Zeug – ein Hund, wer da nicht hilft!

Der Fahrer beugt sich nach vorne, doch statt sich von seinem Sitzpolster aufzurichten, drückt er den Knopf, der die Tür automatisch mit einem Rums vor der Nase meiner Mutter zuschnappen lässt. Die weiß gar nicht, wie ihr geschieht, und blickt fragend in Richtung Fahrerkabine. Sie ist so verwirrt, dass ihr nicht einmal Worte über die Lippen gehen. Der Busfahrer antwortet ebenfalls wortlos, dafür aber mit einer Geste: Er wedelt mit der Hand vor seinem rosa Gesicht hin und her, als wenn er den Scheibenwischer seines Busses nachahmen wollte. »Mit nem N****kind in meinen Bus, so weit kommt’s noch!«, hört sie ihn durch das heruntergelassene Fenster schnaufen, ehe der Bus weiterrollt und den Blick auf die Sonne wieder freigibt. Eine Wolke schiebt sich davor. Da stehen wir nun; meine Mutter, ich und der Moment, in dem ihr klar wird, dass ihr Sohn in einen Krieg gezogen wird, noch bevor er sein erstes Wort sprechen kann.

Das Ruhrgebiet ist mit 5,1 Millionen Einwohnern einer der größten Ballungsräume Deutschlands. Wenn du heute durch Duisburg, Essen oder Mönchengladbach läufst, kriegst du das Gefühl, dass 70 Prozent davon Kanaken sind. Der Pott ist ein Schmelztiegel, wie man so schön sagt. Heißt: Leute kommen, um die Scheißarbeit zu erledigen, die die Leute vor Ort nicht alleine gebacken kriegen oder nicht mehr machen wollen, und werden dann dafür beschimpft, wenn sie sich nicht unsichtbar machen oder direkt wieder verschwinden, sobald sie nicht mehr verwertbar sind. Der Pott ist ein Schmelztiegel. War er schon immer. Regionen mit Bergbau und Stahlindustrie sind auf Zuwanderung angewiesen. Kein Wunder also, dass es im Pott immer Ausländer, Einwanderer und Flüchtlinge gab.

Erst waren es Polen und Ostpreußen, die zum Malochen an die Ruhr kamen, ab den 60ern dann Türken. Die sahen dann immerhin schon mal ein bisschen anders aus als die ganzen Almans hier. Aber Schwarze? Die gab es in den 80ern im Pott nicht. Ich war der einzige meiner Art. Ein verficktes, schwarzes Einhorn in einer Herde voller Haflinger. Und das ließen sie mich und meine Familie auch spüren. Jeden Tag. Die Busfahrer, die uns nicht mitfahren ließen, aber auch die Menschentrauben, die sich um den Kinderwagen bildeten, wenn meine Mutter an einem Schaufenster anhielt, oder die Paare, die sich auf der Straße zuraunten, wie meine Mutter und mein Vater DAS denn zustande gebracht hätten. Ruhrpott in den 80ern war deutsch, deutsch, deutsch. Konservativ as fuck. Und ich? Ich war allein. Bis auf meine Familie.

Auch wenn meine biologische Mutter immer mal wieder versuchte, ihre Mutterrollen doch wieder einzunehmen, wenn ihr Interesse mal wieder für einige Momente geweckt wurde – ich war jetzt ein Twellmann, mit Haut und Haaren. Auch wenn die bei mir anders aussahen als bei meiner Mutter, meinem Vater oder meinen Geschwistern. Und ganz offiziell war ich auch noch kein Twellmann. So richtig adoptiert, mit dem ganzen Papierkram, wurde ich von meiner Familie erst, als ich etwa fünf Jahre alt war. Meine Mutter, die mal wieder aufgekreuzt war, sollte nach Ghana abgeschoben werden und es musste entschieden werden, ob ich als ihr leibliches Kind mitkommen sollte oder nicht. Und das, obwohl ich sie seit meinem zweiten Lebensjahr eigentlich kaum noch zu Gesicht bekommen hatte.

Selbst die unregelmäßigen Besuche im Asylheim, wo ich jedes Mal weinend von der Hand meiner Adoptivmutter losgerissen werden musste, um an die Hand meiner leiblichen Mutter geschweißt zu werden, waren nicht wirklich schön. Deshalb war es mir eigentlich ganz recht, als sie erst mal für einige Jahre verschwand und das Rumgereiße aufhörte.

