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Die Entdeckung einer wichtigen Künstlerin und faszinierenden Frau
Dass sich die bildende Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fundamental wandelte, ist bekannt. Doch nur wenige kennen Marianne von Werefkin (1860–1938) – Malerin und Salonière, Mitstreiterin und Vordenkerin des Blauen Reiters. Endlich gibt es eine spannend erzählte Biographie – für alle die sich für die Kunst des Expressionismus und dessen Protagonisten interessieren.
»Kunst ist Emotion« – Marianne von Werefkins Credo bestimmte ihr Werk. Sie war eine der Schlüsselfiguren der Avantgarde des Expressionismus. Als Schülerin des berühmten Ilja Repin feierte die Malerin frühe Erfolge, bevor sie Alexej Jawlensky kennenlernte, den sie protegierte, liebte und hasste. Mit ihm ging die reiche Russin nach München, wo in ihrem Salon Blauer-Reiter-Geschichte geschrieben wurde. Im regen Austausch mit Kandinsky, Marc und Münter war Werefkin deren Mitstreiterin und Vordenkerin.
Basierend auf umfangreicher Forschung sowie einer Fülle bislang unbekannter Quellen erzählt Brigitte Roßbeck in dieser ersten umfassenden Biographie das Leben einer kämpferischen, leidenschaftlichen und geistreichen Frau, die viel wagte und sich dabei immer treu blieb.
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Seitenzahl: 489
NICHTS MACHT BIOGRAFEN GLÜCKLICHER als eine Fülle neuer Quellen. In diesem Fall: niemals zuvor aufgespürtes oder gedrucktes, niemals zuvor transkribiertes, niemals zuvor aus dem Französischen, aus dem Litauischen und, sehr umfänglich, aus dem Russischen ins Deutsche übertragenes Schrifttum.
Aufbauend auf Dr. Bernd Fäthkes Archivalienfundus und in Ergänzung seiner Forschungsergebnisse zu Vita und Werk Marianne von Werefkins (2001 in seiner wegweisenden Monografie publiziert), bin ich bei meiner weiterführenden Recherche auch an entlegenen Stellen fündig geworden.
So konnte ich bei der Arbeit an diesem Buch unter anderem aus bislang im Verborgenen gebliebenen Tagebuchaufzeichnungen schöpfen und vor allem aus den weitgehend unbekannten Briefen
Alexej Jawlenskys an Marianne von Werefkin, Marianne von Werefkins an Alexej Jawlensky, Ilja Repins an Marianne von Werefkin, Marianne von Werefkins an ihren Vater, Marianne von Werefkins an ihren Neffen Alexander, Lisa Della Voss’ an ihre Freundin Marianne von Werefkin.
Neue Quellen verändern Sichtweisen, schärfen Profile, füllen Wissenslücken.
Meine Protagonistin war eine bemerkenswerte Künstlerin und ein ungewöhnlicher Mensch. Marianne von Werefkin den ihr gebührenden Platz in der Kunstgeschichte zuzuweisen, ist mir ebenso wichtig gewesen, wie der Frau mit den vielen Facetten gerecht zu werden.
Brigitte Roßbeck
Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik.
Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen sie.
RAINER MARIA RILKE in einem Brief vom 23. April 1903 an den »jungen Dichter« Franz Xaver Kappus
Und ich träume, dass, wenn ich hingehe, aufrecht und rein, ich eine unbekannte Blume finden werde …
Und wenn das Leben gar zu hart ist, berge ich meine Augen in meinen Händen, die den Duft der Blume bewahren.1
DAS KIND WAR GERADE EIN HALBES JAHR ALT, als Zar Alexander II. einem Drittel seiner Untertanen die persönliche Freiheit schenkte. Nur wurde mit der Aufhebung der Leibeigenschaft die Not der kleinen Leute kaum geringer.
Mariamna Wladimirowna Werefkina2 (für uns Marianne Werefkin, bis sie selbst, angepasst an die Gepflogenheiten der westeuropäischen Noblesse, das von zwischen ihren Vor- und Familiennamen setzte) kam am 29. August 1860 in einem Palast zur Welt, dem Amtssitz ihres Großvaters mütterlicherseits. Legt man den Gregorianischen Kalender3 zugrunde, dann fiel ihr Geburtstag auf den 11. September. Mariannes Geburtsort ist Tula, eine zentralrussische Bezirkshauptstadt.
Schon im äußeren Erscheinungsbild des Prachtbaues, in dem der Großvater Peter Michailowitsch Daragan (1800–1875) residierte und in dem seine Manjuscha oder Manja gerufene Enkelin ihren ersten Schrei tat, kam der politische und gesellschaftliche Rang eines Gouverneurs zum Ausdruck. Die Daragans zählten zur eng mit dem kaiserlichen Hof verbundenen Hocharistokratie. Dies traf auch auf die Vorfahren von Mariannes Großmutter Anna Daragan geborene Balugiansky (1806–1877), zu. Die kluge und couragierte Tochter des kaiserlich russischen Staatsrats Michail Andrejewitsch Balugiansky (1769–1847), einst Mitbegründer und Rektor der Universität von Sankt Petersburg, zählte in ihrem Heimatland zu den weiblichen Ausnahmeerscheinungen. Anna Daragan tat sich als Reformpädagogin hervor. Ihr didaktisch wegweisendes Unterrichtswerk Das Alphabet mit Lesebeispielen für Fortgeschritteneerreichte zehn Auflagen. Noch größere Verbreitung fand ein kleines Werk mit dem Titel Der Weihnachtsbaum; obgleich unverkennbar religiöser Natur, hatte die Verfasserin dieser Kinderfibel auf die üblichen frömmlerischen Phrasen bewusst verzichtet. Und bevor sie ans Schreiben eines in Russland weit verbreiteten Lesebuchs mit Tiergeschichten gegangen war, hatte Anna Daragan zoologische Forschungsberichte studiert. In Zarin Alexandra Fjodorowna (ursprünglich Friederike Luise Charlotte Wilhelmine von Preußen, älteste Tochter Friedrich Wilhelms III. und der legendären Königin Luise) fand sie eine einflussreiche Förderin. Zunächst wurde ihr die Leitung einer Lehranstalt in Moskau übertragen, danach eines Petersburger Waisenhauses und zuletzt einer Ausbildungsstätte in Tula. Mit der Herausgabe ihrer 1862 erschienenen Anleitung für Kindergärten nach Friedrich Fröbel rückte Anna Daragan die Methoden des deutschen reformpädagogischen Vordenkers ins Blickfeld beklagenswert rückständiger russischer Erzieher. Ein folgenschwerer Fehler unterlief der fortschrittlichen Erzieherin dennoch. Die Bemerkung, Marianne sei zu wenig hübsch, verzieh ihr die Enkelin nie.
Und wie stellt sich uns die Mutter dar?
Elisabeth Werefkin geborene Daragan, Jahrgang 1834, war zum Zeitpunkt ihrer ersten Niederkunft sechsundzwanzig und seit zwei Jahren Ehefrau. Sie sprach mehrere Sprachen, kannte sich aus in der europäischen Literatur und war eine begabte Malerin. Im frühen Stadium der Schwangerschaft hatte sie, als Abschiedstour von der geschätzten Ungebundenheit vielleicht, eine Bildungsreise unternommen, sich in Deutschland, England und Frankreich umgesehen, am längsten aber in Rom, dem Traumziel aller Kunstenthusiasten. Ihr Begleiter und Lehrer, der Maler Carl Timoleon Neff, war in Russland ein hoch angesehener Mann. Zuständig für die Pflege und Instandsetzung aller Exponate der Eremitage führte er auch Aufsicht über das Inventar jeglicher zaristischer Schlösser. Neff malte die Sankt Petersburger Isaaks-Kathedrale aus. Ein weiteres Hauptwerk des Künstlers schmückte einst die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale.4 Er schuf Bildnisse für die russisch-orthodoxen Gotteshäuser von Nizza und Wiesbaden – beide Kirchen gehörten nachweislich zu Elisabeth Werefkins Besichtigungsprogramm im Verlaufe der ersten Monate des Jahres 1860.
Carl Timoleon Neff war zudem ein gefragter Porträtist, und auch seine Genrebilder5 waren überaus beliebt; berühmt machten ihn biblische Darstellungen. Wie er schuf auch seine Vorzugsschülerin eine Vielzahl von Ikonen und Ikonostasen. Und wie er sah Elisabeth Werefkin in den Werken der Nazarener ihre Vorbilder. Ursprünglich ein Spottname für junge Aussteiger des frühen 19. Jahrhunderts, wurde die Bezeichnung für jene religiös gestimmten Romantiker mit den überschulterlangen Haaren und den Jesusgewändern zu einem Markennamen. In ihrem Wunsch nach Abstand und Erneuerung hatten fünf Studenten der Wiener Kunstakademie den Rücken gekehrt, sich im verlassenen römischen Kloster St. Isidor niedergelassen und den Bund der Lukasbrüder6 mit strengen Lebens- und Arbeitsregeln gegründet. Viel später einmal wird Elisabeth Werefkins Erstgeborene von dem, wenn man so sagen kann, Ordensnamen Gebrauch für eigene Zwecke machen.
