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Volker Keidel führt ein ruhiges Leben nach dem Motto: glückliche Kinder, Bier und Grillwurst, was braucht man mehr!? Doch der Frieden wird vom Optimierungswahn bedroht: Eine Wurst reicht nicht, es muss schon das Steak in Ingwer-Orangen-Marinade sein. Zum Fußball kommen nicht nur die Frauen mit, sondern sie sorgen auch dafür, dass alle Hugo trinken, und wenn Volker mit seinen Kindern eine Wasserschlacht macht, erntet er kritische Blicke - schließlich spielen sie dabei mit Wasserpistolen und das ist ja total unpädagogisch.
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Seitenzahl: 213
Volker Keidel, 1969 in Würzburg geboren, verdingte sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs u. a. bei Siemens am Fließband, als fahrender Bäcker, Eisverkäufer und Pförtner einer Schwesternschule, bevor er in München Buchhändler wurde. Seit vielen Jahren organisiert er dort Lesungen und liest auch selbst bei der Veranstaltungsreihe Westend ist Kiez, unter anderem aus seinem Buch Bierquälerei, das 2012 erschien. Volker Keidel hat zwei Kinder, die er im Gegensatz zum Bier nicht quält.
Volker Keidel
Massenbierhaltung
Die Freuden des einfachen Mannes
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Tobias Schumacher-Hernández
Titelillustration: © shutterstock/Nitr
Umschlaggestaltung: Massimo Peter
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-1386-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Massenbierhaltung
Endlich erwachsen
Früher war nicht alles schlechter
Haben Sie gut hergefunden?
Endlich Profi
Fred
Graue Schatten
Auswärtsniederlage
Als Hauptstraße verkleidet
Schöntrinken
80-Euro-Kater
Bitte nicht zu den Bayern!
Ahoi Schnupfen!
Respekt
Kein einfacher Mann
Die Fahrt ist das Ziel
Locker Radeln
Vatertag
Philosophie vom Feinsten
Zlatan für Arme
Thermi
Geliebtes Rimpar
Abtrainieren
Von der Schippe
Aldi-Stalk
Vom Kino in die Traufe
Großer Sport
Ois easy
Fallrückzieher
Ich erschrecke sehr, als ich in den Kühlschrank schaue. Und ich schäme mich. Im Kühlschrank liegen vier Flaschen Bier.
In einer halben Stunde wollen Murphy, Breiti und Lauer zum Fußballschauen vorbeikommen.
Ich höre mich schon sagen: »Teilt euch das Bier gut ein. Es gibt für jeden nur eines.«
Gut, es sind 0,5er-Flaschen, trotzdem werde ich mutmaßlich auf wenig Verständnis stoßen. Entweder werden sie mich schlagen oder wortlos gehen. Oder beides.
Jetzt ist schnelles Handeln gefragt. Die Super- und Getränkemärkte sind geschlossen, die Preise an der Tanke sind mir die Jungs nicht wert.
Doch, sind sie schon, aber dann erinnere ich mich an Michis großen Kühlschrank im Keller.
»Komm vorbei«, sagt er lachend, nachdem ich ihm am Telefon mein Problem geschildert habe.
Zur Begrüßung nennt er mich »Amateur!« und führt mich in den Keller.
»Früher ist mir das auch ab und zu passiert«, erzählt er. »Seitdem ich jedoch einen festen Job habe, ist mir das zu doof. Nun achte ich penibel darauf, immer mehr als 100 Flaschen Bier zu Hause zu haben. Den schlappen Hunni, den mich das kostet, ist es mir absolut wert.«
Ich nicke. »Das ist vernünftig«, sage ich, »aber sind 100 Flaschen nicht etwas übertrieben? Würden zwei Kisten nicht reichen?«
»Das dachte ich anfangs auch. Dann haben Ludwig, Ruhrpott-Ralle und Tobi eines Samstagmorgens spontan mit Weißwürsten und Brezn an der Tür geklingelt. Um 12 Uhr waren nicht nur traditionsgemäß die Weißwürste aufgegessen, sondern auch meine beiden Träger Bier vernichtet. Wäre ich nicht so unglaublich voll gewesen, hätte mich das peinlich berührt. Zum Glück sind die anderen dann eingenickt, sodass ich meine Frau zum Bierkaufen schicken konnte. Aber stell dir vor, es wäre auch nur ein guter Trinker mehr dabei gewesen. Nicht auszumalen. So waren wir pünktlich um 15:30 Uhr zur Bundesliga wieder wach und hatten frisches Bier.«
Michis Frau Anja läuft kopfschüttelnd an uns vorbei. Michi lässt sich allerdings in seiner Euphorie nicht stören.
