Massenwahn - Jürgen Wächter - E-Book

Massenwahn E-Book

Jürgen Wächter

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Beschreibung

Wie kann es sein, dass ganze Gesellschaften einem Wahn verfallen? Wie kommt es, dass Menschen unisono so skrupellos werden, dass sie ihre Nachbarn als Hexen verbrennen, den politisch Anderen mit der Guillotine köpfen lassen oder ihn selbst mit einer Machete in Stücke hauen? Wie ist es möglich dabei noch zu glauben, richtig zu handeln? Warum kann jede Mitmenschlichkeit verloren gehen und warum werden Mitmenschen denunziert, dass sie in Straf- oder Vernichtungslagern enden? Warum werden die wenigen Menschen, die sich vom Massenwahn nicht anstecken lassen als Staatsfeinde, Volksverräter, Verschwörungstheoretiker, Teufelsanhänger oder Untermenschen denunziert? Wie kann es sein, dass immer wieder in der Geschichte ganze Gesellschaften verrückt werden? Dass sie in einen Massenwahn verfallen. Und droht uns in der Gegenwart erneut ein Massenwahn mit tausenden von Toten? Dr. Jürgen Wächter untersucht die Zeiten des Massenwahns in einem interdisziplinären Ansatz von Geschichtsschreibung, Politikwissenschaft und Psychologie. Dabei wird deutlich, dass Massenwahn immer in Phasen großer Systemwechsel auftritt, wenn sich sehr schnell politische, ökonomische und gesellschaftliche Grundlagen verändern. Die Menschen geraten dann in eine Unsicherheit, eine generalisierte Angststörung. Häufig versuchen die Mächtigen in der Welt den Untergang des bisherigen Systems aufzuhalten, indem sie ein Dogma und ein spezielles Angstobjekt schaffen, um die Masse der Menschen so unter ihre Kontrolle bekommen. Da sich ein Systemwechsel letztendlich nicht aufhalten lässt, werden meist Sündenböcke gesucht und mit Gewalt bekämpft. Beispielhaft werden im Buch die Hexenverfolgungen, die Mordorgien der Französischen Revolution, des Nationalsozialismus, der Roten Khmer in Kambodscha und der Völkermord in Ruanda dargestellt. Insbesondere wird dann der Frage nachgegangen, wie wir derartige Gewaltorgien oder Kriege beim derzeitigen Weltsystemwechsel am Ende des Globalkapitalismus vermeiden können. Das Buch ist ein Muss für jeden an Politik, Geschichte oder Psychologie interessierten Menschen, der verstehen will, welche Veränderungen derzeit in der Welt geschehen.

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Inhalt

Einleitung

Wahn und Massenwahn

Phasen des Massenwahns

3.1 Unsicherheit im Systemwechsel

3.2 Angst

3.3 Die Rolle der Mächtigen

3.4 Gehorsamkeit der Massen

3.5 Die Sündenböcke

3.6 Die Entladung

3.7 Ende des Massenwahns

3.8 Verleugnung

Und danach? – Die Täter

Und danach? – Die Opfer

Der Mensch von Morgen

Literatur

1. Einleitung

„Wer das Ziel erreicht hat mit Beschwer, Begehrt es gleichwohl doch noch mehr. Das kommt allein daher daß wir Haben angeboren die Begier, Daß uns schon möchte hier auf Erden Das höchste Gut gegeben werden. Doch weil das nimmer möchte sein Und wir irren in dem finstern Schein, So hat uns Gott das Licht verliehn Der Weisheit, die uns dunkel schien. Die mag die Finsterniß wohl enden, Wenn wir uns treulich zu ihr wenden: Da wird der Unterschied wohl klar der zwischen Thor- und Weisheit war.“ Aus dem Narrenschiff von Sebastian Brant, 1497.1

Wie kann es sein, dass ganze Gesellschaften einem Wahn verfallen? Wie kommt es, dass Menschen unisono so skrupellos werden, dass sie ihre Nachbarn als Hexen verbrennen, den politisch Anderen mit der Guillotine köpfen lassen oder ihn selbst mit einer Machete in Stücke hauen? Wie ist es möglich dabei noch zu glauben, richtig zu handeln, nur weil alle anderen es ja auch so machen? Warum kann jede Mitmenschlichkeit verloren gehen und warum werden Mitmenschen denunziert, dass sie in Straf- oder Vernichtungslagern enden? Warum werden die wenigen Menschen, die sich vom Massenwahn nicht anstecken lassen als Staatsfeinde, Volksverräter, Verschwörungstheoretiker, Teufelsanhänger oder Untermenschen denunziert? Wie kann es sein, dass immer wieder in der Geschichte ganze Gesellschaften verrückt werden? Dass sie in einen Massenwahn verfallen.

Der berühmte Psychologe Carl Gustav Jung schrieb angesichts der Katastrophe des Nationalsozialismus: „Eine im höchsten Maß gestörte Zeitlage wie die unsrige, mit ihren aufgewühlten politischen Leidenschaften, den ans Chaos streifenden staatlichen Umwälzungen und einer in ihren Grundfesten erschütterten Weltanschauung, hat einen so gewaltigen Einfluß auf das seelische Geschehen beim Einzelnen, daß der Arzt nicht umhin kann, den Auswirkungen der Zeitumstände in der individuellen Seele eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken.“2

Vergleiche mit dem Nationalsozialismus sind in Deutschland immer heikel. Schlichte Seelen versuchen dies dann gleich als Verharmlosung der schlimmen Zeit zu diffamieren und so die Sprecher mundtot zu machen. Das ist aber nur ein übler psychologischer Trick, um Kritik an bestehenden Zuständen abzuwehren. Tatsächlich geht es nicht um eine Rangfolge der menschlichen Scheußlichkeiten in der Geschichte; jede Entmenschlichung, jeder Mord und Massenmord, jede Diskriminierung, jede Verreibung, Ausrottung und politisch implementierte Qual ist eine Schande für die Menschheit. Hier soll es nicht darum gehen, diese Unmenschlichkeiten gegeneinander zu bewerten, sondern es soll anhand der schrecklichen Beispiele aus der Geschichte versucht werden, die Ursachen und Mechanismen sowie die Heilungsmöglichkeiten für Massenwahn zu erforschen.

Das ist keine angenehme Aufgabe. Carl Gustav Jung schrieb bereits, dass ihn „der politische Lärm, die Verlogenheit der Propaganda und das mißtönige Geschrei der Demagogen in tiefster Seele anwidern.“3 So geht es mir auch. Doch die Arbeit muss gemacht werden, damit wir verstehen, wie es zu solchen schlimmen Zuständen kommt, wie der Mechanismus läuft und wie wir verhindern können, dass sich solcher Wahnsinn in Zukunft wiederholen kann.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Mechanismen schon. Daher kommt der Vergleichenden Geschichtswissenschaft, indem sie vergleicht aber nicht gleichsetzt, was ein erheblicher Unterschied ist, eine besondere Bedeutung sowohl für das Verständnis der Vergangenheit als auch heutiger Ereignisse zu.

Die Ursachen, psychologischen Hintergründe und Abläufe von Massenwahn sind bisher kaum untersucht. Generell ist über Wahn wenig geforscht worden.4 Verstärktes Interesse kam nach dem Ende des Nationalsozialismus auf, so dass im Jahr 1965 der baden-württembergische Justizminister Dr. Wolfgang Haußmann forderte: „Es scheint mir höchste Zeit zu sein, sich mit den geistig-seelischen Hintergründen von Massenwahnausbrüchen auseinanderzusetzen und Klarheit darüber zu suchen, wie solchen Katastrophen vorgebeugt werden kann.“5 Es gab verschiedenste Ansätze, um zu ergründen, warum es den Nationalsozialisten gelingen konnte, eine so große Masse der Deutschen hinter sich zu scharen. Die sog. Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno suchte nach einer faschistischen Mentalität in den Menschen bzw. einen autoritären Charakter.6 Eine Lösung fanden sie jedoch nicht. Viel weitreichender waren dagegen die Untersuchungen des Amerikaner Stanley Milgram, der aufzeigen konnte, dass es eines solchen Charakters gar nicht bedarf, sondern dem Menschen selbst in Demokratien ein Gehorsamkeitspotential innewohnt, das bei Aktivierung zu den bösesten Taten führen kann. 1962 brachte der Herausgeber der englischen Tageszeitung „Observer“, David Astor, die Idee auf, ein Institut für politische Psychopathologie zur Ergründung der Massenpsychosen zu gründen.7 Angesichts der atomaren Aufrüstung während des Ostwestkonfliktes bestand ebenfalls Interesse an näherem Verständnis von Massenwahnphänomenen. Prof. Dr. Wilhelm Bitter sagte 1965: „In Gegenwart und Zukunft muß uns vor allem die Tatsache beschäftigen, daß der Weltfriede durch den neuen Ausbruch eines Massenwahns gefährdet ist.“8 Der Historiker Eugen Kogon forderte „im Interesse buchstäblich der ganzen Menschheit, Wahnvorstellungen, die uns die Zukunft blockieren, aus der Welt zu schaffen.“9 Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sah 1972 die Massenpsychologie als „das zentrale Thema der Menschenkunde unserer Zeit.“10

