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An dem ›großen Steuermann‹ Mao Zedong scheiden sich bis heute die Geister: Steht er als Diktator in einer Reihe mit Hitler und Stalin oder muss er als Visionär gesehen werden, der China als die kommende Weltmacht auf den Weg brachte? Bislang erschöpfen sich die Betrachtungen seines Lebenswegs in skandalfreudigen Dämonisierungen seiner Persönlichkeit. Helwig Schmidt-Glintzer nimmt in dieser richtungsweisenden Biografie Mao auf der Grundlage neuer Quellen und Forschungen nun endlich als Person in der Geschichte ernst: Er schildert anschaulich und eindrucksvoll, vor welchem historischen Hintergrundszenario Mao antrat, um nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches die Demütigung durch die Kolonialmächte abzuschütteln und China zu erneuern. Und er zeigt, dass sich Mao zur Durchsetzung dieser gewaltigen Aufgabe pragmatisch den wechselnden außen- und innenpolitischen Herausforderungen anpasste und entgegen dem, was später als Maoismus galt, durchaus undogmatisch agierte. Neben der Neubewertung des Modernisierungsprozesses gelingt Schmidt-Glintzer auf diese Weise ein grandioses Panorama der Geschichte des chinesischen Riesenreiches im 20. Jahrhundert – die heute umso wichtiger ist, da die Welt des 21. Jahrhunderts vor der Herausforderung steht, China neu zu begreifen.
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Seitenzahl: 603
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Helwig Schmidt-Glintzer
Eine Biografie
Wolfgang Leander Bauer 1930 – 1997Lisa Catharina Niebank 1913 – 1980In memoriam
Vorwort
1. TeilLEHRER
I
10. Oktober 1911:Auf der Suche nach einer neuen Jugend
Aufbruch in der Provinz | Eine Republik entsteht. Vorgeschichte und Durchbruch | Aus der Kaserne ins Lehrerseminar | Die Stunde für »starke Männer« und die Suche nach einer neuen Moral | Der Koch Ding als Vorbild
II
4. Mai 1919:Revolution der Kultur und Pläne für ein selbständigesHunan
Mr. Science and Mr. Democracy – Peking am Vorabend der 4.-Mai-Bewegung | Radikalisierung der Jugend | »Wir sind aufgewacht!« – Das marode China von Süden aus erneuern | Interesse am Anarchismus und der Traum von einer neuen Gesellschaft | Mehrfache Verluste, Trauer und Neuaufbruch | Eine Buchhandelskette für Hunan | Frauen | »Ich werde mich nicht in eine Marionette verwandeln« – Brief an einen Freund | Mao wird Marxist | Erziehung als Aufgabe
III
1. August 1927:»Wer sind unsere Feinde?« – Organisator von Bauern und»König der Berge«
Ein Plan für China – Politische Entwicklungen und Jahre der Entscheidung | Mit Waffen oder Programmen? – Die Whampoa-Militärakademie | »Freiheit« und »Aufs Land« – Der »König von Hunan« | Die Bauernfrage und die Nationale Revolution | Shanghai-Massaker 1927 – Zeit des Weißen und des Roten Terrors | Herbsternte-Aufstand – Geburtsstunde der Roten Armee: »Den Reichen nehmen, um den Armen zu geben« | Rückzug im Jinggang-Gebirge und Formierung einer Bauernarmee
2. TeilSTRATEGE
IV
14. Januar 1929:Mit neuer Taktik neue befreite Gebiete schaffen
Andauernde Konflikte – Engagierte westliche Beobachter | Maos Rückzug: Depression und Malaria | Revolutionierung der Massen – Die Krankheit behandeln, um den Patienten zu heilen | Die zwei Helden | Interessenkonflikte und »Säuberungen« – Der Futian-Zwischenfall | Weißer Terror und Vorbilder des europäischen Faschismus | Wille zur Macht, Aufbau einer Sowjetregierung und Kampf gegen die Aggression Japans | »Erfolge in kleinen Dingen, Fehler in großen Fragen« – Verunglimpfung und wiederholter Rückzug | Der Einkreisung entgehen – den Feind in seinen Wehrblockhäusern erfolgreich schlagen
V
15. Januar 1935:Auf dem Weg zum Vorsitzenden
»Chinesen bekämpfen keine Chinesen« – Verständigung auf der Zunyi-Konferenz | Die Massen, die Minderheiten und der neue Heroismus | Ende des Langen Marsches und Wendung gegen Japan | Der Xi’an-Zwischenfall | Die Zeit in Yan’an | Der Zweite Weltkrieg – Mao wird zur Kultfigur | Bekräftigung der Eigenständigkeit der KPCh und Brief an die Söhne in Moskau | Kampf gegen Japan und die Interessen der Alliierten – Die Dixie-Mission | Reichsidee, Nationalismus und die neue Freiheit des Poeten Mao | Alte Geschichtsbilder in neuem Gewand – Ein langer Weg beginnt
VI
1. Oktober 1949:Ende des Bürgerkriegs und Proklamation der Volksrepublik
Bürgerkrieg, »Neue Demokratie« und Maos verzögerte Reise nach Moskau | Die Hauptstadtfrage | Beim »großen Meister« in Moskau | Koreakrieg und Maos Gefolgschaft | Chinas eigener Weg zum Sozialismus | Stalins Tod und Maos neue Freiheit | Hangzhou als Ort der Verfassung und fortgesetzter Machtkampf in der Hauptstadt | Not im Inneren – Sozialismus statt Freiheit
3. TeilVISIONÄR
VII
31. März 1956:Abrechnung mit Stalin – Von Partnern zu Gegnern
Umwege vermeiden – Auseinandersetzungen mit Moskau | »Blindes Voranstürmen« und Schwimmen mit den Massen | Unruhen im sozialistischen Lager – »Marx wird hier jeden Tag gebraucht« | Die Rede vom Papiertiger, vom Ende des Kolonialzeitalters und der Ansatz zum »Großen Sprung« | »Volkskommunen sind gut!« | Brief des Verteidigungsministers – Sorgen und Nöte | Keine Angst vor Gespenstern! | Die »Konferenz der 7000«: Worte Maos in aller Munde und Vorbereitung der Kulturrevolution
VIII
16. Juli 1966:Schwimmen im Yangtse – »Ein großer Plan für Jahrtausende«
Der eigene Weg und die Sorge um die Zukunft – Spekulationen um Hai Rui | Aufruhr im Himmelspalast: Kulturrevolution und Personenkult | Zurückgezogen in einer Höhle: »Die Zukunft ist glänzend« – Der Brief an Jiang Qing im Juli 1966 | Mobilisierung der Massen – Rebellion bleibt berechtigt | Ein Machtkampf: »Klassenkampf« oder »Bürgerkrieg«?
IX
21. Februar 1972: Wenn Freunde aus der Ferne kommen – Mao trifft Nixon
Personenkult nach innen – Realpolitik nach außen | »Ich bin kein Genie!« – Komplott des Lin-Klans | »Ping-pong-Diplomatie« und Gespräche mit der Neuen Welt | Franz Josef Strauß: »Peking ist eine Reise wert.« Mao: »Es gibt keine Unterschiede zwischen Chinesen und Ausländern«
X
9. September 1976:Mao stirbt
Die letzten fünf Jahre – Eine zweite Kulturrevolution | Permanenz ohne Revolution – Der »Kampf zweier Linien« geht weiter | Entrückung und Maos Vermächtnis – Die Erde bebt | Die schwierige Rückkehr Deng Xiaopings
XI
Schlusswort
Eine gute Regierung an allen Orten | Mausoleum – Unsterblichkeit und Verantwortung | Mao-Kult und Dritte Welt | Mao und die Bauern | Die Ikone des Vorsitzenden, die Eliten und die Offenheit für die Zukunft
ANHANG
Anmerkungen | Abkürzungen | Siglen von Quellen | Literatur | Abbildungsverzeichnis | Personenregister
»Er besaß alle Eigenschaften zu einem großen Staatsmann – einen lebhaften Geist, ein erstaunendes Gedächtnis, eine unermüdete Arbeitsamkeit; er wusste die Menschen vollkommen zu beurteilen und nach ihren Talenten zu gebrauchen.«
Louis-Sébastien Mercier, Philipp der Zweite.König von Spanien (1785),übersetzt von Friedrich Schiller
Das Portrait Mao Zedongs hängt bis heute an zentraler Stelle über dem Eingang zur verbotenen Stadt in Peking, dem Symbol der Staatlichkeit der Volksrepublik China. Wie das Bild dieses Mannes dorthin gelangte und dort blieb, ist das Thema dieses Buches. Manche fragen, warum dieses Bild dort hängt, werden diesem Manne doch Abermillionen Hungertote zu Zeiten des »Großen Sprungs nach vorn« und die Opfer und das Leid der Kulturrevolution angelastet. Die Kolumnistin Long Yingtai sprach dies aus, als sie von einem Freund berichtete, der sich ein riesiges Mao-Bild von Andy Warhol, Mao mit knallrosa Lippen, in die Wohnung gehängt hatte: »Das Mao-Bild ist ein Mosaikstein seiner Jugendzeit, eine leise Erinnerung an seinen jugendlichen Idealismus oder sogar ein leichter Anflug von Selbstironie im reifen Alter. Wie auch immer, für ihn ist das Mao-Bild ein Bild von Mao. Für mich ist es das nicht. Ich sehe den Mann darin, konkret und gegenwärtig, und von seinen Händen trieft Blut. Guter Gott, dachte ich, wie sollte ich ihm nur meine Gefühle verständlich machen? Ich sagte zu ihm: ›Würdest du auch ein Bild von einem Hitler mit knallrosa Lippen in dein Wohnzimmer hängen, lieber Freund?‹«1
In diesem Buch soll das Leben jenes Mannes dargestellt werden, der Lehrer werden wollte und dann doch merkte, dass er seinen Einsichten nur gerecht werden könne, wenn China sich von Grund auf verändert. Dieser Sohn Chinas hatte viele Seiten: Er war und blieb ein Träumer, ein Visionär, er war eifrig und eigensinnig, zurückhaltend und impulsiv, charmant und verschlossen, gelegentlich auch zynisch und manchmal verzweifelt. Als junger Mann wurde er zum Revolutionär. Zunächst eher ein Außenseiter, ließen ihn nach einigen Jahren seine Umsicht, sein Geschick und seine Menschenkenntnis zum unbestrittenen Kopf der Revolution Chinas werden, und er wurde zum wichtigsten Akteur von dessen Erneuerung. Die zentrale Orientierungsfigur hierfür ist er bis heute geblieben, und das von ihm und seinen Mitstreitern begonnene Projekt, China eine angemessene Stellung in der Welt zu verschaffen, steht weiterhin im Zentrum des Handelns der chinesischen Staats- und Parteiführung.
