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Los Angeles, 1942: Normas Kindheit ist einsam, ihr Zufluchtsort das Kino, wo die Hollywood-Schauspielerinnen so viel selbstbewusster sind als sie. Mit ihrer arrangierten Ehe muss sie den Traum, selbst ein Star zu werden, aufgeben. Dennoch wird Jim ihre erste Liebe und erweckt ihre Sinnlichkeit. Dann will ein Fotograf sie als Fotomodell berühmt machen. Vor der Kamera sprüht Norma vor Lebendigkeit, alle Selbstzweifel sind vergessen. Und plötzlich weiß sie: Sie will ins Rampenlicht, nur das macht sie glücklich. Doch zuerst muss sie sich von den prüden Regeln ihrer Zeit emanzipieren, um die zu werden, die sie bis heute ist: Marilyn Monroe, die größte Ikone der Filmgeschichte.
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Seitenzahl: 641
Normas Leidenschaft ist der Film, die Glitzerwelt Hollywoods ihr Zufluchtsort. Wenn sie im Kino sitzt, kann sie alles vergessen: ihre einsame, ärmliche Kindheit, die kranke Mutter und die ständige Angst, ins Waisenhaus abgeschoben zu werden. Ihre Bewunderung gilt den großen Stars der Zeit, diesen Schauspielerinnen, die aus einer besseren Welt zu stammen scheinen, die so selbstbewusst, allseits geliebt und bewundert sind und atemberaubend schön. Allen voran die platinblonde Jean Harlow. Als Grace, die exzentrische Freundin ihrer Mutter, sie bei sich aufnimmt, hat Norma nicht nur endlich eine liebevolle Mutter gefunden, Grace unterstützt sie auch in ihrem Wunsch, zum Film zu gehen. Doch Normas Glück nimmt ein jähes Ende, als Grace mit ihrem Mann in einen anderen Bundesstaat zieht und die minderjährige Norma zurücklassen muss. Die Sechzehnjährige sieht sich gezwungen, eine Ehe einzugehen, um nicht ins Waisenhaus zu müssen. In Jim findet sie zwar einen zärtlichen Ehemann, doch ihr Traum von der Schauspielerei scheint als Ehefrau im Amerika der 1940er Jahre für immer vorbei, wäre da nicht ihr geheimes Schauspiellehrbuch, von dem sie einfach nicht lassen kann …
Dr. Claudia Beinert und ihre Zwillingsschwester Nadja sind in Staßfurt geboren und aufgewachsen. Beide studierten Internationales Management in Magdeburg. Bevor Claudia ihre Leidenschaft für historische Romane zum Beruf machte, hatte sie eine Professur für Finanzmanagement inne. Sie lebt und schreibt in Leipzig. Nadja Beinert ist in Erfurt zu Hause. Die jüngere der Zwillingsschwestern ist seit mehreren Jahren in der Filmbranche tätig.
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Claudia Beinert, Nadja Beinert
Marilyn und die Sterne von Hollywood
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Motto
Prolog — August 1934
Teil I
1: März 1942
2: April 1942
3: Juni 1942
4: Juli 1942
5: Oktober 1942
6: Ende Oktober 1942
7: November 1942
8: Januar 1943
9: 31. Mai 1943
Teil II
10: 1. Oktober 1943
11: Mitte Oktober 1943
12: Anfang November 1943
13: Anfang November 1943
14: Mitte November 1943
15: Februar 1944
16: Ende April 1944
17: Juli 1944
18: Ende Juli 1944
Teil III
19: Mitte August 1944
20: November 1944
21: 10. Dezember 1944
22: Januar 1945
23: 16. März 1945
24: Juli 1945
25: August 1945
Teil IV
26: Dezember 1945
27: Mitte April 1946
28: Ende April 1946
29: Mai 1946
30: Mai 1946
31: 19. Juli 1946
Nachwort
Wichtige Quellen
Impressum
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»Die Wahrheit ist, ich habe nie jemanden getäuscht.
Ich habe die Leute sich selbst täuschen lassen.
Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, herauszufinden,
wer und was ich bin.«
Marilyn Monroe
August 1934
Norma stand auf dem Hollywood Boulevard und schaute fasziniert zum Grauman’s Chinese Theatre hinüber. Den Eingang des tempelartigen Baus bildete eine in den Himmel ragende Pagode, deren Dach von furchteinflößenden Drachen gestützt wurde. Es war ein Gebäude wie aus einem Märchen, verzaubernd schön und einschüchternd zugleich. Etwas Beeindruckenderes als dieses Kino hatte sie in ihren acht Lebensjahren noch nicht gesehen. Sie war hin- und hergerissen, ob sie sich dem Gebäude weiter nähern durfte. In ihrer Erinnerung erklang die Stimme ihrer früheren Pflegemutter so real, als würde Ida Bolender direkt neben ihr stehen. »Wenn die Welt untergeht, und du sitzt in einem Kino, weißt du, was dann passiert?«, hatte Ida mit bebender Stimme gefragt. »Du verbrennst zusammen mit all den anderen bösen Menschen. Der Mensch soll in die Kirche gehen, nicht ins Kino! Nur dort ist er in Gottes Hand und wird beschützt.« Inzwischen lag es mehr als ein Jahr zurück, dass ihre einstige Pflegefamilie sie fortgeschickt hatte. Sie war ihnen zu schwierig geworden.
Als Norma jetzt ihre Hand tiefer in die ihrer Begleiterin schob, murmelte sie zur Sicherheit ein Gebet. Grace hatte sie an diesem heißen Sommertag ins Kino eingeladen und angekündigt, dass sie etwas Wichtiges mit ihr besprechen wolle. Wenn Erwachsene dies sagten, gab es meistens schlechte Nachrichten oder Strafaufgaben oder noch schlimmer: Sie musste nun wirklich ins Waisenhaus, die Drohung wurde wahrgemacht.
Eingeschüchtert schaute Norma an Grace hinauf. Grace McKee war die immer gut gelaunte Freundin ihrer leiblichen Mutter, die selbst keine Kinder hatte. Norma wohnte übergangsweise bei ihr, bis jemand sie wieder als Pflegekind aufnahm. Sie zuckte zusammen, wenn sie daran dachte, dass die meisten Pflegeeltern Babys oder Kleinkinder bevorzugten. Je jünger das Pflegekind, desto mehr Geld zahlte der Staat. Nur mit Mühe konnte Norma Tränen zurückhalten.
Grace drückte Normas Hand und lächelte liebevoll. »Bevor wir beide uns ernster miteinander unterhalten, sollst du endlich mal ein Kino von innen sehen. In einem Land, in dem es mehr Kinos als Kirchen gibt, ist das Teil unserer Kultur«, sagte sie und schwenkte ihren weißen Fächer erst vor ihrem und dann vor Normas Gesicht. »Das Leben darf auch unterhaltsam und fröhlich sein und nicht immer nur ernst und verbissen.«
Das klang zu unglaublich, zaghaft erwiderte Norma das Lächeln. Seit sie bei Grace wohnte, nahm die sich viel Zeit für sie und zeigte ihr Los Angeles. Und stets sah sie so hübsch aus. Heute trug sie ein fröhliches hellblaues Kleid mit weißen Punkten, das sogar ihre Fesseln freilegte. Ihr platinblondes Haar hatte sie sich in Wellen an den Kopf gelegt. So wirkte sie gar nicht wie eine Schnittmeisterin aus dem kleinen Consolidated Filmstudio, die in zwei Zimmern lebte, sondern ähnelte eher den Filmstars aus den bunten Magazinen, in denen Norma so gerne blätterte. Jeder mochte Grace, und niemals wurde sie übersehen, obwohl sie so klein und zierlich war. Wenn Norma Zeit mit ihr verbrachte, vergaß sie ihre traurige Vergangenheit. Grace meckerte nie, wenn Norma verzweifelt war und weinen musste, sondern tröstete sie liebevoll. Überhaupt zeigte Grace ihr häufig ihre Zuneigung, nahm sie in den Arm und kuschelte mit ihr. Noch nie hatte Norma so unbeschwerte und unterhaltsame Stunden verbracht wie mit Grace.
»Komm, Sweetheart«, sagte Grace und zog Norma an der Hand mit über den Hollywood Boulevard, der durch die kurzen Palmenschatten wie mit einer Bordüre verziert wirkte. Die kalifornische Nachmittagssonne brutzelte den Straßenbelag wie ein Frühstücksomelette. Seit Wochen schon lähmte eine Dürre Los Angeles.
Norma klammerte sich an die Hand von Grace, während sie auf Grauman’s zuging. Bei jedem Schritt drohte sie, mit ihren viel zu kleinen mexikanischen Sandalen am Asphalt der Fahrbahn kleben zu bleiben, während Grace mit wiegenden Hüften und auf Absätzen so hoch wie eine Fußbank neben ihr herschwebte.
»Ich möchte dir heute Jean Harlow vorstellen«, sagte Grace.
Zwar wusste Norma nicht, wer das war, aber es klang wie eine Verheißung. »Tante Grace, ich freue mich auf Jean Harlow«, sagte sie, obwohl sie zu gerne jetzt schon wissen wollte, was es später zu besprechen gab. Aber aus Angst, neugierig oder gar schwierig zu wirken, fragte sie nicht nach. Das Bild des Waisenhauses in Hollywoods El Centro Avenue stahl sich vor ihr inneres Auge.