Dennoch konnte sich die Forschung weder auf eine einheitliche Definition des Wahns verständigen, noch wurden Therapiemöglichkeiten für Massenwahn gesehen.11 Die Wahnforschung erfolgte meist in rein deskriptiver Form und ist bis heute an Fallbeispielen orientiert.12 Auch über die Ursachen von Wahn gibt es bisher trotz zahlreicher Erklärungsversuche keine befriedigende Antwort.13 Verschiedenste Arbeiten reden mehr um das Thema herum, schildern Einzelfälle oder philosophieren ohne erkennbaren Nutzen.14

Der Begriff des Massenwahns wird im normalen Sprachgebrauch und auch in den Medien immer mal wieder verwendet.15 Synonym benutzt man Begriffe wie „Massenpsychose“, „Massenhysterie“ und „Massenneurose“.16 Mal taucht der Begriff im Zusammenhang mit Börsencrashs auf, manchmal mit Massensaufgelagen auf Mallorca, Neonazis in Griechenland, dem Nationalsozialismus, Klimaangst, Genderismus, Horrorclowns in Frankreich oder der Coronakrise.17 Altbundeskanzler Helmut Schmidt nannte die 68er-Bewegung eine „weitausgreifende jugendliche Massenpsychose“.18 Massenwahn wird als Begriff auch verwendet, wenn mehrere Menschen die gleichen Krankheitssymptome zeigen, jedoch keine medizinische Ursache gefunden werden kann. Im Ort Le Roy im Staat New York etwa hatten einige junge Frauen juckende Haut, was dazu führte, dass darauf immer mehr Menschen dort und in benachbarten Bundesstaaten vom gleichen Symptom berichteten. Die Ärzte fanden nichts, was als Ursache hätte verantwortlich sein könne, obwohl die Menschen wirklich litten und die Symptome nicht vorgespielt waren.19 Diese und andere skurrile Ereignisse wurden als Massenwahn bezeichnet. Dies entspringt allerdings eher dem verzweifelten Versuch Merkwürdigkeiten von Gruppen von Mitmenschen benennen zu können als einer wirklichen wissenschaftlichen bzw. psychologischen Definition.

In der wissenschaftlichen Literatur tauchten die Begriffe des Massenwahns erst an der Wende zum 20. Jahrhundert auf.20 Als frühester Forscher ist wohl der italienischer Anthropologe Scipio Sighele (1868-1913) zu betrachten. Er fragte sich vom kriminalistischen Standpunkt aus, warum durch Massen Verbrechen begangen werden, die ein Einzelner nicht begehen würde und sah, dass „die Kollektiv-Seele einer Mehrheit von Menschen ganz anders geartet sein kann, als die einfache Summe der Einzelnen“.21 Er forderte einen neuen Wissenszweig der „Kollektiv-Psychologie“ zur Untersuchung der Psychologie der Masse.22 Sighele erkannte bereits, dass besonders die „Suggestion in der Masse wirkt“23 und sich die „Epidemie-Artigen Massenerscheinungen“ durch Nachahmung verbreiten.24 Sighele erkannte, dass der „Affekt, den ein Mensch erfährt und äussert, sich unmittelbar auf die ganze Masse überträgt“ und dass die Gemütsbewegung der Masse „um so stärker ist, je mehr Individuen gleichzeitig und am selben Orte sie erfahren“.25 Sighele sah eine „Seele der Masse“, die die „Rolle eines gemeinsamen Denkens“ einnehme.26 Besondere Verdienste erwarb sich der Franzose Gustave le Bon, der 1911 sein Werk „Psychologie der Massen“ veröffentlichte.27 Er baute auf Sighele auf und auch Siegmund Freud stimmte seinen Vordenkern weitgehend zu. Letzterer stellte fest, dass es in einer Menschenmasse dazu kommt, dass ein Individuum „ganz anders fühlt, denkt und handelt, als es von ihm zu erwarten stand“.28 Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sagte: „Ich bin und war immer der Ansicht, daß die politischen Massenbewegungen unserer Zeit psychische Epidemien, das heißt Massenpsychosen sind.“29 Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset thematisierte den Massenwahn in den 30er Jahren. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zu Massenpsychosen beschränken sich meist auf die Darstellung einzelner spezifischer Ereignisse.30

Wir werden im Folgenden nicht den Begriff der Massenpsychose verwenden, auch wenn dieser am weitesten verbreitet ist. Der Begriff der Psychose wurde vorwiegend in einem früheren System der psychischen Erkrankungen verwendet. In diesem sogenannten triadischen System gliederte man psychische Krankheiten nach ihrer Entstehungsursache in die exogenen Psychosen (primäre Erkrankungen des Gehirns sowie körperliche Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Gehirn), die endogenen Psychosen (Wahn, Schizophrenie, schizoaffektive und manisch-depressive Erkrankungen) sowie die psychogenen Erkrankungen. Unter letztere zählte man die Erkrankungen, die sich keiner organischen Erkrankung zuordnen ließen, sondern die Reaktionen auf Lebensumstände sind, vereinfacht gesagt, die Neurosen. Damit waren grob zwei Begrifflichkeiten in die Welt gelangt, die Psychosen als psychische Erkrankungen aufgrund körperlicher Schädigungen oder Funktionsstörungen (Hardware) und die Neurosen als fehlerhafte Datenverarbeitung aufgrund etwa von Traumata, frühkindlichen Konflikten und nicht oder falsch gelernten Problemlösungsmodi. Problematisch war im triadischen System, dass man zugleich davon ausging, dass eine Psychose mit einem wahnhaften Realitätsverlust beim Kranken einhergeht und dieser keine Krankheitseinsicht zeigt, wogegen bei einer Neurose Realität und Krankheitseinsicht vorhanden sein sollten.

Bei diesem Wissensstand konnte es nicht gelingen, eine Störung, die die Massen befiel und deren Erforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen steckte, korrekt zuzuordnen. Wenn plötzlich große Massen in einen gemeinsamen psychischen Zustand geraten, ist es sehr unwahrscheinlich, dass plötzlich bei allen eine Hirnerkrankung auftritt, so dass man eher von einer Massenneurose als -psychose denken musste. Doch wiesen die Beispiele von Massenereignissen mit ihren hohen Opferzahlen und das oft völlige Versagen rationalen und moralischen Denkens so viele wahnhafte Züge auf, dass sich weitgehend der Begriff der „Massenpsychose“ etablierte, ein Begriff der nicht wirklich zufriedenstellen kann. Dementsprechend wurde er in der Folge auch in verschiedenster Art verwendet. Da Wahn mit einem Realitätsverlust einhergeht, der jedoch nicht organisch, sondern aufgrund fehlerhafter Softwaredaten entsteht, ist eine Zuordnung zu Psychose oder Neurose i. d. S. kaum sinnvoll. Wir werden daher hier allgemein den Begriff Massenwahn verwenden und in Kapitel 2 genauer diese Krankheit definieren.

Diese Arbeit greift verschiedene historische Ereignisse auf, aus denen wir über den Massenwahn lernen können. So werfen wir Blicke auf vielfältige Ereignisse aus unterschiedlichen Zeitepochen, schauen auf Hexenverfolgungen, Revolutionen, die heilige Inquisition, Genozide wie in Ruanda, im Dritten Reich und unter Pol Pott in Kambodscha. Auch betrachten wir die McCarthyzeit in den USA und Sekten, wie die Wiedertäufer in Münster. Außerdem werfen wir einen Blick auf die Gegenwart. Schließlich entsteht daraus ein kohärentes Bild des Phänomens Massenwahn. Die Beispiele ließen sich erweitern, etwa auf den Islamischer Staat in Syrien und den Irak oder die Taliban in Afghanistan; doch liegen dazu noch zu wenige psychologische Untersuchungen vor, so dass hier nicht näher darauf eingegangen wird.

Die historischen Darstellungen beabsichtigen nicht, die geschilderten Zeiten und Ereignisse in allen Einzelheiten und Komplexitäten darzustellen. Sie beschränken sich auf die Aspekte, die sich als psychologisch entscheidend erwiesen haben und für das Verständnis der Zeit und die Einordnung als Massenwahn unumgänglich sind; dies gilt insbesondere für den Nationalsozialismus, zu dem es umfassende weiterführende Literatur gibt.