Früh nahm er wahr, wie China von einer neuen Zeit der Industrialisierung und Technik ergriffen wurde, wie der damit verbundene Rohstoffhunger das Land erfasste und es Teil einer Weltgesellschaft zu werden begann. Diese stand im Zeichen der Grenzüberschreitungen: So strebte Japan in Ost- und Südostasien danach, Großmacht zu werden, indem es unter anderem Maos Heimatland versklavte, in Europa führten die Staaten Krieg, demütigten sich, und neueste europäische Ideen versprachen in Russland zur Grundlage einer besseren Welt zu werden. Ähnlich wie die meisten wachen jungen Menschen Chinas erkannte Mao in Bildung und Erziehung einen Weg, um Kraft für die aktive Beteiligung an Umwälzungen und Veränderungen zu schöpfen.
Seine Heimat zu befrieden und ihre Menschen zu befreien, nicht aber ein großes Reich zu schaffen, war zunächst sein Ziel. Dass es am Ende er selbst sein würde, der das zerteilte China im Wesentlichen in den Grenzen des untergegangenen Mandschu-Reiches zusammenführte, war lange nicht zu ahnen. Er wollte vielmehr in überschaubaren Republiken eine neue Gesellschaft aufbauen. Es gab für die Modernisierung und die Neuformierung Chinas keine Blaupause, und es spross eine Vielfalt an Ideen und Konzepten. Lange blieben solche Vorstellungen und Visionen unerfüllt. Erst die Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 und der Beginn einer gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Modernisierung sollten dann ein neues Blatt in der Geschichte Chinas aufschlagen. Der in einer neuen Ordnung erstrebte Fortschritt, insbesondere die Neuverteilung von Landnutzungsrechten und die Durchsetzung des Führungsanspruchs der Kommunistischen Partei, entfesselte in vielfältiger Weise Gewalt und führte zu neuem Unrecht. Die das ganze Land in Bewegung bringenden und in Unruhe stürzenden Kampagnen während der ersten zwei Jahrzehnte der Volksrepublik, als »Großer Sprung nach vorn« und »Kulturrevolution« bekannt, sollten den Fortschritt beschleunigen und den Machterhalt sichern – sie brachten Elend, Willkür und Brutalität. Angesichts der Erfahrung dieser Katastrophen gehört es zu den erstaunlichsten Erscheinungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass Mao weiterhin die verehrte Zentralfigur Chinas geblieben ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass die von ihm und seinen Mitstreitern für China angestrebte Entwicklungsrichtung sich im Prinzip bis heute als Erfolgsweg erweist.
In den sich rasch wandelnden innerchinesischen wie globalen Konstellationen des 20. Jahrhunderts verschoben sich die Rahmenbedingungen für China immer wieder aufs Neue. Und immer wieder fand sich Mao Zedong vor neuen Herausforderungen, war häufig isoliert – und stellte sich dann mit frischer Kraft und manchmal mit Ranküne erneut an die Spitze der Politik und der Umgestaltung Chinas. Auch am Ende der vorliegenden Darstellung werden viele Fragen zur Charakterisierung dieses Mannes offen bleiben. Sein Bild bleibt schillernd, sein politischer Standpunkt lässt sich schwer festnageln, denn bei der Suche nach einer Fortentwicklung Chinas richtete er sich nicht nach Partei, Büchern oder Ideologien, sondern machte die Tatsachen zum Ausgangspunkt seines Handelns, um so die von ihm vorgefundene Wirklichkeit zu verändern. So liest sich sein Leben wie die Einübung des Gedankens, dass China jenseits aller Autoritäten und aller vorgefertigten Vorstellungen eine Freiheit zustehe, wie es sie noch niemals zuvor gegeben hatte. In diesem Sinne war Mao Zedong ein Visionär, der von der großen Befreiung träumte – wie viele Menschen im 20. Jahrhundert.
Es mag andere Optionen für China gegeben haben; gerade deswegen hadern auch viele mit dem von Mao beschrittenen Weg. Manche stellen ihn »in die Reihe der großen politischen Massenmörder des 20. Jahrhunderts«2, doch übersehen sie, dass er selbst die Unauflösbarkeit der Paradoxien erkannte und um die Unabschließbarkeit geschichtlicher Prozesse wusste. Es spricht manches für die Vermutung, dass nicht Mao dem sich erneuernden China seinen Willen aufzwang, sondern dass lediglich er es war, der die größte Umsicht und die entscheidende Bestimmtheit hatte, den Pfad der Erneuerung herauszufinden und zu beschreiten – und damit weniger als Diktator denn vielmehr als Vollstrecker von Handlungsoptionen begriffen werden muss, die den weiteren Aufstieg Chinas überhaupt erst ermöglichten. Ob er dabei die Entwicklungen, die nach seinem Tode folgten, voraussah, oder ob er sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht vielleicht doch in einem ihm fremden China wiedergefunden hätte, bleibt offen. In China selbst gibt es nicht wenige, die überzeugt sind, das heutige China entferne sich von den Vorstellungen seiner Gründergestalt. Nach wie vor wird die Gestalt Maos immer wieder verstellt durch die Propagandabilder und einen Mao-Kult, dem zeitweise Abermillionen von Chinesen huldigten und dem viele bis heute anhängen. Dabei avancierte er dennoch nicht zur moralischen Autorität, nach der China bis heute sucht und die inzwischen wieder im Typus des unbestechlichen Beamten aufscheint. Vielmehr dient er mit seinem Leben als Projektionsfläche einer »Heroisierung der revolutionären Unruhe«, und seine Gestalt fördert eine »Verklärung der Ruhelosigkeit«.3 Ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Mao Zedong ein guter Herrscher genannt werden könnte, ist kaum zu beantworten.
Eines aber war ihm seit den ersten Einblicken in die Welt der Politik deutlich: dass es Kampf (douzheng) geben werde und dass dieser unausweichlich sei. Diese Einsicht, die Betonung eines vitalistischen Zuges und der eigenen Willenskraft, wurde zu seinem Lebensmotto. Damit stand Mao in seiner Zeit im frühen 20. Jahrhundert nicht allein. Seine Diagnose war jener in der Zeit des Ersten Weltkrieges formulierten Überlegung Max Webers zur Stellung des Einzelnen in der Welt verwandt, dass er nichts anderes erfahren kann als »den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen, von denen eine jede, für sich betrachtet, verpflichtend erscheint«. Demnach hat der Einzelne »zu wählen, welchem dieser Götter, oder wann er dem einen und wann dem anderen dienen will und soll. Immer aber wird er sich dann im Kampf gegen einen oder einige der anderen Götter dieser Welt … finden.«4 Um die Wahl zu treffen und den Kampf zu bestehen, standen Selbsterziehung, Selbstertüchtigung und Selbststärkung für Mao und seine Gefährten im Vordergrund.
Mao war eine der Schlüsselfiguren bei der Formulierung dieser Programmatik. Er war es, der in seinem Denken über die europäischen Stichwortgeber wie Hegel, Marx, Lenin und über die sowjetrussische Ideologie hinauszugehen vermochte, »weil es die transkulturelle Dynamik von Altem und Neuem, Östlichem und Westlichem auf eigentümlich radikale Weise für sich fruchtbar gemacht hat[te]«.5 Mao war nicht der »Lord of Misrule«, als den ihn manche sehen wollen.6 Er suchte nicht das Chaos »ohne jeden Bezug zur Ordnung«, sondern ihm war einfach nur klar, dass eine Überwindung der größten Ungerechtigkeiten einer längeren Anstrengung und vieler Kämpfe bedarf.
Vor allem stand Mao nicht allein, sondern war Teil eines Aufbruchs seiner Generation und wurde begleitet von Freunden und Freundinnen, von Gefährten ebenso wie von Gegnern. Wer diesen Mann im Kontext verstehen will, muss nicht nur ihn verstehen, sondern auch den Menschen in seiner Umgebung einen Namen und ein Gesicht geben. Der Aufbruch dieser Generation entstand nicht aus dem Nichts: Tüchtige Beamte waren zuvor bereits angetreten, China zu retten und eine Entwicklung zum Besseren einzuleiten. Es waren immer wieder Einzelne, etwa solche Gestalten wie der Gelehrte und Politiker Lin Zexu (1785 – 1850), der als Generalgouverneur und Sonderkommissar in Kanton den Kampf gegen den Opiumhandel organisierte.7 Ihre Namen – so ungewohnt sie in westlichen Ohren auch noch immer klingen mögen – zu erinnern, wäre der erste Funke Respekt, und wo wir ihre Antlitze noch fassen können, sollten wir uns diese vor Augen rufen. Deswegen finden sich im vorliegenden Buch neben Mao auch die Gesichter einiger seiner Begleiter.