Ich hatte meine Familie. Auch wenn ich ein bisschen anders war als die. Ich verstand das zwar noch nicht, aber dass es so war, konnte ich spüren. An den Blicken, die, egal wohin ich ging, an mir klebten, an den Kindern im Schwimmbad, die mich immerzu anfassen wollten, und dem Getuschel, das mich stets zu verfolgen schien. Einmal fragte ich meine Mutter, warum ich immer angestarrt würde. Statt es mir mit allerlei Worten, die ein Kleinkind nicht versteht, zu erklären, stellte sie sich mit mir vor einen großen Spiegel. »Was erkennst du, wenn du uns beide so nebeneinander ansiehst?«, fragte sie mich freundlich. Ich verstand die Frage nicht. »Na, was ist bei uns beiden unterschiedlich?« Ich verstand immer noch nicht. »Guck mal, Manuel: Die Mama hat weiße Haut und du dunklere«, erklärte sie geduldig und sah meinem Spiegelbild in die Augen. Ich sah es nicht. In meinen Augen waren wir gleich. Ich erinnere mich an diesen Moment nicht, aber meine Mutter erinnert sich dafür umso genauer daran. Ich weiß nicht, ob ich es damals wirklich nicht sah oder einfach nur nicht sehen wollte. Aber ich leugnete rigoros, anders auszusehen.

Es ging mir einfach nicht in den Kopf, warum ich ständig angeguckt wurde. Überall. Immer. Ich verstand nicht, warum im Kindergarten eine Mutter ihr Kind von mir wegzerrte, als sie sah, dass ich mit ihm spielte. Warum sie nicht wollte, dass ihr Sohn mit »so einem Kind wie mir« spielt. Ich verstand nicht, warum mein Opa, Gott hab ihn selig, so anders zu mir war. Warum da zwischen uns immer eine Glasscheibe zu schweben schien, an der ich meine Hand platt drückte, unfähig zu ihm vorzudringen. Als Kind verstand ich vieles nicht. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich so wissbegierig geworden bin. Ich muss immer wissen, was um mich herum passiert. Aber ich verstehe es jetzt. Und ich habe meine Konsequenzen daraus gezogen.

Die Welt draußen war kalt. Aber drinnen, bei uns zu Hause, spürte ich eine Wärme, die mehr als nur meine draußen ungeliebte Haut umhüllte, küsste, schützte. Sie drang in mein Herz, in meine Venen, in meine Seele und ist da bis heute.

Unser Zuhause war ein Haus, wo in allen Türen die Schlüssel steckten. Wenn ich zu meiner Oma wollte, dann ging ich einfach rüber und ließ mich selbst rein. Wenn ich zu meiner Tante wollte, musste ich nur ein Stockwerk hochgehen, den schweren Schlüsselbund klappernd umdrehen, und dort erwartete mich dann Essen, eine Umarmung oder auch einfach nur ein lieber Satz.

Etwa zu der Zeit, als ich adoptiert wurde, kam ich in die Grundschule. Ich war das einzige Schwarze Kind an der Schule. Ich sollte es mein Leben lang bleiben, auch später, als ich auf die Gesamtschule kam. Ich weiß nicht, wie die Lehrer heute im Umgang mit migrantischen Kids so drauf sind. Und vor allem im Umgang mit dem Verhalten der anderen Kids gegenüber den Kindern, die ein bisschen anders erscheinen. Heute sieht es ja zum Glück auch anders aus. Wie gesagt: Fast der ganze Pott besteht gefühlt aus Kanaks und es gibt mittlerweile auch viel mehr Schwarze Menschen. Bei mir war das anders. Und meine Lehrer … Yani, was soll ich sagen: Die haben mein Leben gefickt.

»Manuel, ich muss etwas mit dir besprechen«, hör ich meine Mama aus der Küche rufen. »Was ist denn?«, rufe ich zurück. Keine Antwort. »Mama?« Stille. Ach verdammt noch mal. Mit einem Ruck stehe ich von meinem Bett auf und schlurfe zur Küche.

