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Mathildas (15) erste Begegnung mit Milad (17) ist ziemlich aufregend: Sie reißt ihn auf einem Bahnübergang von den Schienen, im letzten Augenblick, bevor der Zug kommt. Nein, stellt sich heraus, er wollte sich nicht umbringen, nur den Kick spüren. Mats – so nennt sich Mathilda – und Milad verlieben sich heftig ineinander, sie, die Außenseiterin der Klasse, und er, der in der Autowerkstatt seines aus dem Libanon stammenden Vaters arbeitet. Doch schon bald beginnen die Probleme: Die schöne Alex findet, dass Milad ziemlich gut aussieht, und David, der immer mal wieder mit der Naziclique des Orts abhängt, hat sich in Mats verguckt. Diese Naziclique wird richtig aktiv, als sich herausstellt, dass das Asylbewerberheim der Nachbarstadt asbestverseucht ist und die Geflüchteten neu verteilt werden müssen. Und schon melden sich auch überall im Ort »Besorgte Bürger«, die vor den Ausländern warnen. Als dann das Sportheim in Flammen aufgeht, wird es für Mats & Milad wirklich dramatisch …
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Seitenzahl: 250
EVA ROTTMANN, geb. 1983 in Wertheim, lebt mit ihren Kindern in Zürich, schreibt Theaterstücke und Prosa, entwickelt eigene Performance- und Theaterprojekte, arbeitet als Literaturvermittlerin in Schulklassen und als Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule der Künste. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt war sie mit ihrem Klassenzimmerstück Die Eisbärin für den KinderStückePreis der Mühlheimer Theatertage nominiert.
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Copyright © 2021 Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Coverabbildung: © Skero
Druck und Bindung: Livonia Print
Printed in Latvia
eISBN 978-3-96428-140-1(PDF)
www.jacobystuart.de
Eva Rottmann
ODER: NACHRICHTEN VOM ARSCH DER WELT
1ICH RETTE EIN LEBENODER: IN DER VIERTEN SEKUNDE BEGINNT DIE VERGANGENHEIT
2MADAME POMPADOUR BADET IN MILCHODER: ALEX, DIE TODESSPINNE
3OB-LA-DI, OB-LA-DAODER: WILLKOMMEN AM ARSCH DER WELT
4WIR SIND NOCHMAL DAVONGEKOMMENODER: JEMAND NENNT MICH BEI MEINEM NAMEN
5DAS UNIVERSUM HAT EINEN STÖPSELODER: WIR TRINKEN COLA MIT ROSAMUNDE PILCHER
6HÄTTE, HÄTTE, DAMENTOILETTEODER: CAN'T HELP FALLING IN LOVE WITH YOU
7WENN SICH DIE SONNE UM DIE ERDE DREHTODER: ICH BIN EINFACH ZU DUMM
8DER FRICKTRICK IN DER ACKERSTRASSEODER: ICH KIPPE FAST UM VOR ANGST UND TRAUE MICH TROTZDEM
9ICH HASSE ES, ZU WARTENODER: KANN MAN VERLERNEN, ÜBER DAS DENKEN ZU REDEN?