Aus der Lektüre bisher unzugänglicher Texte und einem mit den Jahren gewonnenen Abstand können wir den Lebensweg und die Persönlichkeit dieses Mannes neu zeichnen. Als junger Idealist wollte er Lehrer werden und Chinese bleiben. Er ließ sich davon überzeugen, dass Chinas Weg aus der Demütigung und dem Chaos nur mit der Bevölkerung und nicht gegen diese gelingen würde. Um diese auf seine Seite zu ziehen, war es notwendig, die lokale und regionale Unterdrückung zu überwinden, wofür es der Anleitung einer Partei und der Hilfe einer Armee bedurfte. Sein politisches Leben wurde dadurch geprägt, dass er sich mit starken Personen umgab, die sich mit ihm zum Teil über Jahrzehnte helfend, durchaus aber auch kritisch verbanden und von denen einige zeitweise, manche für immer zu seinen Gegnern wurden.
Die Biografie Mao Zedongs ist nicht zu trennen von der Geschichte Chinas. Gerade weil die Transformation dieses Landes weiter im Gang und die Zukunft ungewiss ist, fragen wir nach den Intentionen dieses Mannes. Es ist eine ideengeschichtliche Erkundung, in der auch Einblicke in Protokolle von Gesprächen mit Staatsgästen und der Austausch von Telegrammen, etwa zwischen Stalin und Mao, ihren Platz finden. Wir interessieren uns für das Leben dieses Bauernjungen, der früh erkannte, dass ganz China durch eine Schule gehen müsse, aber auch, dass das von Kriegsherren zerteilte und von Armut, Hunger und Ungerechtigkeit geplagte Land nur zu Frieden und Wohlstand kommen könne, wenn eine neue politische Kraft und eine neue Kultur obsiegen. Dass damit China ein Teil des »Jahrhunderts der Extreme« wurde, verdankt sich dem Umstand, dass Mao wie viele Angehörige seiner Generation auf der ganzen Welt aus der Rolle des Opfers, die ihnen die Geschichte für so lange Zeit zugeschrieben hatte, heraustreten wollte, um in eine Epoche der Selbstbestimmung und der Freiheit zu gelangen. Die Oktoberrevolution in Russland und die internationale kommunistische Bewegung waren hierbei zunächst Maos unverzichtbares Vorbild. Doch die Vorstellungen der chinesischen Kommunisten unterschieden sich von Anfang an von den Vorgaben aus Moskau, sodass dann für den Aufbau Chinas nach Gründung der Volksrepublik bald ein eigener Weg gesucht und beschritten wurde. Dabei wurde der Weg in die Moderne auch zum Kampf gegen überlieferte Strukturen und damit gegen die eigene Seele um den Preis des Verlustes über Jahrhunderte hinweg gelebter Lebensformen. Als Beobachter und als Akteur, als Träumer und handlungsstarker Taktiker, als – manchmal gespielt – wehleidiger und nicht selten hinfälliger Mann, der dann doch immer wieder Zähigkeit bewies und Kraft entfaltete, hielt sich Mao oft lange bedeckt oder entzog sich, um schließlich wieder steuernd einzugreifen. Er konzipierte die neue Verfassung und wurde auch dadurch zur Gründungsfigur eines neuen Chinas. Nach dem Aufbau des Staates und der sozialistischen Reorganisation unter großen Opfern konnte im Inneren eine Neuordnung begonnen und eine neue Außenpolitik verfolgt werden.
Da Mao aber bei jeder Stabilität Stillstand befürchtete und jeder Zustand ihm als vorläufig galt, suchte er Veränderungen zu befeuern. Die Figur Mao kann nur verstanden werden, wenn man erkennt, dass er in den Bildern der Literatur aus Jahrtausenden lebte und die Verehrung der Götter und Geister kannte. Zugleich war er Realist und beschrieb die Lage der Menschen. Sein Ziel war eine Wiedergeburt Chinas mit offenem Ausgang. Er selbst wurde immer wieder totgesagt, doch gelang es ihm in einem Vierteljahrhundert, China so weit zu bringen, dass es nach seinem Tod seine Unrast beibehielt und sich Regeln gab, durch die es einen beispiellosen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung nehmen konnte. Die gegenwärtigen Bemühungen der Regierung um das Vertrauen der Bürger ebenso wie der Investoren, die Suche nach Berechenbarkeit und Verlässlichkeit in einer sich dynamisch wandelnden Welt bei hohem Konkurrenzdruck sprechen dafür, dass gerade die Position des Unabhängigen und gelegentlich Zuwartenden, nicht im Detail Eingreifenden die Schlüsselposition für Chinas Zukunft bleiben wird, für die keine Figur als Vorbild besser geeignet scheint als die Gründergestalt Mao Zedong.
Keine noch so umfangreiche Biografie des Revolutionärs und Staatsmanns vermag abschließend zu entscheiden, wo Mao selbst Handelnder war und die Dinge bestimmte und wo er andererseits nur reagierte oder allenfalls moderieren konnte. Es wird zugleich in vielerlei Hinsicht offen bleiben, welche Handlungsmuster historisch geprägt waren und welche Wege von ihm neu oder gar erstmals beschritten wurden. Wie in jeder Biografie geht es um ein Leben und seinen Verlauf und natürlich auch um die Einbindung des Menschen in seine soziale Umwelt. Wie die einzelnen Sphären miteinander in Beziehung stehen, wie der idealistische Jugendliche, der Schüler, der Liebhaber, der Vater, der Politiker, der Kamerad, der Krieger, der Philosoph, der Träumer sich zueinander verhalten – das herauszufinden ist die Aufgabe des Biografen, und sie stellt sich unabhängig davon, wie viel Schuld und Versagen und welche Verdienste dem Einzelnen zugerechnet werden.
Bei einer Lebensschilderung ergeben sich im Rückblick Strukturen, Brüche und gelegentlich Zäsuren, Höhepunkte und Tiefen, Krisen und Momente großer Stimmigkeit. Um die Darstellung zu strukturieren, wurden in der vorliegenden Schilderung einige Stationen herausgehoben. Im Rückblick gab es im Leben Mao Zedongs ebenso wie in der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert zahllose Wendepunkte, an denen häufig der Zufall das Verlassen eines Pfades oder das Zustandekommen einer neuen Konstellation bewirkte, sodass von Unausweichlichkeit nicht gesprochen werden kann. Dabei entzieht es sich menschlicher Beurteilung, ob eine Entwicklung mit weniger Leid und weniger Zerstörung, mit weniger Blutvergießen und Erniedrigung von Menschen überhaupt gangbar gewesen wäre oder ob nicht im Gegenteil das Wirken gerade dieses Mannes größeres Unheil verhinderte. Auch lässt sich die leise Ahnung nicht beiseiteschieben, die Erfolge Chinas der Gegenwart, ihre Licht- wie ihre Schattenseiten, seien möglicherweise ohne die Revolution Maos nicht möglich gewesen.
Diese Biografie Mao Zedongs war ursprünglich im Rahmen einer Reihe mit dem Namen »Diktatoren des 20. Jahrhunderts« geplant. Im Zuge der Niederschrift, nach der Lektüre etlicher Texte und Dokumente, dem Nachvollziehen zahlloser Aushandlungsprozesse und im Anschluss an die Rekonstruktion komplexer Situationen, die zum Handeln herausforderten, stellte ich mir die Frage, ob dieser Mann mit dem Begriff des Diktators angemessen charakterisiert wird. Bei Würdigung der Kontexte und Zusammenhänge wird man dieses Etikett als weitgehend unbrauchbar beiseitelegen und sein Augenmerk auf das gemeinschaftliche Handeln und die bewusste Beteiligung vieler Einzelner sowie auf Fortschritte und Verluste und auf millionenfaches Leid richten. Gleichzeitig fällt aus der Vergangenheit ein Licht auf die politische Gegenwart Chinas, und dies nicht nur, wenn sich die derzeitige Staatsführung bei ihren Anstrengungen zu weiteren Reformen unter Rückgriff auf Gedichte Mao Zedongs aus der Zeit des Langen Marsches ausdrücklich in die Tradition des von diesem immer wieder beschworenen unermüdlichen Kampfes stellt. Resultat solcher Anstrengungen und Reformen ist das heutige China, das sich als eigenständige Supermacht Geltung verschafft und der Weltpolitik seinen Stempel aufdrückt, ganz im Anschluss an Maos Traum, China zur Autonomie zu führen.
Wer sich nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit den Sprachen und Kulturen Ostasiens und den nachhaltigen Bemühungen um ein vertieftes und reflektiertes Verständnis europäischer Geschichte und Geistigkeit nun einer einzelnen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts zuwendet, wird seine Erkenntnisse an den Aussagen vieler Lehrer, im Gespräch mit Schülern, Kolleginnen und Kollegen und mittels mannigfaltiger Lektüren prüfen und dann doch nicht umhinkommen, im Lichte der Gegenwart seine Einsichten vorzutragen. Für das vorliegende Buch war es hilfreich, dass in den letzten Jahren umfangreiche Texte und Zeugnisse hinzutraten, die in die Darstellung einfließen konnten. Da inzwischen auch zusätzliche Dokumente zu den Beziehungen zwischen der KPdSU und China zugänglich sind, konnte manches deutlicher dargestellt werden. Dafür verdanke ich der Mao-Biografie von Alexander V. Pantsov und Steven I. Levine von 2012 viel; dies gilt auch für das Digital Archive des Wilson Center, Washington, D.C. Um den Nachweisapparat nicht über Gebühr auszudehnen, habe ich meine Hinweise auf westliche Literatur und insgesamt auf das Nötigste beschränkt. Den Experten wird von dort aus der Rückgriff auf die umfangreiche internationale Fachliteratur und Materialien in chinesischer Sprache leicht möglich sein.
Das Manuskript ist im Lichtenberg-Kolleg in der Historischen Sternwarte in Göttingen entstanden. Für Rat und Hinweise danke ich Achim Mittag, Nele Noesselt, Magdalene Schmidt-Glintzer und Felix Wemheuer. – Ich danke Susanne Weigelin-Schwiedrzik für die Einladung zu einem Symposium zur Mao-Biographik im Sommer 2016 in Wien und dem Institut für Zeitgeschichte, München–Berlin, vor allem Hans Woller und Thomas Schlemmer, die zur Niederschrift des Buches anregten, auch wenn es dann doch nicht in deren Reihe, sondern selbständig erscheint. Schließlich danke ich dem Lektor Tilman Vogt.