Überraschenderweise ergibt sich aus den Vergleichen, dass Massenwahn i. d. R. nur zu gewissen Zeiten und unter besonderen Voraussetzungen auftritt und dass es verschiedene Stufen seiner Entstehung sowie seines Ablaufs gibt. Wir werden daher zuerst definieren, was Wahn und Massenwahn eigentlich ist (Kapitel 2). Danach untersuchen wir die Voraussetzungen für Massenwahn und sehen in welchen Zeiten er vorwiegend entstehen kann (Kapitel 3.1). Danach gehen wir auf die Stufen des Wahns ein, die ablaufen, sobald dieser einmal eingesetzt hat (Kapitel 3.2-3.6), um schließlich zu untersuchen, wie Massenwahn in der Geschichte jeweils geendet hat (Kapitel 3.7) und wie die Menschen danach mit ihren Erfahrungen umgingen (Kapitel 3.8).

Mit den gewonnenen Erkenntnissen werfen wir dann einen Blick auf die Täter und Opfer von Massenwahn (Kapitel 4). Dabei wird die Frage thematisiert, wieweit eine strafrechtliche Verantwortung durch die Täter gegeben ist und wie mit ihnen nach dem Ende der Wahnphänomene umgegangen wurde bzw. mit welchen Konsequenzen sie zukünftig zu rechnen haben sollten, damit sich Wahnphänomene mit all ihren Schrecken nicht mehr wiederholen. In Kapitel 5 betrachten wir, ob die Opfer von Massenwahn nach deren Beendigung entschädigt wurden bzw. wie dies in Zukunft geschehen sollte. Zum Abschluss schlagen wir in Kapitel 6 einige Maßnahmen vor, um Massenwahn in der Zukunft vorzubeugen. Am Ende jedes Kapitels steht jeweils eine Zusammenfassung, so dass die Inhalte schneller rekapituliert werden können.

1 BRANT 1497.

2 JUNG 1946a, 2021: 201.

3 JUNG 1946a, 2021: 202.

4 SCHULTE & TÖLLE 1972: VI.

5 BITTER 1965: 8.

6 ADORNO 1973.

7 BITTER 1965: 11.

8 BITTER 1965: 14.

9 KOGON 1965: 49.

10 MITSCHERLICH 1975: 44.

11 BITTER 1965: 277.

12 Vgl. BLANKENBURG 1992: 655.

13 MASI 2011: 280; GARLIPP & HALTENHOF 2015: 39.

14 KUIPER 1972; WULFF 2003.

15 ALTENBOCKUM 2021.

16 Vgl. BITTER 1965: 278.

17 A. A. 2014; A. A. 2021a; BRAUN 2010; GABRIEL 2017; GILGAMESH 2018; KERBUSK & SCHÄFER 2001; MALAMATINAS 2018; MESCHNIG 2021; RIEROLA 2020.

18 SCHMIDT 2001.

19 STOBBE 2012.

20 Z. B. REHDER 1923.

21 SIGHELE 1897: 20.

22 SIGHELE 1897: 21, 28.

23 SIGHELE 1897: 70.

24 SIGHELE 1897: 54.

25 SIGHELE 1897: 93, 100.

26 SIGHELE 1897: 44-45.

27 BON 2019.

28 FREUD 2019: 9.

29 JUNG 1946d, 2021: 261.

30 Vgl. BAGUS et al. 2021.

2. Wahn und Massenwahn

„Wer dich dazu bringt, Absurditäten zu glauben, bringt dich auch dazu, Ungeheuerlichkeiten zu tun.“31

François Marie Aouret Voltaire, 1694-1778, Französischer Philosoph.

Massenwahn lässt sich sowohl historisch als auch psychologisch untersuchen. Daher liegt eine interdisziplinäre Herangehensweise nahe, wenn man das Phänomen ganzheitlich verstehen möchte. Spricht man umgangssprachlich von Wahn oder Wahnsinn, so stellt der psychologisch nicht geschulte Normalbürger sich häufig völlig wirre Menschen vor, die ihre Kontrolle verlieren und unsinnige Dinge tun, manchmal sogar andere Menschen verletzen oder töten, etwa Amokläufer. Das ist jedoch nicht das, was das ICD-10, das Verzeichnis der Krankheiten, unter einer „Anhaltenden wahnhaften Störung“ unter der Nummer F22 meint. Bevor wir uns dem Massenwahn zuwenden, ist daher erst einmal zu klären, was denn Wahn überhaupt für eine Krankheit des Einzelmenschen ist.

Dabei muss man berücksichtigen, dass es bis heute noch keine allgemein anerkannte Definition des Wahns gibt.32 Das Wort „wan“ stand im Mittelhochdeutschen für eine ungewisse, „unbegründete Ansicht“ als „Gegensatz zu Wissen und Wahrheit“.33 Bis ins 18. Jahrhundert entwickelte sich die Bedeutung zu einer nicht der Wirklichkeit entsprechenden Meinung.34

Im Lexikon zur ICD10-Klassifikation heißt es heute: „Ein fehlerhaftes, aus krankhafter Ursache entstehendes, (im Sinne der Umwelt) irriges Urteil bzw. eine zum gegebenen Zeitpunkt nicht korrigierbare Überzeugung von unmittelbarer Gewissheit, meist auf die eigene Person bezogen (Eigenbeziehung), und damit eine Vorstellung, die mit der Wirklichkeit und den in der sozialen Gemeinschaft und der Kultur des Betreffenden geteilten Überzeugungen nicht übereinstimmt.“35 Diese Definition hat einige Mängel. Würde man ein fehlerhaftes Urteil in einem Menschen schon als Krankheit bezeichnen, müsste man sich fragen, ob es in der Menschheitsgeschichte jemals ein gesundes Individuum gegeben hat. Und überhaupt eine Krankheit damit zu definieren, dass eine krankhafte Ursache vorliegen müsse, ist nicht wirklich erkentnisgewinnend. Und wäre es eine Vorstellung, die nur mit der Überzeugung der Kultur und der sozialen Gemeinschaft nicht übereinstimme, so wäre Galileo Galilei im Wahn gewesen und wir wüssten vielleicht bis heute nicht, dass die Erde sich um die Sonne bewegt. Es ist gerade die Genialität, sich im Denken nicht von dem Massenglauben beeinflussen zu lassen, der die größten wissenschaftlichen Erkenntnisse hervorgebracht hat. Den gleichen Fehler hat eine andere Definition aus dem Jahr 1995: „Als Wahn bezeichnet man eine krankhafte falsche Beurteilung der Realität, die erfahrungsunabhängig auftritt und an der mit subjektiver Gewißheit festgehalten wird. Die Überzeugung steht also im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Überzeugung der Mitmenschen.“36 Hätte sich Einstein an die Überzeugung der Mitmenschen gehalten, wäre seine Relativitätstheorie nie entstanden. Auch wird der gleiche Fehler der Beschreibung von Krankheit durch „krankhaft“ gemacht. Ebenso ungeeignet ist die Definition als „krankhaft entstandener, unkorrigierbarer Irrtum“.37

Nach dem Historiker Eugen Kogon ist Wahn, wenn sich jemand „etwas vorstellt, was nicht wirklich ist, er es aber für wirklich hält“.38 Wie bei der Illusion täusche man sich, „im einen Fall vollständig, insofern das Vorgestellte überhaupt nicht existiert, in anderen Fall teilweise, indem man verkennt, was ist oder was sein könnte.“39 Diese Erklärung reicht ebenfalls nicht aus, denn dann müsste wohl jede philosophische Betrachtung mit Wahn assoziiert sein. Denn ist es nicht gerade die Vorstellung von möglichen Wahrheiten, die die Welt voran bringt?! Schauen wir uns die heutige Physik an, so lassen sich die Entstehung unseres Weltalles, Quantenphysik, ein holographisches Universum und die Zusammensetzung der kleinsten Bausteine der Materie in großen Teilen nur als Vorstellungen begreifen. So ist etwa der Urknall nur eine bisher nicht nachweisbare Vorstellung, ebenso wie Paralleluniversen oder schwarze Materie. Ob es das alles tatsächlich gibt, weiß bisher niemand sicher. Doch solche Vorstellungen sind notwendig, um nach Beweisen suchen zu können, die vielleicht eine von diesen Vorstellungen als Wahrheit nachweisen lassen. Niemand würde behaupten, dass sich unsere intelligentesten Physiker im Wahn befinden würden.

So sind in der Vergangenheit eine ganze Reihe an formalen und inhaltlichen Kriterien für Wahn geschaffen worden, die keine Klarheit brachten.40 Wahn hat somit nichts mit Fantasie, Vorstellungen oder von der Mehrheit der Menschen abweichenden Meinungen zu tun. Was ist aber dann das Kriterium?