Marianne Werefkin im Alter von drei Jahren – mit Mutter und jüngerem Bruder Peter
Zweifellos ging die kreative Kraft ihrer Mutter auf Marianne über. »Sie sagte«, erinnerte die Tochter, »dass ihr schönstes Vermächtnis meine Kunst sei«,7 habe aber auch warnend den Finger gehoben: »L’art … est une maîtresse exigeante, elle demande tout son homme!« Nun, es sei ihr leichtgefallen, dieser strengen Herrin zu dienen, sollte Marianne eines fernen Tages resümieren.8
So sehr sie im Umgang mit ihrer Mutter die Wohltat liebevoller Körpergesten und bedingungsloser Anerkennung vermisst haben mag, so sicher ging Marianne von besten Erziehungsabsichten aus. »Maman wollte mich schützen vor Selbstmitleid und Sentimentalität. Sie wünschte mir alles Glück, das sie nicht hatte« – künstlerische Freiheit und persönliche Unabhängigkeit –, »damit ich im Manne nicht den Meister fühlen sollte.«9
Dabei entsprach Elisabeth Werefkins Gatte, 1821 geboren, somit dreizehn Jahre älter als sie, gleichfalls aus dem russischen Hochadel, durchaus nicht dem Urtyp eines Furcht einflößenden Patriarchen. Marianne war ihrem Vater »unendlich dankbar« für seine Herzensgüte. »Papa ließ mich die Süße des Lebens spüren, er allein auf der Welt war zärtlich zu mir.«10 Dankbar war sie ihm auch für die »fröhliche, mutige, ausgelassene Jugend, die er mich ungehindert genießen ließ«.11
Wladimir Nikolajewitsch Werefkin begann seine militärische Laufbahn als Fähnrich in der Leibgarde des Ismailowski-Regiments. Mit ihm zog er 1849 gegen die Ungarn ins Feld. Im Alter von fünfunddreißig Jahren wurde er zum Kommandeur des in Tula stationierten Jekaterinenburgischen Infanterieregiments ernannt. Die Befehlsübernahme erfolgte, als der entsetzlich verlustreiche Krimkrieg um die Vorherrschaft auf dem Balkan und am Schwarzen Meer eigentlich schon verloren war. Trotzdem gelang es Wladimir Werefkin, den Belagerungsring um den Militärstützpunkt Sewastopol, Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte, zu sprengen, sodass die halb verhungerten Soldaten flüchten konnten. Von zwei gegnerischen Kugeln getroffen und erheblich verletzt, bekam der landesweit gefeierte Held den Kaiserlichen Orden des Heiligen und Siegreichen Großmärtyrers Georg angeheftet sowie den KaiserlichenOrden der Heiligen Anna und denjenigen des Heiligen und Apostelgleichen Großfürsten Wladimir.
Wladimir Nikolajewitsch Werefkin, um 1895
Ab Mai 1863 bekleidete er, zum Generalmajor befördert und nach Witebsk versetzt, das Amt eines Militär- und Zivilgouverneurs. Als solcher einerseits oberster Truppenbefehlshaber und andererseits oberster Gerichtsherr, erwartete ihn in dem Gebiet ständiger politischer Unruhen eine denkbar schwierige und in letzter Konsequenz das Gewissen belastende Aufgabe. Doch wusste er, was ihm bevorstand, und auch, was von ihm erwartet wurde.
Im Zusammenhang mit der Ersten Teilung Polens 1772 waren Witebsk und sein Umland zwangsweise an das Russische Reich gefallen, anfangs in die Statthalterschaft Weißrussland eingegliedert, später als ein eigenes Gouvernement. Bewohnt wurde es mehrheitlich von Menschen polnischer Zunge, die mit dem Mut der Verzweiflung für die Wiedererlangung ihrer nationalen Souveränität kämpfend ihr Leben aufs Spiel setzten. Auch der Aufstand kurz vor Generalmajor Wladimir Werefkins Amtsantritt war von der russischen Militärpolizei mit Gewalt niedergeschlagen worden. Außerdem hatte der Zar über das Witebsker Gouvernement das Kriegsrecht verhängt und ferner die unbarmherzige Verfolgung und Bestrafung aller Freischärler angeordnet. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit musste Mariannes Vater seine Unterschrift unter Todesurteile und Hinrichtungsbefehle setzen. Als die Werefkins nach Witebsk übersiedelten, waren sie bereits zu viert.
Ihrem 1862 geborenen, somit zwei Jahre jüngeren Bruder Peter, Petja gerufen, sollte sich Marianne zeit ihres Lebens sehr verbunden fühlen. 1872 kam als Letzter der Geschwister Vsevolod auf die Welt. In seiner Jugend nannte Marianne den Nachkömmling, trotz mancher beklagenswerter Nichtsnutzigkeiten, einen »guten Jungen«.12 Das Glück verließ Wolja, so dessen Kosename, erst im Erwachsenenalter.
Fraglos standen die gewöhnlichen Wohnverhältnisse in einem krassen Gegensatz zum Mikrokosmos der Werefkin-Kinder. Zeitgenössische Beschreibungen vergleichbar nobler Umgebungen ermöglichen uns eine nähere Vorstellung ihres Zuhauses: Hinter zweiflügeligen, geschnitzten Eingangstüren führten breite Stufen zu einer großen Halle mit von Blumenkapitellen gekrönten Säulen. Dem Speisesaal gaben farbige Wände und buntes Geschirr sein Gepräge. An großen Feiertagen, mitten im Tumult des Empfangs zahlreicher Gäste, erschienen Priester und Diakone in goldenen und silbernen Brokatgewändern, sangen zur Ikone hingewandt wundersame Worte, reichten allen Anwesenden das Kreuz zum Kuss und besprengten unter anderem die empfindlichen Kleider der Damen und die seidenen Bezüge der Polstermöbel mit geweihtem Wasser. Einmal im Monat versammelten sich auf dem Hof des Palais die Bettler. Lakaien in Livree fischten mit spitzen, weißbehandschuhten Fingern kleine Münzen aus großen Beuteln, um sie in die Menge zu werfen. Zerlumpte Gestalten stürzten im Gewühl, Krüppel schlugen einander mit Krücken.13
Marianne litt unter solcherart Szenen und behielt sie im Gedächtnis. Von ihr selbst wissen wir, dass es ihr in jungen Jahren unmöglich war, sich unter die Schaulustigen zu mischen, wenn Fuhrleute auf zusammengebrochene ausgemergelte Pferde so lange einprügelten, bis die gepeinigten Kreaturen sich mit letzter Kraft aufrappelten oder auf der Straße krepierten. Um die unter Kutschenrädern zermalmten Hundekadaver machte sie stets einen großen Bogen, wich Leichenzügen aus und wandte schnell ihre Augen von hilflos taumelnden Betrunkenen ab.14 In noch ferner Zukunft sollte Marianne sich alles Quälende von der Seele malen.
Als Mädchen flüchtete sie sich bei Bedarf in romantische Phantasien: »Und ich träume, dass, wenn ich hingehe, aufrecht und rein, ich eine unbekannte Blume finden werde. Ich bücke mich und pflücke sie … Und wenn das Leben gar zu hart ist, berge ich meine Augen in meinen Händen, die den Duft der Blume bewahren.«15
In Anbetracht ihrer Herkunft war Marianne, von Ausnahmen abgesehen, in erstaunlichem Maße frei von Vorurteilen und Standesdünkel. Gegen die Vorzüge adliger Privilegiertheit an sich hatte sie indes nichts einzuwenden. In der Stadt, merkte sie in nostalgischer Rückschau an, hätten die Werefkins »eine Dienerschaft von 18 Personen« gehabt, »auf dem Lande noch viel mehr«:16 Kammerdiener, Kammerfrauen, Hausdiener, Hausmägde, Hausknechte, Köchinnen, Küchenmädchen, Küchenknecht, Waschfrau, Schneiderin, Ofenheizer, Lampenputzer, Kutscher, Pferdejungen, Verwalter, Jagdaufseher, Gärtner, Stallknechte, Land- und Hofarbeiter.17
Wohin der enorme Dienstbotenluxus in Häusern wie dem von Mariannes Eltern führte, hat eine österreichische Russlandreisende am Beispiel der morgendlichen Toilette einer Dame aus der russischen Oberschicht so beschrieben: »Sie stand am Waschtisch und ließ sich von einer Magd Wasser über die Hände in das Becken gießen, während eine zweite das Handtuch zum Abtrocknen derselben bereithielt und ein drittes Mädchen den wahrscheinlich in gleicher Weise übergossenen Hals ihrer Herrin trocknete und ein viertes mit Frisiermantel und Kamm erwartungsvoll bereitstand.«18
1868, in Mariannes achtem Lebensjahr, wurde Wladimir Werefkin das Kommando der 16. Infanteriedivision übertragen, verbunden mit der Befehlsgewalt über alle Armeen im Wilnaer Militärkreis, einhergehend mit Beförderung zum Generalleutnant, nochmaliger Einkommenssteigerung und einem weiteren Anwachsen der Ordensreihe. Um seine Mission am neuen Wohnort Wilna war er genauso wenig zu beneiden, wie um jene zuvor in Witebsk.
Etliche Jahrhunderte lang hatte die Adelsrepublik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen bestanden. Zuerst waren, wie schon erwähnt, die polnischen Landesteile dem Zarenreich einverleibt worden, danach die litauischen, was nur gegen den erheblichen Widerstand seitens der Bevölkerung gelungen war.
Wilna zählte rund achtzigtausend Einwohner, zur Hälfte etwa waren sie jüdischen, zur Hälfte etwa christlichen, vorwiegend katholischen Glaubens. Aufstände gegen die russische Herrschaft waren auch hier an der Tagesordnung.
Manche der zaristischen Vergeltungsmaßnahmen in Wladimir Werefkins nunmehrigem Wirkungsbereich waren bereits in die Wege geleitet, aber noch nicht abgeschlossen, so die Umwandlung katholischer in russisch-orthodoxe Kirchen, die Übergabe der Höfe vertriebener litauischer Bauern an umgesiedelte russische Landwirte und die Enteignung litauischer Adliger, welche sich an den Umsturzversuchen beteiligt hatten.
Die Pforten der Wilnaer Universität, Keimzelle der Rebellion aus russischer Sicht, waren schon vor geraumer Zeit geschlossen worden, Bücher in Litauisch aus den Regalen der Bibliotheken verschwunden. Weithin gab es keine einzige Schule, in der Litauisch gesprochen werden durfte.
MARIANNE WURDE ZUNÄCHST DAHEIM UNTERRICHTET. Elementares gehörte zu den Obliegenheiten von Gouvernanten, vorzugsweise mehrsprachigen Schweizerinnen. Sicherheit im Umgang mit dem Französischen gehörte in der russischen Aristokratie zum guten Ton – nebenbei diente diese Zweitsprache zur akustischen Ausgrenzung allgegenwärtigen Personals. Deutsch stand im Hause Werefkin für Gelehrtheit im klassischen Sinne. Englisch für Weltoffenheit. Polnisch und Litauisch lauschte Marianne sich von den Bediensteten und den Menschen auf der Straße ab. Die Basis für profunde musiktheoretische Kenntnisse sowie für beachtliche Leistungen als Pianospielerin wurde ebenfalls in ihrer Kindheit gelegt. Ferner lernte sie Schönschreiben, Geschichte, Geographie und Arithmetik. Wir dürfen uns Anna Daragan (auch Großmutter und Großvater lebten jetzt in Wilna) als eine maßgebliche Mitwirkende am Curriculum der Enkelin denken. Mariannes wichtigster außerfamiliärer Begleiter auf dem Pfad der Tugend hieß Pawel Kukolnik, Professor der Theologie. Er widmete der Jugendlichen ein Gedicht, Wege Gottes überschrieben. Auch ein Büchlein mit Psalmen, von Marianne handschriftlich festgehalten, befindet sich in ihrem Nachlass.19 Ein nicht unwichtiger Teil der Herzensbildung fiel in die Zuständigkeitsbereiche von Kinderfrauen, den Njanjas. Sie weckten in ihren Zöglingen die Liebe zu Volksmärchen, Volkssagen, Volksliedern und Volkskunst.