»Jean ist die schönste und begabteste Schauspielerin, die wir in Hollywood jemals hatten«, schwärmte Grace. »Ihr neuer Film heißt Millionäre bevorzugt und hatte vor einer Woche Premiere. Du wirst sie mögen.«
Norma setzte gerade ihren ersten Schritt auf den Gehweg, als Grace mit ihrem Fächer auf die Betonplatten vor ihnen wies. »Hier haben sich Hollywood-Ikonen mit Hand- und Fußabdrücken verewigt.«
»Was ist eine Ikone?«, wollte Norma wissen und ging vorsichtig in die Hocke, um ihr einziges Sonntagskleid nicht zu beschmutzen.
»Eine Ikone ist eine sehr erfolgreiche Person, eine Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin, die für ihr Können von vielen verehrt wird, über Generationen hinweg«, erklärte Grace. »Das hier zum Beispiel sind die Abdrücke deiner Namenspatronin, der Schauspielerin Norma Talmadge, die deine Mutter für ihre Schönheit sehr bewunderte.«
Meine leibliche Mutter? Norma biss ihre Lippen fest aufeinander. Das Einzige, was ihr von der Frau geblieben war, war eine Fotografie, die ihren Vater zeigte: ein lächelnder Mann mit einem so schmalen Oberlippenbart, als wäre er mit einem Bleistift gezogen.
Vorsichtig zeichnete Norma den linken der beiden Handabdrücke im Beton mit ihrem Zeigefinger nach und wagte es sogar, ihre kleinen Hände hineinzulegen. »Ikone« murmelte sie ehrfürchtig vor sich hin.
»Du wirst langsam hineinwachsen«, sagte Grace und schenkte ihr ein Lächeln. Dann trat sie an das Kassenhäuschen und erstand die Eintrittskarten.
Norma zögerte kurz, ihre Karte an sich zu nehmen, griff dann aber doch zu. Wenn heute wirklich die Welt untergehen würde, verbrannte sie in einem Kino, von dem aus die nächste Kirche nicht einmal in Sichtweite lag. Aber wenigstens war sie bei Grace.
Normas Herz schlug schneller, als sie Grauman’s betraten. Mit geöffnetem Mund glitt ihr Blick über die getäfelte Decke, über die Teppiche an den Wänden und den kostbaren Boden. Was für eine bunte, glänzende Welt! Das prachtvolle Kino erinnerte sie an einen der Paläste aus ihrem Märchenbuch, aus dem die Bolenders sich geweigert hatten, ihr vorzulesen, weil die Bibel stets Vorrang hatte. Rot, Bronze und Gold, wohin sie nur schaute: golddurchwirkte Vorhänge mit Kordeln groß wie Plüschtiere, Bronzetröge, die aussahen wie Waschbecken, Türen mit kunstvollen Emblemen und Beschlägen, viel zu schwer, als dass sie sie gedrückt bekäme. Dass die Welt so farbenfroh, prächtig und leuchtend sein konnte, hätte sie sich nie träumen lassen. Vor Begeisterung schlug ihr Herz immer schneller, so dass sie zur Sicherheit die Hand vor ihre Brust legte. Sollte es herausspringen, wollte sie es auffangen.
»Hollywood ist die Welthauptstadt der Versuchung«, verkündete Grace und schritt so sicher voran, als befände sie sich in ihrem Wohnzimmer.
Eingehüllt in den Duft von gepopptem Mais und geschmolzener Butter, ging Norma an Graces Hand in den Kinosaal. Dort zeigte der Anweiser ihnen ihre Plätze in der fünften Reihe des nicht minder prächtigen Saales. Hier würden sämtliche Kinder ihrer Schule zweimal reinpassen, und nicht einmal die Kirchenräume der Pfingstgemeinde waren so angenehm kühl. Alles war wieder dicht mit Rot und Gold geschmückt. Der Fußboden war mit einem flauschigen Teppich ausgelegt, der Norma das Gefühl gab zu schweben. So ähnlich stellte sie sich den Weg ins Paradies vor.
Den Fächer schwenkend, schaute Grace sich in alle Richtungen um, als suche sie einen Bekannten unter den wenigen Anwesenden. Grace und ihre Freunde mussten reich sein, überlegte Norma, wenn sie in einer Zeit, in der die vielen Arbeitslosen für Brot und Maisbrei Schlange standen, die fünfzehn Cent für eine Eintrittskarte ins Kino übrig hatten.
Norma nahm auf dem Kinosessel neben Grace Platz. Sie war das einzige Kind im Saal und sank tief in den dunkelroten, gepolsterten Samtstuhl ein. Dabei heftete sie ihren Blick auf die Verzierungen an der Decke, die einem riesigen Strahlenkranz glichen und an den Rändern von wunderschönen Malereien umgeben waren.
Als der Gong den Beginn der Vorstellung ankündigte, hielt Norma vor Aufregung die Luft an und atmete erst wieder normal, als Jean Harlow auf der Leinwand erschien. Millionäre bevorzugt erzählte die Geschichte der aus armen Verhältnissen stammenden Eadie, die auf der Suche nach einem wohlhabenden Ehemann ist, dabei allerhand Tumulte verursacht und sogar des Diebstahls bezichtigt wird. Es war ein lustiger Film, obwohl der reiche Mr. Paige, einer der potenziellen Ehemänner für Eadie, undeutlich sprach und Norma nicht allen Dialogen folgen konnte.
Mehrmals schielte sie zur Seite und versicherte sich, dass Grace noch neben ihr saß, und bemerkte dabei, dass auch die sie immer wieder betrachtete. Die meiste Zeit aber war Norma auf die übergroß flimmernde Eadie auf der Leinwand konzentriert. Mit dem gleichen platinblonden Haar wie Grace und dem enganliegenden weißen Kleid wirkte Eadie übernatürlich schön – wie eine Göttin.
Beim Abspann des Filmes klatschten Grace und Norma begeistert Beifall. So also sah eine Ikone aus. Sie ist das ganze Gegenteil von mir!, durchzuckte es Norma. Eine Ikone wollte bestimmt jeder bei sich aufnehmen. Ikonen endeten nicht im Waisenhaus. Wie schön musste es sein, nicht von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht, nicht von Alpträumen über das Waisenhaus gequält zu werden und nachts nicht regelmäßig schweißgebadet aufzuwachen. Jean Harlow wurde bestimmt von allen Menschen geliebt, besaß eine richtige Familie und viele Freunde. Niemand hänselte sie.
Norma wollte noch nicht gehen. Der Film war einfach zu schön gewesen, und etwas von der besonderen Atmosphäre lag noch in der Luft. Die Handlung hatte sie so eingesogen, als würde Eadie wirklich existieren. Sie hatte Eadies Herzschlag gespürt, mit ihr gelacht und gelitten. Eadie hatte sich wie eine Vertraute für sie angefühlt. Ob sie den Film noch einmal spielen würden, wenn Grace und sie einfach sitzen blieben?
Leider erhob sich Grace schon im nächsten Augenblick elegant und führte Norma aus dem Kinosaal. Norma gab sich alle Mühe, sich etwas weniger ungelenk zu bewegen. Ein paar Schritte ging sie sogar auf Zehenspitzen und stellte sich vor, sie würde so hohe Schuhe wie Grace tragen.
»Jean Harlow besitzt ein besonderes Talent als Schauspielerin«, schwärmte Grace, während sie in ihrem Pünktchenkleid durch das Foyer schritt, die Handtasche in der Armbeuge. »Sie spielt anziehend und komödiantisch zugleich.«
»Sie ist so wunderschön«, hauchte Norma, deren Zehen wehtaten, obwohl sie schon wieder normal ging.
Grace nickte. »Jean ist perfekt.« Im nächsten Moment trat sie mit einem schwungvollen Schritt vor Norma. Inch für Inch beschaute sie Normas Gesicht, genauso wie während der Filmvorstellung. »Du bist auch perfekt, Sweetheart. Ein süßes Mädchen mit einem großen Herzen.« Sie tippte ihr auf die Nasenspitze.
Ungläubig senkte Norma den Blick. Wenn sie perfekt war, warum hatte sie dann keine Familie? Warum hatten erst ihre leibliche Mutter und dann auch die Bolenders sie fortgegeben?
Draußen auf dem Hollywood Boulevard nahm Grace Norma wieder bei der Hand. »Ich wollte ja noch etwas mit dir bereden«, sagte Grace nach einer Weile. Sie blickte den Hollywood Boulevard in Richtung Küste hinab.
Normas Kehle verengte sich, ihre Hände wurden feucht. Abrupt blieb Grace stehen. Normas Herz begann zu galoppieren. Sie konnte den Rauch glimmender Bäume von den Hügeln riechen.
»Ich beabsichtige«, begann Grace, »die Vormundschaft für dich zu beantragen und dich für immer zu mir zu holen.«
In Normas Ohren begann es zu rauschen, sie brachte erst kein Wort heraus. »D-, D-, Du wirst meine neue Mom?«, stotterte sie schließlich.
»Ich werde dann deine Mom, ja, und wir wären eine richtige Familie«, betonte Grace und senkte ihre Lider. Sogar ihre Wimpern waren platinblond gefärbt.