Erkenntnisbringend sind einige ältere Definitionsversuche. Der Psychiater Professor Dr. Eugen Kahn schrieb 1929: Was für den… Nichtwahnkranken nicht mehr Wissen und Zweifeln, sondern Glauben und Irren ist, das ist für den… Wahnbildner eben Gewißheit.“41 Somit ist Wahn „eine Sache des Glaubens und nicht des Wissens“.42 Für die Erkrankten gebe es somit „nicht mehr die Frage: Ist es wirklich so?, sondern nur die Überzeugung: es ist so!“.43 Wahn beschrieb der niederländische Sozialpsychologe Kurt Baschwitz 1938 als ein „gewolltes Fliehen vor der Erkenntnis“, der sich „glaubenswütig gegen das Bewußtwerden seiner Unhaltbarkeit“ wehre. „Wahnhafte Feindseligkeit gegen jede bei den gewöhnlichen Irrtümern, auch den gemeinsamen Irrtümern, übliche und erwünschte Aufklärung ist das deutlichste Kennzeichen den mengenhaften Vernunfttrübungen, die in letzter Steigerung zum Massenwahn werden.“44 Blankenburg kam auf den Punkt: „Wahn besteht also nicht sosehr in der Vorstellung von irgendwas Verrücktem als vielmehr in der Unfähigkeit, es… in Zweifel ziehen zu können.“45

Kennzeichen des Wahns ist es also, dass eine bestimmte Meinung, Theorie oder Behauptung als absolut wahr und unumstößlich angesehen wird und zugleich jede Form von Überprüfung oder Infragestellung nicht nur abgelehnt, sondern strikt abgewehrt wird. Die Ansicht des Wahnkranken ist für ihn somit unkorrigierbar. Bitter schrieb: „Während der Irrende sich durch vernünftige Argumente, durch Richtigstellung des Tatsächlichen überzeugen und aufklären läßt, ist der Wahnkranke nicht von der Irrealität seiner Sinneseindrücke und Vorstellungen abzubringen.“46 Kahn beschrieb es so: „Er ist oder wird von seinen eigenen Inhalten bzw. von deren besonderer Bedeutung so durchdrungen, daß er gar nicht verstehen kann, wenn andere sie nicht gelten lassen, d. h., wenn für andere dieselben Inhalte andere Bedeutung haben. Denn der Wahnbildner muß recht haben, nur er kann und darf recht haben, weil er allein mit der nicht zu überbietenden subjektiven Gewißheit erlebt, die eben für ihn Wissen und Wirklichkeit bedeutet bzw. für ihn Wissen und Wirklichkeit ist.“47 Hierauf beziehen sich auch Huber und Groß. Wahn sind danach „inhaltlich falsche Überzeugungen, die nicht aus anderen Erlebnissen ableitbar sind, die mit unmittelbarer Gewissheit (apriorischer Evidenz) auftreten und an denen die Patienten bei erhaltener Intelligenz trotz der Unvereinbarkeit mit dem bisherigen Erfahrungszusammenhang und der objektiv nachprüfbaren Realität über längere Zeit oder dauernd und oft unbeirrbar und unzugänglich für Gegengründe (Unkorrigierbarkeit) festhalten.“48 „Einwände anderer, auch vertrauter Menschen, werden ignoriert, stoisch beiseitegewischt oder überheblich, verärgert, gelegentlich auch gereizt oder aggressiv zurückgewiesen. Was mit ihrem aktuellen Erleben nicht vereinbar ist oder ihm gar widerspricht, wird übergangen oder mit oft umständlicher Argumentation entkräftet, eine Relativierung, gar Korrektur der eigenen Überzeugung ist nicht möglich.“49

Das Interessante bei Wahnkranken ist, dass sie im Grunde als völlig normale Menschen erscheinen, die weder einen abnormen Geisteszustand, noch Symptome einer affektiven Psychose oder Schizophrenie aufweisen.50 Ursächlich für Wahnerkrankungen sind somit auch keine genetischen Dispositionen, sondern wohl fast ausschließlich psychosoziale Faktoren. Hier wird u. a. von einer Kombination von Persönlichkeitsstruktur in „Zusammenhang mit sozialer Isolation, Milieuwechsel und schweren Konflikten im internationalen Bereich“ ausgegangen.51 Auffällig ist die Unfähigkeit zum Perspektiventausch, d. h. der Wahnkranke „verfügt nicht über die notwendige Eigenbeweglichkeit, um sich aktiv – relativ frei – in andere Menschen – in die andere Perspektive derselben – hineinversetzen zu können“, bzw. zu wollen.52 Karl Jaspers sah 1913 drei Kennzeichen des Wahns, nämlich eine Außergewöhnliche Überzeugung in absoluter Gewissheit, die Unbeeinflussbarkeit und die Unmöglichkeit des Inhalts.53

Wahn beim Einzelnen umfasst meist nicht die ganze Person des Wahnkranken. Es kann sich um eine liebevolle, die Mitmenschen umsorgende Person handeln, die im Beruf erfolgreich ist, zu logischem Denken in höchster Form in der Lage ist und die erst einmal gar nicht als krank erscheint. Die Wahnvorstellung ist oft das einzige bzw. dominierende Symptom und die Person erscheint ansonsten als psychisch völlig normal. Gleichwohl kann es in dieser Person einen einzelnen oder mehrere Aspekte geben, wo der Wahn seinen Ausdruck findet. Das kann eine Ansicht zu Religion, Politik, Gesellschaft oder Wissenschaft sein, wo plötzlich eine völlige Blockade gegen jeden Einwand gezeigt wird. Aus der Religion kennen wir den Begriff des Dogmas als einen unumstößlichen Glaubenssatz, dem absoluter Wahrheitsanspruch zugeschrieben wurde und der nicht hinterfragt werden durfte. Ein Dogma „erhebt eine bestimmte Theorie zu der ewigen und unabänderlichen Wahrheit. Es ignoriert hochmütig alle neuen Tatsachen und weigert sich hartnäckig, geändert oder revidiert zu werden.“54

Ein Wahnkranker ist insgesamt also ein Mensch, der einem Dogma anhängt und jeden vermeintlichen Angriff darauf energisch mit absoluter Überzeugung und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abwehrt. Dabei ist er „für vernünftige Argumente nicht zugängig“55 Er besitzt ein Narrativ, das nicht in Frage gestellt werden darf, eine Realitätsgewissheit. Sofern in einer Person ein Dogma besteht, engt dies ihren Geist ein; die Person ist also nicht mehr in der Lage, ihr volles geistiges Potential zu nutzen. Denn ein Ideologe vergleicht die Ereignisse der Außenwelt mit seinem Dogma. Der Pragmatiker mit seinem gesunden Menschenverstand untersucht diese jedoch in allen Einzelheiten und hat so dir größere Wahrscheinlichkeit, die Wahrheit zu finden.56

Dabei kann sich das Dogma auf jeden möglichen Inhalt beziehen. Das Dogma, man sei unheilbar krank kennzeichnet den hypochondrischen Wahn, das Dogma, man werde verfolgt kennzeichnet den Verfolgungswahn und das Dogma Bibel oder Koran seien absolut wortwörtlich zu nehmen und zu leben, kennzeichnet den religiösen Wahn.57 Bekannt sind auch der Beeinträchtigungs-, Verarmungs-, Schuld-, und Liebeswahn. Aber auch alles andere ist möglich. Am bekanntesten ist wohl der religiöse Fanatismus, der sich aus Dogmen speist. Man findet ihn in vielen Religionen.

„Das Wahnmaterial, den Inhalt des Wahns, entnimmt die Persönlichkeit ihrem Erleben, ihren Erfahrungen, die eine gewisse zeitliche Bindung und daher vielfach eine zeitgenössische (kulturelle und zivilisatorische) Prägung haben.“58 „Auch historisch gewachsene Prägungen einer Gesellschaft… können sich im Wahn abbilden.“59 Insbesondere „ist der Glaube, daß die eigene Sicht die Wirklichkeit schlechthin bedeute, eine gefährliche Wahnidee. Sie wird dann aber noch gefährlicher, wenn sie sich mit der messianischen Berufung verbindet, die Welt dementsprechend aufklären und ordnen zu müssen – gleichgültig, ob die Welt diese Ordnung wünscht oder nicht.“60 Die Vielfalt des inhaltlich Möglichen zeigt, dass Wahn keine Krankheit als solche sein kann und auch keine Krankheit als Voraussetzung nötig ist, sondern eher als Folgestörung einer anderen psychischen Beeinträchtigung anzunehmen ist. Hierzu gibt es bereits einige Vermutungen.