Vorausgesetzt, ihre Erinnerungen stimmen mit den tatsächlichen Ereignissen überein, dann kam Mariannes größte Begabung, die künstlerische, relativ spät zum Vorschein: »Mein erster ganz autodidaktischer Versuch war, als ich, vierzehn Jahre alt, Scharlachfieber hatte. Meine Mutter fand im halbdunklen Zimmer meine ›petits bonshommes‹ [kleine gezeichnete Männchen], war entgeistert über die schlechte Bewachung durch die Gouvernante und begeistert von dem Produkt.«20 Eine Zeichenlehrerin wurde engagiert. Deren Wissen und Können war innerhalb zweier Jahre erschöpft.
Höhere Schulbildung für höhere Töchter war nur gegen teures Geld zu haben. Von ihrem zwölften bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr besuchte Marianne in Wilna das Marien-Institut,21 benannt nach Zarin Maria Alexandrowna (ursprünglich Maximiliane Wilhelmine Auguste Sophie Maria von Hessen-Darmstadt). Das Lyzeum mit angeschlossenem Internat – Marianne wohnte jedoch zu Hause – bestand erst seit Kurzem. Dort wurden Mädchen aus allerbesten Kreisen vergleichsweise umfassende Kenntnisse vermittelt. Marianne, aufgeweckt und blitzgescheit, erzielte hervorragende Noten und schloss ihre schulische Laufbahn mit Auszeichnung ab.
Vom Angebot der elterlichen, im Wesentlichen wohl mütterlichen Bibliothek machte sie eifrig Gebrauch. Viele ihrer Aufzeichnungen, in Sonderheit ihre beachtliche Sammlung von Lesefrüchten, welche sie gewöhnlich schriftlich kommentierte und nicht selten mit weiterführenden Überlegungen und Erkenntnissen versah, sind Beleg sowohl für Mariannes Wissensdrang als auch für ihre früh entwickelte Affinität zu geisteswissenschaftlichen Diskursen. Schon der Jugendlichen mangelte es nicht an Selbstsicherheit, die nicht mit Selbstgefälligkeit zu verwechseln ist, ungeachtet des Anflugs von Hochmut in folgender Retrospektive: »Gelesen habe ich ausreichend, nachgedacht habe ich viel, und ich glaube es mir selbst schuldig zu sein, dasjenige was von dieser intellektuellen Arbeit übrig geblieben ist, aufzubewahren … Wenn ich je auf etwas stolz war, so war ich es auf meinen Verstand. Er hat mir unerhörte Freuden gegeben.«22 Glücklich konnte Marianne darüber sein, dass es ihr, im Gegensatz zu den allermeisten anderen weiblichen Heranwachsenden in Russland und anderswo, erlaubt und möglich war, sich mit Bildung gleichsam vollzustopfen. Systematisch füllte Marianne Heft um Heft mit Exzerpten und feinsinnigen Auslotungen (be)merkenswerter Lektüren. Wenn möglich griff sie zu den Originalausgaben ihrer Meinung nach lesenswerter Bücher. Freilich bedurften da deutsche Verfasser deutschsprachiger Reflexionen. Goethes wirkungsmächtiger Aufsatz zur Laokoon-Gruppe, so ihre diesbezügliche Schlussfolgerung, reiche an Lessings Beitrag Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie nicht heran, hätte doch Lessing im Gegensatz zu Goethe – dargestellt am Beispiel der berühmten antiken Plastik – der bildenden Kunst ein eigenes Wirkungssystem zugesprochen. Im Alter von neunzehn Jahren setzte sie sich schriftlich mit Hippolyte Taines23Philosophie de l’Art auseinander, in bestem Französisch. Der von dem Kunstsoziologen formulierten These, der zufolge Künstler in ihrem Schaffen Zwängen unterlägen, und zwar aufgrund von Erbanlagen, Einflüssen des gesellschaftlichen Umfelds sowie der politischen Rahmenbedingungen, stellte sie in einer Art Essay ihren unerschütterlichen Glauben an absolute künstlerische Freiheit gegenüber. Vollkommen einverstanden hingegen war Marianne mit der Aussage Taines – nachzulesen in seinem Werk De l’intelligence –, es gäbe so etwas wie die »Wiedergeburt« realer optischer Reize in Gestalt von »inneren Bildern«.24 Obwohl ihr Interesse an schwerer literarischer Kost überwog, blieb rein Unterhaltendes nicht unbeachtet. Dem Eintreffen englischer Journale und der in Berlin herausgegebenen Illustrirten Frauen Zeitung mit ihren Fortsetzungsromanen, Reiseskizzen, Natur- und Kunstbetrachtungen, Rezepten, Einrichtungsvorschlägen und Neuigkeiten auf dem Gebiet der Mode fieberte sie regelrecht entgegen.25
Solange die Werefkins kein eigenes Landgut besaßen, folgten Mutter, Tochter und Söhne den alljährlich wiederkehrenden Einladungen der Familie Arbusow nach Sergiewskoje im Gouvernement Smolensk.26
Vater Werefkin war in der Regel in Wilna unabkömmlich, mitunter auch auf Militäreinsätzen unterwegs. Der Russisch-Osmanische Krieg hatte seine Ursachen im Bestreben der zaristischen Regierung, sowohl einen Zugang zum Mittelmeer zu erlangen als auch die orthodoxen slawischen Serben und Bulgaren von islamischer Herrschaft zu befreien. Unter den Russen hatte das Aufbegehren der Balkanvölker gegen die Türken viel Sympathie ausgelöst, trotzdem war Alexander II. zunächst vor einem Waffengang zurückgeschreckt – aus Angst vor einer Ausweitung des Konfliktes. Im Januar 1877, nachdem alle Versuche, die Krise auf diplomatischem Wege zu lösen, fehlgeschlagen waren, erklärte er dem Osmanischen Reich den Krieg. Im Kaukasus verliefen die Gefechte für Russland günstig, danach auf dem Balkan blutig und schwierig. Erst zu Beginn des Jahres 1878 konnten die Truppen des Zaren gegen Konstantinopel vorrücken. Zuerst hatte Generalleutnant Werefkin an der Unteren Donau eine für den Kampf in den Sümpfen ausgebildete Spezialeinheit befehligt, anschließend zwei Armeekorps siegreich nach Bulgarien geführt. Danach war ihm ein weiterer Karrieresprung sicher.
Kaum war Mariannes Vater nach Wilna zurückgekehrt, stand ihm und seiner Familie der nächste Umzug bevor.
»Ich finde es einfach wunderbar, Neues zu sehen, besonders neue Leute und neue Sitten …«1
LUBLIN 1879. Auch in dieser zum Zarenreich gehörenden, ihrem Wesen und Ursprung nach polnischen, Stadt sah die Mehrheit ihrer Einwohner der Ankunft eines neuen russischen Militärbefehlshabers mit größter Skepsis entgegen. Anders als Witebsk und Wilna war Lublin nach der Auflösung der polnisch-litauischen Realunion über den Umweg habsburgisches Österreich und Herzogtum Warschau an Russland gekommen. Wirtschaftlich ging es in Lublin seitdem zweifelsfrei bergauf. In kultureller Hinsicht hatten Zensur und die Zurückdrängung traditioneller Lebensformen, etwa des Einflusses der einstmals berühmten jüdischen Gelehrten,2 allerdings zum Abstieg geführt.
Anfangs mag die neunzehnjährige Marianne den erneuten Ortswechsel bedauert haben, doch lebte sie sich wiederum sehr schnell ein. Woran offenbar ein russischer Offizier namens Sergej Iwanowitsch Kutjenikow nicht ganz unschuldig war. »S. I. soll sich schämen, dass er seine Faulheit nicht abstreift und mir ein paar Zeilen schreibt, was in Lublin so abgeht«, beschwerte sie sich in einem Brief aus der Sommerfrische beim daheim gebliebenen »lieben Väterchen«, nachdem der Salonlöwe Kutjenikow, entgegen ihrer Erwartung, nichts von sich hatte hören lassen. »Ich bin immer sehr nett zu ihm gewesen, deshalb kann er mir das kleine, d.h. eigentlich große Vergnügen machen, über Klatsch und Tratsch in Lublin zu berichten.«3
Auch scheint es, dass ihre künstlerische Entwicklung an einem Punkt des Stillstands angekommen war. Von den Bildern aus Mariannes frühester Schaffenszeit sind nur einzelne bekannt, so ihr monogrammiertes Gemälde Die Kutsche. Abgesehen von der maltechnischen Qualität, einer Schülerarbeit, nimmt sein Motiv einen wesentlichen Aspekt des zukünftigen Œuvres der jungen Malerin vorweg, indem es die Schattenseiten der menschlichen Existenz bewusst macht. Am Wegrand hockt ein ärmlich gekleideter Alter, scheinbar unbeteiligt in ein Buch vertieft. Vor ihm steht ein Kind; schüchtern streckt es, den Kopf gesenkt, seine rechte Hand aus. Ein Mann in Livree auf dem Kutschbock schaut im Vorbeifahren, von oben herab, auf die kleine Bettlerin.
»In Lublin«, vermerkte Marianne, hatte ich zwei polnische Lehrer und endlich einen guten: Heinemann – in Warschau. Bei ihm malte ich Portraits«.4 Zwei 1879 entstandene, wirklich beachtenswerte Bildnisse sind erhalten geblieben, eines der Mutter, das andere zeigt einen bärtigen Mann.
