Marie - Hunter Lassal - E-Book

Marie E-Book

Hunter Lassal

4,5

Beschreibung

Marie lebt das traurige Leben eines Mädchens, das todkrank geboren wurde und seit fast 11 Jahren nur selten ihr Bett verlassen darf. Ihre Träume sind klein und bescheiden, wie ihr Leben, bis sie eines Tages eine antike Perlmutt Spieldose bekommt – in der sich eine wunderschöne Porzellan Ballerina befindet. Seit diesem Tag träumt Marie vom Tanzen, von Tutus, Spitzentanzschühchen und Pirouetten. Ein unmöglicher Traum, mag man meinen – völlig unverantwortlich! Und Marie hätte dem sicher zugestimmt, hätte man ihr nicht plötzlich von noch viel unmöglicheren Dingen erzählt, die, wie ihr ernsthaft versichert wird, sehr real seien. Und wenn es Meerjungfrauen mit Zaubermuscheln gibt, warum sollte dann ein todkrankes Mädchen nicht auch gesund werden und eine Ballerina werden können? Was, bitteschön, ist hier denn wahrscheinlicher? Marie stürzt sich in die Hoffnung und will unbedingt an das Unmögliche glauben. Nur allzu spät merkt sie, dass sie dafür nicht nur ihr Leben aufs Spiel setzt, sondern dass das alles vielleicht gar nicht das Wichtigste ist. Was nun?

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Seitenzahl: 83

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Marie

Die 3 Augen der Meerjungfrauen

Lassal

Text Copyright © 2011 Lassal, www.lassal.com

Umschlaggestaltung Copyright © 2011 Lassal, www.lassalmedia.com

Produktions Copyright © 2011, 2021 LegendaryMedia,

www.legendarymedia.de

eISBN 978-3-86469-003-7

Paperback ISBN 978-3-86469-004-4

Hardcover ISBN 978-3-86469-005-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die der auszugsweisen Vervielfältigung, gleich durch welche Medien, vorbehalten.

eBook-Umsetzung und Aggregation:

LegendaryMedia e.K.

Windmühlstraße 2-4

Frankfurt am Main

Deutschland

www.legendarymedia.de

Für Carlotta

Inhalt

Der Albtraum

Marie

Der verirrte Vogel

Die kleine Ballerina

Am Meer

Marie wacht auf

Das Tüllkleid

Besuch bei Opa Donnersee

Die Muschel der Meerjungfrau

Maries Zukunft

Der Brief

Verzweiflung

Die Sturmflut

Was dann geschah

Danksagung

Weitere Titel von Lassal: Klein Tobi

Der Albtraum

In der Dunkelheit stieg das Wasser. Kalt kroch es an ihrem Körper empor, durchtränkte ihr dünnes Baumwollnachthemd und klebte es an ihre Haut. Unter ihr, im Wasser, schwebte das Stoffmuster mit den kleinen Goldfischen, gleich neugieriger Wasserwesen, die sehen wollten, wer da in ihr eisiges Reich eingedrungen war. Leuchtende Fische waren es, mit wallenden Flossen, wie glühender hauchdünner Stoff im schwarzen Wasser, das ihr jetzt schon bis zur Taille reichte. Marie schaute suchend um sich, kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen, an dem sie sich festhalten könnte. Aber alles oberhalb der silbrigen Wasseroberfläche war schwarz wie tiefste Traurigkeit.

Marie blickte an sich herab und sah einen Körper, so bleich und durchsichtig, als sei er schon nicht mehr aus dieser Welt, sondern bereits Teil des Wassers.

Es gab nichts zum Festhalten. Selbst wenn sie etwas gefunden hätte, wäre sie zu schwach gewesen, um sich zu retten. Marie wusste das. Aber sie wusste auch, dass alles nur ein böser Traum war. Dass sie nicht im Wasser stand, sondern in ihrem Krankenbett lag. Dass die Kälte nur aus Einsamkeit und Angst bestand und dass die kleinen Fische, die um sie tanzten, nichts weiter waren, als das Muster auf ihrem Nachthemd.

Sie hatte diesen Albtraum jede Nacht. Und er war immer gleich schlimm.