Einfache Erklärungen reichen von einer Beeinträchtigung der Verstandesfunktionen über eine von Stress ausgelösten psychischen Erkrankung bis Freuds Aussage: „Das Irreale hat bei ihnen stets den Vorrang vor dem Realen.“61 Freud nahm allerdings bereits eine Externalisierung von intrapsychischen Konflikten an. Er ging gemäß seiner Triebtheorie davon aus, dass die Ursache für die Entstehung von Wahn in einer Versagung bzw. in einer Nichterfüllung von Triebwünschen liege. Da der Trieb im Inneren nicht befriedigt werden könne, werde eine äußere Realität geschaffen, die als real erlebt werde und einer Realitätsprüfung enthoben sei.62 Das „innerlich Aufgehobene kehrt von außen wieder“, schrieb er.63 Es handele sich um eine „Ich-Spaltung im Abwehrvorgang“.64 Es erfolgt also eine Projektion, bei der innere Bedürfnisse und Probleme, die nicht bewältigt werden können, in die Außenwelt verlagert werden. Wir werden sehen, dass dieser Aspekt wesentlich bei der Entstehung auch von Massenwahn ist.

Näher beschäftigte sich Eugen Kahn mit der Entstehung von Wahn. Als Ausgangspunkt nahm er eine als belastend empfundene psychische Ausnahmesituation an, bei der eine extreme Bedrohung empfunden wird“.65 Hintergrund von Wahnerkrankungen sei eine „tiefe Selbstunsicherheit“, „die gespeist wird von der Befürchtung, daß jede Anforderung, die die Mitmenschen und das Leben stellen könnten, die eigene Persönlichkeit bedrohen und gefährden werde“.66 Es geht also um eine extreme psychische Überforderung. Die Person befindet sich „in einer Gesamtsituation, die ihren vitalen Ansprüchen, d. h. letzlich ihren Triebansprüchen, aber auch ihren vitalen Möglichkeiten nicht entspricht. Sie erlebt diese Situation als eine Gefährdung und Bedrohung ihrer gesamten Vitalität“.67 Kahn schrieb: „Immer handelt es sich beim Wahnbildner um einen Menschen, der eine Bedrohung seiner Vitalität erlebt und aus dieser Bedrohung einen Ausweg, eine Rettung sucht. Die Bedrohung wird von außen her als eine Veränderung im Weltbild erlebt; es muß also – vom Wahnbildner aus gesehen – das Weltbild irgendwie nicht in Ordnung sein oder in Unordnung geraten sein. Da es nun der wahnbildenden Persönlichkeit bzw. der Persönlichkeit im Zustand der Wahnvorbereitung und Wahnbildung unmöglich ist, sich nach dem Weltbild zu richten,… bildet sie die Welt nach ihren Bedürfnissen und Wünschen um, zwingt sie gewissermaßen in die Welt… hinein… Durch den Wahn werden – sei es für kürzere, sei es für längere Zeit – die Lücken des Weltbildes, der Weltanschauung, geschlossen.“68 „Wird die vitale Gefährdung in einer bestimmten Spannung, mit einer bestimmten antinomischen Proportion erlebt, so wird die Spannung und mit ihr die objektive Wirklichkeit unerträglich. Dann wird die Persönlichkeit aus der unerträglich gewordenen objektiven Wirklichkeit in die subjektive Wirklichkeit des Wahns gedrängt. Während der Persönlichkeit in der objektiven Wirklichkeit jeder Ausweg versperrt erschien, vermag sie sich in der subjektiven Wirklichkeit des Wahns die Auswege zu verschaffen, die ihr – ganz oder wenigstens bis zu einem gewissen Grade – Entspannung versprechen.“69

Hier gilt dasselbe wie bei der Schizophrenie, zu der der Psychiater Professor Dr. Silvano Arieti schrieb: „Man muss „verstehen, daß für den Patienten die Notwendigkeit besteht, die Welt in anderer Weise zu sehen. Dr. Urs Anhalt stellte völlig korrekt fest, dass die Betroffenen beratungsresistent sind und keine alternativen Erklärungen der Ärzte für ihren Zustand akzeptieren.70 Es ist sinnlos, ihm klarmachen zu wollen, daß er unrecht hat“.71 „Mit Vernunft und Argumenten kann man gegen gewisse Worte und Formeln nicht ankämpfen.“72 Er ist „sich nicht im Klaren darüber, daß eine Verwandlung in ihm stattgefunden hat. Er glaubt vielmehr, daß sich die äußere Welt verändert habe“.73 Der Wahnkranke fürchtet die Wahrheit und reagiert ausfällig, wenn jemand „nur im geringsten die Richtigkeit seiner Vorstellungen“ antastet.74

Wahn ist damit erstmal keine Krankheit an sich, sondern ein hilfloser falscher Versuch, mit einer zu starken Differenz zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit umzugehen. So wie alle Ideologien und Dogmen nach Dr. Johannes Gottfried Thieme ein „Versuch des sich entwickelnden Geistes sind, einfache Antworten auf komplizierte Probleme zu finden, die er noch nicht ganz verstehen kann“, so ist Wahn letztlich der völlig übersteigerte Versuch, mit einer solchen Differenz innerlich fertig zu werden. Kahn schrieb daher entsprechend: „Man wird nicht zu vergessen haben, daß es auch Zweck des Wahns ist, gerade dort sinnvolle Zusammenhänge für den Kranken zu schaffen oder zu vermitteln, wo er sich zunächst einem undurchdringlichen Chaos gegenüber sieht, wo sein aufs schwerste erschütterte Bedeutungs- und Beziehungserleben Haltepunkte sucht, die ihm die objektive Realität nicht bieten kann.“75 Es kommt somit beim Wahnkranken zu einer „Umbiegung und Verzerrung der Wirklichkeit“76 ins Irrationale. Auch dieser Aspekt zeigt sich bei der Ausbildung von Massenwahn sehr deutlich.

In ähnlichem Sinne verstehen die Professoren Petra Garlipp und Horst Haltenhof Wahn als einen „psychoreaktiven, aus biographischer und psychodynamischer Perspektive vielfach nachvollziehbaren Bewältigungsversuch einer unbewältigten Lebensthematik“.77 Wahn entsteht damit nicht als solcher in einer Person, sondern benötigt „intensiv wirkende Außenfaktoren“, also ein Zusammenwirken von Persönlichkeit und Umwelt.78 Innerer und äußerer Anteil müssen somit zusammenwirken, damit sich ein Wahn ausbilden kann.

Nun wird natürlich nicht jeder wahnkrank, nur weil sein Denken nicht mit dem der Außenwelt übereinstimmt. Es bedarf hierzu eines weiteren emotionalen Aspekts, nämlich der Angst. Wie wir in Kapitel 3.2 noch sehen werden, ist Angst ein wesentlicher Begleiter jeden Wahns.

Im Folgenden sehen wir als ursächlich für Wahn eine Veränderung im Außen, die das bestehende Weltbild für ein Individuum subjektiv nicht mehr als kohärent erscheinen lässt, was aufgrund fehlender eigener Stärke als Bedrohung empfunden wird und Ängste auslöst. Wahn definieren wir als verzweifelten Versuch zur Wiedererlangung eines wieder einheitlichen Weltbildes und damit verbundener neuer innere Ruhe und Sicherheit durch Umdeutung der Wirklichkeit mittels eines Dogmas, das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt wird.

Vom Inneren her sind daher die Menschen für Wahn am anfälligsten, die kein eigenes Selbst ausgebildet haben und noch von Traumata, Ängsten, ihrem inneren Kind und Selbstzweifeln gesteuert werden.79 Wer seinen stabilen Selbstwert völlig ausgebildet hat, ist andererseits weitgehend gegen Wahn immun, wobei es nicht zwei klar voneinander abgrenzbare Zustände gibt, sondern ein Kontinuum zwischen von außen gesteuert auf der einen und Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Eine völlige Ausbildung des Selbstwertes und damit eine absolute Freiheit von der Möglichkeit einem Wahn zu verfallen, haben wohl nur die wenigsten Menschen. Es kommt vielmehr darauf an, wie stark, intensiv, wiederkehrend und andauernd Druck von außen auf die noch nicht überwundenen inneren Anteile ausgeübt wird. Erfolgt der Druck von außen schwach, verfallen nur wenige Menschen einem Wahn, wird er erhöht und auf die richtigen Schwachstellen gerichtet, können immer mehr Menschen in Wahn abgleiten.