Zeit ihres Lebens umgab sich Marianne mit Menschen, denen sie freundschaftlich verbunden war. In Lublin fand sie in Lisa Della Voss eine ungefähr gleichaltrige enge Vertraute.5 Waren Plaudereien von Angesicht zu Angesicht nicht möglich, wurden sie brieflich fortgesetzt.6 Aus der Korrespondenz der beiden geht unter anderem hervor, dass Marianne des Öfteren in Moskau weilte, wo sie vermutlich im Haus ihres Onkels und ihrer Tante, Iwan und Warwara Daragan, wohnte. Im Vergleich zu Moskau, der alten Hauptstadt des Russischen Reiches, war Lublin Provinz und eine Ödnis im Hinblick auf das Moskauer Bildungsangebot. Wladimir Solowjows Vorlesungen Über das Gottmenschentum an der Lomonossow-Universität waren Marianne noch im hohen Alter so präsent, als habe sie erst gestern im Hörsaal der »geisterfüllten« Stimme des Dichters und Philosophen gelauscht. Jeder Mensch, predigte Solowjow seinen Jüngern, verfüge über schöpferische Gotteskraft, vorausgesetzt, er erweise sich ihrer würdig. An der eigenen Auserwähltheit hatte Marianne keinen Zweifel. Bis Solowjows Bemerkungen zum Allgemeinen Sinn der Kunst – er lehnte das Nachahmungsprinzip in seiner naturalistischen Erscheinungsform entschieden ab – ihre volle Wirkung auf sie entfalteten, sollten jedoch noch Jahre vergehen.7
Außerdem profitierte sie von Moskaus, wenn man so sagen will, alternativer Künstlerszene. Im Sommer 1881 kommentierte Lisa Della Voss eine aufregende Neuigkeit, die ihr von Marianne mitgeteilt worden war, mit dem Satz: »Es wäre wirklich eine Sünde, die Möglichkeit unter der Anleitung von Makowski und Kramskoj zu zeichnen, nicht zu nutzen.« Und hinsichtlich des kleinen Fragezeichens in Mariannes Ankündigung half sie dem Gedächtnis der Freundin nach: »Nur wenn alle Ihr Talent bewunderten, Manja, haben Sie einmal gesagt, werden Sie an sich selber glauben, und da meinten Sie Künstler mit Autorität. Jetzt kennen Sie ja die Meinungen von Makowski und Kramskoj.«8
Wladimir Jegorowitsch Makowski,9 Iwan Nikolajewitsch Kramskoj10 und etliche andere politisch engagierte Sozialkritiker hatten sich aus Protest gegen ihre Benachteiligung bei den akademischen Auswahlverfahren zur Genossenschaft für Wanderausstellungen zusammengeschlossen. Aufklären, moralisch aufrütteln waren die Devisen der Peredwischniki, zu Deutsch: Wanderer. Auch Ilja Jefimowitsch Repin war einer von ihnen.
Im Kreise ihrer Nachfahren wurde die Erinnerung an eine, eindeutig nicht nachweisbare, intime Liaison Marianne Werefkins mit Ilja Repin wach gehalten.11 Sie selbst befand rückblickend, er habe sie geliebt und geschätzt, »als Mensch« und »als Frau«.12 Waren ihre Lehrer Makowski und Kramskoj Autoritäten, dann war Repin eine Berühmtheit. Seit er sich von 1873 bis 1876 zu Studien in Wien, München, Florenz, Rom und Paris aufgehalten hatte, galt er zudem als Experte für die westliche alte Malerei. Zum Zeitpunkt ihres ersten Zusammentreffens war sie einundzwanzig Jahre alt und er, der Maler so aufsehenerregender Gemälde wie Die Wolgatreidler13 oder die Verabschiedung des Rekruten,14 sechsunddreißig.
In Moskau arbeitete Repin häufig im Historischen Museum, in der Rüstkammer und in den Kreml-Kathedralen, oft war er auch in der Galerie des Kunstsammlers Pawel Tretjakow anzutreffen. Einem Käufer seiner Werke erklärte er einmal, Bilder seien eine komplizierte Sache und ihr Entstehen ein geistiger Kraftakt. »Nur unter Vereinigung aller inneren Gefühle kann ein Bild entstehen, und nur in diesem Moment fühlt man, dass die Wahrheit des Lebens höher als alles steht, dass sie immer eine tiefe Idee beinhaltet.«15 Gleiches in Richtung Mariannes gesagt, dürfte zustimmendes Kopfnicken hervorgerufen haben. Sie hielt Repin für ein Genie – »aber im Banne der altruistischen russischen Vorstellungen«. Mächtigeres als seine Gemälde gäbe es nicht auf der Welt.16 Innovativeres aber schon.
Es ist vermutlich nicht falsch, anzunehmen, dass Marianne ihr 1881 entstandenes Porträt Vera Repin, das Bildnis der Ehefrau Ilja Repins, unter dessen Korrektur geschaffen hat. Zwei Jahre zuvor war sie von ihm während eines Aufenthaltes in Abramzewo gemalt worden. Abramzewo, das bei Moskau gelegene Landgut eines Eisenbahnmagnaten und Mäzens,17 entwickelte sich damals zu einer bedeutenden Kunsthandwerkerkolonie. Ausgehend von althergebrachten Mustern, fertigten Bauern aus den umliegenden Dörfern begehrte Möbel und Haushaltsgegenstände an.18 Die meisten Abnehmer kamen aus dem russischen Bildungsbürgertum. Doch selbst in Amerika gab es Liebhaber der Produkte aus Abramzewo. Die von Mariannes Mutter in Auftrag gegebenen Objekte – Schränke, Borde, Tische, Stühle, alle aus Lindenholz gefertigt – gingen in den Nordosten von Litauen. Künftig würde die Familie Werefkin zwischen Frühjahr und Herbst so viele Wochen wie möglich in jener Gegend verbringen. Aufgrund seiner vielfältigen Verdienste hatte Mariannes Vater vom Zaren ein »paradiesisches«19 Landgut geschenkt bekommen. Es bekam einen neuen, russischen, Namen: Blagodat. Frei übersetzt: ein Platz zum Wohlfühlen.
Blagodat gehörte zur Ortschaft Vyžuonėlės im Gouvernement Kaunas. Die Liegenschaft umfasste 850 Hektar: einen See mit Badehütte, Waldungen, Grünland, Felder und Obstgärten. Es gab ein Hauptgut und zwei Vorwerke, das Wohnhaus der neuen Eigentümer, bescheidene Gesindewohnungen, verstreut liegende kleinbäuerliche Behausungen, eine Mühle. Die Entfernung zur Kreisstadt Utena betrug sechs Werst; eine Werst entspricht ziemlich genau einem Kilometer.
Ursprünglich hatte Vyžuonėlių dvaras (das Landgut Vyžuonėlių) dem Grafen Eduardas Ĉapskis gehört. Im Juni 1863 war ihm aufrührerisches Handeln vorgeworfen worden, es folgten Verbannung nach Sibirien und Enteignung.20
Bis Blagodat voll und ganz den Wünschen Wladimirs oder vielmehr Elisabeth Werefkins entsprach, war viel zu tun. »Mama liebte diesen Ort«, notierte Marianne, »sie interessierte sich für alles dort.«21 Ein Landschaftspark wurde angelegt. Gebäude wurden errichtet: Architektenentwürfe,22 eineinhalb Geschosse, Feldsteinsockel, Holzaufbauten, reich verziert mit überlieferten ornamentalen Sägearbeiten.23 Zuletzt entstand das kleine Atelierhaus (»wo mir Erfolg und Ruhm vorschwebten«24) einschließlich einer Maisonnette – Wohnraum für sie und ihre Zofe Piga.25 Der Komfort von Mariannes Refugium hielt sich in Grenzen: »Man hat mir einen kleinen Kanonenofen hineingestellt, so wird es im Herbst keinen kalten Luftzug mehr geben.«26 Altrussische Teppiche, geknüpft und gewebt, auf dem Boden und an den Wänden, passten wunderbar zum Abramzewo-Mobiliar. Auch ihre Bilder wurden aufgehängt. Das Porträt von Peter Werefkins späterer Ehefrau Sofia in holländischer Tracht und jenes eines Mädchens in russischem Kostüm sind ebenfalls Bespiele für Mariannes ausgeprägtes Interesse an Brauchtum.
Marianne Werefkins Atelierhaus in Blagodat, um 1880
Das Gutshaus in Blagodat, historisches Foto
Arbeitsintensive Tage und Wochen (»Ich male fleißig … und ich bin sehr zufrieden.«27) standen im Wechsel mit Zeiten vorwiegend geselligen Vergnügens. Von Anfang an war Blagodat ein Anziehungspunkt für Verwandte, Freunde und Bekannte. Vor allem die Jüngeren unter den Besuchern hatten großen Spaß an Kutschfahrten unter Mitnahme des Küchenwagens zu ausgesucht lauschigen Plätzen. Eines der Picknicks im Waldesinneren wurde fotografisch festgehalten: Damen und Herren unterschiedlichen Alters bieten ein Bild ungezwungenen Mit- und Nebeneinanders. Der Koch, an seiner hohen weißen Haube erkennbar, bereitet Speisen auf der Feuerstelle und Tee mit Hilfe des Samowars.