»Seit diesem Tag wusste ich, dass ich mehr als 100 Bier da haben muss, um auf der sicheren Seite zu sein.«
»Aber«, wende ich ein, »fühlt man sich da nicht unter Druck gesetzt, wenn man so viele Flaschen im Keller weiß?«
»Das ist ja das Geile!«, schreit Michi. »Ich trinke seitdem erheblich mehr und meine Freunde sagen, ich sei viel lockerer geworden. Auch Anja greift mittlerweile öfter in den Kühlschrank. Du weißt, was das bedeutet.«
Er zwinkert Anja zu, Anja verdreht die Augen. Den Spruch habe ich erst vor Kurzem gelesen: Hinter jedem witzigen Mann steht eine Frau, die mit den Augen rollt.
Michi leiht mir eine Kiste, zwingt mich allerdings zu einer Sturzhalben im Türrahmen.
Und gibt mir Einkaufstipps: »Normalerweise zahlst du vielleicht 13 Euro pro Kiste. Ich habe immer nicht nur knapp über 100 Bier da, sondern um die 130. Wenn ich mich unter die 120 getrunken habe, schau ich mich sofort nach Sonderangeboten um. Den ›Keine Werbung‹-Aufkleber an deinem Briefkasten kannst du also gleich abmachen, du musst nämlich alle Bier-Anbieter checken. Letzte Woche hab ich beispielsweise drei Kisten Jever gekauft. Für jeweils 9,99 Euro. Das ist noch keine Sensation …« Er macht eine kleine Kunstpause. »… aber zu jeder Kiste gab es einen Sixpack obendrauf.« Seine Augen leuchten. »Wahnsinn, oder?!«
»Ja«, sage ich, »aber eines verstehe ich nicht: Das Bier aus Sonderangeboten ist meistens nur noch zwei bis drei Monate haltbar. Das kannst du doch in der Zeit gar nicht trinken.«
Michi schaut mich streng an. »Willst du mich beleidigen?«, fragt er. »Rechne nach. Selbst wenn ich 150 Flaschen da habe, sind das in zwei Monaten nicht einmal drei Bier täglich. 150 Flaschen, die schafft ein ambitionierter Maurer in einer guten Woche.«
»Und wenn du in Urlaub fährst?«, hake ich nach.
»Du sagst es. Ich achte darauf, dass wir fast immer mit dem Auto wegfahren. Du glaubst nicht, wie viele Stellen es in einem Auto gibt, an denen man Flaschen verstauen kann. Und wenn du denkst, das Auto ist voll, bringst du noch mal 20–30 Flaschen unter.«
»Aber wenn ihr aus dem Urlaub zurückkommt, kriegst du unter Umständen kein günstiges Bier. Stört dich das nicht?«
»Doch schon«, antwortet Michi, »aber das Gefühl, mit sechs oder sieben Kisten Bier in der Kassenschlange zu stehen, ist unbezahlbar. Besonders Männer feiern dich ab und klopfen dir auf die Schulter.«
Michi strahlt. Zu Recht, er hat Charakter.
Mit viel Lust auf Biertrinken komme ich daheim an, die anderen warten schon.
Allerdings rechtfertigen sie nicht den Aufwand, den ich für ihr Wohlergehen betrieben habe. Murphy trinkt momentan lieber alkoholfreies Bier, Breiti hat am nächsten Tag einen wichtigen Termin, und Lauer ist der Fahrer. Also trinkt Murphy nur zwei Bier, Breiti drei und Lauer fünf. Nach dem vierten drückt er Murphy die Autoschlüssel in die Hand.
Ich kann mich kaum auf das Spiel konzentrieren, zu sehr muss ich an meinen bevorstehenden ersten Großeinkauf denken. In der Halbzeitpause kratze ich den »Keine Werbung«-Aufkleber vom Briefkasten.