Ich merke direkt, dass etwas nicht stimmt. Ich kann nicht genau sagen, was es ist. Da liegt keine eindeutig erkennbare Wut in ihrem Gesicht. Auch nicht einfach Sorge oder Kummer. Aber irgendwie zuckt etwas um ihre Mundwinkel, Augen und auf ihrer Stirn, die sonst wie eine Art Leinwand ist, auf der die Falten ein Schattentheater veranstalten, das mir stets verrät, was gerade Phase ist. Erscheint da die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, dann weiß ich, dass ich Trouble hab. Schwappen mir die runden, wellenförmigen Fältchen entgegen, weiß ich, dass ich nett zu ihr sein muss. Aber jetzt bleibt die Leinwand irgendwie blank. »Was ist?«, frage ich sie zum dritten Mal.

»Du weißt doch, dass nächste Woche euer Ausflug ins Schullandheim ansteht«, fängt sie mit fester Stimme an zu erzählen.

»Jaaaa?«, frage ich ungeduldig.

»Nun, es ist so: Du kannst nicht mitfahren.«

»Was? Wieso nicht?«, sprudelt es aus mir heraus. Es war das erste Mal, dass ich ins Schullandheim fahren sollte. Wir waren zwar schon öfter mal im Urlaub gewesen, aber mit der Klasse und meinen Freunden, das ist einfach was anderes. Ich hatte mich darauf gefreut.

»Es ist so«, fährt meine Mutter nüchtern fort. »Die Eltern einiger Kinder wollen nicht, dass du mitfährst.« Stille.

»Warum?«

»Weil du Schwarz bist.« Stille.

Schwer zu sagen, was gerade in mir vorgeht. Irgendwie ist es wie ein Sturm, aber auch eine eigenartige Ruhe. In meinem Herzen befindet sich gerade das Auge des Tornados, in dem es völlig windstill ist, auch wenn darum herum das Chaos losbricht.

»Woher weißt du das?«, will ich wissen. Irgendwie kann ich die ganze Chose nicht so richtig glauben.

»Die haben eine Unterschriftensammlung gemacht, Manuel«, erklärt mir meine Mutter ganz sachlich. »Die Eltern, die nicht wollen, dass du mitfährst, haben einen Zettel unterschrieben. Und da das so viele waren, dass es die Mehrheit der Klasse ausmacht, ist das jetzt wohl so.«

»Warum?«, frage ich noch mal nach.

»Na ja, das nennt man Demokratie«, erklärt meine Mutter nach kurzem Überlegen. »Die Lehrer meinen, daran muss man sich leider halten. Tut ihnen leid.«

Das wars. Keine Klassenkonferenz, keine Krisensitzung im Lehrerzimmer, keine Diskussion. Und so blieb ich zu Hause, während meine Klasse ins Schullandheim fuhr.

Sechs Jahre alt und der Größte in der ganzen Klasse. Und der einzige Schwarze.

Heute kann ich sagen: Wallah, Gott sei Dank hat meine Mutter mir das so knallhart erklärt. Gott sei Dank. Denn deswegen hab ich das bis heute nicht vergessen. Diese Erfahrung, dieser Moment, in dem mir meine Mutter wehtun musste, stellvertretend für andere, das ist ein Mahnmal in mir drin. Ein Mahnmal, das mich immer daran erinnert, meine Augen sehr wachsam offen zu halten. Für Ungerechtigkeiten und rassistische Tendenzen.

Es ist eine Charakterfrage, was solche Erfahrungen mit einem machen. Ich war ein aufgewecktes Kind, extrem wissbegierig und freundlich. Aber die Tatsache, jahrelang angestarrt, beleidigt und ausgegrenzt zu werden, begann sich zu diesem Zeitpunkt langsam in meiner Persönlichkeit zu manifestieren, wie der Kinderpsychologe wohl sagen würde, zu dem mich meine Mutter später schicken sollte.

Ich nahm das alles wahr. Aber mein Umgang mit Rassismus war bis zu diesem Zeitpunkt noch ein anderer. Ich lebte nach den Worten meiner Mutter. »Der Klügere gibt nach«, »Lass dich nicht ärgern«, »Hör einfach nicht hin« – yani, all diese schlauen Sprüche, auf die ich heute einen Fick gebe und die ich meinen Kindern niemals weitergeben werde. Aber sie war meine heilige Mutter und ich ein Kind, das einfach nur seinen Frieden wollte. Das einfach nur sein wollte wie die anderen.

Ich war damals schon größer und stärker als die meisten in meinem Alter und vermutlich wollte ich ihnen nicht bestätigen, dass man vor mir Angst zu haben braucht. Aber das änderte sich. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Zeitpunkt, als ich entschied, mir nichts mehr von dieser Gesellschaft bieten zu lassen. Als ich vielleicht bereits entschied, gar kein Teil dieser Gesellschaft mehr sein zu wollen. Der Moment, in dem ich erwachsen wurde. Ich war damals zehn Jahre alt.