Bei einer mehrtägigen Fußwallfahrt zu einem Kloster waren sie zu elft: Marianne, ihr jüngerer Bruder Wolja, ein in Blagodat beheimateter Waisenknabe und einige Bedienstete. Man sang tagsüber aus vollem Halse nicht nur fromme Lieder und nächtigte unter freiem Himmel, wenn kein Quartier unter Dach zur Verfügung stand. »Aber einschlafen konnten wir nicht«, berichtete Marianne nach Lublin. »Schließlich habe ich ein Märchen erzählt, danach wurden alle still.« Doch konnte der Aufbruch in aller Herrgottsfrühe nicht vonstattengehen, bevor nicht ihr Bleistift zum Einsatz gekommen war: »Ich fertigte eine kleine Zeichnung von unserem Nachtlager an.« Marianne unterwegs ohne Skizzenbuch in Rock-, Jacken- oder Manteltasche? Undenkbar! Was sie allerdings nach ihrem Eintreffen an heiliger Stätte zu sehen bekamen, war es wohl nicht wert, bildlich festgehalten zu werden: »Die Mönche sind abscheulich, dem Saufen verfallen, ein ekelhaftes Pack.«
Auf dem Nachhauseweg machten sich niemals zuvor besuchte Verwandte bei Marianne aus zweierlei Gründen unbeliebt. Zum einen gebärdeten sie sich unerträglich affektiert, zum anderen gehörten sie zu jenen Menschen, die aus Geiz am Essen sparten, das heißt bei Tisch »ein Küken in 12 Stücke schneiden«. Trotzdem schloss ihr scharfsinniger und scharfzüngiger Reisebericht mit einem versöhnlichen Fazit. »Ich finde es einfach wunderbar, Neues zu sehen, besonders neue Leute und neue Sitten.«28
Für die Mitmenschen in Mariannes litauischer Zweitheimat war das ausgelassene Treiben anlässlich des Wiegenfestes der Tochter des Gutsbesitzers einer der Höhepunkte des Jahres. »Meinen Geburtstag haben wir, wie sich das gehört, mit ganz Blagodat und den umliegenden Dörfern gefeiert«, bekam der Vater zu lesen. »Wir hopsten bis in die Nacht. Vor dem geselligen Abend gab es ein Bad [im See], als Bewirtung gab es Äpfel, Eis, Piroggen und ein Tiegelchen Wodka. … In der Pause erschien ein Bär mit seinem Bändiger.«
Auf eine gewisse Gruppe von Logiergästen war sie zunehmend weniger gut zu sprechen: »Ich muss mich sehr über unsere Besucher beklagen, die keinen einzigen Wunsch einer großzügigen und unkomplizierten Gastgeberin akzeptieren können.« Was war geschehen? Ein paar der aus Lublin und anderswo Angereisten oder besser gesagt aus Blagodat wieder Abgereisten hatten »Gift« verspritzt. Seine Tochter lasse in ländlicher Umgebung ihrer Neigung zu Burschikosität freien Lauf, mache sich aus damenhafter Kleidung zu wenig und aus rustikalen Lustbarkeiten zu viel, hatten sie Wladimir Werefkin hinterbracht. Mariannes Antwort auf entsprechende väterliche Vorhaltungen fiel ungewohnt heftig aus. »In Bezug auf das, was Du mir schreibst, möchte ich Folgendes sagen. Ich habe noch niemals beabsichtigt, mein Leben mit sogenannten weiblichen Vergnügungen auszufüllen. Ich habe nie nach dem gestrebt, was man Gesellschaftsleben nennt. Euer und mein Glück ist es, dass … mich keiner der Dämonen quält, die in den Ballgarderoben der Allerweltsadelsfrauen sitzen.« Sie, ihrerseits, halte »Ballgarderoben für unanständig, weil sie jedermann die Möglichkeit bieten, mit Kennerblick den weiblichen Körperbau wie bei einem zu verkaufenden Pferd zu taxieren«. Im Übrigen seien ihr die spitzen Bemerkungen der »urteilenden Freunde« vollkommen gleich. »An meinem wilden Tanz mit [dem Gutsgärtner] Rejsky und seinen Kumpanen ist absolut nichts, außer meinem Bewegungsdrang.« Und dann hielt sie dem Vater, noch eine Spur deutlicher werdend, gewissermaßen den Spiegel vor. Letztlich hätten gerade ihre, von ihm so genannten »extravagances« nicht unerheblich zum Abbau berechtigter Ressentiments der Litauer in Blagodat und den umliegenden Orten beigetragen. »Alles in allem hat meine Aufgeschlossenheit nämlich nichts anderes bewirkt, als dass wir, die bei unserer Niederlassung fast wie Feinde angesehen wurden, heute hier nicht nur keine Fremden mehr sind, sondern heimischer als irgendein Haufen von alteingesessenen Herrschaften.« Überhaupt sei mit einem freundlichen Wort mehr als mit Geld zu erreichen.29
Einer der Gründe für ihr unvoreingenommenes Zugehen auf Männer, Frauen und Kinder auch jenseits der Klassenschranken war ihre tiefe Religiosität. Vor Gott, so Marianne, seien alle gleich: »Es gibt nicht Große und Kleine, es gibt nur menschliche Wesen!«30
Kein Winkel auf der Erde würde Blagodat den Sonderplatz in ihrem Herzen streitbar machen können. Für sie bedeutete Blagodat: in der sommerlichen Schwüle des Waldes die samtweiche Birkenrinde liebkosen; auf Wiesen mit dem gleichen Gefühl der Zärtlichkeit Grashalme durch die Hände gleiten lassen; mit den Augen den Schmetterlingen folgen und zugleich das Himmelslicht einfangen; vollkommen entspannt zurückgelehnt im Boot die Fingerspitzen ins sonnenwarme Wasser tauchen und dabei fernen ländlichen Geräuschen lauschen; in der Dämmerung die Geheimnisse der Nacht erahnen …31
Blagodat stand aber auch für machtvolle »Bilder, die man nie vergisst«. Dieses etwa: »Ein düsterer, Unglück verheißender Horizont, die ganze Natur versunken in einer erstaunlichen Stille, alle Umrisse überdeutlich gezeichnet wie in einem luftleeren Raum, und über all dem – ein blendender Blitz.« In letzter Sekunde erreichten die Kutschen der Ausflügler das Gutshaus. »Kaum angekommen, kam aus dem Himmel ein Grauen über uns, etwas Ähnliches hatte ich nie gesehen. Es wurde nicht finster wie in der Nacht, nein, es wurde finster wie im Grab. Kein einziger Regentropfen, nicht einmal ein Windhauch, nicht einmal ein grollender Donner. Aber in dieser Stille, in diesem Grauen, in diesen Blitzen, die plötzlich fast über unseren Köpfen niedergingen, war etwas so Schreckliches, dass die Hunde aufheulten und die Menschen unwillkürlich zu beten anfingen.« Marianne, die Hausgäste und das Personal hatten sich in einem Zimmer versammelt, »wenn wir sterben sollten, dann alle gemeinsam«. Das Leben ging weiter. »Es gelang, das Heu einzufahren. Gestern und heute mäht man die Wiesen auf unserer Seite«, konnte dem Vater ergänzend mitgeteilt werden.32 Und auch diese Begebenheit: »Von den hiesigen … Ereignissen ragt der Tod einer wundersamen Königin heraus, jener Zigeunerin, die ich ja gemalt hatte. Sie war in eine Schlägerei mit anderen Zigeunern verwickelt, und die schlugen sie zu Tode, einen Tag lag sie schwer verletzt da, am Freitag verstarb sie.«33
Gewöhnlich rief man die Tochter des Gutsherrn, wenn in und um Blagodat ärztliche Hilfe benötigt wurde. Erstaunt nehmen wir ihre Berichte von den respektablen Ergebnissen praktischer Einsätze im Bereich der Heil- und Arzneikunde zur Kenntnis. Einmal hatte Marianne mitsamt Ausflüglertross in einer fensterlosen Scheune, weit von Blagodat entfernt, Schutz vor den Wettergewalten gefunden. Ihre Begleiter auf dieser Landpartie waren Nachbar Morganowitsch, Gutsverwalter Stefan, Gutsgärtner Rejsky, Jäger Makarsky sowie Eva, Jakob und Iwan aus der Dienerschaft. »Wir gebrauchten eine Kirchenkerze; in ihrem flackernden Schein krochen wir aus den Wagen und begannen, ein Nachtlager herzurichten. … In eine Ecke kamen die Pferde, in die zweite die Kaleschen, in der dritten wurden mit ausgespannten Leintüchern Schlafplätze und Garderoben abgeteilt. In der Mitte wurde gespeist. Die Wartezeit verbrachten wir sehr frohgemut. Es wurde getrunken und getanzt und ein lustiger Spaziergang im Regen in einer trefflichen Karikatur festgehalten.« Anhaltende Niederschläge taten der guten Stimmung keinen Abbruch, wohl aber ein »unglücklicher Zwischenfall«. Rejsky hatte, laut Mariannes Wiedergabe der Geschehnisse, »einen Zehnpfund-Krug als Zielscheibe in die Höhe geworfen, der direkt auf seinem Kopf landete und ihm eine klaffende Platzwunde schlug, so tief, dass der Schädelknochen zu sehen war. Im Nu war Rejsky blutüberströmt, aber er bewahrte die Fassung. Die Anwesenheit eines hervorragenden Arztes in meiner Person zahlte sich dadurch aus, dass er bereits zwei Stunden später beim Blindekuh-Spielen wieder mitmachen konnte.« Eine beachtliche Leistung. Was sowohl für die Notfallhelferin als auch den Patienten gilt. Eine Beobachtung bei der Behandlung von Rejskys Verletzung hatte der Kunstkennerin zu denken gegeben. Ilja Repin, wusste Marianne hernach, war »grundlos beschuldigt worden, dass das Blut auf der Stirn des Zarewitsch [gemeint ist das Bildnis Iwan der Schreckliche und sein Sohn am 16. November 158134] zu dick aufgetragen sei«. »Jetzt konnte ich selbst sehen, dass das Blut herabhängen kann wie ein Truthahnkamm.« »Zurückgekehrt nach Blagodat«, steht im gleichen Brief an den Vater geschrieben, »fand ich meine dortigen Patienten in einer sehr gedrückten Stimmung. Man sah ihnen die drei Tage ohne Verarztung an.« Nur ungern trete sie jetzt, wie geplant, die Sommerreise nach Iwanskoje zu Verwandten an. Nachdem sie anfänglich den Patienten ständig zur Verfügung gestanden hatte, sah sie sich genötigt, feste Sprechzeiten einzuführen. »Zu mir kommen unzählige Kranke, ich muss mich vor ihnen einfach retten.… Von besonderem Interesse sind für mich zwei Blinde, einer sah seit Herbst fast nichts mehr, eine nichts seit Ostern. Die beiden können nun mit des Allerhöchsten Hilfe fast normal sehen.«35 Gegen Bruder Woljas Schmerzen hatte sie ebenfalls ein Mittel gewusst: »In seinem Ohr ist nichts mehr, so habe ich aufgehört, ihn mit Spiritus zu behandeln.«36
Eine entsetzliche Erfahrung im Zusammenhang mit ihrer medizinischen Tätigkeit mochte Marianne nur ihrem Tagebuch anvertrauen. »Einmal habe ich einem Arzt bei einem gynäkologischen Eingriff assistiert. Im Spiegel hat er mir den Hintergrund der Gebärmutter gezeigt. Es war eine Frau, die, nachdem sie das Kind geboren hatte, beinahe verblutet wäre.« Ein fast unerträglicher eitriger Geruch habe das ganze häusliche Krankenzimmer erfüllt. »Doch der Abscheu, den ich fühlte, verwandelte sich in Mitleid.« Liebevoll pflegte Marianne die Wöchnerin. Umso größer der Schock: »Am dritten Tag schrie sie mir entgegen, halb verrückt vor Schmerz, ihr Mann habe sie diese Nacht genommen.«37
Größer noch war das Entsetzen beim Sterben ihrer Mutter in Blagodat. Bilder der Verzweiflung brannten sich Marianne ins Gedächtnis ein: »Das Fenster steht offen, 17. März, Passionswoche – im Park grünt alles, die Vögel zwitschern, es ist mild. Vor mir liegt das Evangelium. Schon seit vier Tagen trenne ich mich nicht mehr von ihm.« Ab und an geht sie in einen Nebenraum, schaut hinaus. Blickt auf das »junge, lustige Treiben« in der Frühlingssonne. »Ich fühle, dass ich darauf kein Recht mehr habe. Dort nebenan, ohne Wort, ohne Protest geht ein Leben fort, mit dem mein ganzes Leben verbunden ist. – … Ich weiß, es gibt keine Hoffnung. Aber die Hoffnung lebt. Ich weiß, es kommt kein Wunder, aber ich erwarte das Wunder.«38 Elisabeth Werefkin starb, einundfünfzigjährig, am 18. März 1885. Welche Krankheit zu ihrem Tod geführt hatte, ist nicht bekannt. Ihr Leichnam wurde nach Wilna überführt und im Grab ihrer Eltern beigesetzt. Einen Teil ihres Vermögens, es stammte von den fürstlichen Daragans, hatte sie der Tochter vermacht. Wenngleich Marianne es vorzog, von »ein bisschen Geld« zu reden, muss das Erbe beträchtlich gewesen sein.39 Es wurde von Wladimir Werefkin treuhänderisch verwaltet.