10TOTE VÖGEL SINGEN NICHTODER: DER SCHLÜSSEL ZUM GLÜCK
11PUPILLENTEST UND FRÜHSTÜCKSKORNODER: ICH WEISS NICHT, WAS ICH TUE
12MEINE MUTTER ERINNERT SICH AN IHRE ERZIEHUNGSPFLICHTODER: DRAUSSEN PASSIERT NICHT MAL DER MOND
13EIN PAAR WISSENSWERTE DINGE ÜBER MEINE URGROSSMUTTER, ELVIS PRESLEY UND JESUS CHRISTUS
14EINE MATHEMATISCHE GEWISSHEITODER: SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND
15FÜCHSE SIND COOLE TIEREODER: ICH WERDE WIEDER ROT
16DER ERSTE SPAZIERGANGODER: SPEZIELL SCHÖNE AUGEN
17DIE AUTOBAHNODER: EINUNDZWANZIG, ZWEIUNDZWANZIG, DREIUNDZWANZIG
18ICH HÄTTE ES WISSEN KÖNNENODER: AUF SONNENSCHEIN FOLGT REGEN, DAS IST EIN NATURGESETZ
19MANCHMAL MUSS MAN SPRINGENODER: MANCHMAL MACHT DER REGEN MUSIK
20TRISTAN UND ISOLDEODER: DIE WELT SCHWIMMT
21GEWITTER IM KOPFODER: DER PEINLICHSTE ERSTE KUSS ALLER ZEITEN
22DUMME FRAGEN UND DUMME ANTWORTENODER: BABA KAPIERT ÜBERHAUPT NICHTS
23ASBEST, ASBESTODER: DIE STUNDEN ZIEHEN SICH WIE KAUGUMMI
24EIN HERZ IST EIN GESCHENKODER: OMI VERSTEHT ZWAR NICHTS VON WHATSAPP, ABER SONST ALLES
25LAUNE WIE REGENWETTERODER: TAYLOR SWIFT AUF PMS
26DOKTOR LOVE STELLT EINE FEHLDIAGNOSEODER: IN MIR GEHT DAS LICHT AN
27DER HIMMEL HAT WIEDER DIE RICHTIGE FARBEODER: IN ALLEN DINGEN STECKT WAS GUTES
28DU VERSTEHEN DEUTSCH?ODER: SCHÖNLINGE UND MÖCHTEGERNNAZIS
29EIN GANZ NORMALER MITTWOCH IM DEZEMBERODER: ICH FALLE AUS DER ZEIT
30SCHÖNER ALS HEROINODER: DARAN ÄNDERT AUCH DIE PEINLICHSTE MUTTER DER WELT NICHTS
31BESORGTE BÜRGER, MORDDROHUNGEN UND SCHLECHTES ESSENODER: WUNDER GIBT ES TROTZDEM
32JUNGFRAUEN UND JUNGMÄNNERODER: DER BESTE ZEITPUNKT, UM ZU STERBEN
33ALEX, DIE TODESSPINNEODER: ICH LAUFE WIEDER EINMAL WEG
34?ODER: ES WIRD SCHLIMMER ALS SCHLIMM
35IT'S X-MAS TIME PRETTY BABYODER: VIER BUCHSTABEN SIND ZU WENIG
36DAS KOMITEE BESORGTE BÜRGER MARSCHIERTODER: GESCHMINKTE MÄDCHEN SPIELEN KEINEN FUSSBALL
37EIN WIND, DER DEN VERSTAND VERDREHTODER: OMI NIMMT MICH NICHT ERNST
38EIN STURM ZIEHT AUFODER: ICH ERFAHRE, WAS ICH SOWIESO SCHON WEISS
39ICH HÖRE AUF ZU HEULENODER: ICH SORGE DAFÜR, DASS DIE DINGE PASSIEREN
40EIN WIRKLICH TOLLER ABENDODER: ICH MERKE, DASS DAS SO EINFACH NICHT FUNKTIONIERT
41JACK THE ZIPPERODER: TOTE VÖGEL SINGEN IMMER NOCH NICHT
42RAUCHZEICHENODER: WER PASST HIER AUF WEN AUF?
43DIE WELT ZERFÄLLT IN EINZELTEILEODER: ICH KRIEGE WIEDER MAL DEN MUND NICHT AUF
44DIE ZEIT STEHT STILLODER: ICH TUE ENDLICH, WAS ICH TUN MUSS
45EIN ENDE, DAS GAR KEIN ENDE ISTODER: DIE WELT DREHT SICH WIEDER
Wenn ich daran zurückdenke, wie alles angefangen hat, dann fällt mir als Erstes der Himmel ein. Stahlblau wie die Adria im August. Ein Schwimmhimmel. Die Luft war warm und roch beinahe wie im Frühling. Es war spät im Jahr, mit so einem Tag hatte niemand mehr gerechnet. Die Leute aus meiner Schule gingen im T-Shirt in die große Pause, und alle hatten gute Laune. Es war ekelhaft. Ich lief über den Pausenplatz, ohne jemanden anzugucken, und zerrte mein Fahrrad aus dem Fahrradständer. Wenn dein Leben im Arsch ist, kann der Himmel so blau sein, wie er will, das ändert überhaupt nichts.