Am nächsten Tag betrete ich – breitbeinig wie ein Cowboy den Saloon – den Getränkemarkt. Nach Feierabend versteht sich. Zu keiner anderen Tageszeit befinden sich mehr Männer im Getränkemarkt. Hat Michi recherchiert.
Ich traue meinen Augen nicht. Bitburger 0,0% gibt es jetzt auch als Radler. Eine Dreifach-Bestrafung sozusagen. Bitburger ist schlimm, Bitburger alkoholfrei indiskutabel. Aber Bitburger alkoholfrei als Radler, das schlägt dem Fass den Boden aus. Ich kenne Menschen, die man prima damit foltern könnte.
Dafür gibt es noch dieses »Jever plus 6«-Angebot für 9,99 Euro. Ich lade zwei Kisten davon und eine Kiste Pilsner Urquell in den Einkaufswagen. In den zweiten Wagen packe ich jeweils eine Kiste Beck’s, Tannenzäpfle und Heineken. Igitt, Heineken, mag jetzt manch einer denken. Und ja, auch mir schmeckt es nur mittelmäßig, aber mir gefällt das Design der Kiste und der Flaschen so gut. Außerdem schmeckt es immer noch besser als jedes Münchner Helle.
Ich bin schon auf dem Weg zur Kasse, als ich mir zum zweiten Mal die Augen reibe. Die haben tatsächlich Holsten da.
»Holsten knallt am dollsten!«, rufe ich wie automatisch.
Als HSV-Fan kann ich hier nicht vorbeigehen. Ich lade eine Kiste ein, obwohl ich sie nicht zwingend bräuchte. Eine andere wieder aus dem Wagen zu nehmen, wäre aber irgendwie zu erniedrigend.
Außer dem Jever sind ja auch alle lange haltbar. Und sollte es doch knapp werden, lade ich Michi und seine Freunde ein.
Michi hat nicht zu viel versprochen, ich fühle mich sehr wohl in der Kassenschlange. Zweimal täusche ich kurz vor dem Bezahlen vor, etwas vergessen zu haben, nur um mich noch einmal anstellen zu können. Die Männer grinsen mich an und nicken. Manche stupsen ihre Frauen an und zeigen auf mich und mein Bier. Die Frauen verstehen nicht, »was daran jetzt so toll sein soll«.
Ich finde mich schon toll. Es ist großartig, wenn man sechs verschiedene Biersorten im Kühlschrank hat. Und wenn man weiß, dass zusätzlich zu den 20 Flaschen im Kühlschrank noch 132 Kumpels im Keller warten.
Glücklich mach ich mir zu Hause ein Jever auf. Muss ja weg!
Dann klingelt es an der Haustür. Es ist Detti, der mich weinerlich um Hilfe bittet: »O Mann, gleich bekomme ich Gäste zum Grillen. Blöderweise habe ich vergessen, zum Getränkemarkt zu gehen und Bier zu kaufen. Kannst du mir helfen?«
Zur Begrüßung nenne ich ihn »Amateur!« und führe ihn in den Keller.
Als ich aufwachte, beschloss ich, vernünftiger zu werden. Schließlich war ich seit einigen Monaten 20 Jahre alt und hasste es mittlerweile, verkatert aufzuwachen.
Meine Augen konnte ich aufgrund der Kopfschmerzen noch nicht öffnen, aber ich hoffte, ein wunderschönes Mädchen würde neben mir liegen. Vielleicht könnte ich sie bitten, meine Frau zu werden und mir Kinder zu schenken.
Ich würde sicher endlich erwachsen werden, wenn ich eine richtige Aufgabe hätte und Verantwortung für etwas übernehmen müsste. Wir würden erst den Dachboden meines Elternhauses ausbauen, und wenn das zweite Kind auf dem Weg wäre, würden wir mit unseren Ersparnissen ein Reihenmittelhaus mit Carport kaufen. Wenn ich mich bemühte, würde ich sicher lernen, Laminat zu verlegen und den Luftfilter unseres Vans zu wechseln. Hach, endlich Familie!
Wie es mich ankotzte, an fünf von sieben Abenden die Woche wegzugehen. Wobei die Abende meistens ganz gut waren, schlimm waren die Morgen danach.
Die Übelkeit, die strafenden Blicke meines Vaters und das schlechte Gewissen, wenn die Erinnerung langsam zurückkehrte.