Noch waren Frauen – und nicht nur in Russland – weitgehend rechtlos. Unverheiratete, egal welchen Alters, unterstanden der »väterlichen Gewalt« oder hatten sich, nach dem Tod des »Hausherrn«, den Weisungen der Brüder respektive anderer männlicher Familienangehöriger zu fügen. Bei strenger Auslegung der einschlägigen Paragraphen durften weibliche Wesen noch nicht einmal die Stadt- oder Gemeindegrenzen aus freien Stücken überschreiten. Geschäftsfähigkeit wurde ihnen grundsätzlich abgesprochen. Verheiratete Frauen standen ebenfalls unter Kuratel, für sie entschied der Ehemann. Gemessen an den allgemeinen Gepflogenheiten, unterlag Marianne nur einem Minimum an Zwängen. Ihr wurde vom Vater kaum etwas verwehrt.
In der Ehe von Elisabeth und Wladimir Werefkin hatte es zuweilen gekriselt. Wir wissen von den Unstimmigkeiten aus Mariannes Briefen. Jetzt sah es die Tochter als ihre Aufgabe an, dem Witwer das schlechte Gewissen auszureden. »Quäle Dich nicht, mein Liebster, mit dem was gewesen ist, mit Streit und Zwist. … Sie hatte ihre Ansichten, Du Deine, aber die Meinungsunterschiede, die zu ihren Lebzeiten existierten, kann es nun nicht mehr geben. Plage Dich nicht mit unbedeutenden Erinnerungen. … Mein teurer Papa, Du bist traurig, ich bin traurig, jeden Tag spürt man den Verlust mehr und mehr. Sich nicht zu vergraben, ist jetzt das Wichtigste.«40 Mariannes wichtigste Aufgabe stand nach dem Tod der Mutter mehr denn je außer Frage: »Ich werde ihren Wunsch erfüllen. Ich werde weiter malen.«41
Zwei Jahre zuvor, Anfang 1883,42 hatte die damals Zweiundzwanzigjährige ihr Studium an der Moskauer Lehranstalt für Malerei, Bildhauerei und Architektur aufgenommen, nachdem sie sich in die Klasse von Illarion Michailowitsch Prjanischnikow eingeschrieben hatte. Prjanischnikow war einer der bekanntesten Genremaler Russlands und stand den Wanderern nahe.43 Mit so viel Feuereifer strebte Marianne voran, dass der Vater das Ausbleiben von Nachrichten beklagte. »Meine Augen sind so müde vom Malen und Zeichnen, dass ich fast nicht schreiben kann«, brachte sie zu ihrer Entschuldigung vor. Selbst zum Lesen bliebe keine Zeit. Die Übungen auf Leinwand oder Papier nähmen täglich acht Stunden oder mehr in Anspruch. »Meine Arbeit ist gewiss kein Trinkgelage, und die Anstrengung erschöpft mich, ja ist zeitweise nicht zu ertragen.« Selbst Spaziergänge betrachte sie derzeit als unerwünschte Ablenkungen. »Ich sehe außer Pinseln nichts, … ich male Gesichter en face, Gesichter en profile, Gesichter trois quarts.« Die Frontalansicht ihres eigenen Antlitzes war eine Auftragsarbeit. »Erstens sollen mich Deine Augen direkt ansehen, zweitens sollst Du Deine graue Bluse oder eines von Deinen früheren Kleidern tragen«, hatte Lisa Della Voss sie brieflich angewiesen.44 Im Gegenzug machte diese sich in Lublin auf die Suche nach einem bezahlbaren »mannequin«. In Moskau, hatte Marianne geschimpft, verlange man unverschämte dreihundert Rubel für solche Gliederpuppen, die angehenden Malern menschliche Modelle ersetzten. Sie schaute aufs Geld. Aus Prinzip, aber vorwiegend auf Veranlassung des Vaters, denn der scheint, so großzügig er ansonsten nachweislich war, ein richtiger Kopekenfuchser gewesen zu sein. Bitten um eine Aufstockung ihrer knappen finanziellen Ressourcen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Briefe Mariannes an ihn. Parallel dazu wurde Wladimir Werefkin beteuert, wie »wahnsinnig« wichtig es der Tochter sei, durch »künftige Erfolge den Beweis zu erbringen, dass die Ausgaben lohnen«.45 Ihre Selbsteinschätzung zum damaligen Zeitpunkt: größere Fortschritte beim Zeichnen, nur kleinere im Bereich Malerei – ungeachtet fortwährender Lobreden ihres Lehrers Prjanischnikow.46
Ein Großereignis im März des Jahres 1883 ließen sich selbst die Fleißigsten unter den Moskowitern nicht entgehen. Marianne übersah dabei weder Glanz noch Elend: »Die Stadt bereitet sich eifrig auf die Krönung des Zaren vor. Alles wird herausgeputzt, und man baut eine monströse Illumination auf. In diesen Tagen wird die Beleuchtung [der Statue] Iwans des Großen ausprobiert. Die Wirkung ist überwältigend. Über fast ganz Moskau erhebt sich am dunklen Himmel ein feuriges Gebilde mit einem brennenden Kreuz. Die Preise [Tribünenplätze für Beobachter des prunkvollen Aufmarsches kosteten fünfzig Rubel] sind geradezu irrwitzig. … Heute hatten wir im Schatten 15 Grad Wärme. Was auf den Straßen los ist, einfach schrecklich.« Das Wasser steht den Menschen teilweise bis zu den Knien, die Fahrwege sind unbefahrbar, überall »fürchterlicher Gestank«, überall »armselige Gestalten«, überall »tröpfelt es und gießt es herunter, von den Dächern fällt Schnee direkt auf die Köpfe der Passanten, vor deren Füßen hacken die Hausbesorger Eis, die Splitter kriegt man ins Auge«.47
Zwischen der Thronbesteigung von Alexander III. und seiner Krönung lagen fast zwei volle Jahre. Schuld daran trug die Sicherheitslage; Zar Alexander II. war im Jahre 1881 in Sankt Petersburg einem Sprengstoffattentat zum Opfer gefallen.48 Nichts fürchtete sein Sohn und Nachfolger mehr, als das gleiche Schicksal zu erleiden.
Vielleicht hatte er deshalb einen zuverlässigen militärischen Vertreter der staatlichen Exekutive auf den Posten des Kommandanten der Peter-und-Paul-Festung berufen: Wladimir Werefkin. Dieser wiederum wollte fortan in der Stadt an der Newa die Tochter in seiner Nähe wissen.
Er sagte mir – wovor soll man Angst haben? Wen geht es an?
Er sagte mir – wir werden zusammen leben …
Ich sagte mir, wenn auch nur der kleinste Zweifel bestünde, dass das alles schlecht sei, würde ich es nicht tun.1
MOSKAU, 30. MAI 1885. »Mein liebster Papa, so Gott will, werde ich in Petersburg leben …«2 Mariannes Zusage war unüberlesbar ein Seufzer beigemischt.
Bis ins 19. Jahrhundert hatte die Peter-und-Paul-Festung eine ähnliche Rolle gespielt wie die Bastille in Paris. Noch immer sprach man von der Kasernenanlage auf einer Insel in der Newa mit Grausen. In den Zellen des angegliederten Untersuchungsgefängnisses waren ungezählte politische Häftlinge spurlos verschwunden. Von Folter und Mord auch zur Amtszeit des Festungskommandanten Wladimir Werefkin ist nichts bekannt. Seine neue Aufgabe auf Lebenszeit war eine der bestbesoldeten in der Armee. Inklusive einiger Sondervergütungen bekam er monatlich 3000 Goldrubel ausbezahlt.3 Zum Vergleich: Einem gewöhnlichen russischen Offizier wurden unter Berücksichtigung aller möglichen Zulagen maximal 1000 Goldrubel jährlich zugebilligt.
Die Peter-Paul-Kathedrale, Hauptbegräbnisstätte der Zarendynastie Romanow, und die das prächtige Gotteshaus umgebende freie Fläche bildeten das Zentrum der Bastion. Im Süden wurde der Platz vom Kommandantenhaus begrenzt. Im Erdgeschoss des repräsentativen Gebäudes barocker Prägung befanden sich die dienstlichen, in der ersten Etage die privaten Räume sowie Mariannes großes Atelier.