Würde dieser unmögliche Traum von einer lieben, fürsorglichen Frau, die sie »Mom« nennen durfte, doch noch wahr werden? Von einer Mutter, die immer für sie da sein und sie nie mehr weggeben würde, die sie so liebenswert fand, wie sie war? Norma spürte, wie es in ihrem Bauch vor Vorfreude zu kitzeln begann, sie konnte ihr Glück kaum fassen. »Das möchte ich so gerne!«, antwortete sie heftig atmend und begann sich auszumalen, wie schön es mit Grace werden könnte. Ein buntes Leben anstatt Einsamkeit in Schwarz-Weiß. Kinonachmittage anstatt strenger Gottesdienste, gemeinsame Mahlzeiten und morgens in einem warmen Bett aneinandergeschmiegt aufwachen. Am wichtigsten aber war ihr eine Schulter zum Anlehnen, der sie nicht zu schwierig war. Wenn dieser Traum sich nun erfüllte, würde sie für immer die beste Tochter sein, die man sich vorstellen konnte. Sie schwor es hier und jetzt hoch und heilig. Nie würde Grace über sie behaupten können, sie wäre zu schwierig.
Norma wollte Grace umarmen, als sich deren Gesichtsausdruck plötzlich veränderte. Sie schaute nun so ernst, wie Norma es nie zuvor erlebt hatte, und senkte die Stimme: »Um die Vormundschaft für dich zu bekommen, muss ich nachweisen, dass deine leibliche Mutter unzurechnungsfähig ist.«
Norma hielt inne. Sie kannte das Wort »unzurechnungsfähig« nicht. Aber so zögerlich, wie Grace es ausgesprochen hatte, bedeutete es nichts Gutes.
»Aber das ist noch die einfachere der beiden Bedingungen für die Vormundschaft«, fügte Grace bedrückt hinzu. Am Pünktchenkleid unter ihren Achseln zeichneten sich dunkle Schweißmonde ab.
»Und … die zwei-, zwei-, zweite?«, fragte Norma nunmehr angsterfüllt.
Grace schaute bedeutungsschwer zu Boden und schloss kurz schmerzerfüllt die Augen, dann schaute sie langsam wieder auf. »Du musst mindestens sechs Monate in einem Waisenhaus verbracht haben.«
Reflexartig wich Norma einen Schritt zurück. In ein Waisenhaus? Und fort von Grace? Am liebsten wollte sie nicht eine Stunde mehr ohne sie sein. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
»Sechs Monate sind bestimmt schnell vorbei«, beeilte sich Grace zu sagen. »Wirst du das durchstehen, meine Kleine?« Sie streckte die Arme nach Norma aus. »Ich kann die Regeln des Bundesstaates Kalifornien nicht ändern, so gerne ich das auch tun würde.«
Norma zögerte. Es war unvorstellbar, dass sie die Ewigkeit von sechs Monaten in einem Waisenhaus überleben würde.
»Es gibt keinen anderen Weg, damit ich deine neue Mom werden kann«, versicherte Grace, »und ich verspreche dir, dass ich danach immer für dich da sein werde.«
»W-, w-, wirk-lich fü-, fü-, für immer?«, fragte Norma ungläubig.
Grace strich ihr liebevoll über die Haare und sagte in zärtlichem Ton: »Wirklich, für immer.«
Diese Vorstellung überwältigte Norma. Sie nickte schließlich und versuchte, so zuversichtlich zu lächeln wie Eadie im Film. Dann schmiegte sie sich in Graces Arme und blendete die bevorstehende Zeit im Waisenhaus wie eine Filmszene aus. Endlich würde sie eine Mom bekommen, die vermutlich beste der Welt. »Mom«, sprach sie vorsichtig vor sich hin, noch immer an Grace geschmiegt. Eine Freudenträne lief ihre Wange hinab. In sechs Monaten würde sie endlich eine Mutter haben, die ihr bedingungslos Liebe schenken und sie nie mehr verlassen würde. Ein bisschen hatte sie in den zurückliegenden Wochen schon erfahren, wie sich Mutterliebe anfühlte: warm, sicher und süß wie Donuts. Mutterliebe ließ das Herz zur Ruhe kommen und machte das Atmen leicht.
»Mit zwölf Jahren sah ich aus wie ein siebzehnjähriges Mädchen. Mein Körper war entwickelt und wohlgeformt. Aber das wusste niemand außer mir. Ich trug immer noch das blaue Kleid und die Bluse, die das Waisenhaus zur Verfügung stellte. Sie ließen mich wie einen übergroßen Trottel aussehen.«
Marilyn Monroe
1
Norma musste sich am Flughafenzaun festkrallen, damit sie nicht beiseitegedrängt wurde. Seit Wochen war der Beginn der Dreharbeiten zu Alle treffen sich bei Rick’s von Kinogängern und Presse in Los Angeles mit Spannung erwartet worden. Fasziniert beobachtete sie das emsige Treiben auf dem Rollfeld des Metropolitan Airport. Dort waren Kamerakräne aufgebaut, Tonangeln ragten in die Höhe, und jede Menge Lampen leuchteten das emsige Treiben aus. In den Wohnwagen, auf denen unübersehbar das Logo der Warner Bros. prangte, herrschte ein Kommen und Gehen. Auch Frauen, vermutlich Schauspielerinnen, waren zu sehen. Eine von ihnen ging besonders aufgeregt vor dem Wohnwagen auf und ab und presste sich Zettel vor die Brust. Ob sie dem schwindelerregenden Augenblick entgegenfieberte?
Von Grace wusste Norma, dass eine Schauspielerin den Zuschauer nur dann im Herzen zu berühren und mitzureißen vermochte, wenn sie und ihre Rolle eine Einheit bildeten, wenn sie ganz in der Rolle aufging und diese zur Illusion des wahren Lebens wurde. Das Gefühl dieser Einheit hatte Grace ihr als einen schwindelerregenden Augenblick beschrieben, in dem die Schauspielerin nicht mehr unterscheiden konnte, was eigenes Leben und was Rolle war.
Norma wollte solch einen Augenblick eines Tages selbst erleben. Sie stellte ihn sich vor wie hunderte Glücksmomente konzentriert in einem einzigen Moment. Seit sie das erste Mal im Kino gewesen war, konnte es gar nichts anderes für sie geben, als selbst Schauspielerin zu werden. Nachdem sie das Waisenhaus verlassen hatte und bei Grace eingezogen war, versuchte sie immer wieder, Filmszenen in ihrem Zimmer nachzuspielen. Bei den gemeinsamen wöchentlichen Kinobesuchen durchlebte sie jedes Mal ein neues Leben: ein heldenhaftes, ein romantisches, selten ein tragisches, oft ein von Liebe erfülltes, und immer wurde am Ende alles gut für die Heldin oder den Helden auf der Leinwand.
»So ein Filmset wirkt wie ein Ameisenhaufen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrer Stiefschwester neben sich. »Es sieht unglaublich chaotisch aus, aber in Wirklichkeit geht jeder seiner festgelegten Aufgabe nach.« Norma beobachtete einen Kameramann, der an einem beeindruckend großen wie blankpolierten Apparat hantierte, auf dem sich das Sonnenlicht bündelte. Wann würde die erste Klappe des Tages geschlagen werden? Die Geschichte von Alle treffen sich bei Rick’s gefiel ihr wegen der einzigartigen Liebesgeschichte besonders gut. Im Mittelpunkt des Films stand Rick’s Nachtclub in Casablanca, von dem aus Rick Europäern half, vor dem Naziterror ins sichere Amerika zu fliehen. Die Liebesgeschichte zwischen Rick und Ilsa war einfach zum Dahinschmelzen.
Norma hatte das Buch zum Theaterstück begeistert verschlungen. Man munkelte, dass die Autoren den unglaublichen Betrag von zwanzigtausend Dollar für den Verkauf der Filmrechte erhalten hätten. Der bekannteste unter den Schauspielern war Humphrey Bogart. Er spielte die Rolle des Rick und wurde heute am Set erwartet. Der Nachtclubbesitzer war seine erste romantische Rolle, bisher hatte er vor allem als Gangster geglänzt. Es war noch unklar, ob Ingrid Bergman, die die Rolle der Ilsa übernommen hatte, heute ebenfalls am Drehort auftauchen würde. Für sie interessierte sich Norma noch mehr, sie und ihre Stiefschwester vergötterten Mrs. Bergman. Wie die meisten Frauen, die es auf die große Leinwand geschafft hatten, strahlte sie eine Unverwundbarkeit aus, als könne das Leben ihr nichts anhaben. Außerdem war sie umwerfend schön.
Vor Aufregung schlug Normas Herz nun beinahe so schnell wie damals, als Grace sie nach der einsamen Zeit im Waisenhaus endlich zu sich geholt hatte. Seit sechs Jahren hatte Norma nun eine richtige Mutter und die beste Stiefschwester der Welt. Seit sechs Jahren fühlte sie sich nicht mehr ungeliebt und hatte ihr Für-Immer-Zuhause gefunden. Ihr Herz machte stets einen freudigen Hüpfer, wenn sie daran dachte, dass sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt hatte. Mit ihrer Stiefschwester zusammen tat sie das regelmäßig und schamlos. Schamlosigkeit war nämlich eine Eigenschaft, die eine gute Schauspielerin unbedingt brauchte. Nichts durfte ihr vor der Kamera peinlich sein, nicht einmal ein Kuss.