Ein gleißender Schmerz fährt durch meine Hand. Ein kurzer Schrei. Mit einem Ruck reiße ich meinen Arm, auf dem ich mich abgestützt hatte, aus dem Gras. Ich betrachte meinen Handrücken. Ein Stich. Vermutlich eine Biene. Wie im Zeitraffer beobachte ich, wie der Bienenstich meinen Handrücken von einer glatten, glänzenden Oberfläche in eine kleine Hügellandschaft verwandelt. Meine Haut schwillt an, die hervortretenden Venen bilden kleine Canyons und in der Mitte wölbt sich der Stich zur höchsten Erhebung der neu entstandenen Landschaft empor, wie ein kleiner Vulkan. Auf dem Gipfel kann man noch den Stachel der Biene erkennen. Als hätte sie ihre persönliche kleine Flagge in mein Fleisch gerammt, um ihr Hoheitsgebiet zu markieren. Diese kleine Sharmuta!

Bienenstiche gehörten zu unseren Urlauben dazu. Viele Jahre verbrachten wir die Sommerferien auf dem Bauernhof, wie viele deutsche Familien. Mal rauskommen, dies, das. Frische Luft, die Natur, Kikeriki statt Auspuffbrummen, weiße Wölkchen am bayrisch blauen Himmel statt Schornsteinqualm über dem Pott.

Auf dem Bauernhof gab es immer auch andere Familien mit Kindern, die dort Urlaub machten und mit denen meine Schwester und ich immer spielten, die Hühner über den Hof scheuchten und Expeditionen durch die Rapsfelder unternahmen. Einmal verbrachte dort auch eine schnöselige Karatefamilie ihren Urlaub zeitgleich mit uns. Der Vater war Karatelehrer und seine beiden Söhne machten natürlich auch Karate. Karate sein Vater, die ganze Familie. Ich hatte als Kind Jiu-Jitsu-Unterricht bekommen. Das war die Idee meines Vaters. Er meinte, Kampfsport würde ein Kind selbstbewusst machen. Keine Ahnung, in welchem Pädagogik-Heftchen er das gelesen hatte.

An Selbstbewusstsein mangelte es diesen Karatekindern auf dem Bauernhof jedenfalls ganz sicher nicht, so viel war klar. Die waren nicht nur selbstbewusst, die waren geradezu arrogant und dazu noch ignorant und machtgeil. So die Art Kinder, die auch in der Freizeit ihren bekloppten weißen Anzug tragen und in der Pause an schwächeren Schülern demonstrieren wollen, was sie in ihrer letzten Stunde gelernt haben. Wie man sich denken kann, waren das nicht die Art Kinder, mit denen ich mich auf dem Schulhof angefreundet hätte. Aber das Schicksal hatte uns nun mal an diesem Ort zusammengeführt, also spielten wir miteinander. Es dauerte nicht lang, bis die beiden anfingen, mit der N-Bombe um sich zu werfen. N-Wort hier, N-Wort da. Erst im Spaß, dann immer ernster, aggressiver. Ihre Worte versetzten mir Stich nach Stich nach Stich.

Auch wenn die Wut in mir anschwoll, habe ich mir erst nichts daraus gemacht. Ich war größer als die beiden und fühlte mich überlegen. Und der Stärkere gibt nach, das waren die Worte meiner Mutter und die Worte meiner Mutter waren mein Gesetz. Ich war nicht auf Konfrontation aus, im Gegenteil. Bis zu diesem Zeitpunkt versuchte ich um Konfrontationen einen weiten Bogen zu machen. Noch.

Meine Schwester konnte das nicht. Sie war einige Jahre älter als ich und spielte deswegen nicht mit uns mit, aber sie war in der Nähe und hörte, was die Kids zu mir sagten. Irgendwann wurde es ihr zu bunt und sie kam rüber. »Ey hört mal, das ist mein kleiner Bruder, hört auf mit der Scheiße«, sagte sie in dem Ton, den eine 16-Jährige anstimmt, die mit zwei deutlich jüngeren Kindern spricht. Bestimmt, aber trotzdem bewusst, dass das Kinder sind. Die beiden Kids stimmten im Gegenzug jedoch einen Tonfall an, der nicht angemessen war, schon gar nicht für zwei Rotzlöffel, die mit einem viel älteren Mädchen reden. Und das letzte N-Wort, das sie droppten vor mir und meiner Schwester, war das letzte, das ich mir ungestraft gefallen ließ. Es reichte. Die wollten es wissen. Die wollten es einfach wissen, diese kleinen Bastard-Kinder.