Ich habe diese Arbeit meinem unvergessenen, verehrten Lehrer und Kollegen Wolfgang Leander Bauer gewidmet sowie jener Lehrerin aus Hamburg, die mir, ohne dass wir uns darüber hinaus gekannt hätten, in den Jahren 1968 und 1969 aus Peking, das mir während der Frühzeit der Kulturrevolution nicht zugänglich war, manche Bücher in meine Münchner Studentenbehausung schickte.
Berlin, Silvester 2016
Als der junge Mao Zedong im Frühjahr 1911 – er befand sich im 18. Lebensjahr und war damit 18 sui, wie man in China zählt – seine engere Heimat verließ und zu Fuß nach Changsha, der Hauptstadt der Provinz Hunan, ging, eröffnete sich ihm eine neue Welt. Das waldige, hügelige Land seiner Kindheit, geprägt von Bächen und Flüssen, die in den Hu-Fluss münden und nach Norden hin den Dongting-See und damit jenes riesige ausufernde Seen- und Flussgebiet in Chinas Mitte speisen, lag fern von dem in den Küstenstädten des Ostens pulsierenden Leben der neuen Zeit, wo bereits elektrisches Licht und Straßenbahnen Einzug gehalten hatten. Doch auch in seine entlegene Heimat brach die Moderne mit ihren Erschütterungen der sozialen Ordnung bald ein. So soll er in seiner Kindheit Zeuge einer Hungersnot sowie der blutigen Niederschlagung von Bauernunruhen gewesen sein, die später als Grundlegung einer frühen klassenkämpferischen Haltung verklärt wurden. Doch es waren weit mehr Facetten, die bei dem jungen Reisbauernsohn zur Herausbildung eines neuen Weltbildes führten.
Es dürfte ein feucht-kühler Wintertag gewesen sein, als Mao Zedong in dem Ort Shaoshan, mitten in der Provinz Hunan gelegen, etwa 30 Kilometer südsüdwestlich von Changsha, am 26. Dezember 1893 als erstes Kind eines wohlhabenden Bauern in einem Haus mit Innenhof geboren wurde. Der Vater Mao Yichang (1870 – 1920) war als 15-Jähriger mit der drei Jahre älteren Wen Qimei (1867 – 1919) verheiratet worden, die aus einem etwa zehn Kilometer entfernten Nachbarort stammte, in dem man einen von Shaoshan sehr verschiedenen Dialekt sprach. Die Ehe schien mit der Anforderung des Gedenkens an die Ahnen gut vereinbar zu sein, da in Shaoshan ein Großvater des Mädchens begraben war und sie sich dort weiterhin um die Pflege des Grabes kümmern konnte. Auch dass der Vater bei Maos Geburt davon ausging, dass dieser Sohn einmal sein Nachfolger würde, entsprach den typischen chinesischen Familienvorstellungen der Zeit. Die Mutter brachte weitere sechs Kinder zur Welt; von den zwei Mädchen und vier Söhnen überlebten nur zwei Söhne. Früh in die Pflicht genommen, beteiligte sich der 6-jährige Mao Zedong bereits an leichter Feldarbeit, und mit acht Jahren wurde er in die örtliche Dorfschule eingeschult, die er 1907 verließ, um dann ganz der väterlichen Landwirtschaft zur Verfügung zu stehen. Hier bot sich eine aussichtsreiche Perspektive: Der Landbesitz des Vaters hatte sich durch Zukauf vermehrt. Dieser baute nicht nur Reis an, sondern trieb auch einen zeitweise florierenden Reishandel und beschäftigte mehrere Landarbeiter. Neben der Strenge des Vaters ist in Maos Erinnerungen immer wieder vom mitfühlenden Wesen der Mutter die Rede, die eine Anhängerin der Lehre des Buddha war und damit ihre Kinder nachhaltig prägte. So hatte auch Mao ein tiefes Verständnis für solche Frömmigkeit und eine Glaubens- und Welthaltung, in deren Sicht alles in Veränderung begriffen und die Welt von Vergehen und Wiedererstehen gekennzeichnet ist. Die Grundüberzeugung, dass die Welt nie zu Ende gehen werde, ebenso wie die von manchen gehegte Hoffnung, einige Auserwählte könnten sich in ein Paradies retten, waren ihm von früher Kindheit an vertraute Vorstellungen und Bilder, die er bis in sein Alter immer wieder gern aufrief. Seine Geschichtsauffassung und seine Vorstellung von der kosmischen Einbettung der Welt in Abermillionen von Weltzeitaltern und ein unaufhörliches Auf und Ab, Blühen und Vergehen wurden dadurch geprägt. Auch wusste er um die in weiten Kreisen der Bevölkerung vorherrschende Neigung, beim Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung nicht allein Unheil zu erwarten, sondern für neue Heilsversprechen offen zu sein. Das Auseinanderdriften der Wertehorizonte seiner spirituell musikalischen Mutter und seines materialistischen Vaters darf man sich durchaus spannungsreich vorstellen, die Reibung führte bei dem jungen Mao allerdings auch zu einer Öffnung gegenüber der Welt außerhalb der vorgeprägten Wege. Insbesondere das nicht nur harmonische Verhältnis zu seinem Vater versetzte Mao in eine gewisse Unruhe, wie er später erklärte: »Ich habe meinem Vater widersprochen und gesagt: ›In den Vier Büchern und den Fünf Klassikern steht, dass die Kinder ihren Eltern keinen kindlichen Gehorsam erweisen, wenn die Eltern nicht gegenüber ihren Kindern gütig sind. Warum quälst Du mich dennoch so?‹«1 So kam es, dass er begann, sich den Wünschen seines Vaters zu verweigern und den aufkeimenden eigenen Interessen zu folgen, die sich auf das Lesen und das Lernen richteten. Er beschloss, Lehrer zu werden. Diesen subversiven Akt gegenüber dem Vater auch durch die Lektüre von Berichten über Räuberbanden und sich der Ungerechtigkeit der Welt entgegenstellende siegreiche Helden angestiftet zu sehen, wäre wohl eine Übertreibung der literarischen Einflüsse, auch wenn Mao später immer wieder auf den Roman Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihu zhuan) verweisen sollte. Tatsächlich neigte er in seiner Studienzeit keineswegs zur Existenz eines Outlaws. Als er später, gewiss zunächst ohne eigene Absicht, selbst zu einem Hoffnungsträger für viele Enttäuschte wurde, kokettierte er dann aber doch wiederholt mit diesen literarischen Vorbildern.
Dennoch ginge man fehl in der Annahme, verstünde man die jugendliche Abkehr von seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit als außergewöhnliche Auflehnung: Dass der junge Mao nicht in seinem Dorf bleiben wollte, war durchaus nicht ungewöhnlich, denn der Besuch von Schulen und das Erstreben einer Bildungskarriere hatten in China seit Jahrhunderten eine Tradition. Mao blieb seiner Heimat, in der im Altertum das Königreich Chu eine blühende Kultur hervorgebracht hatte, zeit seines Lebens verbunden. Die dieser Gegend Chinas zugeordneten Chu Ci/Gesänge von Chu des Qu Yuan, des »ersten Dichters« der chinesischen Kultur überhaupt, auch als »Gesänge des Südens« bekannt, begleiteten ihn bis an sein Lebensende. Als man 1972 in einem Bezirk östlich von Changsha Gräber aus der Zeit des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts entdeckte und darin unter den spektakulären Artefakten ein Totenbanner aus Seide fand, das inzwischen zu einer der Ikonen der chinesischen Archäologie geworden ist, bestärkte dies Maos Überzeugung, dass er selbst aus dem Herzen Chinas komme.
Nach kurzem Besuch einer Schule in Dongshan, einer kleineren Stadt unweit seines Heimatortes, begab er sich 1911 zum weiteren Studium nach Changsha. An diesen Umschlagplatz für Güter und Neuigkeiten gelangten inzwischen Nachrichten aus aller Welt – für Mao begann dort eine mehrjährige Phase intensiven Lernens, in die sich auch Kunden über die Unruhen in vielen Teilen Chinas mischten.
Die Konflikte und Erhebungen, die schließlich zum Zusammenbruch des Kaiserreiches führen und erst mit dem Ende des Bürgerkrieges und der Ausrufung der Volksrepublik im Jahre 1949 ihr Ende finden sollten, waren nicht überraschend gekommen, sondern fügten sich in eine längere Vorgeschichte ein, die durch staatlichen Zerfall, militärische Gewalt und wirtschaftliches Chaos gekennzeichnet war. Ein Faktor für die Destabilisierung war die Öffnung Chinas für die Welt im Zuge einer Art Globalisierung, die durch die Einführung neuer Techniken, der Telegrafie sowie des Eisenbahnbaus vor allem durch die Kolonialmächte betrieben wurde, welche auf Rohstoffe aus dem Inneren des Landes zugriffen und diese über die Vertragshäfen verschifften. Entsprechende Privilegien zur Ausbeutung von Rohstoffen hatte sich auch das Deutsche Reich in dem Vertrag zur Absicherung seiner Interessen nach der Besetzung der Jiaozhou-Bucht im Jahre 1897 einräumen lassen, wobei der Export von Eisen und Kohle im Zentrum des Interesses stand. Gerade die Kohle sollte zum Schlüsselrohstoff für die weitere Entwicklung Chinas werden, für dessen Erkundung der deutsche Geologe und Forschungsreisende Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833 – 1905) seit seiner ersten Ankunft in Shanghai 1868 wesentliche Grundlagen gelegt hatte.2 China wurde zunehmend von ausländischen Krediten abhängig.
Das Land war in Bewegung geraten. Die von den Kolonialmächten in Zusammenarbeit mit einheimischen sogenannten Kompradoren errichteten Manufakturen in den Küstenstädten hatten zu einer weiteren Verarmung der Menschen auf dem Land geführt, deren Waren aus häuslichen Manufakturen gegen die kostengünstigeren, in Fabriken erzeugten Produkte nicht mehr konkurrenzfähig waren. Immer öfter brachen Aufstände und Streiks aus, und Gewalt lag in den Küstenstädten, aber auch in den urbanen Zentren im Inneren des Landes in der Luft.