»Das dort muss er sein!«, rief die Frau hinter Norma und quetschte ihre Hand samt Fotografie an Norma vorbei durch den Flughafenzaun. »Der Mann mit dem grauen Trenchcoat und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut!«
»Ja, das ist Bogie!«, bestätigte einer der Zeitungsredakteure von weiter hinten in der Menge, was die allgemeine Aufregung noch einmal steigerte. »Mr. Bogart, hätten Sie Zeit für ein kurzes Interview?«
Norma wurde unsanft gegen den Zaun gepresst. Sie konnte den Mann im grauen Trenchcoat nicht erkennen, denn sein aufgestellter Kragen verdeckte einen Teil seines Gesichts. »Was meinst du, ist er das wirklich, und wo bleibt Ingrid Bergman?«, fragte sie Bebe. Ihre Stiefschwester hieß eigentlich Eleanor. Sie war die älteste Tochter jenes Mannes, den Grace ein Jahr nach ihrem ersten gemeinsamen Kinobesuch geheiratet hatte und den Norma ihrer Mutter zuliebe ab und zu »Dad« nannte.
Ihre Stiefschwester reagierte nicht auf die Frage, ihr Blick verlor sich irgendwo im strahlend blauen Märzhimmel über dem Flughafen. Schon seit Tagen wirkte Bebe ungewöhnlich niedergeschlagen. »Was ist los mit dir?«, fragte Norma, während sie Stift und Tagebuch aus ihrer Strickjacke zog. Auf den letzten Seiten des kleinen Buchs sammelte sie Unterschriften von Hollywood-Stars. Die vorderen Seiten füllten ihre geheimsten Gedanken.
Als der Mann im grauen Trenchcoat auf den Zaun zukam, setzte Gekreische ein und Kamerablitze zischten. »Mr. Bogart, bitte, ein Autogramm!«, krakeelte eine hohe Stimme, eine andere Frau rief sehnsüchtig: »Sie sind mein Held, Bogie!«
Norma hatte jetzt nur noch Augen für ihre Stiefschwester. Sie hatte gehofft, dass der vormittägliche Ausflug Bebe aufmuntern würde. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Seit Kurzem war der betörende Duft der blühenden Eukalyptusbäume zu riechen, die sich in die Senken der Berge von Bel Air schmiegten. Aber von gelungener Aufmunterung konnte gerade nicht die Rede sein. Bebe stiegen sogar Tränen in die Augen, ihr Lippenstift war verwischt. »Es ist nichts«, winkte sie ab und war bemüht, Norma nicht anzuschauen.
Der Mann war inzwischen am Zaun angelangt. Es war wirklich Bogie! Norma war sich ganz sicher. Diesen Gangsterblick über dem hochgeschlagenen Kragen beherrschte niemand so wie er.
Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick nahm Norma ihre Stiefschwester bei der Hand und drängelte sich mit ihr durch die Menge weg vom Zaun und vorbei an den Reportern. In ihren hellen Kleidern, die Bebe ihnen aus alten Vorhängen genäht hatte, mit demselben roten Lippenstift und den verschlissenen Strickjacken sahen sie beinahe wie Zwillinge aus. Es dauerte eine Weile, bis sie sich aus der hysterischen Menge rausgekämpft hatten.
»Wollen wir ins Baumhaus?«, fragte Norma.
Das Bretterhaus in der alten Eiche hinter dem Bungalow der Familie war ihr Zufluchtsort. Hoch oben und versteckt im Blättermeer hatte Norma ihrer Stiefschwester anvertraut, wie sie sich ihr Leben als Schauspielerin vorstellte und dass sie Angst davor hatte, keine Einladung zu Probeaufnahmen bei den großen Filmstudios zu bekommen. Bebe ihrerseits hatte ihr vom ersten Kuss mit Joe Tyler von gegenüber und von ihrer schwierigen Kindheit erzählt. Ihre Stiefschwester war im gleichen Jahr wie sie geboren, aber noch mehr als durch ihr Alter fühlten sie sich durch ihre Vergangenheit verbunden. Genau wie sie hatte Bebe ebenfalls bei Pflegeeltern und im Waisenhaus gelebt. Auch ihre leibliche Mutter galt als geisteskrank. Umgeben von knarzenden Ästen und eingehüllt in den angenehm kühlen Schatten waren sie zu echten Schwestern geworden. Nur Grace stand Norma noch näher.
»Aber du wolltest doch Humphrey Bogart sehen«, warf Bebe kleinlaut ein.
»Nicht, wenn du dabei unglücklich bist!«, beharrte Norma und zog ihrer Stiefschwester die Strickjacke über die Schultern hoch, die im Gedrängel verrutscht war.
Bebe wischte sich ihre Tränen mit dem Handrücken fort, aber lange blieben ihre Wangen nicht trocken.
»Ich glaube nicht, dass der Mann im Trenchcoat wirklich Bogie ist«, flunkerte Norma und zwang sich, nicht zum Zaun zurückzuschauen. Zu gerne hätte sie ein Autogramm des berühmten Schauspielers in ihrem Tagebuch mit nach Hause genommen und vielleicht sogar mehr über Ingrid Bergman erfahren. »Er könnte ebenso gut Conrad Veidt sein, der die Rolle von Major Strasser spielt«, erklärte sie tapfer, legte den Arm um Bebes Schultern und schlug den Weg nach Hause ein. Hauptsache, ihrer Schwester ging es bald wieder besser. Dafür ließ sie auch mal Humphrey Bogart stehen. Von Anfang an hatte auch Bebe sie mit ihrer fürsorglichen Art ins Herz geschlossen. Bereitwillig hatte sie am Tag von Normas Einzug Platz in ihrem Zimmer gemacht, ihr sogar einen kleinen Strauß Wildblumen am Wegesrand gepflückt und auf das Kopfkissen gelegt. Auf dass Norma in ihrem Bett im neuen Zuhause immer gut schlafe und von schönen Dingen träume, wie von diesen Blumen. Norma hatte sie daraufhin spontan umarmt.
Wie der Metropolitan Airport lag der Bungalow der Familie im Stadtteil Van Nuys. Vor drei Jahrzehnten waren die ersten Farmer mit ihren Zelten in diese Gegend von Los Angeles gekommen, im Herzen des San Fernando Valley. Inzwischen verdienten viele Menschen ihr Geld in der Konservenindustrie. In manchen Straßen des Viertels standen die kleinen Häuser so dicht aneinandergedrängt, dass es nicht einmal Platz für einen schmalen Garten gab.
Während Bebe und Norma nach Hause schlenderten, plauderten sie über Alle treffen sich bei Rick’s. Bebe hatte das Theaterstück noch vor Norma gelesen und war tief berührt von Ricks Liebe zu Ilsa. Norma wusste, dass ihre Stiefschwester schon etwas von der Liebe verstand, wegen Joe Tyler. Sie selbst konnte sich nicht vorstellen, einem Jungen etwas von der Liebe abzugeben, die sie für Grace und Bebe empfand. Und bei der Vorstellung, dass ein fremder Mann mit seinen Lippen auf ihre kam, lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinab.
Als sie in der Odessa Avenue ankamen, lächelte Bebe immerhin schon wieder etwas. Norma konnte trotzdem spüren, dass ihre Stiefschwester etwas Größeres beschäftigte. »Ich hole uns Wasser zur Erfrischung«, schlug sie vor. Am liebsten hätte sie zur Aufmunterung einen Käsetoast gemacht, aber weil das Geld gerade knapp war, gab es nicht mehr so oft Käse. Grace arbeitete nur noch zeitweise bei den Consolidated Filmstudios, und Ervin lag nach misslungenen Vorsprechen als Schauspieler tagelang auf dem Sofa herum, ohne einen Penny zu verdienen. Absehbar würde sich dies wohl auch nicht ändern, wusste Norma, denn Vorsprechen waren rar geworden. Seit die Vereinigten Staaten im vergangenen Dezember in den Krieg eingetreten waren, wurde weniger gedreht. Zellulose, das Material der Filme, wurde für Sprengstoff benötigt, und Harz, aus dem Flaschen gemacht waren, die man sich bei Prügeleien über den Kopf zog, war für die Rüstungsindustrie reserviert. So zumindest hatte es in The Hollywood Reporter gestanden, einer Zeitschrift, die Grace und Norma oft gemeinsam lasen.
»Klettere du schon mal hoch«, sagte Norma und wandte sich dem Bungalow zu. »Es müssten noch Kissen oben sein.«
Bebe nahm gerade die ersten Leitersprossen, als Grace aus dem Haus trat. Sie war schon für den Besuch bei Grauman’s am Nachmittag zurechtgemacht. Sie trug einen Bleistiftrock, hohe Schuhe und ihre mintgrüne Lieblingsbluse mit den Ballonärmeln. Seit dem Kriegseintritt herrschte Stoffknappheit, weswegen Ballonblusen weder produziert noch getragen werden durften. Aber Grace ließ sich ihre Lieblingsbluse nicht verbieten.
»Mom«, rief Norma und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass ihre Stiefschwester plötzlich wie versteinert auf der Leiter innehielt. »Wir hätten beinahe Humphrey Bogart und Ingrid Bergman gesehen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Sehr schön, Sweetheart«, antwortete Grace mit fröhlicher Stimme. Von der sanften Frühlingssonne bestrahlt, wirkte ihre Haut beinahe alabasterfarben. »Bebe, hast du mit Norma darüber gesprochen?«, wollte sie wissen.
Norma sah, wie Bebe langsam die Leiter wieder hinabstieg und neben sie trat. »Ich habe es nicht übers Herz gebracht«, sagte Bebe und schaute beschämt auf den staubigen Boden vor sich.
Norma blickte zwischen ihrer Stiefschwester und ihrer Mutter hin und her. »Willst du Grauman’s absagen?«, fragte sie leise, an Grace gewandt. »Bitte nicht!« Diese Woche wurde der neue Film mit Rita Hayworth gespielt, der sinnlichsten Tänzerin ganz Hollywoods. Norma spürte, wie Bebes Hand von hinten in die ihre kam und sie bestärkend drückte. Bebes Finger waren eiskalt.