Oder wenn dich deine sogenannten Freunde nur deshalb anriefen, um einen einzigen Satz loszuwerden: »Ich weiß, was du letzte Nacht getan hast.«
Gott sei Dank würde damit jetzt Schluss sein!
Voller Vorfreude schlug ich die Augen auf. Ich wollte endlich wissen, welche charmante Traumfrau mit mir alsbald durch gute wie durch schlechte Zeiten gehen würde.
Gespannt blickte ich nach links. Gut, sie hatte ein paar Haare auf dem Rücken und war etwas teigig, aber wahre Liebe schert sich nicht um körperliche Defizite.
Ich kuschelte mich an sie, dann erkannte ich Murphy am Geruch.
Erschrocken wich ich zurück. Mühsam richtete ich mich auf und erblickte, zu unseren Füßen liegend, Breiti.
Zu unseren Füßen liegend, der arme Hund!
Wir hatten bestimmt drei Stunden im »Laby« getanzt … ich schloss nicht aus, dass Breiti tot war.
Er wachte jedoch auf, als ich ihm meinen kleinen Zeh in die Nase steckte. Seine Würgelaute weckten Hulge und Klafke, die auf dem Sofa lagen.
»So Jungs!«, rief ich. »Jetzt wird erst mal aufgeräumt, ich kann so nicht mehr weiterleben.«
Überall lagen Brotkrümel und leere Wurstdosen herum, Senf klebte am Tisch. Auf Teller und Besteck hatten wir anscheinend verzichtet, lediglich ein Messer steckte in der Tischplatte.
Tatsächlich halfen alle mit, die Sauerei zu beseitigen. Sie waren zu betrunken, um sich zu wehren.
Und schließlich hofften sie alle, ich hätte die Bierflaschen nicht gesehen. Als Breiti sie klammheimlich einsammelte und ins Waschbecken leeren wollte, trat ich in Aktion.
»Halt!«, brüllte ich und alle zuckten zusammen. Sie wussten, was die Stunde geschlagen hatte.
Schon vor einiger Zeit hatte ich Chicos uralten Brauch übernommen. Ich hatte einmal bei ihm übernachtet und er hatte mich am Morgen gezwungen, das in der Nacht noch völlig unnötig geöffnete Bier auszutrinken. Diese Absage an die Dekadenz hatte mich schwer beeindruckt.
»Ach Cattle, hör auf«, jammerte Hulge, »ich kann doch jetzt kein lauwarmes Bürgerbräu trinken.«
»Doch, das kannst du«, antwortete ich, »du konntest es ja auch heute Nacht noch öffnen.« Chico wäre sehr stolz auf mich gewesen.
So saßen wir zusammen, nippten an unseren nahezu vollen Bieren, und ich erzählte von meinem Plan, in naher Zukunft eine Familie zu gründen. Auch wenn ich noch nicht wusste mit wem.
Das belustigte alle so sehr, dass wir schnell unseren Kater vergaßen und weitere Flaschen öffneten. Wir tranken sie auch gleich aus, weil wir keine Lust hatten, sie am nächsten Morgen auszutrinken.
Irgendwann am späten Nachmittag fragte Murphy: »Was machen wir heute?«
»Keine Ahnung«, sagte Klafke, »aber wir nehmen auf jeden Fall deinen Teddy mit, Cattle, der muss auch mal raus.«
Mein Teddybär war sehr groß, ich hatte ihn auf einem Volksfest gewonnen.
»Sehr gute Idee«, antwortete ich, »aber er ist ganz nackt. Ziehen wir ihm doch eine Jeansjacke und eine Jeanshose an.«
Es war kühl draußen. Man konnte schon merken, dass ich langsam vernünftiger wurde.
Also fuhren wir ein paar Stunden später frisch geduscht mit Murphys GTI nach Würzburg, der Teddy saß zwischen uns auf der Rückbank.
Vor dem »Green Goose«, einer amerikanischen Diskothek, trafen wir uns mit 20 weiteren Freunden. Aus unseren Autos klang laute Heavy-Metal-Musik, wir trugen Cowboystiefel und Klafke sogar ein weißes Unterhemd. Trotz unseres Erscheinungsbildes führten wir echt intellektuelle Gespräche.