Am 13. April 1895 berichtet die Peking Gazette, die englischsprachige Ausgabe der Hauptstadtnachrichten, Wang Lian, amtierender Gouverneur von Hunan, habe bei einer Massenhinrichtung von Aufständischen der Gelaohui, der »Gesellschaft der älteren Brüder«, in Wugang im Südwesten Hunans im Jahr 1894 81 Menschen töten lassen. Diese Geheimgesellschaft hatte seit der Tongzhi-Ära (1856 – 1875) weite Verbreitung gefunden. Vereinigungen wie diese hatten eine differenzierte Struktur, die eine Organisationsform jenseits der staatlichen Institutionen darstellte, und bestanden ihrem Selbstverständnis nach aus unterschiedlichen Gruppierungen, die auch dazu dienten, die Machtbalance innerhalb der Gesellschaft zu sichern. Zentral für das Bestehen dieser Gesellschaften war, dass sie an vielen Orten Unterkünfte für ihre Mitglieder organisierten. Die stärksten und raffiniertesten unter ihnen stiegen zu Hauptfiguren in ihren Organisationen auf, und gelegentlich ergab es sich, dass jemand sein Talent als charismatischer Führer entdeckte. Diese Gesellschaften machten häufig Land urbar und schufen so neue Lebensgrundlagen für ihre Anhänger, oder sie engagierten sich im Handel von nachgefragten Gütern, wozu Salz ebenso zählte wie seit dem 18. Jahrhundert das Opium. Manche folgten buddhistisch geprägten Lebensregeln, waren Vegetarier oder verehrten die »Göttliche Mutter des Westens« (Xiwangmu). Die Mandschu-Verwaltung sah in den Angehörigen dieser Gesellschaften, von denen viele Kampfsportarten pflegten, Verbrecher und Vagabunden. Diese stets auch religiöse Züge tragenden Vereinigungen waren allerdings keineswegs nur rebellisch, sondern handelten auch fürsorglich-strukturbildend und prägten so die örtlichen Lebensräume in vielen Teilen Chinas. Im Grunde waren sie konservativ und auf die Sicherung lokaler Ordnungen gerichtet. Sosehr diese Geheimgesellschaften zu einer rivalisierenden Macht im Staate geworden waren, so wurden sie dann doch zugleich zur Pflanzstätte der politischen Selbstorganisation beim Übergang des chinesischen Kaiserreiches in die Moderne. Ihr Charakter hierarchisch geordneter Schwurbrüderschaften ohne Anspruch auf demokratische Prinzipien übertrug sich auf die später gegründeten Parteien des Landes. Wenn auch unterschiedlichen Interessen folgend, waren sich die über das gesamte Land verstreuten Geheimgesellschaften zunehmend einig darin, dass die Mandschu-Herrschaft gestürzt werden müsse, häufig verbunden mit der Parole »Wiedererrichtung der Ming-Dynastie«, was sich bald mit chinesisch-nationalen Tönen verband.
Allmählich entwickelte sich, unterstützt durch die mittels Telegrafie ermöglichte rasche Verbreitung von Nachrichten, eine neue, ganz China einbeziehende Öffentlichkeit. In den Küstenstädten des Ostens waren um die Jahrhundertwende die westliche Welt und ihre zivilisatorischen Errungenschaften immer stärker eingesickert. Der westliche Einfluss wirkte besonders stark im Erziehungswesen, in jenem traditionellen Kernbereich der Reproduktion chinesischer Kultur. Während der Tongzhi-Reform (ca. 1860 – 1875) waren in den Küstenstädten Kadettenschulen und Militärakademien westlichen Typs sowie Sprach- und Übersetzerschulen in Peking und Nanjing eingerichtet worden. Die begabteren jungen Studenten erstrebten seit der 1862 propagierten »Selbststärkung« (ziqiang) Studienaufenthalte im Ausland, in England, Amerika oder Frankreich und Deutschland, später dann auch in Japan, dessen Reformen während der Meiji-Ära (1868 – 1912) besondere Bewunderung unter jungen Chinesen fanden. Viele suchten nicht ihr eigenes Glück, sondern wollten sich in den am weitesten fortgeschrittenen Ländern der Erde die zur Erneuerung Chinas nötigen Kenntnisse aneignen. Insbesondere das westliche revolutionäre Gedankengut ergriff die urbane Jugend Chinas und schuf ein Interesse, das sich inzwischen nicht nur auf China, sondern auf das gesamte Weltgeschehen und andere unterdrückte Völker wie diejenigen Indiens oder Afghanistans richtete und anarchistische Aktionen wie Bombenanschläge in Städten Amerikas mit Empathie begleitete.3
Als weiterer Akteur des Aufruhrs agierte das Militär. Die Bildung von modernen Armeeverbänden als Antwort auf die Überlegenheit der europäischen Mächte war bei den schlecht bezahlten Unteroffizieren begleitet von wachsendem Unmut. Am 9. Oktober 1911 kam es in Wuchang, der Hauptstadt der Provinz Hubei am Unterlauf des Yangtse, die heute mit Hankow und Hanyang die Metropole Wuhan bildet, zu einer Explosion in einer von aufständischen Militärs betriebenen Bombenwerkstatt. Die Polizei fand dort eine Liste von Verschwörern. Als in der Folge einige Soldaten unter den Verdacht gerieten, revolutionäre Tendenzen zu unterstützen, und festgenommen wurden, besetzten Angehörige der Achten Division am Abend des 10. Oktober 1911 das Waffenlager und die Militärkommandantur von Wuchang, riefen eine Militärregierung und die Republik für ganz China aus und weiteten ihre Kontrolle sodann auf die Nachbarstädte Hankow und Hanyang aus. Auch hier wirkte das inzwischen landesweit eingerichtete Telegrafennetz als Beschleuniger: Innerhalb weniger Wochen, bis Ende November 1911, erklärten alle Provinzen, mit Ausnahme von Zhili (das heutige Hebei), Henan und Gansu, ihre Unabhängigkeit von der Dynastie. Nennenswerte Kampfeinsätze der kaiserlichen Truppen gab es lediglich in Hanyang und Nanjing. Mao hatte seit einiger Zeit die Aktivitäten Sun Yatsens verfolgt, jenes in Hongkong ausgebildeten Arztes, der seit dem Scheitern eines Aufstandes in Kanton gegen die Mandschu-Dynastie 1895 nach Japan geflohen, mit anderen Dissidenten die »Gesellschaft der revolutionären Allianz« (Tongmenghui) gegründet und dann vor allem aus dem amerikanischen Exil eine politische Erneuerung Chinas angestrebt hatte. Im April 1911 hatte Mao Berichte von der Niederschlagung des von Sun Yatsen geplanten Huanghuagang-Aufstandes in Kanton gelesen. Der Plan, den dortigen Gouverneur, Zhang Mingqi, festzusetzen, war durch dessen Flucht vereitelt worden, und die Mandschu-Truppen hatten sich schnell im Straßenkampf gegen die Rebellen durchgesetzt. Mitglieder von Sun Yatsens Tongmenghui sammelten und begruben 72 Tote, die als die »72 Märtyrer« Teil des Gründungsmythos der neuen Republik wurden.
Mao selbst war zu jener Zeit zu einem Anhänger der revolutionären Sache geworden. Wie die meisten anderen seiner Generation schnitt auch er seinen eigenen Zopf ab, den seit dem 17. Jahrhundert die chinesischen Männer zur Unterscheidung von den herrschenden Mandschu zu tragen hatten, und beteiligte sich an Studentendemonstrationen. Als Nachrichten von dem Militäraufstand im Oktober 1911 in Changsha eintrafen, wollte Mao, begeistert durch die Rede eines Vertreters der Tongmenghui, sich selbst den Aufständischen anschließen. Sein erster revolutionärer Elan scheiterte jedoch am Wetter: Weil er gehört hatte, dass Wuchang eine regenreiche Stadt sei, wollte er sich zunächst wasserdichte Schuhe besorgen und versäumte so die Abreise.
Zu diesem Zeitpunkt war offenkundig, dass die Mandschu-Herrschaft an ihr Ende gelangt war. Am 25. Dezember 1911 traf Sun Yatsen, der sich im Ausland aufgehalten hatte, in China ein und wurde fünf Tage später von den in Peking zusammengekommenen Delegierten von 16 Provinzversammlungen zum »Provisorischen Präsidenten« der Republik China ernannt. Am 1. Januar 1912 legte er in Nanjing den Amtseid ab, in dem er schwor, die Mandschu-Dynastie zu stürzen, eine auf den Willen des Volkes gegründete Regierung zu errichten und sodann zurückzutreten, damit das Volk von China seinen Präsidenten wählen könne – denn es war ihm bewusst, dass er kaum Kräfte zur Durchsetzung seiner Ziele zur Verfügung hatte und ohne die Militärs handlungsunfähig war. Daher versicherte er sich der Unterstützung durch Yuan Shikai, den als Befehlshaber der Beiyang-Armee mächtigsten Mann im Norden. Sun Yatsen hatte sich mit anderen Revolutionären bereits Ende Dezember 1911 darüber verständigt, dass Yuan Shikai die einzige Hoffnung darstelle, Bürgerkrieg, Chaos und die Intervention fremder Mächte zu verhindern. Nachdem der Thronregent Prinz Chun am 12. Februar 1912 abgedankt hatte, wurde dementsprechend Yuan Shikai die Präsidentschaft übertragen. Damit war formal die Republik geboren. Das Kalendersystem wurde vom Mond- auf den Sonnenkalender umgestellt, und die Jahreszählung begann mit dem Jahr 1912 als dem ersten Jahr der Republik.