Wie schnell oder langsam jemand in einen Wahn fällt, hat nicht unbedingt mit dem im außen gespürten Leid zu tun. Wer schon früh dem Wahn verfällt, für den ist erst einmal scheinbar die Differenz von Innen und Außen überwunden und er kann dumpf und im Außen ruhig weiterleben. Schwieriger wird es für die Menschen mit einem schon teilweise gut ausgebildeten Selbst. Sie stehen nämlich vor der inneren Entscheidung, dem Selbst treu zu bleiben und negative Auswirkungen im Außen hinnehmen zu müssen, oder ihre Selbstanteile zugunsten einer scheinbaren Ruhe im Außen aufzugeben. Beides ist bei ansteigendem Druck von außen extrem kräftezehrend.

Menschen lassen sich in einem Massenwahn nicht nur „zu äußerlichem Gehorsam zwingen, sondern darüber hinaus ihre normale Meinungsbildung umbiegen; dies äußert sich darin, daß sie während der Dauer des widerwillig ertragenen Zwanges auch Handlungen gutheißen und Gesinnungen zur Schau tragen, die im Widerspruch stehen zu ihrem eigenen besseren Wissen und den von ihnen sonst befolgten Forderungen ihres Rechtsgefühls und ihrer Selbstachtung.“80 Betrachten wir dazu beispielhaft den indirekten Impfzwang in der Coronazeit: Wer sich allein vom Außen lenken ließ, vertraute Staat, Politik, Medizin und Medien und ließ sich schnell die Injektionen verabreichen, boostern und das gerne auch mehrfach. Damit war für diese Menschen scheinbar alles wieder im Lot. Es gab jedoch viele Menschen, die den genverändernden Substanzen in den Sera nicht trauten und denen ihr weiter entwickeltes Selbst von einer solchen „Impfung“ abriet. Viele davon folgten schließlich den Impfaufforderungen doch, da sie staatlich angeordnete Nachteile im Außen nicht in Kauf nehmen wollten, wie eingeschränkte Reisemöglichkeiten, Betretungsverbote von Discotheken, Schwimmbädern und Kinos. Dies wurde für einige Berufsgruppen noch extremer, wie etwa Personal im Pflege- und Medizinwesen, für die u. a. in Deutschland eine Impfpflicht eingeführt wurde. Der Konflikt Impfung oder Verlust der Arbeitsstelle steigerte den Druck und viele ließen sich gegen ihre innere Überzeugung impfen. Nur wenige blieben standhaft, hörten auf ihr inneres Selbst und nahmen im Außen Nachteile bis hin zum Jobverlust hin. Letztere sind die Menschen mit einem sehr stabilen Selbst. Sie haben Probleme im Außen (finanziell, Arbeit, Wohnen), sind psychisch jedoch gesund. Sie leiden also möglicherweise an materiellen Verlusten, nicht aber an innerpsychischen Problemen. Ihr Leben wird sich wohl wieder zurechtruckeln. Denn diese Menschen sind innerlich so stark, dass sie Probleme im Außen auch zukünftig meistern.

Schlimmer steht es langfristig um die Menschen, die dem Druck irgendwann nachgegeben haben, obwohl ihr Inneres davon abriet. Sie haben ihr Selbst verraten. Da sie dem Wahn nicht verfallen sind, kann sich bei ihnen eine scheinbare Erleichterung, wie bei den tatsächlich Wahnkranken, nicht einstellen. Sie haben mögliche Nachteile im Außen vermieden, jedoch den Kampf im Inneren verloren und werden darauf oft mutlos, geben sich auf oder werden inaktiv. Sie sind die Menschen, die der höchsten Gefahr unterliegen, statt in den Wahn, in eine Depression zu entgleiten. In eine Depression können auch die Personen gelangen, die zwar ein starkes inneres Selbst besitzen, sich jedoch noch nicht vom Materiellen lösen können. Dessen Überwindung ist eine sehr wichtige Voraussetzung, um das innere Selbst leben zu können.

Als Folge der Coronazeit werden wir wahrscheinlich in den westlichen Gesellschaften wohl noch über Jahrzehnte psychische Probleme zu bearbeiten haben. Und auch die, die sich noch ruhig im Wahn befinden, werden irgendwann mit den Realitäten konfrontiert werden und dann in ein tiefes psychologisches Loch fallen. Um so wichtiger ist es, für die Zukunft die psychotherapeutischen Hilfen für die Menschen zu erweitern und ihnen zu helfen, ihre innere Stabilität zu finden. Das ist schon beim Wahn des Einzelnen eine große Herausforderung für jeden Therapeuten. Erheblich größer ist sie bei einem Massenwahn, wo große Teile der Bevölkerung einschließlich vieler Therapeuten auf Abwege geraten. Was ist nun aber ein Massenwahn?

Schauen wir zuerst darauf, was Massenwahn nicht ist, uns aber vielleicht Hinweise gibt, warum er aus evolutionärer Sicht entstanden sein könnte.

Der Begriff des Massenwahns wird, anders als im ICD10, manchmal für Situationen verwendet, wo Menschengruppen einer kollektiven Panik verfallen, also für Massenpanik (manchmal auch Massenhysterie genannt). Es geht dabei um ein plötzliches Fluchtverhalten einer Menschenmenge, bei der es häufig zu Verletzten und Toten kommen kann, die durch die Flüchtenden niedergetreten oder gedrückt werden. Beispielsweise verstarben im Sommer 1990 in einem Tunnel in der Nähe des muslimischen Heiligtums Mekka 1426 Pilger. Sie hatten im Tunnel Schutz vor der großen Hitze gesucht. Was genau die Panik auslöste, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber sie ergriff immer mehr Menschen, bis schließlich alle zu den Ausgängen drängten und dabei auf Gestürzte traten. Anwesende berichteten: „Alle schnappten verzweifelt nach Luft. Jeder kämpfte gegen jeden.“ „Wir glaubten, ersticken zu müssen.“81 2021 kam es einem Pilgerfest am Berg Meron zu einer Panik mit 45 Toten.82 Ähnlich war es 2010 bei der Loveparade in Duisburg. Dort kam es zu einer grauenhaften Panik, als Menschen durch einen 120 Meter langen Tunnel drängten. Dabei wurden einige von einer Treppe abgedrängt und stürzten „aus drei, vier Metern Höhe auf andere Partygäste herab. „Das war der blanke Horror“ sagte der Schüler Dustin.83 „´Die Leute haben geschrien und geweint, und es sind immer mehr Menschen nachgedrängt.` Unmittelbar neben ihm sei ein Mädchen gestorben, sagt Dustin. ´Die ist erdrückt worden.` Ein anderes Mädchen, das bereits blau angelaufen war, habe er durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbelebt. Kurze Zeit später habe er sich selbst kaum mehr bewegen können. ´Auf mir lagen zwei Leute, das war so eng, dass meine Füße in dem Menschenhaufen stecken geblieben sind. Ich habe kaum mehr Luft gekriegt.` Schließlich hätten ihn Rettungssanitäter herausgezogen. ´Ich hatte schon mit dem Leben abgeschlossen`“.84 Beim Global Citizen Festival in New York gab es 2018 ebenfalls eine Massenpanik.85 Nun muss man sich ja fragen, warum fast alle Menschen in eine Richtung laufen, nur weil andere es tun. Was führt zu solch schrecklichen Ereignissen, die überhaupt keinen Sinn machen? Hat das vielleicht einen evolutionären Hintergrund? Schauen wir dazu einmal auf das Phänomen der Massenpanik.

Heute sind solche Panikreaktionen tatsächlich meist kontraproduktiv. Doch sind unsere psychologischen Grundlagen in den letzten Jahrmillionen entstanden, als wir noch in kleinen Gruppen von etwa zwanzig Mitgliedern in einer lebensbedrohenden Umwelt mit vielen Gefahren lebten. Damals konnte bei einer solchen Steinzeitgruppe z. B. ein Leopard auf Beutezug nach schmackhaften Homo habilis-Menschen sein. Griff er an und ein Steinzeitmensch sah ihn, hätte es viel zu lange gedauert, den anderen Gruppenmitgliedern erst umständlich die Situation zu erläutern. Rannte einer der Gruppe panikartig davon, war für die anderen sofort völlig klar, dass eine große Gefahr drohte. Er würde ohne Gefahr nicht so kopflos davonrennen, das wussten sie. Daher machte es Sinn, diesen Fluchtreflex zu übernehmen und ebenfalls loszurennen. Bei solch kleinen Gruppen in weiter Natur bestand keinerlei Wahrscheinlichkeit, dass man sich gegenseitig tottrampelte; es war Platz genug da. Eine fluchtartige Panik eines einzelnen konnte somit das Überleben aller Gruppenmitglieder retten. Wir erleben das Verhalten ebenso bei Gruppen von Vögeln oder Rehen, Kaninchen oder Murmeltieren. Düst einer los, folgen alle anderen.