Na gut, das stimmt nicht ganz, aber wir hatten Spaß. Die anderen ein bisschen mehr als ich, schließlich steckte ich mit gerade mal 20 schon mitten in der Midlife-Crisis.
Während meine Freunde kleine Schnapsfläschchen in sich reinschütteten, trank ich lediglich Bier. Das war einfach erwachsener.
Als ich keinen Sinn mehr darin sah, mich grundlos zu betrinken, machte ich einen Vorschlag. Ich weiß bis heute nicht warum.
Jedenfalls sagte ich: »Auf, wir ziehen dem Bären noch diesen Motorradhelm hier über den Kopf, nehmen dieses Seil, hängen ihn an das Gerüst an dieser Kirche gegenüber und täuschen seinen Suizid vor. Die Passanten werden sich ganz schön erschrecken.«
»Geile Idee«, kommentierte Hulge, »du machst dir echt viele Gedanken, seit du spießig geworden bist.«
Durch den Helm knickte der Kopf authentisch zur Seite, durch die Jeans, die von seinen Füßen baumelte, war der Bär ungefähr 1,80 Meter groß.
Scheinbar unbeteiligt stellten wir uns auf die andere Straßenseite und beobachteten die vorbeikommenden Fußgänger.
Unglaublicherweise gingen mindestens zehn Leute an ihm vorbei, obwohl er nur knapp über dem Boden baumelte, schoben ihn sogar kopfschüttelnd zur Seite, aber kein einziger erschrak.
Wir wollten die Aktion schon abblasen, als aus dem Nichts eine Gruppe von 15 Japanern auftauchte. Auch sie erschraken nicht, zückten aber ihre Fotoapparate und schossen an die 40 000 Bilder. Noch heute rätseln wir, was die Urlauber wohl ihren Lieben zu Hause beim Dia-Abend zu dieser Sehenswürdigkeit erzählt und wie diese wohl reagiert haben.
Dann hatte Klafke, immer schon auf Völkerverständigung bedacht, einen schönen Einfall.
»Hopp, denen müssen wir was bieten! Breiti und Murphy, ihr holt das Auto, der Cattle und ich, wir steigen aufs Gerüst, und wenn ihr an den Zebrastreifen hinfahrt, werfen wir den Bär vors Auto. Alle denken dann, es wäre ein Unfall!«
Ja, dachte ich sofort, das klingt vernünftig, das machen wir.
Zwei Minuten später fuhren Murphy und Breiti mit hoher Geschwindigkeit vor, wir warfen den Teddy vom Gerüst, der Helm knallte genau ans Vorderrad, es tat einen Riesenschlag, und der Bär lag am Ende noch mit Helm auf dem Kopf quer über dem Zebrastreifen.
Unsere 20 alten unterfränkischen und die 15 neuen japanischen Freunde kreischten alle durcheinander und machten auf hektische Betriebsamkeit. Man rief um Hilfe, die ersten plädierten für eine Mund-zu-Mund-Beatmung.
Ich musste sehr lachen, bis ich die beiden amerikanischen Türsteher des »Green Goose« sah. Besser gesagt sah ich eigentlich nur noch das blanke Entsetzen in ihren Augen, während sie auf uns zu sprinteten.
Mir war klar, dass sie uns halb totschlagen würden, wenn sie den Grund für ihre Panik erführen.
Ich hatte wirklich Angst und mir kamen zum ersten Mal leichte Zweifel, ob ich denn mental schon bereit für die Ehe wäre.
Zumindest meine Angst vor den beiden GIs war unbegründet, denn nachdem die zwei Muskelberge den Bären erkannt hatten, brüllten sie vor Lachen und begannen sogleich eine Herz-Druck-Massage.
Dann nahmen sie meinen Teddy unter ihre Arme und trugen ihn Richtung Diskothek.
Hey, dachte ich, das sind meine Jeansjacke und meine Jeanshose. Auch den Teddy wollte ich einmal meinen Kindern vermachen. Am Eingang hatte ich sie eingeholt und schnappte mir den Bären. Sie protestierten nicht, ich muss sehr erwachsen aufgetreten sein. Ich hatte mich gerade umgedreht, als hinter mir jemand verkündete: »They’ve called the ambulance!«
Ui, schnell weg, dachte ich, welche Frau will schon einen Mann mit Vorstrafen, und rannte zurück zu den anderen. Ich hoffte, dass der GTI noch lief.