Ich verprügelte die Jungs nach Strich und Faden. Ich schlug mit meinen Fäusten auf sie ein, trat, zog, kratzte, was ich von ihnen zu fassen bekam, nahm einen Stein und zerschmetterte ihre dünnen, bösen Unterlippen damit. Damit zerschmetterte ich gleichzeitig meine beschissene Defensivhaltung. Ich hielt die verfluchte linke Wange nicht weiter hin, um Schlimmeres zu verhindern. Um zu beweisen, dass ich besser bin.

In diesem Moment beschloss ich: Ich werde so was nie wieder auf mir sitzen lassen. Ich war zehn Jahre alt, als ich lernte, für mich selbst einzustehen. Ich war zehn Jahre alt, als ich erwachsen werden musste.

Rassismus ist nicht nur, das N-Wort genannt zu werden; im Kindergarten, später in der Schule, im Urlaub auf dem Bauernhof und später von Polizisten und anderen, nicht-Schwarzen Rappern. Rassismus ist auch, die Wohnung nicht zu bekommen, weil der Name komisch klingt. Von den Nachbarn – wenn man die Wohnung dann doch bekommen hat – am ersten Tag ausgefragt zu werden, wo denn die Tochter stecke, die im Mietvertrag eingetragen ist. Im Anschluss gefragt werden, ob man denn mal in die Wohnung kommen und nachsehen dürfe. Rassismus sind die überraschten Blicke, wenn man in klarem Deutsch oder gar mit Pott-Slang antwortet, obwohl man auf Englisch angesprochen wird. Rassismus ist Ignoranz. Und er läuft nicht immer bewusst ab. Es sind diese ganzen kleinen Bienenstiche, die in der Masse einen Vulkan entstehen lassen. Nicht auf dem Handrücken, sondern im Herzen, in der Seele. Und der irgendwann ausbricht. Im Fachjargon spricht man von »Mikroaggressionen«. Sie mögen nicht gravierend, nicht schlimm wirken. Aber in ihrer Gesamtheit werden sie irgendwann unerträglich.

Bei mir resultierte diese eine Mikroaggression der Karatekids in Kombination mit den Millionen Mikroaggressionen, die mir in den Jahren, seit der Busfahrer meiner Mutter die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, in einer Makroaggression meinerseits.

Jedenfalls kam dann der Vater der Jungs runter auf den Hof gerannt, nachdem seine verbeulten Söhne bei ihm angewackelt kamen, und schrie los. »Was ist mit meinen Jungs passiert? Ich werde euch verklagen«, dies, das, tralala. Man kann es sich vorstellen, Riesenpalaver. Meine Eltern waren in der Zwischenzeit auch zu uns geeilt, um die Situation zu klären. Der Karatevater ging dann dazu über, unsere ganze Familie zu beleidigen, bezeichnete uns als Assis und so weiter. Man konnte sehen, dass er motiviert war, die Situation weiter zu eskalieren. Er konnte ja schließlich fucking Karate. Mein Vater, mein lieber Vater, der die Ruhe in Person ist, stand an diesem Tag das erste Mal, dass ich mich daran erinnere, auf und erklärte dem Kampfsport-Dad: »So okay, pass mal auf, Homes: Karate hin, Karate her. Wenn du noch ein Wort über meine Familie sagst, dann knallt es hier.« Ich war selten so stolz. Wir ließen uns nichts gefallen. Als Familie. Als Einheit.

Das Ende der Geschichte war, dass wir den Bauernhof verlassen mussten. Ich trüge schließlich die Schuld an dem Streit, weil ich gewalttätig geworden sei, hieß es. Das war dann, denke ich, mal wieder Demokratie. Dass die Jungs zuerst gewalttätig waren, nämlich mit ihrer Sprache, dass die Machtstrukturen, in denen wir einander begegneten, schon gewaltvoll waren, war egal. Also packten wir unsere Sachen und damit waren meine Sommerferien im Arsch. Aber wir hatten als Familie zusammengehalten. Ich hatte mich gewehrt, WIR hatten uns gewehrt. Und das war eine Lektion, die viel wichtiger und langanhaltender war als meine ruinierten Sommerferien. Sie dauert bis heute an.