»Lass uns ins Haus gehen«, sagte Grace und führte Norma mit einer sanften Bewegung fort. Ihre Hand auf Normas Rücken zitterte.
»W, W, was ist pa-, passiert?«, fragte Norma. Wie so häufig, wenn sie aufgeregt war oder vor einer größeren Gruppe sprechen sollte, stotterte sie. Seit einiger Zeit erschienen dabei auch noch hässliche, dunkelrote Flecken auf ihren Wangen. Sie wischte sich den Lippenstift vom Mund, plötzlich erschien ihr das grelle Rot unpassend. Gab es etwa Nachrichten von ihrer leiblichen Mutter? War Pearl Baker ihrer Geisteskrankheit erlegen? Norma hatte immer wieder darüber nachgedacht und war jedes Mal unsicher, was sie für Pearl empfinden sollte. Seit Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Trotzdem überfiel sie Unbehagen, wenn sie an ihre Erzeugerin dachte. Vielleicht lag es daran, dass Geisteskrankheiten vererbbar waren? Vielleicht hatte sie deswegen früher als schwierig gegolten und wurde noch heute von manchem Nachbarn schief angeschaut?
Norma und Grace betraten das Haus, in dem jeder Raum in einem anderen Pastellton gestrichen und weißes Linoleum auf dem Boden verlegt war – der letzte Schrei vor Kriegsausbruch. Während sie gedankenversunken das Wohnzimmer durchschritten, mied Norma den Blick zum Sofa, wo ihr Stiefvater saß oder lag. Wenn er vom Sofa hochkam und sich unbeobachtet wähnte, übte er, so breitbeinig wie John Wayne zu gehen.
In dem kleinen Zimmer, das die Stiefschwestern sich teilten, nahm Norma auf dem Hocker am Schreibtisch Platz. Ihr Biologiebuch aus dem zweiten Highschool-Jahr lag aufgeschlagen vor ihr. Sie klappte es zu und schob ihr Tagebuch zurück in die Schreibtischschublade.
Grace ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab. Erst nach längerem Zögern rückte sie mit der Sprache heraus: »Ervin hat ein vielversprechendes Jobangebot bekommen, das er nicht ablehnen kann und will.«
»Endlich eine große Rolle als Schauspieler?«, fragte Norma aufgeregt. Vielleicht durfte sie ihren Stiefvater mal am Set besuchen und einen Blick hinter die Kulissen werfen?
Grace schüttelte betrübt den Kopf, an dem sich ihr inzwischen lavendelfarbenes Haar keinen Inch bewegte. »Nicht als Schauspieler, sondern als Verkäufer.«
Norma war verwirrt. Ervin arbeitete doch auf seinen Durchbruch als Schauspieler hin. Andauernd sprach er von einem Studiovertrag bei Metro-Goldwyn-Mayer mit tausend Dollar Wochenlohn. Andererseits wusste sie auch, dass die Haushaltskasse bald komplett leer sein würde, sofern alles unverändert weiterlief. Ihr Stiefvater brauchte dringend Arbeit, also warum dann nicht im Verkauf?
»Er hat die Chance, den Vertrieb von Adel Precision in West Virginia zu übernehmen«, erklärte Grace weiter. »Er wird hydraulische Bauteile für Flugzeuge verkaufen.«
»In West Virginia?« Der Bundesstaat lag am anderen Ende der Vereinigten Staaten und war bekannt für eiskalte Winter. Norma wollte nicht aus Los Angeles weg, der Stadt, in der alles möglich schien, der Stadt, die sich von einem ausgedörrten, heißen Stück Land zum glamourösesten Ort der Welt entwickelt hatte. In West Virginia würde ihr Traum von einer Zukunft als bewunderte, geliebte Ikone niemals wahr werden. Warum konnte Ervin sich keinen Job in Los Angeles suchen? Hier saßen die großen Filmstudios. In West Virginia wurde kein einziger Film gedreht. Hier fühlte sie sich wohl, hier wäre sie fast Humphrey Bogart und Ingrid Bergman begegnet. Außerdem war sie für ihren Stiefvater am allerwenigsten bereit, etwas aufzugeben. Seine mürrische Art war an manchen Tagen kaum auszuhalten. Wenn Grace nicht anwesend war, behandelte er Norma wie eine unnütze Esserin, die gerade gut genug dafür war, ihm am Sofa ein Bier zu servieren.
»Steht es denn schon fest?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
Graces Blick glitt zum Wohnzimmer. »Ervin hat bereits zugesagt«, antwortete sie leise, »ich konnte ihn leider nicht mehr umstimmen.« Ihre Augen wurden feucht, und auch Norma spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Er ist ein begnadeter Verkäufer und will dringend Geld für uns verdienen. Wir brauchen doch etwas zu essen und müssen die Miete bezahlen, sonst sitzen wir bald auf der Straße«, flüsterte Grace.
»Ich werde mich anstrengen, nicht allzu viel Heimweh zu haben«, versprach Norma, um Grace aufzumuntern, und schmiegte sich an sie.
Grace nahm sie fest in den Arm, als wolle sie sie nie wieder loslassen und presste mit zitternder Stimme hervor: »Als Pflegekind darfst du den Bundesstaat Kalifornien leider nicht verlassen.«
Der Satz traf Norma wie ein Messerstich von hinten, vollkommen unvorbereitet. Sie erstarrte. Sie durfte nicht mit, weil sie »nur« ein Pflegekind war? Sie sollte sich von ihrer Familie, ihrer geliebten Mutter trennen?
»Ich habe alles versucht, aber das Wohlfahrtsamt besteht darauf, dass deine Ausreise illegal wäre«, versicherte Grace. Aus ihrem Gesicht war jeglicher Glanz gewichen. Sie schien einem Zusammenbruch nah und hielt sich an Norma fest, dabei wich Norma gerade selbst alle Kraft aus dem Körper.
»Es tut mir so leid«, murmelte Grace unter Schluchzen, ihre Fingernägel bohrten sich in Normas Arm. »Ich weiß nicht, was ich noch tun kann, damit wir nicht getrennt werden.« Tränen liefen ihre Wangen hinab. »Wenn alles gut geht, sind Ervin und ich in ein oder spätestens zwei Jahren wieder zurück und haben dann genug Geld, damit wir alle wieder zusammen in Los Angeles leben können.«
Norma spürte ein schmerzhaftes Verlangen zu schreien oder wenigstens wütend mit der Faust gegen die klapprige Bretterwand zu boxen, die das Kinderzimmer von der Küche trennte. Aber beim Anblick ihrer Mom, die sie noch nie so kreidebleich gesehen hatte, brachte sie kein böses Wort heraus.
Ervin Goddard betrat das Zimmer. Breitbeinig und die Daumen hinter seine übergroße Gürtelschnalle gesteckt, baute er sich vor ihnen auf. Er stand so lässig da, als probe er für eine Rolle in einem Western. Norma verstand nicht, warum Grace immer noch von dem texanischen Hünen hingerissen war. Lag es daran, dass er zehn Jahre jünger als sie war?
»Hast du ihr endlich gesagt, dass wir ohne sie umziehen, Darling?«, fragte er. »Sie ist fast sechzehn, so etwas sollte sie aushalten können.«
Ungläubig schüttelte Norma den Kopf. Wie konnte er nur so kaltherzig sprechen! Kannte er sie denn gar nicht? Ganz sicher überlebte sie nicht einmal einen einzigen Monat ohne ihre geliebte Mom, ohne ihr Für-Immer-Zuhause. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Fortan würde sie auf gemeinsame Mahlzeiten verzichten müssen, auf vertraute Gespräche, die so nur Frauen miteinander führen konnten, und darauf, auf der Couch mit ihrer Mom über den Matheaufgaben zu brüten. Und ein Kinobesuch ohne Grace war einfach nicht dasselbe. Wie hatte es nur so weit kommen können? Grace hatte sie doch nie mehr weggeben wollen! Norma spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Am liebsten hätte sie das alles rausgebrüllt.
Wie durch Watte nahm sie wahr, wie Ervin zufrieden feststellte: »Dann können wir jetzt also endlich offen über unsere Zukunftspläne in West Virginia reden!« und ihre Mom kaum sichtbar nickte.
Norma verstand nicht, warum die ansonsten starke Grace sich von Ervin derart unterbuttern ließ. In seinen Händen war sie wie Wachs. Wenigstens Bebe würde ihr bleiben. Ganz allein würde sie zu Grunde gehen. Dann wäre sie wieder das kleine Mädchen, das niemand haben wollte.
»Dann ist ja alles klar!«, sagte Ervin und wandte sich Norma zu. »Bebe kann dir ja schreiben.« Nach diesen Worten stapfte er breitbeinig davon.
»Bebe geht auch?«, hauchte Norma und glaubte plötzlich, kaum mehr Luft zu bekommen. Kraftlos sank sie in ihren Stuhl zurück.