Für uns Menschen hat sich die Situation heute allerdings verändert. Statt in kleinen Gruppen wohnen wir in Städten mit manchmal mehreren Millionen Einwohnern und nehmen an Großveranstaltungen mit tausenden Besuchern teil. Läuft alles los, gibt es keinen Überblick mehr, zumal Wege und Zugänge oft eng und verworren sind. Da sich unsere psychologischen Mechanismen in den letzten zwei Jahrtausenden der Kulturentwicklung noch nicht anpassen konnten, wird die einst sinnvolle Panikreaktion nun zur Gefahr. Veranstalter und Baugenehmigungsbehörden müssen dies kennen, um Stadien und Areale für Großevents so zu gestalten, dass in einer Panik möglichst niemand zu Schaden kommt.

Es gibt neben der Panik noch andere interessanten Phänomene. Im Jahr 2000 brachte man 38 belgische Schüler wegen Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber nach dem Verzehr von Coca-Cola-Getränken in Krankenhäuser. In den Benelux-Staaten wurden darauf 80 Millionen Colaprodukte vernichtet und wie in Frankreich der Verkauf von Getränken der Firma verboten. An der New Yorker Börse fiel die Aktie des Konzerns. In den Produkten wurde jedoch nichts gefunden, was die Symptome hätte auslösen können und die Mediziner konnten sich alles lediglich mit einer Massenpsychose erklären. Interessant war, dass manche der erkrankten Schüler die Symptome nur bei den Mitschülern gesehen und selbst gar nichts vom Getränk zu sich genommen hatten.86 So merkwürdig das erst einmal erscheinen mag, auch hier macht das Verhalten Sinn, wenn wir wieder an eine Steinzeitgruppe denken. Hätte einer dort etwas gegessen, das schlecht oder giftig war, war es sehr wahrscheinlich, dass andere Gruppenmitglieder es auch gegessen hatten. Also besser eine Übelkeit oder ein Erbrechen des anderen übernehmen und auch erbrechen als hinterher eine Vergiftung zu bekommen. Wenn wir vielleicht einmal lange auf einem schwankenden Schiff im Sturm waren und sehen und riechen, wie sich andere übergeben, braucht es nicht viel und wir selbst müssen auch gegen ein Erbrechen ankämpfen. Für uns als Steinzeitmensch war das an Land ein noch sinnvoller Mechanismus. Heutzutage ist es nur noch unangenehm.

Leider kann eine Übernahme von Symptomen anderer noch weiter gehen. 1787 soll eine Maus in einer englischen Baumwollmanufaktur bei einer Arbeiterin zu Schwächeanfällen geführt haben, worauf in den folgenden Tagen weitere 23 Arbeiter gleiche Symptome zeigten. Nach Schließung des Betriebes und ärztlicher Untersuchung auf schädliche Stoffe in der Baumwolle zeigte sich, dass alles eine rein nervliche Ursache hatte.87 2021 zeigten zahlreiche junge Mädchen tourette-artige Symptome (unkontrollierte Bewegungen, Zuckungen, Sprachstörungen, verbale Ausbrüche) nachdem sie ein Video über diese Krankheit gesehen hatten. Das Phänomen breitete sich in englischsprachigen Ländern aus und betraf vorwiegend Menschen, bei denen zuvor Angstzustände und Depressionen, meist in Folge der Corona-Pandemie, diagnostiziert worden waren.88 In dem kleinen Ort Welsh in Louisiana erkrankten nach und nach Schülerinnen an Schwindelanfällen, ohne dass eine körperliche Krankheit diagnostiziert werden konnte. Auch hier deutete alles auf eine Massenhysterie.89 Auf der Durchreise von Prinzessin Margaret sanken Jugendliche im englische Ort Blackburn „reihenweise hin, mit Heulen und Zähneklappern, Bauchgrimmen und sogar Anzeichen von Lähmung; neun mußten ins Krankenhaus“.90 Ein merkwürdiges Ereignis ereignete sich 1951 in französischen Dorf Pont-Saint-Esprit, das Dr. Utz Anhalt berichtet: „Hunderte von Menschen litten unter Anfällen von Wahnsinn und Halluzinationen. Ein Mann versuchte, sich selbst zu ertränken und glaubte, sein Bauch sei mit Schlamm gefüllt. Ein 11jähriger, versuchte, seine Großmutter zu strangulieren; ein anderer Mann sprang aus dem Fenster und brüllte: „Ich bin ein Flugzeug.“ Er brach sich beide Beine. Ein Mann glaubte, sein Herz verlasse durch die Beine den Körper. Andere sahen Blumen aus ihrer Brust wachsen oder meinten, ihre Köpfe verwandelten sich in geschmolzenes Blei. Fünfzig Bewohner des Dorfes landeten in der Psychiatrie, und fünf starben.“91 Untersuchungen ergaben weder Vergiftungen noch sonstige Ursachen. Im Elsaß kam es im 16. Jahrhundert zu einer merkwürdigen Tanzpsychose, der viele Menschen verfielen. „In Straßburg, dem Zentrum der Bewegung, tanzten anfangs nur wenige Menschen; am Ende des Sommers 1518 jedoch vollführten hunderte die wildesten Sprünge, wälzten sich auf dem Boden und konnten nicht aufhören, obwohl sie vollkommen erschöpft waren. Dutzende starben an Herzstillstand oder Schlaganfall. Hunger, die Angst vor Seuchen und psychischer Stress waren vermutlich die Ursache für diese psychogene Massenhysterie.“92

Wir sehen daran, Nachahmung kann in manchen Fällen hilfreich sein. Doch in vielen Situationen passt dies nicht mehr in unsere moderne Gesellschaft. Eine einstige Überlebensstrategie erweist sich in unserer Massengesellschaft als nachteilig. Es muss sich nicht immer um Fluchtreaktionen oder körperliche Symptome handeln, auch psychische Störungen können vom einen auf den anderen Menschen übertragen werden. Schauen wir uns dazu einmal die induzierte wahnhafte Störung an.

Die induzierte wahnhafte Störung (ICD10 F24) ist in der Psychologie schon lange bekannt und wurde unter verschiedenen Bezeichnungen beschrieben, wie “Folie à deux” (Geistesstörung zu zweit), „induzierte Psychose“, „psychotische Ansteckung“, „induzierte wahnhafte Störung“, „symbiotische Psychose“, „symbiotischer Wahn“ oder „gemeinsame psychotische Störung“. In den meisten Fällen geht es dabei um zwei Personen, z. B. Ehepaare oder Geschwister, die zusammenleben und eine starke emotionale Bindung besitzen.93

Eine der beiden Personen, die induzierende Person, ist wirklich primär psychisch krank und leidet etwa unter Schizophrenie, Paranoia oder Ichstörungen und hat Wahnvorstellungen. Dieser primär Erkrankte hat in der jeweiligen zwischenmenschlichen Beziehung die dominierende und aktive Rolle. Mit seinen Wahnvorstellungen, kann er ein komplexen Wahnsystem erschaffen, wobei der Wahn sich auf eine große Zahl an Möglichkeiten beziehen kann, wie Bedrohungen durch feindliche Mächte, Verfolgungsideen, dem Ausgesetztsein von tödlichen Viren und Bakterien, Schädigungen durch Geister, Entführung durch Außerirdische oder was auch immer das menschliche Gehirn an Schrecken erdenken kann.

Die andere Person, der induzierte Partner, ist eigentlich psychisch völlig gesund. Sie ist jedoch in der Zweierbeziehung der schwächere und passivere Teil, manchmal auch seelisch labil, abhängig oder unterwürfig.94 Da ihr Kraft, Kenntnisse oder Wille fehlen, versucht sie sich dem Partner in der Beziehung anzupassen und übernimmt nach und nach kritiklos dessen Wahnideen, denen sie ständig ausgesetzt ist. „Der Patient mit der primären Erkrankung… bürdet die Wahnvorstellung dem Patienten mit der sekundären Störung auf oder überzeugt ihn von den ungewöhnlichen Überzeugungen.“95 Es erfolgt somit eine Übertragung einer Wahnvorstellung von einer erkrankten Person auf einen nahestehenden gesunden Menschen. „Wie bei anderen psychotischen Störungen können auch akute Stress- und Angstzustände eine Rolle spielen.“96 Nach und nach verstärken dann beide gegenseitig den Wahn, so dass dieser stärker und umfassender werden kann.