Ich werde jetzt das Schlechte und Asoziale aussprechen, das ich an diesem Tag gelernt habe. Das, was sich die »Normalen« in der Gesellschaft nicht trauen zu sagen. Und ich bitte euch, genau darüber nachzudenken, egal wie verstörend es sein mag: Gewalt wirkt. Sie ist nicht die erste Lösung. Auch nicht die zweite und vielleicht auch nicht die dritte. Aber die vierte bestimmt.

Das klingt erst mal brutal, asozial, stimmt. Gebe ich euch recht. Primitiv auch. Aber glaubt ihr, dass die Kids mich noch einmal das N-Wort genannt haben? Dass zum Beispiel ein Typ, der auf offener Straße eine Frau als »Ausländerfotze« beschimpft und dafür direkt eine rechte Gerade gebombt gekriegt, dass sich sein Schädel einmal um seinen Hals dreht, das morgen noch mal tun wird? Klar, er wird sein Denken vielleicht nicht ändern. Aber in Zukunft behält er’s wenigstens für sich und vergiftet nicht auch noch die Umgebung um ihn herum mit dem Scheiß. Und das soll mir erst mal genügen. Rassisten fühlen sich viel zu sicher in diesem Land. Was es bewirken kann, wenn Leute öffentlich ungestraft rassistische Dinge sagen können, sehen wir an unserem aktuellen politischen Klima.

Also ja, Gewalt ist furchtbar. Aber sie wirkt. Leider. Und wenn du noch nicht an dem Punkt angelangt bist, an dem du dir denkst: »Entweder ich oder die anderen heute«, dann hast du noch lange nicht die Erfahrungen mit Rassismus gemacht, die ich gemacht habe.

Ich beschloss an diesem Tag, aber nicht nur, dass ich mich wehren muss, sondern auch, dass ich es für andere tun muss. Andere, die »anders« sind, nicht nur Schwarze. Ich muss mich wehren für alle Leute, die irgendwie diskriminiert werden. In welcher Form auch immer. Aufpassen, dieser Satz bezieht sich auf zweierlei: Wenn ich sage »in welcher Form auch immer«, meine ich sowohl, in welcher Form auch immer jemand diskriminiert wird, und, dass ich mich in welcher Form auch immer wehren muss.

Ich würde meinen letzten Atemzug dafür verwenden, auch nur einen von denen zu ficken, die andere Leute aufgrund ihrer Herkunft misshandeln. Ich habe Gewalt auf so vielen Ebenen erfahren und begegne ihr nicht mehr unterwürfig. Weil sich so nie etwas verändert. Wenn die Biene sticht, schlägt man nach ihr. Und wenn man selber stechen muss, kann man zwar Muhammad Alis Rat befolgen und fliegen wie ein Schmetterling. Aber manchmal ist es auch vonnöten, ein Nashorn, eine Kobra oder ein Löwe zu sein.

Ich werde mich auf keinen Fall von irgendwelchen Leuten klein halten oder auf der Straße jagen lassen. Ich flüchte nicht vor irgendwelchen besoffenen, unterbelichteten Alkoholikern wie sie in Chemnitz herumstolziert sind, die sich berufen fühlen, für das Deutsche Reich irgendwelche Ausländer wegzuklatschen.

Ich lernte damals außerdem, wie sich andere, Außenstehende, weiße Menschen verhalten sollen, wenn sie mit Rassismus konfrontiert werden. Nämlich wie meine Schwester. Sie erinnert sich vermutlich kaum noch an diesen Tag. Aber für mich hat es die Welt bedeutet, wie sie mich beschützen wollte. Man steht füreinander ein. Man adressiert das Problem, auch wenn es einen selber nicht betrifft. Auch auf die Gefahr hin, selbst einen Karatekick abzubekommen, weil man sich starkmacht. Ich werde mich immer wehren, für mich und für andere, und ich finde, das ist nicht barbarisch, das ist nicht asozial und auch nicht dumm. Das ist einfach nur menschlich.

Diese zwei kleinen Karatebengel wollten mir an diesem Tag auf dem Bauernhof meine Menschlichkeit nehmen. Und wallah, ich habe sie mir mit meinen Fäusten zurückgeholt.