Mitten auf der Kreuzung hielten mich zwei Männer am Oberarm fest.
»Zivilpolizei, kommen Sie bitte mit!«
»Jaja klar«, sagte ich leicht dümmlich, »ihr verarscht mich.«
Ich glaubte ihnen spätestens, als sie unsere Personalien aufnahmen.
Sie erzählten uns, dass sie uns schon geraume Zeit beobachtet hatten, und ließen durchklingen, dass sie uns witzig fanden. Etwas kindisch, aber witzig. Es tat mir weh, als sie »kindisch« sagten.
»Wir sehen von einer Anzeige ab, aber betet zu Gott, dass der Krankenwagen nicht kommt, das würde nämlich 500 Mark kosten. Ich hoffe, wir konnten ihn noch rechtzeitig abbestellen.«
Und der Krankenwagen kam nicht. Das heißt, er kam nicht alleine. Er wurde eskortiert von drei Streifenwagen, allesamt mit Blaulicht und Sirene.
»Kostet ein Streifenwagen auch 500 Euro?«, fragte Breiti. »Oder sind die im Paket günstiger?«
Ein paar Wochen zitterten wir. Keiner wollte zu Hause erzählen, warum wir aller Voraussicht nach 2000 Mark zu zahlen haben würden.
Glücklicherweise kam nie eine Rechnung.
So konnte ich jede Menge Geld sparen, um eine Familie zu gründen.
Sommer 2015:
Wir sind zum Grillen eingeladen. Und ja, ich freue mich auch. Aber es ist kein Jungs-, sondern ein Familiengrillen. Bestimmt sind auch Frauen dabei. Ich mag Frauen, aber irgendwie haben sie das Grillen in seiner lässigen Art zerstört.
Sie legen das Hühnchen zwei Tage vorher in eine Ingwer-Orangen-Marinade. Auf diese Idee musst du 48 Stunden vor dem Essen erst einmal kommen. Dann packen sie Paddies aus Seelachs auf den Burger, umschmeichelt von einer Koriander-Limetten-Mayo und einem Hauch von Kapern.
Allein für den Salat brauchen bis zu vier Frauen eine halbe Stunde. Erst dann darf Grillfleisch aufgelegt werden. Dieses soll zeitgleich mit den Rosmarin-Kartoffeln aus dem Ofen fertig sein.
Man möge mich nicht falsch verstehen. Diese Sachen schmecken fast ausnahmslos weltklasse, aber von der Reinheit und der Würde des Grillens ist relativ wenig übrig geblieben.
Sommer 1977:
Wir sind bei Tante Irene und Onkel Paul eingeladen. Ich freue mich wie ein kleines Kind auf das Grillen. Klar, ich bin ja auch zarte sieben Jahre alt. Aber ich weiß auch schon, dass Grillen etwas Besonderes ist.
Sonntags gibt es bei uns sonst immer Braten mit Sauce und Nudeln.
Und jedes Mal läuft es gleich ab: Die Nudeln werden naturgemäß relativ schnell kalt und ich mag sie dann nicht mehr essen. Ich hasse kalte Nudeln und bringe sie einfach nicht hinunter, jedenfalls nicht dauerhaft.
Mein Vater sagt dann immer: »Wenn du den Teller nicht leer isst, gehst du sofort ins Bett!«
Um 12 Uhr mittags!
Oftmals werfe ich an Sonntagen nur kurz einen Blick auf den Esstisch, sehe die Nudeln und kapituliere.
»Ich geh gleich ins Bett!«, murmle ich dann.
Auch weil ich weiß, dass mich meine Mutter spätestens eine halbe Stunde später wieder aus dem Exil holt, ich etwas zu essen bekomme und dann Rappelkiste und Lassie anschauen darf.
Punkt 15:45 Uhr wird mir mein Vater am Sportplatz zähneknirschend eine Bratwurst in die Hand drücken. Als Kind sitzt man fast immer am längeren Hebel.
Heute ist das nicht von Belang, wir spazieren zu Irene und Paul. Es ist heiß und aus allen Gärten steigt Rauch auf.
Es riecht herrlich. Nach Holzkohle und Fleisch, überhaupt nicht nach Ingwer.