Als ich den Berg vor unserer Schule hinunterfuhr, senkte sich gerade die Eisenbahnschranke. Ich bremste ab, um den Zug abzuwarten. In meinen Kopfhörern schrammelte eine von Babas Punkbands. Wenn schon schlechte Laune, dann wenigstens richtig, meine Meinung. Wütend trommelte ich den Takt auf meinem Fahrradlenker mit und guckte die Bahntrasse entlang.
Und dann sah ich ihn.
Er war etwa in meinem Alter, schwarze Locken, ziemlich gutaussehend. Und er stand mitten auf dem Gleis. Stand einfach da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Augen geschlossen, als würde er eine Pause machen und die Sonne genießen, die so herrlich warm auf ihn herunterschien.
»Hey!«, brüllte ich. »Bist du bescheuert?«
Der Junge öffnete die Augen und sah mich an. Es war ein vollkommen ruhiger Blick. Er sah mich an. Sah mich an. Sah mich an. Die Gegenwart, hab ich mal gelesen, dauert etwa drei Sekunden. Was jetzt ist, erlebt man nur drei Sekunden lang. Darum gucken sich die meisten Leute auch nicht länger als drei Sekunden in die Augen. Alles, was darüber hinausgeht, bedeutet eine Geschichte. In der vierten Sekunde beginnt die Vergangenheit.
»Du stehst mitten auf dem Gleis!«, schrie ich. »Der Zug kommt gleich!«
Der Junge lächelte. Aber er machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
An das, was danach passierte, habe ich keine klare Erinnerung. Mit Denken hatte das nichts mehr zu tun. Weil, wenn ich nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht hätte, wäre ich viel zu feige dafür gewesen. Es muss ungefähr so abgelaufen sein: Ich hab mein Fahrrad auf die Straße geschmissen, bin über die Schranke geklettert oder darunter durchgetaucht und zu dem Jungen gerannt, der wild mit den Armen fuchtelte und irgendwas brüllte. Dann: das hohe, langgezogene Pfeifsignal des Zugs, der Junge rennt mir entgegen, packt mich am Arm und reißt mich zur Seite, wir kugeln vier, fünf Meter die steile Böschung neben der Bahntrasse nach unten, hinter uns donnert der Zug vorbei, und ich weiß noch, wie mir auffiel, dass der Fahrtwind erst kurze Zeit nach dem Zug durch das Gebüsch pfiff, und wie ich daran dachte, dass dieses Phänomen mich als Kind wahnsinnig fasziniert hat.
Dann war es still. Einen Augenblick lagen wir einfach so nebeneinander. Der Atem pumpte durch meine Brust. Der Junge neben mir atmete ebenfalls schwer. Und dann tat er etwas, das mich endgültig aus der Fassung brachte. Er fing an zu lachen.
»Bist du total bescheuert?«, brüllte ich ihn an und sprang auf.
Der Junge stellte sich, immer noch lachend und ein bisschen umständlich, auf seine Füße. Er sah, aus der Nähe betrachtet, noch viel besser aus, als ich vermutet hatte. Allerdings war er ein bisschen kleiner als ich. Und wahrscheinlich vollkommen gestört.
»Du hast doch den Arsch offen«, sagte ich. Dann drehte ich mich um und lief davon.
Ich hatte gerade den Bahnübergang überquert und mich auf meinen Fahrradsattel geschwungen, da hörte ich ihn rufen. Ich drehte mich im Fahren zu ihm um und zeigte ihm den Mittelfinger.
Er stand mitten auf der Straße und hielt meinen Turnbeutel in die Luft, den ich blöderweise neben der Schranke hatte liegen lassen. Ich schleuderte mein Fahrrad herum und fuhr zurück.
»Gib her«, sagte ich.
Der Junge zog meinen Turnbeutel an seine Brust. »Nö.«
»Was soll der Scheiß? Gib mir meinen Turnbeutel, du Arsch.«
Er streckte seine rechte Hand aus, während er mit der linken noch immer meinen Turnbeutel umklammerte.
»Fünfzig Euro«, sagte er und grinste dabei. Er sah wirklich gut aus. Was er wohl auch wusste.
»Witzig«, antwortete ich. »Gib jetzt her, du hast deinen Spaß gehabt.« Ich riss ihm den Turnbeutel aus der Hand und klemmte ihn mit wütenden Griffen unter meinen Gepäckträger.