Inzwischen war auch Changsha von Revolutionstruppen besetzt worden. In den ersten Wochen der Republik erlebte Mao dort am Fall von Jiao Defeng und Chen Zuoxin den kurzzeitigen Erfolg und das Scheitern zweier Revolutionäre, die wenig Rückhalt bei den örtlichen Politikern und dem Militär hatten. Als ihre Ziele einer radikalen Land- und Eigentumsreform bekannt wurden, wurden sie von ihren eigenen Truppen ermordet. Mao hatte ihre Leichen selbst auf der Straße liegen sehen und notierte später, sie seien nicht schlecht gewesen, hätten jedoch allein die Interessen der Armen und der Unterdrückten verfolgt und damit die Landbesitzer und die Händler gegen sich aufgebracht. Diese Ereignisse waren Maos erste Begegnung mit der Wirklichkeit von Machtpolitik. Die Notiz zeigt deutlich seinen frühen Blick für das Wechselspiel komplexer Interessenkonstellationen. Der Weg zum politischen Erfolg führte in China dabei immer über das Land und das Lernen von den »unwissenden Massen«, was auch andere Reformer früh erkannt hatten. So ermahnte der später hingerichtete Rebell Tang Caichang einen Mitstreiter in einem Brief:
»In den ländlichen Gebieten solltest du dich tunlichst mit den Bauern und der Landbevölkerung austauschen. Als Gebildeter darfst du dich nicht erhaben fühlen und auf die ungebildete Menge herabblicken. Du musst zuallererst ihre Herzen gewinnen. Wenn es einmal zu kriegerischen Verhältnissen kommt, werden sie dir im Chaos beistehen. Dann wird auch unter solchen Umständen dein Leben und das deiner Familie sicher sein.«4
Diesen Geist sollte Mao bald für sich entdecken.
In den ersten Jahren nach der Abdankung des letzten Kaisers und der Gründung der Republik China im Jahre 1912 sprach alles dafür, dass China auseinanderbricht. Japan und die westlichen Mächte hatten sich bereitgemacht, das destabilisierte Land zu erobern, und standen vor den Toren. China war inzwischen zu einem Flickenteppich von Einzelregionen geworden, die von Kriegsherren beherrscht wurden, und die jungen Intellektuellen und Aktivisten wandten sich von dem Gesamtreich ab und hofften ihre Modernisierungspläne in ihren Heimatregionen durchzusetzen. Dies galt auch für Mao, der seine Herkunft aus Hunan nie verleugnete. Der dortige Dialekt prägte zeitlebens seine Aussprache: ein Dialekt, geprägt durch ein leicht rhythmisches Sprechen, der vielen fremd klang, jedoch nicht so verschieden von der nordchinesischen Hochsprache war, dass ihn Landsleute anderer Regionen nicht hätten verstehen können. Kulturell bleiben viele Chinesen ihrer Heimat verbunden, und selbst wenn mehr und mehr Impulse aus dem Ausland aufgenommen wurden, blühte insbesondere nach der Traumatisierung durch die 1895 festgeschriebene Niederlage gegenüber Japan und die Demütigung durch die Mächte Europas im Zuge des Boxeraufstandes der Lokalpatriotismus.
Das soziale Element war in der Revolution von 1911 hingegen weniger stark ausgeprägt, tatsächlich profitierte die große Masse der Bevölkerung nicht von der politischen Modernisierung und der Einräumung erweiterter Mitspracherechte für die städtischen bzw. regionalen Eliten. Die »Verwestlichung« war ein Projekt der Eliten, welche die Ansammlung von Macht und Reichtum für sich regional zu sichern verstanden. Die Republikgründung fand große Zustimmung bei ihnen, weil sie auf eine von der Gentry kontrollierte regionale Selbstverwaltung setzte und gegen eine starke Zentralregierung gerichtet war, die einen sozialen Ausgleich hätte einfordern können.
Im Zuge der Revolution trat Mao im Winter 1911 in Changsha in den »Neue Armee« genannten regulären Militärdienst ein. Dort wurde er jedoch nicht zum Kämpfer ausgebildet, sondern tat Dienst in der Schreibstube. Denn das Lesen und Formulieren eigener Standpunkte war dem 18-Jährigen bereits eine selbstverständliche Tätigkeit geworden. So blieb er zeit seines Lebens ein Mann des Schreibtischs und der Rede und wurde nie ein Kämpfer und Soldat. Zum Auftakt der Massenversammlungen der Kulturrevolution allerdings besorgte er sich spontan eine Uniform. Nach sechs Monaten quittierte er den Militärdienst. Später erinnerte er sich, er habe, weil er die Revolution als beendet ansah, die Armee verlassen und sei wieder »zu den Büchern zurückgekehrt«.
So rückte das Ziel des Lehrerberufs wieder ins Zentrum seiner Bemühungen. Die Zeit schien günstig, denn es entstanden in großer Vielfalt neue Schulen und Bildungseinrichtungen, die ein besseres Fortkommen und neue Chancen versprachen. Wegen seiner rudimentären Englischkenntnisse, über die er sein ganzes Leben nicht hinauskommen sollte, kamen für ihn Einrichtungen, in denen größere Teile des Unterrichts in Englisch erfolgten, nicht infrage. Nachdem er sich zunächst in der Provinzbibliothek von Hunan dem Selbststudium gewidmet hatte, entschied er sich 1912 zur Jahresmitte für eine Mittelschule in Changsha mit einem eher traditionellen Programm, wozu die chinesischen Klassiker und insbesondere die Geschichte Chinas zählten. Dort kam er erstmals mit den »Aufzeichnungen der Historiker« (Shiji) des Geschichtsschreibers Sima Qian (ca. 145 – 90 v. Chr.) in Berührung, und er begann, sich ausgiebig für die früheren Zeiten Chinas zu interessieren. Ein sehr früher Aufsatz aus dem Juni 1912, einer der wenigen aus diesen Jahren erhaltenen Texte Maos,5 beschäftigt sich mit Fürst Shang (390 – 338 v. Chr.), einem der ersten Minister des Staates Qin. Dieser wurde in der konfuzianischen Überlieferung geächtet, weil er seine Politik auf strenge und einfache Gesetze und auf deren rigorose Durchsetzung gegründet hatte. Von Sima Qian wurde er als skrupellos und grausam beschrieben. Mao verknüpfte seine eigene Kritik an der politischen Lage Chinas mit Konzepten dieses Fürsten Shang und den Lehren der intellektuellen Wegbereiter der ersten Reichseinigung in der Teilstaatenzeit Chinas (403 – 221 v. Chr.); den Legalisten. So soll Fürst Shang die Bevölkerung in Gruppen von fünf oder zehn Haushalten geordnet haben, die füreinander verantwortlich sein sollten. Familien mit mehreren Söhnen sollten sich aufteilen, um so die Zahl der steuerpflichtigen Haushalte zu mehren. Dieses Ordnungsmodell faszinierte Mao. Auch sonst galt ihm Fürst Shang als Vorbild: Er, der den Adel mit seinen Privilegien durch eine nach Leistung rekrutierte Beamtenschaft ersetzen wollte, hatte sich auf die Schlichtheit des Volkes eingestellt und daraus ein klares Erziehungskonzept abgeleitet. Wie vielen seiner Landsleute galten Mao China und die Chinesen als rückständig und töricht – auf welche die zivilisierten Länder des Westens ebenso wie des Ostens (er meinte Japan) herunterblickten. Eine geordnete Gesellschaft basierte nach Maos Überzeugung auf Gesetzen und auf Vertrauen. Im Juni 1912 schrieb der 19-Jährige:
»Gesetze und Vorschriften dienen dazu, Glück zu ermöglichen. Wenn Gesetze und Vorschriften gut sind, wird das Glück der Menschen sicherlich groß sein. Unser Volk fürchtet nur, dass unsere Gesetze nicht bekannt gemacht werden, oder dass sie bekannt gemacht, aber nicht angewendet werden. Es kommt ganz entscheidend darauf an, dass Gesetze angewendet werden und daran festgehalten wird, so lange, bis alles geordnet ist. Regierung und Volk sind aufeinander bezogen und angewiesen, wie könnte es da Grund für Misstrauen geben?«6
Fürst Shang, der das Ziel seiner Absichten, die Reichseinigung, nicht mehr selbst hatte erleben können, war vor mehr als 2000 Jahren zu einem Stichwortgeber für die Einigung Chinas unter der Dynastie Qin geworden. Nach seiner Vorstellung würde sich eine starke Regierung auf die Bauern als den Nährstand einerseits und zur Verteidigung auf die Soldaten andererseits stützen. Die Bauern bildeten dabei die größte Produktivkraft. Shang Yang plädierte für die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten und vor allem von Gesetzen. Er betonte, dass jede Zeit ihre eigenen Gesetze brauche und diese nicht aus der Vergangenheit ableiten solle. Veränderung und Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse war seine oberste Devise. Durch solche Maßnahmen würde die Produktivität der gesamten Bevölkerung am besten im Interesse des Staates mobilisiert. Der Staat beruhe auf Gesetzen (fa), Vertrauen (xin) zwischen dem Herrscher und seinen Ministern und der absoluten Macht (quan) des Herrschers. Ein gerechtes System von Belohnungen und Bestrafungen sollte Anreize zur Leistung geben und Fehlverhalten verhindern. Die strenge und konsequente Anwendung der Strafgesetze werde diese letztlich überflüssig machen. An diese Prinzipien wollte sich auch Mao halten.