Paul hat die Tischtennisplatte aufgebaut. Ich nötige meinen Vater, mit mir zu spielen. Mittlerweile weiß ich, wie groß das Opfer ist, mit einem Kind Tischtennis zu spielen. Alle vier Sekunden muss man sich bücken und den Ball aufheben. Das Kind lacht derweil.
Dann bekomme ich eine Cola. Nur hier bei Irene gibt es Cola für mich. Coca-Cola aus durchsichtigen Glasflaschen mit weißem Aufdruck. Mit Wehmut denke ich heute an sie zurück. Ich bin mir sicher, dass damals durch das schöne Design der Flaschen auch der Inhalt besser schmeckte.
Und dann … verteilt Paul das Grillgut.
Die Auswahl ist sehr übersichtlich, man kann blind wählen. In jedem Garten in Rimpar werden Bratwürste, Bauchspitzen und Steaks gereicht. Wahlweise eingekauft in den Metzgereien Erk oder Hollerbach. Ja, selbst heute gibt es in Franken noch überall Metzgereien, die selbst schlachten. Und Bäckereien, die ihr Brot selbst backen.
Ich esse wie immer eine Bratwurst, eine Bauchspitze und ein halbes Steak.
Meine Eltern zwingen mich, etwas Salat zu essen. Der Salat ist im Jahre 1977 definitiv nicht besser als im Jahre 2015. Essig, Öl und jede Menge Zwiebeln.
Ich würge zwei Blätter runter und bin froh, einmal an einem Sonntag um diese Zeit nicht mein Zimmer abdunkeln zu müssen.
Sommer 2015:
»Magst du auch etwas vom Pinienkern-Basilikum-Dressing? Oder lieber das mit Reisweinessig und Pastinaken?« Keine leichte Wahl.
»Nein, Caro, ich musste gerade an früher denken. Vielleicht nehme ich nur eine Bratwurst in der Semmel mit Senf.«
Die Gastgeberin schaut mich strafend an.
Dann greift sie nach ihrem Hugo mit extra viel Minze und einem Schuss Mineralwasser und braust ab.
Ihr Mann Robert hat auch einen Hugo in der Hand. Mit weniger Minze, dafür mit etwas Himbeersirup. Das mit dem Himbeersirup habe er zufällig ausprobiert, aber es schmecke total lecker, sagt er.
Auch er schaut mich strafend an.
Sommer 1977:
Es gibt zwei Getränke für die Erwachsenen. Bier oder Cola-Asbach. Zwei grundehrliche Getränke. Ich nehme mir vor, sie mein Leben lang zu glorifizieren. Lediglich die Gläser erscheinen mir schon als Kind zu klein.
Notiz an mich selbst: Mit 18 in der Kneipe unbedingt einmal einen Cola-Asbach-Stiefel bestellen.
Sommer 2015:
Nach meiner Bratwurst esse ich einen Burger mit Gorgonzola. Schmeckt geil, zugegeben. Ich schäme mich, weil ich es zugebe.
Mein Sohn Tom kommt ums Eck und fragt nach einem gegrillten Wammerl, also einer Bauchspitze. Geiler Typ!
Meine Tochter Luzie will zwei Würstchen in der Semmel.
»Zwaa en an Weggla«, wie der Nürnberger sagt.
Anscheinend habe ich bei der Erziehung doch nicht alles falsch gemacht. Obgleich diese Uli-Hoeneß-Fabrikwürstchen bei Weitem nicht an die grobe Bratwurst vom Metzger Hollerbach rankommen.
Sommer 1977:
Nach einer Viertelstunde intensiver Nahrungsaufnahme bekommt keiner mehr auch nur einen Fetzen Fleisch in den Körper.
Blacky, Irenes Pudel, freut sich wie ein kleiner Hund.
Mein Vater trinkt noch einen Asbach pur, weil »das Conjäckchen das wärmste Jäckchen ist«, dann grinsen alle selig.
Sommer 2015:
»So, als Digestif hätte ich noch einen Ramazzotti oder Averna …« Sie macht eine kleine Pause. »… oder einen Single Malt aus einer ganz kleinen Distillerie nahe Edinburgh«, ruft Caro so, dass es auch alle Nachbarn hören können. Besonders laut intoniert sie »Digestif« und »Edinburgh«. Der fremdsprachliche Zweig und die Auslandsaufenthalte zahlen sich jetzt aus.