Der Junge sah mir dabei zu. Plötzlich zeigte er auf mein rechtes Bein und sagte: »O shit, dein Knie.«
Ich guckte nach unten und sah, dass ich mir bei dem Sturz in die Böschung ein Loch in die Hose gerissen hatte. Das Knie darunter war leicht geschürft und blutete ein bisschen.
»Autsch«, sagte der Junge und verzog sein Gesicht, als hätte er selbst Schmerzen.
»Ja, autsch!«, schrie ich ihn an. »Aber immer noch besser, als von einem Zug überfahren zu werden.«
Und dann fing ich an zu heulen. Ich hatte das nicht vorgehabt, es ärgerte mich. Aber ich konnte nicht mehr aufhören. Der Junge sah mich an. Dann nahm er mich an den Schultern und dirigierte mich sanft zum Bordstein hinüber.
»Was soll denn das?«, wollte ich sagen, aber ich kriegte nur ein Schluchzen heraus.
Der Zug. Die kreischenden Bremsen. Der starke Windstoß, als der Zug hinter uns vorbeigerauscht war. Atmen, Mathilda. Eins nach dem anderen.
In gewisser Weise habe ich es Alex zu verdanken, dass ich Milad überhaupt kennenlernte. Was irgendwie lustig ist. Weil das ganz bestimmt nicht ihre Absicht gewesen war. Im Gegenteil. Alex war sowas wie meine persönliche Todesspinne. Sie dachte sich ständig Dinge aus, die mich daran erinnerten, wie traurig und einsam und beschissen mein Leben war. Ich glaube wirklich, das war ihr Hobby. An jenem Tag, knapp 45 Minuten bevor ich Milad kennenlernen sollte, hatte sie mir Milch in den Turnbeutel geschüttet.
Wir hatten gerade Deutsch bei Frau Brödermann. Gedichtinterpretation, ungefähr die schlimmste Folter, die man einer neunten Klasse antun kann. Außer Carina Lesch passte niemand auf. Melek Yilmazer hörte heimlich Musik, Sven Hofer und David spielten Hangman, andere tippten unter der Bank auf ihren Handys herum. Plötzlich flog mein Turnbeutel durch die Luft und platschte neben das Lehrerpult. Die Brödermann, die gerade etwas an die Tafel geschrieben hatte, drehte sich um und hob den Turnbeutel hoch. Die Milch tropfte auf den Boden und bildete eine Pfütze neben dem Lehrerpult.
»Wer war das?«, fragte die Brödermann.
Alle hatten gesehen, dass Alex den Turnbeutel nach vorne geworfen hatte. Und es war auch völlig klar, dass sie die Milch hineingeschüttet hatte. Ihre Mutter gab ihr jeden Tag einen halben Liter Milch mit in die Schule. Weil sie Calciummangel hatte oder sowas. Aber aus der Klasse war ganz bestimmt niemand so blöd, Alex zu verpfeifen. Nur Melek Yilmazer meldete sich und sagte: »Ich tippe mal auf Alexandra.«
»Genau«, sagte Alex. »Als würdest du hier irgendwas mitkriegen, wenn du die ganze Zeit aus dem Fenster glotzt und heimlich deine Zombiemucke hörst.«
»Du hörst Musik im Unterricht?«, sagte die Brödermann. »Sofort Handy abgeben, Melek. Und nach der Stunde will ich noch kurz mit dir reden.«
Widerwillig stand Melek auf und legte ihr Handy und die Kopfhörer vorne auf das Lehrerpult. Alex guckte zu mir herüber, und für einen Moment zog ein wirklich fieses Lächeln über ihr Gesicht. Ich sah aus dem Fenster und fing an, innerlich bis hundert, zu zählen. Den Trick hatte Omi mir verraten: Zähl bis hundert und wenn es dann immer noch nicht vorbei ist, dann darfst du heulen, aber erst dann. Und es funktionierte, meistens wurde es spätestens ab sechzig besser. Omi verstand was davon, sie hatte es, als sie jung war, glaube ich auch nicht gerade leicht gehabt, wegen Großmutter Lisa und dem Gerede in ihrem Dorf und all den Sachen. Baba sagte immer nur: »Du musst da drüberstehen. Steh doch einfach drüber.« Aber am Arsch. Wie sollte man denn drüberstehen, wenn man mitten drin war?