»Für eine dritte Person ist gerade noch Platz im neuen Haus«, antwortete Ervin im Türrahmen, »aber nicht für eine vierte.«
Norma schaute ungläubig von Ervin zu Grace und spürte einen brennenden Schmerz in sich, als rühre jemand mit einem Messer in ihren Eingeweiden auf dem Weg zu ihrem Herzen. Mühsam erhob sie sich, wankte ans Fenster und schaute hinaus zum Baumhaus, wo Bebe verheult an der Leiter lehnte. Ihre Stiefschwester konnte nichts dafür, dass sie die Auserwählte war. Es war nachvollziehbar, dass ein Vater seine leibliche Tochter bevorzugte. Nicht nur in der Nachbarschaft, auch für Ervin war Norma bis heute der bemitleidenswerte Wohltätigkeitsfall geblieben. Aber mit Grace als Mom hatte sie sich gegen alle Anfeindungen gewappnet gefühlt. Es hatte ihr fast nicht mehr wehgetan. Mit Grace als Mom war sie in der Schule nicht mehr als »schüchterne Maus« verspottet worden.
Als Norma Ervins schwere Schritte auf der Treppe hörte, schloss sie die Zimmertür und trat ganz nah vor Grace. »Bebe und ich, wir teilen uns hier ein winziges Zimmer. Wir kö-, kö-, könnten doch auch in West Virginia zu zweit in einem Raum wohnen.« Sie war überzeugt davon, dass ihre Stiefschwester und sie sogar eingezwängt in ein Holzfass miteinander auskämen. »Bitte, erlaube es, Mom!«, flehte sie.
»Ich würde es ja erlauben, aber das Wohlfahrtsamt tut es nicht, Sweetheart«, antwortete Grace niedergeschlagen. »Du wirst sehen, dass ein oder zwei Jahre schnell vorbei sind.« Sie seufzte, was ihre Worte Lügen strafte.
Norma schluchzte. »Ein oder zwei Jahre sind eine Ewigkeit!« Verzweifelt sackte sie aus dem Stuhl auf den Linoleumboden vor Grace und begann zu weinen. Ihre leibliche Mutter hatte sie abgelegt, Ida Bolender hatte sie fortgegeben, und nun schickte Ervin Goddard, der die Gewalt über ihre Mom besaß, sie ebenfalls fort. Jetzt musste sie doch wieder zurück ins Waisenhaus, wo niemand für sie focht, wo niemand an sie glaubte. Lieber verkroch sie sich fortan im Baumhaus. Das blaue Kleid und die weiße Bluse aus dem Waisenhaus hatte sie schon vor zwei Jahren verbrannt. Da hatte sie gedacht, es wäre ein für alle Mal ausgestanden.
Norma weinte hemmungslos, obwohl Grace in die Hocke ging und sie tröstend in die Arme nahm. Es stach so sehr in ihr, dass sie sich die Hände auf die Brust legen musste. Aber das Stechen, das Ziehen und Brennen ließen einfach nicht nach.
»Ich sorge dafür, dass du nicht zurück ins Waisenhaus musst«, versprach Grace und tupfte sich und Norma mit einem Tüchlein Tränen fort. Ihre Wimperntusche war verschmiert.
»Wie soll das gehen?« Norma schaute Grace durch einen Tränenschleier hindurch an. »Wie willst du das anstellen?« Ihr hellbraunes Haar stand ihr struppig vom Kopf ab. Das rosa Band darin hatte sich gelöst.
»Kommst du, Darling?«, rief Ervin ungeduldig aus dem Wohnzimmer.
»Gleich«, antwortete Grace und band Norma die Haarschleife neu. »Im Juni wirst du sechzehn«, sagte sie zärtlich. »Das bedeutet, dass du nach kalifornischem Recht heiraten darfst.«
Norma riss die Augen auf. Heiraten? Sie fühlte sich noch als Kind, das beschützt werden musste. Und sollte man sich nicht erst verlieben, bevor man heiratete? So jedenfalls lief es in Filmen stets ab. Und sich zu verlieben, das hatte sie nicht vor!
»Du magst Jimmie doch, nicht wahr?«, fragte Grace vorsichtig. »Er wäre deine Rettung vor dem Waisenhaus.«
»Du meinst Jim Dougherty, den Nachbarn von früher, als wir noch in der Archwood Street wohnten?«, fragte Norma zurück, während das Wort »Waisenhaus« dumpf in ihrem Kopf nachhallte.
In der Archwood Street hatten sich Jims Mutter und Grace über den Gartenzaun hinweg angefreundet. Norma war schon ein paar Mal in Jims Auto mitgefahren, aber viel wusste sie nicht über ihn. Wohl hatte seine Familie während der Großen Depression in einem Zelt gehaust und sich ihr Abendessen in den kalifornischen Hügeln schießen müssen.
»Jimmie ist ein guter Mann«, sagte Grace. »Er war Präsident der Schülerschaft an der Highschool, immer sehr beliebt, und rate mal, was noch?« Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.
Aber Norma bekam keinen Ton heraus. Sie wollte keinen Ehemann, sie wollte ihre Mom behalten. Warum wachte sie nicht endlich aus diesem Alptraum auf?
»Könnte ich nicht bei deiner Tante Ana wohnen?«, fragte sie panisch. Sie hatte schon mehrmals bei der Schwester von Graces Vater für ein paar Tage gewohnt. Unter anderem, als Grace und Ervin in Las Vegas geheiratet hatten. Norma mochte Ana Lower sehr, sie war eine liebevolle, ältere Frau.
Aber Grace schüttelte den Kopf. »Tante Ana geht es nicht gut. Sie war letzten Monat wegen Wasser in den Beinen im Krankenhaus. Es wäre zu viel verlangt, dass sie in diesem Zustand die Verantwortung für dich übernimmt. Jim ist der einzige Ausweg. Er war im Footballteam der Highschool und spielte sogar erfolgreich in der Theatergruppe«, zählte Grace weiter auf. »Er könnte dir zeigen, wie man Rollen einstudiert, und sobald ich wieder zurück bin, kümmern du und ich uns gemeinsam um Probeaufnahmen bei Metro-Goldwyn-Mayer.«
»Probeaufnahmen als Ehefrau?«, fragte Norma. Noch ein Traum, der an diesem Tag platzte. Als Ehefrau würde sie nie einen Studiovertrag bekommen. Schauspielerinnen wurden von den Filmstudios abgeschrieben, sobald sie verheiratet waren, weil das Risiko zu groß war, dass sie schwanger wurden. Alle Anstrengungen, Filmszenen wieder und wieder nachzuspielen, waren umsonst gewesen. Dabei beherrschte sie die Rolle der Dorothy aus dem Zauberer von Oz schon ziemlich textsicher.
»Warum denn nicht auch als Ehefrau?«, sagte Grace und nickte aufmunternd. »Wenn du besser als alle anderen bist, nehmen sie dich auch verheiratet.«
Sie – besser als alle anderen? Das war sie noch nie gewesen, und das würde sie auch nie sein. Der Weggang von Grace bewies ihr einmal mehr, dass sie weniger wert war als jedes andere Familienmitglied.
»Vielleicht ist diese ganze Sache ja ein Wink des Schicksals, der uns zeigt, wie sehr du nach Hollywood gehörst«, sprach Grace weiter.
»A-, a-, aber- …», begann Norma wieder zu stottern. Sie konnte spüren, wie die roten Flecken auf ihren Wangen brennend aufflammten. Sie wollte jetzt nicht an die Schauspielerei denken. Ohne Grace verlor dieser Zukunftstraum an Bedeutung. »Ich weiß gar nicht, was eine Ehefrau alles zu tun hat.«
Grace lächelte gewinnender als jeder Filmstar, auch wenn ihre Augen noch feucht waren. »Die Pflichten einer Ehefrau wirst du bestimmt schnell erlernen. Sag ja, damit ich weiß, dass du während meiner Abwesenheit versorgt bist.«
Norma dachte an Jean Harlows Worte in Millionäre bevorzugt. In der Rolle der Eadie war sie überzeugt gewesen, dass es nur eine einzige Sache für eine Frau zu tun gäbe, nämlich zu heiraten. Norma wollte noch nicht heiraten, aber noch weniger wollte sie ins Waisenhaus zurück. Im Waisenhaus war sie unendlich einsam gewesen. Den anderen Kindern dort hatte sie von ihren tollen Eltern erzählt, die sie bald abholen kommen würden. Jeden Tag aufs Neue.
Norma vergrub den Kopf an Graces zarter Schulter. »Ich schaffe das nicht. Ohne dich und Bebe bin ich verloren.« Ihre Stimme klang gebrochen, und ihre Kraft reichte nicht einmal mehr dafür aus, sich vom Boden hochzuhieven.
Grace wiegte die reglose Norma in den Armen. »Wir werden uns viele Briefe schreiben, und ruckzuck sind wir wieder vereint. Und wenn du weiter jede Woche ins Kino gehst, bleiben wir darüber in Gedanken verbunden.«
Wie versteinert schaute Norma auf und brachte kein Wort heraus. Ohne Grace würde sie nie wieder einen Fuß in ein Kino setzen. Alles würde sie dort an den Verlust ihrer Mom erinnern. Das Kino und Hollywood-Filme waren für immer untrennbar mit Grace verbunden. Und der heutige Tag bewies ihr, dass es doch ihre Bestimmung war, immer wieder verlassen zu werden. Immer wieder Dolchstiche ins Herz!
Nur Grace zuliebe nickte Norma. Sie wusste, dass nun wieder alle Farbe aus ihrem Leben weichen würde. Ihre Zukunft sah nur noch grau und regenverhangen aus, der Glitzer war fortgespült und die Liebe sowieso.