Marie konnte sich nicht helfen. Weder im Traum noch im wirklichen Leben. Maries Arme waren schwächer, als die Arme anderer Kinder. Ihre Beine waren schön gerade und lang, aber so sehr viel dünner, als die der anderen Mädchen, die tagsüber draußen im Garten rannten und fangen spielten, oder mit den Eltern Fahrrad fuhren. Marie durfte nicht rennen, mit anderen Kindern fangen spielen oder mit den Eltern Fahrrad fahren. Marie musste immer langsam laufen. Die Ärzte hatten ihr verboten zu rennen, zu toben, zu schwimmen und ein Fahrrad besaß sie erst gar nicht.

Marie

Vor fast elf Jahren war Marie in dem kleinen Krankenhaus zur Welt gekommen, das ein paar Straßen weiter von der Wohnung ihrer Eltern lag. Die Geschichte ihrer Geburt hatte sie schon sehr häufig gehört, denn sie war etwas Besonderes: Marie war mit offenen Augen auf die Welt gekommen — große grünblaue Augen mit kleinen orangefarbenen Sprenkeln.

So überrascht waren alle über Maries offene Augen, dass sie erst merkten, dass das Mädchen weder schrie noch überhaupt atmete, als Marie bereits blau anlief. Flink erwachten erstarrte Ärztehände zum Leben und schlossen das kleine Wesen an Maschinen an, die von da an und über viele Jahre hinweg ihre winzigen Lungen mit Sauerstoff versorgen würden.

Ihre Mutter weinte, als sie ihr Kind nicht halten durfte; als es ihr weggenommen wurde, um an blinkende, kalte Apparaturen angeschlossen zu werden und ein Glaskasten es von ihren Berührungen trennte. Das war der erste Tag, an dem ihre Mutter wegen ihr geweint hatte. Seit jenem Tag vor beinahe elf Jahren hatte sie fast jeden Tag geweint.

So wurden die Maschinen zu Maries ständigen Begleitern: Sie umarmten sie sanft mit ihren Kabeln und Schläuchen, wenn das Mädchen Schmerzen hatte, und wenn sie nicht schlafen konnte, spendeten ihr die kleinen blinkenden Lichtlein Trost. Marie erzählte der Maschine all ihre Träume und Gedanken: die schönen und die nicht so schönen. Und mit dem rhythmischen Seufzen ihrer künstlichen Lungen vergingen die Sekunden, die Minuten, die Tage, … die Jahre.

Die meiste Zeit ihres Lebens, an die Marie sich erinnern konnte, hat sie in ihrem kleinen Kinderzimmer in ihrem Bettchen verbracht und dem beruhigenden, gleichmäßigen Geräusch der pumpenden Maschinen gelauscht.

Der verirrte Vogel

Zum Erstaunen der Ärzte hatte der Zustand des Mädchens sich nach zehn Jahren so weit verbessert, dass die Maschinen fast nur noch für Notfälle bereitstehen mussten. Notfälle, die immer dann eintraten, wenn Marie sich aufregte und mehr machte, als still im Bett zu liegen.

Sie erinnerte sich noch ganz genau an das letzte Mal, als es einen Notfall gegeben hatte: Vor einigen Wochen war ein junger Vogel durch das halb geöffnete Fenster ihres Schlafzimmers geflogen und hatte nicht mehr hinausgefunden. Panisch flatterte der kleine Kerl im dunklen Raum herum, stieß sich an Decke und Wänden und verhedderte sich in Schläuchen und Kabeln ihres Atmungsgerätes. Aufgeregt piepsend versuchte er sich aus dem Gewirr zu befreien, dann knallte er mit einem unheimlichen Geräusch gegen den Spiegel ihrer Schranktür und fiel regungslos zu Boden. Kurz lag er benommen auf den Holzdielen, und Marie fürchtete bereits, er hätte sich arg verletzt. Dann aber sprang er wieder auf seine dünnen Beinchen, schüttelte das zerzauste Köpfchen, breitete die kleinen Flügel aus und flog los, um weiter nach einem Ausgang zu suchen.