»Also, wer war das?«, fragte die Brödermann noch einmal. Aber natürlich bekam sie keine Antwort. »Na schön, könnt ihr mir dann wenigstens sagen, wem dieser Turnbeutel gehört?«
Ich hob meine Hand.
»Gut, Mathilda«, sagte die Brödermann. »Ich entschuldige mich im Namen der Klasse bei dir für diese Sauerei. Du darfst nach der Stunde nach Hause gehen. So kannst du ja nicht am Sportunterricht teilnehmen.«
»O Mann, du Glückliche«, flüsterte Melek Yilmazer.
Ich antwortete nicht, aber auf den Sportunterricht konnte ich tatsächlich ganz gut verzichten. Vor allem, weil dort im Moment Rhythmische Sportgymnastik auf dem Plan stand.
»Die Königsdisziplin, die Koordination, Beweglichkeit und Eleganz trainiert.« O-Ton Frau Feldmeyer, genannt Feldmarschall, ihres Zeichens Sportlehrerin und wahrscheinlich meistgehasste Lehrerin der ganzen Schule. Die Einzige aus unserer Klasse, die sich in Rhythmische Sportgymnastik nicht komplett zum Schnuller machte, war natürlich Alex.
»Guckt euch das an!«, schrie die Feldmarschall jedes Mal begeistert, wenn Alex über die langen pissgelben Bodenmatten schwebte, auf denen man sich ziemlich fies die Haut aufschürfte, wenn man nicht aufpasste. »So muss das aussehen!«
Schon klar. Jemand wie Alex könnte auch in einem Pandakostüm herumhüpfen und eine Klobürste schwenken, den Leuten würde trotzdem einer abgehen. Mir muss niemand erzählen, dass es auf die inneren Werte ankommt. Irgendwo hab ich mal gelesen, dass gut aussehende Menschen es im Leben immer leichter haben. Sehr hübsche Kinder bekommen zum Beispiel in der Schule die besseren Noten. Auch wenn sie gleich gut oder sogar schlechter sind als die nicht so hübschen Kinder in ihrer Klasse. So läuft das. Das hab ich schon lange durchschaut. Aber komm damit mal jemandem wie der Feldmarschall. Die würde sich einen Ast lachen und sagen: »Interessanter Versuch, Madame Pompadour.«
So nennt mich die Feldmarschall manchmal. Sie sagt ständig solche Sachen zu uns, ich glaube sie kennt unsere richtigen Namen überhaupt nicht. Melek Yilmazer zum Beispiel heißt bei ihr immer Trantüte. Nur Alex ist einfach Alexandra. Oder Alexandra-Schatz.
Madame Pompadour war eine Mätresse von Louis XV. Also sowas wie die persönliche Prostituierte des französischen Königs. Keine Ahnung, was das mit mir zu tun hat. Ich hab noch nie in meinem Leben mit jemandem geschlafen. Also gut, mittlerweile schon. Oder zumindest so gut wie. Aber dazu komme ich noch.
Jedenfalls, wenn die Brödermann mich an diesem Tag nicht nach Hause geschickt hätte, dann wäre alles ganz anders gekommen. Dann hätte ich versucht, einen Gummiball grazil in die Luft zu werfen, während Milad am Bahnübergang auf den Gleisen stand. Und dann hätten wir uns vielleicht nie kennengelernt. Und darum bin ich Alex sogar irgendwie dankbar, dass sie mir die Milch in den Turnbeutel geschüttet hat. Aber ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als ihr das zu sagen.
Drei Monate zuvor war ich mit Baba in diese Kleinstadt gezogen. Dreieinhalb Monate, um genau zu sein, hundertsieben Tage, um noch genauer zu sein. Und präzise gesprochen waren wir auch nicht in die Stadt gezogen, sondern in ein kleines Dorf knapp zwei Kilometer von der Stadt entfernt.