2
Anfang April waren die Nächte noch kühl. Norma trug Wolldecken und Kissen ins Baumhaus. Bebe folgte ihr mit Verpflegung. Für die Abschiedsnacht hatten sie heimlich Root Beer besorgt, das sich die Familie schon eine Weile nicht mehr leisten konnte. Ihre Eltern waren vor einer Stunde zu Bett gegangen. Grace war todmüde vom Packen gewesen.
Nachdem Norma den Boden des Baumhauses mit den Kissen ausgelegt hatte, machten sie es sich mit dem Rücken gegen die Bretterwand bequem und zogen sich die Decken bis unter die Achseln. Als stünde die Zeit still, lauschten sie dem Zirpen der Grillen.
»Ich werde keinen einzigen Tag nicht an dich denken«, flüsterte Bebe nach einer Weile.
Norma bekam vor Zukunftsangst und Trostlosigkeit nur ein »Ich auch« heraus. Mit dem morgigen Tag würde sie nicht nur ihre Familie verlieren, sondern musste zusätzlich noch einen fremden Jungen heiraten und küssen, sich ihm ganz hingeben, wie Grace es genannt hatte. Bisher hatte sie noch nie einen Jungen berührt, ganz zu schweigen geküsst. Eigentlich war Jim Dougherty auch kein Junge mehr, sondern ein richtiger Mann. Noch schlimmer! Was geschah, wenn sie sich so ungeschickt anstellte, dass er sie doch nicht wollte? Dann müsste sie ins Waisenhaus, bis sie achtzehn war. Vielleicht sollte sie wenigstens das Küssen vorher auf ihrem Handrücken üben. Es schüttelte sie bei dem Gedanken, dass es später Jims Mund sein würde, der sich feucht ihrem Gesicht näherte. In Filmen sah das immer einfach und romantisch aus, ganz anders als in der Realität.
Norma verbannte das Bild von Jims Lippen aus ihrem Kopf und schaute durch die Ritzen des Bretterdachs. Die Sterne funkelten verheißungsvoll am Firmament über Los Angeles, als ob alles in Ordnung wäre.
Bebes Blick folgte dem ihren. »Ob der Himmel in West Virginia anders aussieht als hier in Los Angeles?«
Norma presste die Augenlider zu, damit sie nicht weinen musste. »Grauer und verregneter, denke ich.«
»Wenn du es gar nicht aushältst mit Jim, dann rufst du mich an, und ich hole dich nach, egal was das Wohlfahrtsamt dazu sagt«, flüsterte Bebe. »Ich werde mir in West Virginia eine Eiche suchen, die weder Dad noch Grace kennen, und dort schon mal anfangen, ein Baumhaus für uns zu bauen.« Sie reichte Norma eine Flasche Root Beer.
Eigentlich liebte Norma das süße, schäumende Getränk, das im Gegensatz zu echtem Bier keinen Alkohol enthielt und ursprünglich aus der Wurzelrinde des Sassafrasbaumes hergestellt worden war. Aber heute Nacht wollte es ihr einfach nicht schmecken. Sie holte ihr Abschiedsgeschenk für Bebe hinter ihrem Rücken hervor und hielt es ihrer Stiefschwester mit laschen Armen hin. »Damit du unsere gemeinsame Zeit nie vergisst.«
Bebes Stimme machte einen Satz. »Dein Tagebuch mit den Autogrammen?«
Norma nickte. »Damit wir weiter verbunden sind, möchte ich dir einen Teil meiner Gedanken mitgeben und natürlich die Autogramme.« Früher war ihr Tagebuch ihr Schatz gewesen, den sie streng gehütet hatte. Selbst vor ihrem Stiefvater hatte sie es vehement verteidigt. Als er einmal betrunken alles um sich geworfen hatte, war sie todesmutig vor ihn gesprungen und hatte ihm ihr geheimes Buch in letzter Sekunde entrissen. Und bevor sie den Text von Dorothy aus dem Zauberer von Oz gelernt hatte, hatte sie jedes Mal die berühmten Unterschriften im Tagebuch betrachtet und sich gesagt, dass auch diese Persönlichkeiten hart für ihren Erfolg gearbeitet und Texte wieder und wieder hatten aufsagen müssen. Zuletzt hatte sie schon davon geträumt, eines Tages die eigenen Handabdrücke und ihre Unterschrift in eine der Platten vor Grauman’s zu verewigen.
»Leider fehlt Ingrid Bergman noch«, fügte sie entschuldigend hinzu.
Bebe schlug das Büchlein ehrfürchtig auf und blätterte es so behutsam durch, als seien die Papierblätter in Wirklichkeit altes, brüchiges Pergament. »Die Unterschriften der Marx Brothers und von Hedy Lamarr sind unendlich wertvoll«, gab sie zu bedenken. »Willst du es nicht doch lieber behalten?«
Norma schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Sie wollte mit der Schauspielerei nichts mehr zu tun haben! Genauso wie die Kinobesuche verband sie die Schauspielerei mit Grace. Sie hatte sie immer ermutigt, hatte ihr vom schwindelerregenden Augenblick erzählt und gemeinsam mit ihr im Stanislawski gelesen. Wenn sie den Traum, eine Schauspielerin zu werden, weiter träumte, würde sie ständig daran erinnert werden, dass sie sogar von Grace verlassen worden war, dem Menschen, dem sie aus tiefstem Herzen vertraut hatte, dem Menschen, der ihr versprochen hatte, sie niemals zu verlassen. Und mit diesem Schmerz würde sie nicht leben können.
Norma gab sich Mühe, etwas fröhlicher zu klingen. Sie musste sich räuspern, bevor sie sagte: »Schau mal auf die Seiten in der Mitte.«
Bebe lächelte versunken, während sie jene Zeilen vorlas, die Norma mit
Worauf man in eiskalten Bundesstaaten achten sollte
überschrieben hatte. Es begann mit Bekleidungsempfehlungen und endete mit der Bevorratung von Essen, falls man im Winter wochenlang einschneite. Norma kannte Schnee nur von den fernen Bergkuppen des Angeles National Forrest und aus Filmen.
Bebe lächelte gerührt. »Das ist so lieb von dir, dass du dich immer um mich sorgst. Das hat noch niemand so getan wie du.«
Bebe fiel Norma um den Hals und schluchzte. Als sie wieder besser Luft bekam, reichte sie Norma einen liebevoll genähten Brustbeutel aus braunem Kunstleder, kaum größer als eine Faust und mit einem Band zum Umhängen. Norma zog den Reißverschluss des Beutels Zahn für Zahn auf und holte einen Zehn-Dollar-Schein daraus hervor. Die Banknote zeigte mittig in einem ovalen Rahmen das Porträt von Gründungsvater Hamilton. So viel Geld hatte sie nie zuvor besessen, trotzdem zögerte sie. Es musste Bebes ganzes Erspartes sein. Norma selbst kam lediglich auf einen Viertel Dollar, der ihr gehörte.
»Das ist Geld für den Notfall«, sagte ihre Stiefschwester. »Damit du mich wirklich anrufen kannst, falls Jim kein guter Ehemann ist. Ferngespräche sind teuer.« Sie wies auf eine Zahlenreihe, die sie auf einem Zettel notiert und dem Geldschein beigelegt hatte. »Das ist die Telefonnummer des Postamtes von Huntington in West Virginia, wo du mir eine Nachricht hinterlassen kannst. Ich werde jeden Montag dort vorbeigehen und mich erkundigen, ob du angerufen hast.«
»Bestimmt werde ich anrufen.« Norma hängte sich den Brustbeutel um, strich verloren darüber und schmiegte sich an Bebe. »Und falls doch nicht, möchte ich dir die zehn Dollar zurückzahlen, sobald wir uns wiedersehen«, flüsterte sie.
Bebe überging den Vorschlag und hielt Norma ihre Flasche Root Beer hin. »Auf unser Wiedersehen.«
»Auf unser Wiedersehen!«, wiederholte Norma bemüht, obwohl ihr nach wie vor zum Heulen zumute war. Und wieder schoss ihr Jims Bild ins Gedächtnis. Wie so oft musste sie Panik unterdrücken bei der Vorstellung, dass sie bald mit ihm leben würde. Ihr Zukünftiger war jüngst einundzwanzig geworden und wohnte noch bei seiner Mutter. Ab morgen würde Norma dort bis zur Eheschließung ebenfalls unterkommen. Sie wollte gerade ansetzen zu trinken, als es an der Leiter raschelte. Bebe und Norma schauten sich an und dachten wohl das Gleiche: ein Fuchs, der nach Essensresten suchte.
Im nächsten Moment glitt Norma beinahe das Root Beer aus der Hand, weil ein lavendelfarbener Haarschopf am Einstieg ins Baumhaus erschien.
»Habt ihr noch Platz für mich?« Grace schaute sich mit einem Buch unter dem Arm in dem Bretterverschlag um. Das tagsüber perfekt gelegte Haar war plattgelegen und struppig. Sie war nie zuvor hier hochgeklettert, weil es ihr zu staubig war, und sie ihre hochhackigen Schuhe dafür ausziehen musste.
Berührt von dieser ungewöhnlichen Abschiedsgeste, bemühte Norma sich um ein Lächeln und deutete auf die Kissen neben sich.
Grace setzte sich zu ihr und tat, als wäre es hier oben so richtig gemütlich und überhaupt nicht kühl. Über dem Nachthemd trug sie ihren Morgenmantel aus Satinimitat, und an ihren Fußsohlen klebte Dreck, aber sie kümmerte sich nicht darum. Bebe reichte ihr ein Root Beer, und Norma gab ihr etwas von ihrer Decke ab.