Als der Vogel durch das Fenster kam und nicht mehr herausfand, war Marie vor Schreck aus dem Bett gesprungen — was sie nicht hätte tun dürfen. Als das winzige Tierchen gegen den Spiegel flog, schrie Marie vor Schreck laut auf — was sie auch nicht hätte tun dürfen. Und als der kleine Kerl benommen am Boden lag, hastete Marie zu ihm hinüber — was sie erst recht nicht hätte tun dürfen. Noch bevor sie den kleinen Raum halb durchquert hatte, brach sie atemlos zusammen. Mit einem dumpfen Geräusch schlug sie mit den Knien auf dem Boden auf und griff sich mit weit aufgerissenen Augen an den Hals. Maries Mund schnappte nach Luft wie ein kleiner Fisch, der aus seinem Aquarium gesprungen war, und nun zu ersticken drohte. In genau diesem Moment stürzte ihre Mutter ins Zimmer, alarmiert von Maries Schrei und dem ganzen Lärm, und fand sie auf dem Boden. Sie riss das Mädchen an sich, während sie mit der anderen Hand auf den orangefarbenen Notknopf des Beatmungsgerätes schlug und Marie das Mundstück aufsetzte. Sobald die erlösende Luft dem Mädchen durch Mund und Nase strömte, entspannte sich ihr Körper in den Armen ihrer Mutter.

Der kleine Vogel hatte in der Zwischenzeit das Fenster gefunden. Er saß noch kurz auf dem Sims, blickte fragend zu Marie hinüber, als wunderte er sich, ob das Mädchen wohl auch einen Ausgang suchte. Dann zwitscherte er einmal laut, wie um ihr den Weg zu zeigen, öffnete die Flügelchen und flog in die Freiheit davon.

Am nächsten Tag hatte Maries Vater Aufkleber besorgt, um unachtsame Vögel vor der Fensterscheibe zu warnen. Er hatte keine Vogelsilhouetten gewählt, wie sie an den Fenstern anderer Häuser klebten, sondern Fische.

Die kleine Ballerina

Damit Maries Raum nicht so trist wirkte, hatte die Mutter vor Jahren angefangen, aus Stoffresten bunte Schleifen an die Beatmungsmaschinen zu binden: große und kleine, blaue mit gelben Punkten und feurig rote, die silbrig in der Sonne glänzten. Rechts neben dem Kopfende des Bettchens stand eine kleine Kommode, ein Geschenk ihres Vaters. Er hatte sie im Sperrmüll entdeckt und für sie algengrün angemalt, mit großen weißen Seesternen und winzigen Goldfischen drauf.

„Wie deine Augen, wenn sie leuchten”, hatte ihr Vater ihr zugezwinkert. Denn er meinte, wenn er in ihre grünen Augen mit den orangefarbenen Sprenkeln schaute, sehe er ganz viele Goldfische in einem Waldteich.

Auf ihrer Kommode stand die braune Flasche mit der bitteren Medizin, die Marie drei Mal täglich einnehmen musste. Aber noch etwas stand auf der Kommode, und das war eine schimmernde Dose mit einem kunstvoll nach oben gewölbten Deckel. Es war eine wertvolle, alte Spieldose aus Silber, die mit polierten Perlmuttstückchen besetzt und in etwa so groß war, wie zwei übereinandergestapelte Päckchen Butter. Morgens, wenn die Sonne ins Zimmer schien, ließ sie winzige regenbogenartige Lichtspiele entstehen, die überall an den Wänden und der Decke tanzten. Wenn man vorne unterhalb des Deckels auf einen schmalen silbernen Knopf drückte und die Dose mit einem leichten Klicken öffnete, erklang eine leise Melodie — so leise, als käme sie aus einer fernen, fremden Welt und sei von der langen Reise unendlich müde und erschöpft. In der Mitte der Dose, auf einem weißlichen Teller, drehte sich eine winzige Ballerina zur Musik. Sie war aus Porzellan, trug ein leicht verstaubtes, cremefarbenes Tutu und ganz kleine, wunderbar zierliche Spitzentanzschühchen. Elegant balancierte sie auf ihrem linken Bein, während sie das andere anmutig anwinkelte, sodass die Spitze des Tanzschuhs ihre winzige Wade berührte. Ihre Arme streckte sie grazil über den leicht geneigten Kopf mit dem dunkelbraunen Haarknoten und dem feinen Kopfschmuck, der wie ganz kleine Muscheln aussah — von dem aber das größte Stückchen in der Mitte fehlte. Ihre aufgemalten Augen waren geschlossen, ihr roter Mund lächelte. Sie schien zu schlafen, während sie sich in der geöffneten Musikdose langsam zum Klang der Melodie drehte.