Trotz erheblicher Bedenken fiel der Mittzwanzigerin, sie traf im Oktober 1885 in Sankt Petersburg ein,4 das Umgewöhnen leicht. Konnte sie sich doch, dank Wladimir Werefkins Nachsicht, hier ebenso ungehindert wie in Moskau bewegen. Mehr als ein amüsiertes väterliches Schmunzeln riskierte die Tochter des Kommandanten nicht, wenn sie zum Beispiel, spaßeshalber, hoch zu Ross durch die Reihen der exakt ausgerichteten Gardisten galoppierte, ohne Rücksicht darauf, ob der Zar höchstpersönlich die Parade abnahm oder nicht. Alexander III. quittierte den Mutwillen der temperamentvollen jungen Dame sogar mit offener Bewunderung.5
Eine Fortsetzung ihres Kunststudiums, so wie sie es in Moskau betrieben hatte, war in Sankt Petersburg nicht möglich. Die dortige Akademie der schönen Künste war Männern vorbehalten. Dennoch schrieb Marianne schon bald: »Morgen stürze ich mich wieder auf die Malerei.«6 Oder: »Die Malerei hat mich wieder ganz überwältigt, und ich möchte gerne, dass mein Leben sich so gestaltet, dass ich arbeiten kann.«7 Unter Anleitung des damals bedeutendsten russischen Malers. Denn Ilja Repin hatte 1882 seinen ständigen Wohnsitz von Moskau nach Sankt Petersburg verlegt. Privat unterrichtete er zu jener Zeit nur sie.8 Wann das erotische Moment ihrer Beziehung an Bedeutung verlor? Niemand kann es mehr sagen. Sicher ist, dass letztlich künstlerische Dinge das Verhältnis bestimmten.
Der Entwicklung der Malerin Marianne Werefkin standen die Erfolge der Salonière Marianne Werefkin fast gleichwertig gegenüber. Die Dame des Hauses gleichsam ersetzend, machte die Tochter des Kommandanten aus repräsentativen Pflichtveranstaltungen stadtbekannte gesellschaftliche Ereignisse. Wir müssen uns die Jours fixes der geistreichen Gastgeberin als ein bunt zusammengewürfeltes Forum gesprächsfreudiger Diskutanten vorstellen. »Bei ihr in der Festung«, vermerkte Akademiestudent Igor Grabar, »versammelten sich die Künstler … Sie las uns Auszüge aus den neuesten Nachrichten über Literatur und Kunst vor. Hier hörte ich zum ersten Mal die Namen Manet, Monet, Renoir, Degas und Whistler.«9 Alle maßgeblichen westeuropäischen Publikationen habe Marianne Werefkin im Abonnement bekommen. Aufgrund ihrer hervorragenden Fremdsprachenkenntnisse sei sie in der Lage gewesen, die interessantesten Beiträge vom Blatt weg ins Russische zu übersetzen. Also, wie von Grabar erwähnt, auch solche, die sich mit den Werken und Arbeitsweisen von Impressionisten befassten. (Ein Gemälde mit dem Namen Impression, soleil levant von Claude Monet aus dem Jahre 1872 gab der Bewegung ihren Namen.) Impressionisten bildeten sensuelle Eindrücke ab und wollten keine Kunst der Nachahmung mehr betreiben.
Bei den Gesprächsrunden im Salon der Werefkin war laut Grabar oft auch Repin zugegen – »er schätzte ihren Verstand überaus, wobei ihr Verstand den seinen bei weitem übertraf«.10
Bekanntlich ist Wissensfülle ein sicheres Fundament für Denk- und Urteilsfähigkeit. Marianne liebte intellektuelle Herausforderungen, ja suchte sie immerfort. Wissenschaftliche und philosophische Abhandlungen machten den Hauptteil ihrer Lektüren der späten achtziger und frühen neunziger Jahre aus. Bevorzugt griff sie nunmehr zu Werken von Autoren, die sich mit der Verbindung von Geist und Körper beschäftigten11 oder die Zusammenhänge von Wahrnehmung und Optik darlegten beziehungsweise von Bewegung und Gefühl.12 Außerdem beschäftigte sich Marianne mit der Bedeutung von Religion. Worin liegt, wollte sie beispielsweise erfahren,13 der Sinn der Zehn Gebote? Nur in ihrem positiven Einfluss auf moralisches Handeln? Oder wirken sie zudem, was ihrer eigenen Meinung entsprach, auf alles Schöpferische? Künstlerbiografien14 standen gleichfalls hoch im Kurs sowie Poesie und Prosa.
Einmal zitierte sie den Romancier Flaubert15 im Brief an Repin, ansonsten bombardierte Werefkin den Lehrer mit seitenlangen kunsttheoretischen und fundamentaltheologischen Erörterungen. Zur Untermauerung ihrer Episteln wurden Shakespeare, Goethe, Tolstoi, Nietzsche, Schopenhauer herangezogen, aber auch Passagen aus der Heiligen Schrift. Repin reagierte beeindruckt: »Ihre Ausführungen haben mich schon oft entzückt, und Sie sind für mich in jenen Momenten der Ausdruck von Vollendung. Es gibt nichts Angenehmeres, als einen klar und elegant ausgedrückten Gedanken zu hören oder zu lesen, der sich aus eigener Kraft entfaltet, ausbreitet und unaufhaltsam im Raum verteilt.« Dass er nur ein Bruchteil von dem verstehe, was er von Marianne zu lesen bekomme, gestand Repin ihr ein andermal: Gewöhnlich steckte er seine Nase nicht ganz so tief »in die Welt der Philosophie«, »weil es bei mir am Schießpulver mangelt, denn wissen Sie, was mich in Ihren Briefen schmerzhaft und unangenehm berührt – dass Sie von mir noch etwas erwarten.… Wehe, ich werde alt. … Es ist wohl an der Zeit, die Malerei fallen zu lassen und im Dorf Landwirtschaft zu betreiben.«16 In Wahrheit stand Repin kurz davor, die Leitung der Meisterklasse an der Sankt Petersburger Akademie zu übernehmen.
Nicht nur im Bereich der Kunst und Kultur, auch hinsichtlich politischer Entwicklungen – mit Sicherheit Diskussionsstoff in Gesprächen mit dem Vater – war Marianne stets auf dem Laufenden. Als im August 1887 im Freundeskreis über die drohende Kriegsgefahr infolge des schwelenden russisch-österreichischen Konfliktes17 gesprochen wurde, konnte sie durchaus mitreden, machte aber aus ihrer Parteilichkeit keinen Hehl: »Um Russland mache ich mir keine Sorgen, wir sind Millionen, die bereit sind, alles, was sie haben, sogar ihr Leben, für die Verteidigung zu opfern.«18
Sein Leben gab auch ein anderer hin: Gegen Ende des Jahres 1887 beging ein uns nicht näher bekannter Verehrer Marianne Werefkins Suizid. »Er starb«, meinte Lisa Della Voss, mittlerweile verheiratet, »weil Du ihn nicht lieben konntest.« Platonische Freundschaften zwischen Mann und Frau funktionierten eben nur, wenn sich beide an die Vereinbarung hielten. Schlage Zuneigung nur bei einem der beiden Beteiligten in Liebe um, käme es unausweichlich zum »finalen Konflikt«. Sie, Lisa, habe gehofft, dass auch aus Mariannes »Zuneigung Liebe würde, … denn weißt Du, ich hatte Dir so sehr eine Vermählung gewünscht«.19
Für die Empfängerin der wohlmeinenden Zeilen aber hatte schon der Gedanke an die Einklagbarkeit sogenannter ehelicher Pflichten durch einen Gatten, ihren Gatten, etwas Unerträgliches. Körperliche Hingabe war für Marianne nur als ein autonomer Akt vorstellbar. »Es gibt eine Sache«, stellte sie im Zwiegespräch mit ihrem Tagebuch klar, »die meine Natur nicht erträgt, die allein das deutsche Wort Knechtschaft wiederzugeben weiß. Ich kann nicht leben in Unterwerfung. Die Freiheit ist die Basis meines Ichs. Frei diene ich, genommen herrsche ich.«20 Eines Tages wird sie versuchen, nach dieser Maxime zu handeln.
BEINAHE WÄRE BLAGODAT, für Marianne der Inbegriff zwanglosen Seins, verloren gegangen. Zum Glück konnte sie dem Vater die Verkaufsabsichten ausreden. Nach dem Tod seiner Frau erschien Wladimir Werefkin eine Trennung von dem litauischen Zuschussbetrieb vernünftig. »Ich werde mein Leben bescheiden gestalten«, versicherte ihm die entsetzte Tochter, »damit es auch für Blagodat reicht … Ich bin ohne Wenn und Aber bereit, zu Deinen ökonomischen Projekten beizutragen.« Doch warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Und als hübschen Nebeneffekt der Sparmaßnahmen die von viel zu vielen Gästen gestohlene Zeit zum Malen und Zeichnen zurückgewinnen? Häufig war Blagodat von Besuchern gleichsam überschwemmt. »Für den Anfang wäre es nicht schlecht«, schlug Marianne dem Vater vor, »alle bei uns Schmarotzenden loszuwerden. Dann könnten wir die vorzüglichen Leckereien, den Wein, außer den für Dich bestimmten, abschaffen, das heißt auf Delikatessen verzichten, ohne die man allein bestens auskommt.«21 Nur ein, hauptsächlich auf Blagodat beschränktes Freizeitvergnügen dürfe dem Rotstift nicht zum Opfer fallen: »Ich liebe die Stimmung auf der Jagd wahnsinnig. Wahrscheinlich habe ich eine Ader dafür. … Du weißt, wie ich alle Tiere liebe, aber auf der Jagd ist der Mensch ein völlig anderer, und der Beutetrieb macht ihn im Kopfe irre.«22
In den Herbstmonaten war Blagodat im Jagdfieber. Mehr oder weniger amüsante Jagdgeschichten füllen in Mariannes Briefen an den Vater viele Seiten. Einmal hatten ihr die vorwiegend einheimischen Jagdgenossen spöttelnd vorgehalten, einen aus Angst bewegungslos in einer Ackerfurche kauernden Hasen zu töten sei nichts Großartiges. Solle die Gutsherrntochter doch ihr Schießtalent auf andere Art beweisen. »Und sie fingen an, die Mützen in die Luft zu werfen. Das Resultat – allen habe ich die Mützen durchlöchert, dann warfen sie eine Streichholzschachtel hoch – auch die habe ich getroffen.« Triumph also auf der ganzen Linie. Mariannes Gefährten verstanden gleichfalls Spaß. »Alle brüllten vor Lachen, und keiner beschwerte sich, dass aus einer Mütze nun ein Sieb geworden war.«23 Keineswegs aber wäre sie bereit gewesen, was gelegentlich vorkam, angebundene Eichhörnchen unwaidmännisch zu töten. »Nie werde ich eines erschießen.«24
Ihr größter Wunsch: ein Jagdhorn, »ich bitte Dich sehr, sehr«. »Wenn Du es mir nicht schenken möchtest, so kaufe es von meinem Geld.«25
Da war sie achtundzwanzig.