»Hallo Bullerbü«, hatte Baba gesagt, als sie den Umzugswagen vor unserem Haus geparkt hatte. Wir waren eine Weile in dem LKW sitzengeblieben und hatten durch das geöffnete Seitenfenster unser neues Zuhause betrachtet. Ich kannte das Haus von meinen früheren Besuchen bei Omi. Es hatte immer schon dort gestanden, wahrscheinlich schon lange bevor ich oder Baba oder sogar Omi geboren worden waren. Es war ein einfaches altes Bauernhaus, mit kleinen niedlichen Fenstern. Im Garten wuchs eine Birke, deren Blätter leise im Sommerwind raschelten. Weiter hinten in der Straße spielten ein paar Kinder, irgendwo bellte ein Hund. Sonst war es vollkommen still. Ende Gelände, Bullerbü, Arsch der Welt.
An meinem ersten Abend lief ich alleine durch das Dorf und versuchte, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich von nun an hier leben würde. Das Dorf war kleiner, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Vierhundert Einwohner. Drei Bauernhöfe (davon nur noch einer in Betrieb). Eine Kapelle. Ein Sportplatz mit Festsaal (das sogenannte Sportheim). Zwei Zigarettenautomaten. Ein Kaugummiautomat. Eine Bushaltestelle.
Mittwochs und samstags kam der Klingelbäcker. Er fuhr hupend in jede Straße, klappte die Ladefläche seines kleinen Transportes herunter und wartete auf die Dorfbewohner, die in Hausschuhen und Bademantel auf die Straße schlurften, um ihre mitgebrachten Jutebeutel mit Streuselschnecken, Mohnkränzen und Roggenbrot zu füllen. Für alle anderen Einkäufe musste man in die Stadt fahren.
Ich spazierte durch die Straßen und Gassen in den oberen Teil des Dorfes. Das Dorf lag in einem Tal und zog sich an einer Seite des Flusses hangaufwärts Richtung Wald. Während unten am Fluss, wo wir wohnten, vor allem alte Häuser standen, schöne Sandsteingebäude und Fachwerkhäuser, mit ausgetretenen Treppenabsätzen und schlecht gepflasterten Innenhöfen, hatten sich im oberen Teil des Dorfes scheinbar erst viel später Menschen angesiedelt. Die Häuser waren moderner und größer, manche waren in knalligen Farben gestrichen.
Der Sportplatz und das Sportheim lagen ganz oben im Dorf. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass es sich hierbei um das Herzstück des Dorfes handelte. Das Epizentrum der Langeweile, sozusagen. Wenn im Dorf etwas los war, dann dort. Auch an diesem Abend hatten sich die wenigen Jugendlichen, die im Dorf lebten, vor dem Sportheim zusammengefunden. Ich konnte sie schon von Weitem sehen. Vielmehr, ich hörte sie, bevor ich sie sah. Über einen Bluetooth-Lautsprecher beschallten sie das Dorf mit schlechtem Deutschrap.
Leute, die nicht schüchtern sind, verstehen vielleicht nicht, warum ich von der Hauptstraße abbog und mich über Umwege in den Wald schlich, um die Jugendlichen von dort aus zu beobachten. Natürlich hätte ich einfach zu ihnen gehen und sagen können: »Hi, ich bin Mathilda, ich bin heute hierhergezogen, was geht ab?«
Und dann hätten sie vielleicht gesagt: »Setz dich, nimm dir ein Bier.«
Und dann wäre diese Sache, die dann passierte, nie passiert, und ich wäre am ersten Schultag in die Schule gegangen, und die Brödermann hätte gesagt: »Das ist Mathilda, sie kommt aus Berlin.«
Und Alex hätte nicht: »Die Spannerin!« gerufen, sondern: »Geil, Berlin!«, und alle hätten mit mir befreundet sein wollen, weil es schick ist, mit einer befreundet zu sein, die aus Berlin kommt. Es hätte alles so einfach sein können. Aber ich bin ich. Nichts ist einfach mit mir.
Es waren etwa zehn Jungs auf dem Sportplatz, ungefähr in meinem Alter. Offenbar feierten sie einen Geburtstag, denn sie ließen den Korken einer Sektflasche knallen, und dann krächzten sie stimmbruchschief ein Geburtstagslied. Für David, soweit ich das verstand. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass er in meine Klasse gehen würde. Ich sah einen blonden großen Jungen, dessen Bewegungen selbstsicher und lässig waren. Und obwohl ich aus der Entfernung sein Gesicht nicht sehen konnte, war ich mir ziemlich sicher, dass er gut aussah. Ein Mädchenschwarm.