Ihr Mann »würde jetzt sterben für einen Single Malt«, weil man »bei jedem Schluck das Holzfass schmecken kann, in dem er jahrelang gelagert wurde«.
Hm, lecker, Holzfass, denke ich, als ich mein mitgebrachtes Pils öffne.
Ich bin wohl mit meinen Gedanken nicht alleine, denn nach ein paar Minuten stehen circa zehn Männer um den Grill und teilen sich die Biere aus meinem Rucksack. Auch die eine oder andere Frau gesellt sich zu uns, riskiert aber Freundschaften.
Wir machen im Grill ein Lagerfeuer und verabreden uns heimlich für den Abend zum Flutlichtspiel des SC Gröbenzell. Auf dem Dorfsportplatz gibt es sie noch immer, die Stadionwurst. Und in jedem Vereinsheim steht irgendwo im Regal ein Stiefel, der nur darauf wartet, am Tresen mit Cola und Asbach und Eis gefüllt zu werden. Kann er haben.
Sommer 1977:
Mein Vater, Onkel Paul und ich gehen zum Sportplatz. Es riecht nach Bier und Sieg und Sensation. Und nach Bratwurst.
Sommer 2015:
Detti, Breiti und ich gehen zum Sportplatz. Es riecht nach Bier und Sieg und Sensation. Und nach Bratwurst.
Heute ist mein erster Tag im Büro. Nach 17 Jahren im Verkauf brauchte ich Abwechslung. In derselben Firma zwar, aber man kann ja nicht auf einen Schlag gleich alles verändern. Noch dazu ist die Stelle auf ein Jahr befristet, was soll da passieren?
»Na, Herr Keidel, haben Sie gut hergefunden?«, fragt meine Chefin.
Das geht ja gut los! Ja, habe ich, schließlich war ich schon 120 Mal hier. Aber bei den ersten 80 bis 90 Besuchen hatte ich große Schwierigkeiten. Danke der Nachfrage.
Dann stecken sie mich zu Franca ins Büro. Ich kenne sie bereits seit der Ausbildung. In der Berufsschule war ich ganz gut und Franca noch nicht so unterlegen. Sie ist mittlerweile EDV-Profi.
Ich merke es zum ersten Mal, als sie mir hilft, den Rechner einzuschalten. Sie drückt sofort den richtigen Knopf. Beeindruckend.
Meine Kenntnisse beschränken sich bislang auf ein wenig Word und Pokerstars.de. Mal sehen, ob mir das hilft.
»Haben Sie gut hergefunden?«
Ich zucke zusammen, aber die Dame aus der Personalabteilung begrüßt nur eine Bewerberin auf dem Flur.
»Hi Volker«, begrüßt mich dann doch eine Kollegin, »kannst du mir etwas von meinen To-dos abnehmen? Ich hab noch einige Projekte in der Pipeline und kann mir hierfür kein Zeitfenster freischaufeln. Morgen ist Deadline und unsere Timeline ist so tight getaktet, ich geh unter im Overflow.«
Wow! Pipeline, Deadline und Timeline in einem Atemzug! Ich bin abermals beeindruckt.
»Ja«, antworte ich, obwohl ich nicht weiß, was sie von mir will. Eine Nachfrage würde mir wahrscheinlich ähnlich viel bringen wie damals, als ich als Pizzakurier in Barcelona jobbte. Nur mit rudimentären Sprachkenntnissen aus einem CD-Anfängerkurs konnte ich zwar Einheimische nach dem Weg zur Lieferadresse fragen, verstand aber niemals die Antwort. Viele Menschen mussten ihre Pizza seinerzeit kalt essen.
Heute soll ich letztlich nur Buchcover in eine Excel-Liste kopieren. Das bekomme ich hin. Nachdem es mir Franca erklärt hat.
Ich versuche, mir immer von unterschiedlichen Leuten helfen zu lassen. Zum Glück hat Franca eine Süßigkeitenschublade in unserem Büro eingerichtet. So kommt jeweils im Viertelstundentakt eine Kollegin vorbei und holt sich Schokolade. Beim Smalltalk lasse ich immer unauffällig eine Computerfrage einfließen. Bei schwierigen Fällen hole ich den Mädels auch gerne einen Kaffee oder ein Wasser.