Und nur mäßig beeindruckt von den Avancen eines buchstäblich liebevollen Mannes. Wassily Wassiljewitsch Lesin mit Namen, dreißig Jahre alt.
Tagebucheintragung Marianne Werefkins: »Wald, abends. Wir gingen durch das Dickicht, ich führte ihn selbst, so und so sprach ich mit ihm, wissend, dass er ganz und gar von Leidenschaft für mich brannte …, ich nahm seine sklavenhafte Ergebenheit und kokettierte wie ich nur konnte; … als gnädige Herrin gab ich ihm meine Schultern und meinen nackten Hals zu küssen. Er berührte mich wie die Heiligste der Heiligen. Ich saß auf dem Stamm eines umgestürzten Baumes, er lag auf den Knien vor mir, wie ein Mensch, der sich einem Altar nähert.« Schlussendlich gab die unbarmherzige Angebetete dem promovierten Mediziner seine Lächerlichkeit zu verstehen!26
Der verschmähte Liebhaber: Dr. med. Wassily Wassiljewitsch Lesin
Foto Marianne Werefkins nach ihrem Jagdunfall im Herbst 1888
Am folgenden Tag durchschoss sie versehentlich ihre rechte Hand. Das geschah im November 1888.
Vorbei die ersehnte Künstlerinnenkarriere? Vorbei die Arbeit an dem für eine Ausstellung bestimmten Gemälde?27
Gegen Ende des Jahres schuf Ilja Repin ein Bildnis Marianne Werefkins, ihre bandagierte Hand ruht in einer Schlinge. Über Monate hinweg litt sie fast unerträgliche Schmerzen. Eine Wundinfektion verzögerte die Heilung. Die mehrwöchige Behandlung während eines Kuraufenthaltes im Juni und Juli 1889 sollte die Ausbreitung der Entzündung verhindern. Bei einer unaufhaltsamen Ausbreitung der Entzündung, was in Zeiten vor der Entdeckung des Antibiotikums Penicillin stets zu befürchten war, drohte die Amputation.
In Blagodat noch zur tragikomischen Figur herabgewürdigt, wurde Wassily Lesin nun als Mariannes Begleiter in die nördlichen Vorberge des Kaukasus gebraucht. Er durfte im Zugabteil bei Kerzenschein die notwendigen Verbandswechsel vornehmen und sich ansonsten in Zurückhaltung üben.28 Der siebzehnjährige Wolja Werefkin, dem Arzt als Zimmergenosse zugeteilt, wäre im Nobelbad Schelesnowodsk29 als Anstandsherr nicht nötig gewesen. Den zweiten Schlafraum der Ferienwohnung teilte die Rekonvaleszentin mit ihrer Zofe Piga. Bevor sie an ihrem Ziel angekommen war, hatte die Reisegesellschaft in Mineralnyje Wody30 einen längeren Zwischenstopp eingelegt. Marianne wollte Ewgenij Wasiljewitsch Pawlow konsultieren.31 Voller Angst hatte sie dem Urteil der chirurgischen Koryphäe entgegengesehen. »[Er] kam zehnmal zu uns, untersuchte meine Hand und sagte zuletzt, dass nicht geschnitten werden müsse.« Pawlow verschrieb Eisenbäder und Schlammumschläge. Soweit konnte der Vater beruhigt werden, doch wurde Wladimir Werefkin mit gleicher Post mitgeteilt: »Die Preise sind insgesamt schrecklich.« Dem Brief war zum Beweis von Mariannes Klage eine detaillierte Auflistung aller Kosten beigefügt. »Daraus siehst Du, dass ich zu meinem großen Verdruss nicht ohne einen zweiten Tausender auskommen kann.«32 Die Ausbeutung der Kurgäste wäre noch ärgerlicher gewesen, hätte sich in Schelesnowodsk keine gesundheitliche Besserung abgezeichnet. Außerdem gefiel Marianne die hügelige Stadt, über deren Flanierwege entlang der aus den Bergen kommenden, von Klippe zu Klippe springenden Bäche sich die grünen Kronen ungezählter Lindenbäume neigten. Während der fünftägigen Anreise mit der Eisenbahn hatte der Zauber wechselnder pittoresker Szenarien (erfasst mit dem Blick der Malerin) die Sorge um ihre verletzte Hand zumindest zeitweilig in den Hintergrund gedrängt. »Die Sonne in ihrer überwältigenden Glut ging unter in der unendlichen Weite der Steppe wie in einem Meer.… Sie war noch nicht verschwunden, als am dunkelblauen Himmel helle Sterne erstrahlten, und auf den Feldern loderten erste Feuer der Schäfer auf. Die Herden weideten friedlich, über allem lag eine nicht fassbare zarte Stille.« Da hatte Marianne es gespürt, »jenes sehnsuchtsvolle Getriebensein irgendwohin, das in jeder russischen Seele lebt«. An einer der Stationen »begann jemand die Pfeife zu spielen«. »Es war gut, dass der Musikant in dem ganzen stehenden Zug zu hören war. Da kam der Ruf nach einer Melodie zum Tanzen, und im Nu tollten in der Luft die Töne … Einer legte einen Kasatschok hin.«33
Bei aller berechtigten Furcht vor einer bleibenden Behinderung bewahrte Mariannes Kampfesgeist sie davor, in Schwermut zu versinken.
Infolge des Jagdunfalls versteiften die Gelenke von Daumen und Zeigefinger. Versuche, mit links zu malen, wurden schnell wieder aufgegeben. Nach ihrer Rückkehr nach Sankt Petersburg und einer zusätzlich verordneten Elektrotherapie34 ließ sie sich für die rechte Hand eine Art Klemme anfertigen, mittels derer es ihr gelang, Pinsel, Bleistift und Kohle über Leinwand, Pappe und Papier zu führen. Hornhaut, die sich unter der Halterung zwangsläufig bildete, schnitt sie mit einem kleinen Messerchen weg.
Ilja Repin, Selbstbildnis, 1878
Anfang November 1889 bejubelte Ilja Repin ihren künstlerischen Wiedereinstieg nach zwölfmonatiger Zwangspause: »Bravo! Bravo! Wirklich eine ausgezeichnete Entscheidung.«35
1890 war Marianne Werefkin mit mindestens vier Bildern auf der ersten Ausstellung der Sankt Petersburger Künstlergesellschaft vertreten. Erneut klatschte ihr Lehrer schriftlich Beifall. »Der lächelnde Litauer mit der dreizipfeligen Ohrenmütze« (1892 auf der zwanzigsten Ausstellung der Wanderer gezeigt und 1893 in der russischen Zeitschrift Illustrierte Welt abgebildet36) hatte ihm sehr gefallen. »Bravo! Bravo! Mariamna Wladimirowna! … Welche Modellierung, Lippen, Kinn, welch wunderbarer Ton! … Diese Etüde stellt die anderen noch in den Schatten. Dies ist ein meisterliches Werk. Nächst ihm gefällt mir die schwarze, nach unten schauende Jüdin, die alte mumienhafte Litauerin mit den Bleiaugen.« Ihre Händlerin mit dem Knaben schätzte Repin schwächer ein. »Nun, aber dies ist bedeutungslos. Von Bedeutung ist, dass Sie eine kolossale Entwicklung genommen haben.«37
Das fand Marianne Werefkin auch.
Im September 1891 schrieb sie an Lisa Della Voss: »Glücklich der Mensch, der sein Ideal im Leben verwirklichen kann!«38
Zu ihren uns bekannten Gemälden aus den frühen neunziger Jahren gehören der Gardist, der Hausdiener, der Marinesoldat, der Mann im Pelz und der Jüdische Tagelöhner. Eine Fotografie gewährt Einblick in ihr Petersburger Atelier, den großen hohen Raum im Kommandantenhaus. Etwa ein Dutzend weitere Gemälde sind darauf zu sehen: Porträts, Landschaften, Genreszenen, männliche Akte.39 1892 gingen einige der namentlich genannten Werke, gemeinsam mit Arbeiten anderer Wanderer, auf Russland- und Polentournee. Ja, sie war Mitglied der Künstlergenossenschaft geworden. Im Februar des Jahres hatte Lisa Della Voss der Freundin brieflich zur »definitiven Aufnahme« gratuliert.40
Das Gemälde Der Vorleser entstand in Blagodat. Repin verrät uns Näheres zu seiner Entstehungsgeschichte. Am 17. Oktober 1893 dankte er Wladimir Werefkin für die freundliche Einladung auf das Landgut. »Die wunderschöne, einnehmende Lage, der elegante Entwurf des Parks, die aufwendigen Bauten, das alles zeigt, dass Vernunft und Ordnung herrschen.« Am meisten aber hätten ihm dort »die betenden Juden mit dem heiligen Buch« auf der Staffelei in Mariannes Atelier fasziniert, »lebendig ausgeführt, ohne irgendeine Übertreibung. … Die Bildkomposition ist von großem Stil. Die Farben sind dem Sujet untergeordnet. Die verschiedenen Charaktere sind plastisch und ausdrucksstark dargestellt.«41 Unter dem Datum 7. November 1893 konnte dem Vater seiner Schülerin die Fertigstellung des Kunstwerks mitgeteilt werden.42 Was Marianne persönlich zu hören bekam und – übertrieben bescheiden – in Frage stellte, geht aus Lisa Della Voss’ Brief vom 11. des Monats an die »liebste Manja« hervor: »Quälen Dich wirklich noch Zweifel, nachdem Repin gesagt hat, Deine Malerei sei der Kammerton in der russischen Kunst?« Barer Unsinn, ihm Lobhudelei zu unterstellen. »Ruhm ist Dir sicher, tatsächlich hast Du als Künstlerin neue Ufer erreicht.«43
Tatsächlich ging Marianne Werefkin in jener Zeit zu den stilistischen Vorgaben ihres Lehrers auf Distanz. Auffallend ist ihr Wechsel von betonter Akkuratesse zu lockererer, großzügigerer und individuellerer Pinselführung, aber auch ihr Verzicht auf eine genau bestimmbare Lichtführung.»44 Eigene Ziele schwebten mir vor.«45 Von der Maxime aller Wanderer, Menschen in Beziehung zu ihrer Umwelt zu zeigen, rückte sie hingegen niemals ab.
1894 wurde Der Vorleser für die jährliche Sankt Petersburger Akademieausstellung vorgeschlagen – und abgelehnt. Repin konnte es nicht fassen: »Ich bin empört«!46