Die Grundlage für ein gelingendes Staatswesen sah Mao jedoch in der Erziehung und in der Selbstvervollkommnung des einzelnen Menschen. Hierzu bedürfe es der bewussten Anstrengung. Um große Aufgaben zu bewältigen, sei es nötig, zu kämpfen. In seinen Notizen vermerkte er:
»Kampf. Wenn man gegen eine Armee von hunderttausend Mann kämpft und selbst nur über fünftausend Mann verfügt, oder wenn man nur bereits erschöpfte Soldaten hat oder noch nicht zugerittene Pferde, wenn man dann überleben will, geht das nicht ohne Kampf. – Willenskraft. Junge Leute brauchen Willenskraft, oder sie werden von Lethargie beherrscht. Lethargie ist eine Folge von Faulheit. Daher meine ich, Müßiggang führt ins Grab. – Heilung von Schwächlichkeit. Wenn viele hinfällig sind, kann das Land nicht stark sein. Das ist gegenwärtig in unserem Land der Fall, und deswegen kann es nicht mit anderen in Wettbewerb treten.«7
Während Mao als Schüler der Mittelschule in Changsha 1912 seinen Essay über Fürst Shang verfasste, begann das Scheitern der ersten Republik, verbunden mit der weiteren Regionalisierung der Macht, die zunehmend in die Hände einzelner Militärführer fiel. Wie viel der Schüler davon registrierte, ist nicht überliefert. Er hielt sich seit dem Winter 1912 und in dem Krisenjahr 1913, in dem Sun Yatsen gegen Yuan Shikais Ambitionen der Wiedererrichtung einer Kaiserdynastie eine Revolte versucht hatte und anschließend ins Exil nach Japan geflohen war, weitgehend in Changsha auf und beschäftigte sich in der dortigen öffentlichen Bibliothek intensiv mit der Lektüre von Werken zur Weltgeschichte, zur Geografie sowie zur politischen Theorie des Westens. Er las in chinesischer Übersetzung Adam Smiths The Wealth of Nations, Charles Darwins The Origin of Species, aber auch Schriften von John Stuart Mill, Jean-Jacques Rousseau und Montesquieu. Nach dieser Zeit des Selbststudiums bestand Mao im Frühjahr 1913 die Aufnahmeprüfung für die Lehrerbildungsanstalt Nr. 4 der Provinz Hunan, eine Schule, in der kein Schulgeld verlangt wurde. Dort blieb er fünf Jahre. Er wurde ausgiebig in traditioneller Literatur unterrichtet, las aber auch gegen die Herrschaft der Mandschu gerichtete Dichtung aus dem 17. Jahrhundert mit rassistischen und nationalistischen Tönen. Die dort entwickelte Vorliebe für die Literatur Chinas blieb ihm sein Leben lang erhalten. Hier traf er auch auf jenen Lehrer, der auf ihn großen Einfluss ausübte und der für seine weitere geistige Entwicklung bestimmend werden sollte, Yang Changji; in Maos Worten ein »Idealist und Mann mit hohen moralischen Ansprüchen«. Yang Changji bestärkte seine Schüler darin, eine gerechte, moralische und tugendhafte Persönlichkeit zu entwickeln und sich für die Gesellschaft einzusetzen. Mao befolgte dies offenkundig, auch aus eigenem Antrieb. Er beschaffte sich Lektüre, wo er konnte, und warf sich ins Studium, worunter die Leihgaben manches Mal zu leiden hatten. So sandte er seinem Cousin am 24. Februar 1915 ein Bücherpaket mit den Zeilen: »Bei diesen elf Büchern ist die Stoffhülle bei dem Titel ›Warnungen vor einer Zeit des Wohlstands‹ abhandengekommen, und bei dem Band der Zeitschrift ›Erneuerung des Volkes‹ ist das Titelblatt herausgefallen. Ich hoffe, Sie sehen mir das nach.«8
Sein Lehrer Yang Changji hatte die Zeit von 1902 bis 1913 in Schulen in Japan, England und Deutschland verbracht und verband das Denken Immanuel Kants und von Vertretern des angelsächsischen Pragmatismus mit der Lektüre der Worte des Konfuzius und des Systems der Ethik von Friedrich Paulsen. Dieses 1889 in Leipzig erschienene und seit 1909 in chinesischer Übersetzung vorliegende Werk9 beflügelte Maos Nachdenken über Selbstkultivierung. Ihn faszinierten Sätze wie »Freiheit des Willens bedeutet […] die Fähigkeit, sein Leben unabhängig von den sinnlichen Antrieben und Neigungen durch Vernunft und Gewissen nach Zwecken und Gesetzen zu bestimmen«10, oder die Aussage, der Mensch werde »nicht durch mechanischen Zwang von Seiten der Dinge und Menschen gestaltet, sondern der äußere wie der innere Mensch gewinnt seine Gestalt, indem ein inneres Prinzip gegen die Einwirkungen von außen reagiert und so allmählich sich auswirkt«.11
Die Überzeugung von der zentralen Bedeutung der Willenskraft beseelte ihn – womöglich muss darin die wesentliche Triebfeder für sein Durchhaltevermögen und seine beispiellosen Erfolge gesehen werden. Es war auch sein Lehrer Yang Changji gewesen, der diese vitalistischen Impulse bei Mao durch den Hinweis auf die Lebensphilosophie Henri Bergsons noch befördert hatte. Dieser Vitalismus ging über das reine Geistesleben hinaus und zielte durchaus auch auf die Entwicklung des körperlichen Menschen. Die Wertschätzung, die Mao seinem an die Peking-Universität gewechselten europäisch gebildeten Lehrer Yang Changji entgegenbrachte, beruhte auf Gegenseitigkeit, wie dieser selbst in einer überlieferten Tagebuchaufzeichnung vom 5. April 1915 bekundete.12 Im Vordergrund von Maos Denken stand damals bereits die Vorstellung von der Selbstverwirklichung des Individuums, das auch das Recht hätte, sich über die Moral der Masse zu erheben. Solche Gedanken entfaltete er in seinen Kommentaren zu Friedrich Paulsens System der Ethik.13 So bemerkte er:
»Der wahrhaft große Mensch entfaltet seine natürlichen Anlagen […]. Die Taten des Helden sind seine eigenen Taten, sind Ausdruck seiner Willenskraft, erhaben und reinigend, und berufen sich auf kein Vorbild. Seine Kraft gleicht einem sturmmächtigen Wind, der aus einer tiefen Schlucht hervorbricht, wie die unwiderstehliche sexuelle Begierde nach der Geliebten, eine Macht, die grenzenlos ist und der man keinen Einhalt gebieten kann. Vor ihr weichen alle Hindernisse.«14
Spätestens seit 1915 machte Mao mit Freunden Ausflüge in die Natur, bei denen sie kletterten, in Flüssen und Seen schwammen und natürlich auch über Chinas Zukunft diskutierten. Seine Auffassung formulierte der 24-jährige Mao bereits in einem Aufsatz im April-Heft 1917 der Zeitschrift »Neue Jugend« (Xin Qingnian), dem Sprachrohr der Protagonisten der späteren 4.-Mai-Bewegung. Unter dem Titel »Eine Studie über Leibeserziehung« (»Tiyu zhi yanjiu«) ruft er seine Landsleute zum Sport und zur Selbstertüchtigung auf. Das Alte solle überwunden und ein neuer Weg eingeschlagen werden. Leibeserziehung bewirke nicht nur »Harmonie der Gefühle, sondern stählt auch den Willen«. Die Leibesübung
»sollte wild und hart sein. Wenn man auf einen Pferderücken springt und gleichzeitig schießt, wenn man von Kampf zu Kampf eilt, Berge durch sein Geschrei erzittern lässt und die Farben des Himmels durch ärgerliches Gebrüll verändert …, dann ist das alles wild und roh und hat mit Zartgefühl nichts zu tun.«15
Seinem Biografen Edgar Snow gegenüber erklärte Mao zwei Jahrzehnte später, nach dem Ende des Langen Marsches:
»Wir entwickelten uns außerdem zu eifrigen Verfechtern der Körperkultur. In den Winterferien wanderten wir durch die Felder, stiegen auf Berge, gingen Stadtmauern entlang und überquerten Ströme und Flüsse. Wenn es regnete, zogen wir unsere Hemden aus und nannten dies ein Regenbad … Wir schliefen im Freien, wenn es schon fror, und schwammen im November in kalten Flüssen.«16
Diese Hervorhebung der über Jahrhunderte von der Elite der Literatenbeamten verdrängten kämpferischen Ideale verband sich mit der seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts thematisierten »nationalen« Frage nach dem Überleben der »chinesischen Rasse«, die in dem Maße akut wurde, in dem China sich dem unterjochenden Zugriff anderer Staaten ausgesetzt sah. Die Bemühungen um Selbstbehauptung Chinas gegenüber den imperialistischen Mächten boten zum Teil erst die Grundlage für diese neue Denkungsart. Dabei konnte man sich auf chinesische Traditionen berufen, war aber doch in hohem Maße von westlichen Ideen, unter anderem denjenigen Charles Darwins, geprägt. Ideologien des Kampfes zwischen den Völkern als Grundzustand, die in Europa die Begleitmelodie zur heißlaufenden Staatenkonkurrenz seit der Jahrhundertwende geliefert hatten, fassten nun auch im Fernen Osten Fuß: Nur kollektiver Kampf und die »Einheit der Volksmassen« könnten im Zuge des weltweiten Wandels das Überleben der Chinesen sichern. Eine Flut überrolle stürmisch die Welt, nur »wer mit ihr geht, wird überleben; wer sich ihr widersetzt, geht zugrunde«.17 Ein Außenseiter werde zum Befürworter einer Massenbewegung, wenn er erkenne, dass der Satz »Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom« in Zeiten des Umsturzes keinen Sinn mehr habe. In vielfältiger Weise suchte Mao sein Verständnis solcher Lehren in eine Auslegung von Positionen, die er in der klassischen chinesischen Überlieferung fand, zu übersetzen. Es handelte sich um die Suche nach einem eigenen Standpunkt, den er unter Hinzuziehung vielfältiger historischer Beispiele und Betrachtungsweisen definierte. Dabei nahm er vor allem Bezug auf eigene chinesische Vorbilder, natürlich auch auf Gestalten wie Jesus und Buddha; aber entscheidend war für ihn die Frage, wie man kraftvoll und lange leben könne, da er fest davon überzeugt war, dass die Seele und der menschliche Geist mit dem Körper untergehen – oder zumindest ohne Körper nicht in dieser Welt leben können.