»Auf eine bessere Zukunft«, sagte Grace und hob ihre Flasche. Dann schaute sie nur Norma an und senkte ihre Stimme: »Auf Jimmie und dich und darauf, dass ihr beide glücklich miteinander werdet.«
Norma nickte, obwohl ihr nicht klar war, wie diese Heirat sie glücklich machen könnte. Als sie vor wenigen Tagen in der Highschool von ihrer anstehenden Ehe erzählt hatte, hatte ihre Lehrerin unumwunden geantwortet, dass sie mit einer so frühen Heirat ihr Leben ruinieren würde. Sie prosteten und tranken.
Nach dem ersten Schluck hielt Grace Norma das mitgebrachte Buch hin. Norma erkannte es trotz der Dunkelheit sofort. Der Name des Autors war nur mit STANISLAWSKI angegeben, ohne einen Vornamen.
Wie betäubt fuhr Norma mit der Kuppe ihres Zeigefingers jeden Buchstaben des Titels Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst nach. Das Buch war Grace heiliger als die Bibel, sie hatte Norma schon ein paar Mal daraus vorgelesen. Der Autor war über seinen Tod hinaus der bekannteste und einflussreichste Schauspiellehrer überhaupt: Konstantin Stanislawski. Er hatte den schwindelerregenden Augenblick ersonnen.
»Ich möchte, dass du es bekommst«, sagte Grace und hielt es noch näher vor Normas Brust, weil die zögerte. »Wenn du den Inhalt verinnerlichst, wirst du eine gute Schauspielerin und hast auch als Ehefrau die Chance auf einen Studiovertrag.«
Norma brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie die Schauspielerei für immer aus ihrem Leben verbannt hatte.
Es wurde eine lange Nacht zu dritt im Baumhaus, in der sie in beklommener Stimmung schon die Details für ihr Wiedersehen besprachen. Bebe berichtete, was sie über West Virginia gelesen hatte, und Grace gestand ihnen ihre Angst vor dem Leben in der Ferne und dass sie nicht einmal einen dicken Wintermantel besaß. Am Ende lagen sie aneinandergeschmiegt da und schliefen, begleitet vom Rauschen der Eichenblätter, ein.
Bevor Grace sich im Morgengrauen in den Bungalow zurückschlich, küsste sie Norma auf die Stirn und sagte ihr: »Du bist stärker, als du glaubst. Ich liebe dich, du bist mein Sweetheart.«
Eine Stunde später war Ervin Goddard abfahrbereit. Nicht einmal ein paar Eier wollte er noch frühstücken. Norma stand mit ihrem kleinen Koffer in der Hand und dem Brustbeutel um den Hals wie angewachsen vor dem leeren Haus. Sie würde zu Fuß zu den Doughertys gehen müssen.
Wie von hinter einer Glasscheibe her beobachtete sie das Treiben ihrer Familie vor dem Haus. Sobald die Koffer verstaut waren, schob ihr Stiefvater Grace und Bebe ins Auto, nickte Norma knapp zu und trat dann kräftig aufs Gas. Anstatt netter Abschiedsworte hörte sie nur noch das Quietschen der Reifen und schmeckte den aufwirbelnden Staub von der Straße. Sie hatte weder Bebe noch Grace noch einmal umarmen dürfen.
***
Nur wenige Tage nach der Abreise der Goddards beschloss Jim Dougherty, für sich und Norma ein eigenes Heim zu suchen. Seine Wahl fiel auf ein winziges Haus in Sherman Oaks, weil er bei einer Mindestmietzeit von sechs Monaten eine Couch geschenkt bekommen sollte. Bei dem Haus handelte es sich um einen Ein-Zimmer-Bungalow, in dem man das Bett in den Wandschrank klappen musste, damit das Wohnzimmer überhaupt begehbar war.
»Es ist ein modernes Klappbett der Firma Murphy«, verkündete der Makler so begeistert, als wäre das Bettgestell mit Edelsteinen besetzt. Und auch den Rest des grauen Holzhauses mit den weißen Fensterrahmen pries er wie einen Palast an, was typisch für Los Angeles war.
Sherman Oaks grenzte südlich an Van Nuys, was immerhin bedeutete, dass Normas Baumhaus nach der Hochzeit nicht aus der Welt war. Dorthin hatte sie sich seit der Abreise ihrer Familie oft zurückgezogen, weil das Haus noch nicht wieder vermietet worden war.
Während der Makler weitere Vorzüge des Bungalows aufzählte, hörte Norma nur mit einem Ohr hin. In Gedanken war sie schon bei ihrer Hochzeit. Die Zeremonie sollte am neunzehnten Juni im Haus einer Freundin von Grace in West Los Angeles stattfinden. Nur so ungefähr wusste sie, wie dieser angeblich wichtigste Tag im Leben ablaufen würde. Jim küssen, das wollte sie immer noch nicht, auch wenn er bisher freundlich und umgänglich gewesen war. Als Ehefrau würde sich ihr Wirkungsbereich vor allem auf das Haus beschränken. Besser, sie schaute es sich wenigstens an. Nur leider gab es nichts Hübsches zu sehen. In der winzigen Küche mit dem schmierigen Backofen zwang sie sich, die Augen zu schließen. Mit aller Kraft versuchte sie, sich ein gemütliches Sofa mit Rüschen an den Lehnen und ein Bad mit Badewanne vorzustellen. Grace hatte eine Vorliebe für teuren Badeschaum gehabt, der nach Vanille roch. Tränen drängten in ihre Augen, aber sie hielt sie mit aller Macht zurück. Wenn sie jetzt weinte, hätte ihr Zukünftiger schon genug von ihr, bevor sie überhaupt verheiratet waren.
Am Ende der Besichtigung entschied Jim, dass er den Bungalow ab Juni mieten würde, und sagte auch die Mindestmietzeit von sechs Monaten zu. Der Makler zeigte sich hocherfreut und zwinkerte Norma zu.
Nach der Besichtigung fuhr Jim mit Norma in seinem 1940er Ford Coupé durch Sherman Oaks, um die neue Nachbarschaft zu erkunden. Das Viertel bestand vor allem aus funktionalen Flachbauten, nur in Richtung des noblen Bel Air wurde es ansehnlicher. Er kurbelte seine Fensterscheibe runter und stützte den Arm beim Fahren auf die Tür. Norma kam sich sehr kindlich neben ihm vor.
Sie schwieg verlegen, weil sie nicht wusste, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollte. Immer wieder tastete sie nach ihrem Brustbeutel. Das braune Kunsterledertäschchen war ihre Verbindung zu Bebe, ihr Rettungsanker.
»Es wäre besser, wenn wir mit dem Heiraten noch etwas warten würden«, brach Jim die Stille, während sie in Schrittgeschwindigkeit am Oaks Diner vorbeifuhren.
Wenn Norma an die Ehe dachte, sah sie zuerst Ervin auf dem Sofa liegen und hörte ihn mit seinem groben, texanischen Dialekt sprechen. Dann zwang sie sich sofort, an etwas Schöneres zu denken.
»Aber bei der ganzen Sache haben wir beide wohl nicht viel mitzureden«, fuhr Jim fort, strahlte aber trotzdem über das ganze Gesicht. Grace hatte ihn in der Abschiedsnacht im Baumhaus einen »Sonnyboy« genannt, auf den Norma stolz sein könne.
Norma überlegte, welchen Job sie als Schulabgängerin überhaupt bekommen würde. Es gab keine Alternative zum Heiraten, wenn sie nicht ins Waisenhaus wollte. Letzte Woche war sie wegen der anstehenden Hochzeit aus der Highschool genommen worden, obwohl sie im Fach Bürowesen die beste Schülerin gewesen war und leidenschaftlich gerne für die Schülerzeitung geschrieben hatte. Ihre Noten in Sprecherziehung hingegen waren lausig, weil sie immer wieder stotterte, wenn viele Zuhörer anwesend waren.
Um den Schulabgang besser zu verkraften, hatte Grace ihr vor ihrer Abreise davon berichtet, dass der große Louis B. Mayer, der Chef von Metro-Goldwyn-Mayer, es seinen Töchtern nicht erlaubte, aufs College zu gehen, weil sie dort moralisch verdorben würden. Also war ein Highschool-Abbruch auch keine Schande. Es sei doch viel spannender, sich dem echten Leben zu stellen!
Norma tröstete es mehr, dass Jean Harlow die Schule ebenfalls mit sechzehn abgebrochen hatte. Vermutlich endete sie als Bedienung im Oaks Diner, die tagein, tagaus mit der Kaffeekanne in der Hand umherlief und kostenlos nachschenkte.
Jim hielt mit laufendem Motor am Straßenrand an. »Eines Tages möchte ich ein Held werden«, verkündete er und stellte den Kragen seines Hemdes auf. Mehrmals hintereinander gab er Gas im Stand, wohl um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Zwei Mädchen, die Norma aus der Highschool kannte, blieben stehen und zeigten kichernd auf ihn.
»Geht das denn als Arbeiter bei einem Flugzeugwerk wie Lockheed?«, fragte Norma vorsichtig.
»Nein, nicht im Flugzeugwerk. Ein Schulfreund von mir wird gerade Held der Nation, weil er unser Land im Krieg gegen die Japaner unterstützt.« Jim legte sich seine Hand auf die Brust, als stimme er im nächsten Moment The Star-Spangled Banner an. Dann wandte er sich in dem engen Auto zum ersten Mal Norma zu.