Das Krankheitsbild der induzierten wahnhaften Störung ist derzeit noch stark unterdiagnostiziert und es besteht besonders „ein Mangel an Evidenz von hoher Qualität in Bezug auf die Behandlung wahnhafter Störungen“ insgesamt.97 Es sind weitere Forschungen dringend erforderlich.98 Daher ist es auch sehr schwierig, geeignete Therapien zu finden. Auf jeden Fall ist es erforderlich, die beiden Personen als erstes voneinander zu trennen. Der induzierende Teil muss hinsichtlich seiner Grunderkrankung psychotherapeutisch betreut werden. Nach einer Trennung gelingt es dem passiven Teil in manchen Fällen, das Wahnverhalten zu erkennen. Dieses wird „in Abwesenheit des Hauptakteurs schwächer oder verschwindet ganz. Dies weist darauf hin, dass die Suggestion dabei eine Schlüsselrolle spielen könnte“.99 Ohne Behandlung kann die Wahnerkrankung chronisch werden.100 Problematisch ist dabei besonders, dass die Betroffenen häufig keine Krankheitseinsicht besitzen und somit in der Psychotherapie nicht zur Mitarbeit bereit sind. Insgesamt gesehen gibt es zwar Versuche für Therapien, doch herrscht zumeist die Meinung, dass chronische Wahnkrankheiten therapeutisch kaum beeinflussbar sind.101

Der Nervenarzt Professor Dr. Volker Faust sieht als Ursache der Wahnübernahme, dass die induzierte Person durch die Erkrankung des Partners in eine Zwickmühle gerät, entweder die „abstrusen Ideen abzulehnen und dadurch die Beziehung zu gefährden oder… sie erst passiv, mit der Zeit aber auch aktiv anzunehmen oder gar auszubauen“ und damit eine "Wir-Identität" mit Aggressiver Abgrenzung nach außen zu gestalten.102 Das Wahnthema bildet dann „eine verlässliche Norm bei sonst ja diffusem, verwirrendem, vielleicht sogar bedrohlichem Umfeld. An einem konkreten Wahnthema… kann man sich halbwegs orientieren. Und wenn es zu einem regelrechten Wahnsystem geworden ist, dann ist die scheinbare Sicherheit noch größer, auch wenn es sich aus objektiver Sicht um abstruse Hirngespinste handelt. Dies wird umso wichtiger, je mehr die Betroffenen durch entsprechende Reaktionen der Umgebung in die Enge gedrängt werden, was ihnen nur die Richtigkeit ihrer Vorstellungen bestätigt.“103

Gelegentlich sind auch mehr als zwei Menschen betroffen; man spricht dann von einer "Folie a trois" bzw. einer "Folie a famille".104 Wenn viele betroffen sind, wird gelegentlich die Bezeichnungen „Psychotische Epidemie“, „kollektiver Wahn“105 oder „infektiöse Neurose, die das Absurde als vernünftig erscheinen läßt“106 verwendet. Die Anzahl der Personen mit induziertem Wahn muss sich nämlich nicht auf einen oder wenige Familienangehörige beschränken, sondern kann größere Menschenmengen umfassen. Notwendig ist dabei lediglich, dass diese Menschen durch den eigentlich Wahnkranken fortwährend beeinflusst werden und sie sich diesem Einfluss nicht entziehen können. Sicher war dies eine Konstellation, die früher vorwiegend in Ehe und Familie vorherrschend war, so dass die von der Psychologie zuerst erkannten Beispiele von induziertem Wahn von dort kamen und man davon ausging, dass sie nur für kleinere Strukturen gelte. Das war jedoch ein Irrtum. Spätestens seitdem mittels Büchern, Kirchenkanzeln, Zeitungen, Radio, Fernsehen, Internet etc. Medien zur Verfügung stehen, die im Guten wie im Schlechten Menschen kontinuierlich mit Informationen versorgen, ist nach oben keine Personenzahlbegrenzung mehr haltbar. Baschwitz wusste schon 1938: „Völker können, wie der Einzelmensch, neurotisch werden; durch Angstvorstellungen und Wahnbilder mitgerissen, können sie in Abenteuer geraten, die für sie selbst und andere lebensgefährlich sind.“107 Anders als beim Erzählen oder Handeln eines einzigen Kranken gegenüber einem oder wenigen kontinuierlich anwesenden Familienmitgliedern, kann über die Medien ein sehr großer Empfängerkreis erreicht werden. Die Gefahr, dass über die Medien ein Wahn induziert werden kann, ist besonders dann groß, wenn die Medien nicht unabhängig voneinander vielfältige Daten und Meinungen verbreiten, sondern unisono in eine Meinungs- und Gefühlsrichtung wirken. Und die Gefahr ist dann am größten, wenn sich der Großteil der Medien in der Hand einiger weniger befinden, die sie finanzieren und/oder kontrollieren. Geraten diese wenigen in einen Wahn, können sie ihre Medien perfekt einsetzen, um ihren Wahn auf große Teile der Bevölkerung zu induzieren, so dass ein induzierter Massenwahn entstehen kann. Professor Gerald Hüter schreibt zu Recht: „Manchmal irren sich sogar alle Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft und geraten in eine Sackgasse, werden krank und kommen um, wenn sie dort nicht wieder herausfinden.“108

Im Lexikon der Neurowissenschaft wird die Massenwahn definiert als „psychotische Verhaltensweisen von Menschen in einer Massensituation, wobei vernunftgesteuertes Ver-halten durch induziertes irrationales, möglicherweise wahnhaftes Verhalten ("Massenwahn") ersetzt wird und realitätsgerechte Ich-Funktionen aufgegeben werden.“109 Die Kennzeichen des induzierten Massenwahns sind die gleichen, wie die des induzierten Wahns bei einzelnen Menschen. Die von den Medien ausgesendeten Daten, Emotionen und Meinungen werden von all den sich noch nicht im eigenen Selbst befindenden Menschen in Zeiten von Veränderungen und Ängsten vollumfänglich aufgenommen und als einzige Wahrheit betrachtet.

Der Psychotherapeut Professor Dr. Paul Watzlawick stellte für normale Zeiten fest, dass eine enge Verbindung zwischen der vermeintlichen Wirklichkeit und der Kommunikation besteht. Er sah, dass „das wacklige Gerüst unserer Alltagsauffassungen der Wirklichkeit im eigentlichen Sinne wahnhaft ist, und daß wir fortwährend mit seinem Flicken und Abstützen beschäftigt sind – selbst auf die erhebliche Gefahr hin, Tatsachen verdrehen zu müssen, damit sie unserer Wirklichkeitsauffassung nicht widersprechen, statt umgekehrt unsere Weltschau den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen.“110 Je nachdem, wie durch Kommunikation Einfluss genommen wird, entstehen „ganz verschiedene Wirklichkeiten, Weltanschauungen und Wahnvorstellungen“.111 Dabei muss der Wahninhalt selber weder logisch noch kohärent sein, um voll anerkannt zu werden. Freud schrieb: „Bei den Massen können die entgegengesetztesten Ideen nebeneinander bestehen und sich miteinander vertragen, ohne daß sich aus deren logischem Widerspruch ein Konflikt ergäbe.“112 Der russische Psychologe Wladimir Michailowitsch Bechterew schrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Der Wahn und die kranke Denkungsart eines Irren galt nun für musterhaft und nachahmungswürdig bei einer Bevölkerung, die bis dahin von gesundem Urteil und gesunden Anschauungen durchdrungen schien.“113

Ebenso wie bei einzelnen Wahnkranken kommt es in der Masse nicht darauf an, wie hoch der Bildungsstand oder die Vernunftfähigkeit der Massenmitglieder ausgebildet ist. Baschwitz erkannte: „Die Umstände, die einen Massenwahnzustand hervorrufen, haben mit den geistigen Qualitäten der Beteiligten nichts zu tun.“114 „Die Verbesserung der Volksbildung, die Ausbreitung von Wissen bieten hiernach keinen Schutz vor dem plötzlichen Umsichgreifen erschreckender, gemeinsamer Geistesverirrungen; denn diese seien ganz unabhängig vom Bildungsgrad der davon Befallenen; sie zögen keineswegs nur die so genannten gewöhnlichen Leute in ihren Bann, sondern erwiesen ihre verheerende Wirkung auch an den durch Wissen und Denkschulung aus der Menge hervorragenden Köpfen.“115 Der britische Psychologe William McDougall sah, dass in einer Masse die Menschen vernünftigen Beweisen unzugänglich werden,116 also ein gleiches Verhalten wie bei den einzelnen Wahnkranken. Die Menschen im Massenwahn können die Lügen nicht erkennen und wollen dies auch gar nicht. Insoweit kann man ihnen mit Fakten und Rationalität nicht kommen. In der Menge werde ein Gemütszustand hervorgerufen, den „diese Menschen in gemeinsamer Verblendung Handlungen gutheißen, zu denen jeder Einzelne von ihnen zu klug, - meist auch zu gebildet, oft zu gerecht, zu gütig, zu menschlich ist.“117 Noch deutlicher äußerte sich Gustave Le Bon. Ihm zufolge steigt der Mensch „allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein,… mehrere Stufen von der Leiter der Kultur herab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar.“118