Yang Changji, der Lehrer, lenkte Maos Aufmerksamkeit außerdem auf radikale Positionen wie die des japanischen Sozialisten Miyazaki (Hakuro) Tōten, der die Aktivitäten Sun Yatsens unterstützte. Im März 1917 schrieb Mao zusammen mit einem Kommilitonen einen Brief an den japanischen Revolutionär. Dieser plante offenbar an dem Staatsbegräbnis für ihren Landsmann, den aus Hunan stammenden General und Kampfgenossen Sun Yatsens, Huang Xing, teilzunehmen, das für den 15. April 1917 in Changsha geplant war. In dem wenige Wochen zuvor verfassten Brief der beiden Studenten wird der Wunsch deutlich, sich auf einen Lehrer und ein Vorbild zu beziehen. Ob das von den beiden »Studierenden der Ersten Lehrerbildungsanstalt, Hunan« erhoffte Treffen, um, wie sie schrieben, »von Ihnen das rechte Verhalten zu lernen und Ihre Weisungen entgegenzunehmen«18, tatsächlich zustande kam, ist nicht überliefert, die versuchte Kontaktaufnahme beweist aber, wie konkret Maos politisches Interesse zu diesem Zeitpunkt bereits war.
Mit Vorstellungen in der Tradition des Fürsten Shang und der Legalisten stand Mao nicht allein. Eine Neugestaltung der Machtverhältnisse und die Schaffung der Grundlagen für eine prosperierende Gesellschaft durch die Implementierung einer Erziehungsdiktatur wurden zu jener Zeit von vielen angestrebt. Dass sich China reformieren, ja geradezu neu erfinden müsse, dies war die von allen geteilte Einsicht im Ausgang des 19. Jahrhunderts gewesen. Auf Grundlage dieser Erkenntnis konstituierte sich eine chinesische Nationalbewegung, die im Zuge der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beständig mit drei Herausforderungen zu ringen hatte. Das erste und wichtigste Problem war, dass China über keine zentral geführte Armee verfügte. Zwar gab es zahllose Soldaten, aber es kam nicht zur Etablierung einer zentral geleiteten »nationalen Armee«. Militarisierungsversuche, wie etwa die Aufstellung der modernen Beiyang (wörtlich: »Nordmeer«)-Armee seit 1888, verschlangen wichtige Ressourcen, die für andere staatliche Unternehmungen fehlten, und verhinderten doch nicht die Niederlagen gegenüber Japan und den Mächten Europas. Das zweite Problem, das ebenfalls zur Fortdauer des Bürgerkrieges beitrug, lag darin, dass es nicht gelang, die soziale Lage weiter Kreise der Bevölkerung spürbar zu verbessern. Veränderungen auf diesem Gebiet stagnierten und wurden erst nach der Gründung der Volksrepublik in Angriff genommen. Das dritte Problem lag in der anhaltenden Bedrohung durch die ausländischen Mächte und der daraus resultierenden Unzufriedenheit mit der Zentralregierung, die insbesondere bei den Verlierern einer auf Stärkung der Regionen ausgerichteten politischen Reform starke Ressentiments gegen alles Fremde befeuerte.
Angesichts dieser mehrfach begründeten Schwäche Chinas bildete sich dort ebenso wie in anderen Ländern der Region unter den Eliten ein Begriff von »Asien« heraus, den sie von Europa übernahmen und von dem ausgehend sie neue Konzepte zur Rettung ihrer Länder und Völker entwickelten. Während manche zunächst eine panasiatische Bewegung anstrebten, setzte sich bald doch das Konzept der Nationalstaatlichkeit nach europäischem Vorbild durch. Es wurde allgemein erkannt, dass die Staaten Asiens dem Untergang geweiht sein würden, wenn sie sich nicht selbst retteten. Dieses Asien und seine Teile sah man nun durch »den Westen« herausgefordert, und alle politische Programmatik stand so seither unter der Vorstellung eines Ost-West-Gegensatzes.19 Die Bedrohung durch den Westen verschmolz in China mit der Erfahrung der Fremdherrschaft durch die Mandschu; manche glaubten gar, China sei eine »im Verschwinden begriffene Nation« (wangguo).20 Diesen Status eines »untergehenden Staates«21 wollten die jungen Aktivisten überwinden. China sollte endlich aus dem Kreislauf von Aufstieg und Verfall befreit und in einen beständigen und stabilen Zustand allgemeinen Wohlstandes überführt werden. Dieser Herausforderung wollte sich, wie viele andere, der junge Mao Zedong stellen.
Als Präsident Yuan Shikai sich den von Japan zu Jahresbeginn 1915 aufgestellten »21 Forderungen« nur halbherzig widersetzte und am 9. Mai im Wesentlichen zustimmte, hatte er damit in den Augen der engagierten Jugend erhebliche nationale Interessen Chinas verraten. Denn mit der Umsetzung dieser Forderungen, denen zufolge die Provinz Shandong, die Mandschurei, die Innere Mongolei sowie das Gebiet der Yangtse-Mündung und die Südküste japanischer Kontrolle unterworfen werden sollten, wäre China faktisch zu einer Kolonie Japans geworden. Dieses Versagen der Pekinger Regierung beflügelte die Formierung von Unabhängigkeitsbestrebungen in einzelnen Provinzen und führte zu massivem Widerstand regionaler Truppenverbände. Hinzu kam, dass Yuan die Wiedererrichtung der Monarchie favorisierte. Dazu hatte ihm sein amerikanischer Rechtsberater, Frank J. Goodnow, geraten, der eine konstitutionelle Monarchie wie die der Hohenzollern in Deutschland für China angemessener hielt. So realisierte Yuan Shikai seinen Plan, eine neue Dynastie zu begründen, und ließ sich als neuer Kaiser installieren. Andere Kriegsherren waren bereit zum Widerstand, und insbesondere die Yunnan-Armee, die weite Teile des Südens und Westens kontrollierte, stellte sich gegen diesen Anspruch Yuan Shikais und seiner Beiyang-Armee. Auch auf Druck Japans musste Yuan im März 1916 seinen Posten abtreten, und als er am 6. Juni 1916 starb, war er nicht nur zur Karikatur seines Ehrgeizes geworden, sondern der ohnehin schwache Einfluss der Zentralregierung auf die Politik Chinas war weitgehend zerfallen. Im Inneren hatte China nun endgültig kein Machtzentrum mehr, weil die meisten der zu jener Zeit im Ausland als »Warlords« bezeichneten Kriegsherren jeden Versuch der Neuformierung einer Zentralgewalt unterbanden.
Zu diesen Kriegsherren muss im weiteren Sinne auch Chiang Kaishek gerechnet werden, der bald und über lange Jahre zum erfolgreichen Gegenspieler Mao Zedongs werden sollte. Überhaupt fanden sich unter den Kriegsherren außergewöhnliche und durchaus beeindruckende Persönlichkeiten, darunter jener Yan Xishan, der aufgeklärter Herrscher der Provinz Shanxi und ein Gegenspieler Chiang Kaisheks war. An der Karriere Yan Xishans wird übrigens deutlich, was die jungen Aktivisten Chinas zu Beginn des 20. Jahrhunderts miteinander verband, auch wenn sie im Einzelnen vieles trennte. Yan Xishan gehörte zu jenen, die einen Teil ihrer militärischen Ausbildung in Japan absolviert hatten. Dort lernte Yan Xishan die Bushidô-Ethik kennen, die ihn 1915 zu dem Ausruf führte: »China kann sich nur retten, wenn es sich dem Militarismus verschreibt.«22 Alle diese Männer einte die Kritik an den maroden Verhältnissen des Kaiserreichs und an der Käuflichkeit der alten Eliten. Den meisten galt es als unrealistisch, bald eine Erneuerung Chinas als Ganzes verwirklichen zu können, eine Diagnose, die auch Mao teilte. Daher begannen sie, ihre Reformprogramme auf regionaler Ebene umzusetzen, und fanden dabei oft breite Zustimmung und Unterstützung. So auch Yan Xishan, der die Provinz Shanxi mit der Hauptstadt Taiyuan zu einer Modellprovinz entwickelte. Er rekrutierte dort junge Männer als Nachwuchs für seine Provinzarmee, stellte lokale Milizen auf, beschränkte sich zugleich jedoch nicht auf das Militärische, sondern suchte auch die Moral und das Privatleben der gesamten Bevölkerung zu »verbessern«. Er wollte Prostitution und Homosexualität unterbinden, stellte das seit Jahrhunderten von Frauen praktizierte Bandagieren der Füße, um diesen eine Lotosblüten oder Lilien ähnliche Form zu geben, unter Strafe und ordnete an, dass alle Bürger spätestens um sechs Uhr in der Früh aufgestanden sein sollten. Solche öffentlich kontrollierten Erziehungsmaßnahmen standen in einer längeren Tradition und sollten ein halbes Jahrhundert später bei der Gründung der Volksrepublik, dann in besonders verschärftem Maße während der Kulturrevolution ganz China in ein großes Umerziehungslager verwandeln.
Müßiggang, Glücksspiel und das Feiern ausgedehnter Feste wurden ebenso verboten wie die Verwendung des alten Mondkalenders, und ähnlich der Boy-Scouts-Bewegung in den USA organisierte Jugendverbände erhielten den Auftrag, die Einhaltung dieser Vorschriften in der Bevölkerung zu überwachen. Die Instrumentalisierung der Jugend zur Intensivierung der ideologischen Gleichschaltung der Bevölkerung war zu jener Zeit eine weltweit zu beobachtende Erscheinung. Regierung und Verwaltung sollten nicht als repressiv angesehen, sondern als fürsorglich erkannt werden. Aus den konfuzianischen Selbstvervollkommnungstraditionen übernahm Yan Xishan den Gedanken, dass die Gefühle und Wünsche des Einzelnen seinem Gewissen zu unterwerfen seien. In jeder Stadt gründete er eine »Gewissensreinigungsgesellschaft« (wörtlich: Gesellschaft zur Reinigung des Herzens, Xixin she