Außer David fiel mir noch ein weiterer Junge auf. Er wirkte älter als die anderen, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Er lachte sehr laut und fuhr sich ständig mit der Hand über den fast kahlrasierten Schädel, das schien eine Art Tick von ihm zu sein. Plötzlich fuhr ein Auto die Hauptstraße nach oben und hielt vor dem Sportplatz. Vier ziemlich hübsche Mädchen in ziemlich kurzen Kleidern stiegen aus.
»Ich hol euch in drei Stunden wieder ab, okay, Alexandra?«, rief eine Frau aus dem Seitenfenster. »Und nicht so viel trinken!«
Die Mädchen winkten synchron zum Abschied, als hätten sie es einstudiert. Das war das erste Mal, dass ich Alex und ihre Freundinnen sah.
Danach passierte erst mal nichts Besonderes mehr, die Jugendlichen saßen einfach nur herum und redeten und tranken Sekt. Ich hatte gerade beschlossen, dass ich nach Hause gehen würde, da standen Alex und der Kahlrasierte plötzlich auf und liefen hangaufwärts Richtung Wald. Mein Herz setzte für ungefähr zwei Sekunden aus, zum Weglaufen war es zu spät, sie hätten mich auf jeden Fall gesehen.
»Aber nicht gucken«, kicherte Alex, als sie den Waldrand fast erreicht hatten.
»Ehrensache«, hörte ich den Kahlrasierten sagen. Er blieb auf der Wiese stehen, drehte sich zum Sportplatz und zündete sich eine Zigarette an. Alex lief weiter hangaufwärts. Direkt auf mich zu. Der Wald zog sich über die ganze Länge des Sportplatzes und darüber hinaus. Aber sie hatte sich zum Pinkeln ausgerechnet die Büsche ausgesucht, hinter denen ich saß. Ich hörte, wie ihre Klamotten raschelten. Sie war so nahe, ich hätte nur meine Hand ausstrecken müssen, um sie zu berühren.
Sie kicherte leise, dann plätscherte es. Ich traute mich nicht zu atmen.
»Bist du bald fertig?«, rief der Kahlrasierte.
»Eine Sekunde.«
Sie stand auf und lief zurück auf die Wiese. Sie hatte mich nicht gesehen. Es grenzte an ein Wunder, aber sie hatte mich nicht gesehen.
Und dann klingelte mein Handy.
Es war wie in einem Albtraum. Klar und deutlich schallte die Beatles-Melodie in die Nacht, die ich als Rufton eingestellt hatte. Ob-la-di, Ob-la-da, life goes on, brah. Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen. La-la, how the life goes on.
Wenn man erst einmal richtig angefangen hat zu heulen, dann hat man das Gefühl, man kann nie wieder aufhören. Wo sind all die Tränen, wenn man nicht weint? Gibt es irgendwo im Körper einen Tränensee, der darauf wartet, dass die Schleuse geöffnet wird und er ins Freie sprudeln kann? Einen dunklen tiefen Tränensee, irgendwo zwischen Lunge und Herz, in dem sich all die wirklich wichtigen Dinge sammeln, die traurigen und die schönen und die, die einen wütend machen? Bis er irgendwann so voll ist, dass das Wasser über das Ufer schwappt?
Milad, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass er so hieß, saß neben mir und sah mich an. Dann holte er ein zerknittertes, offensichtlich bereits benutztes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Ich nahm es ihm aus der Hand und putzte mir damit die Nase, es war eh schon alles egal.
»Warum hast du das gemacht?«, sagte ich und sah ihn fragend an.
Er zuckte die Schultern. »Ist doch gar nichts passiert.«
»Nee, stimmt«, sagte ich. »Was war nochmal? Ach ja, wir sind fast von einem Zug überfahren worden. Sonst ist eigentlich nichts Besonderes passiert.« Bei den letzten Worten überschlug sich meine Stimme, und ich fing schon wieder an zu heulen.
Milad seufzte. »Ich hab dich nicht darum gebeten, auf das Gleis zu rennen, oder?«
»Was genau hätte ich denn machen sollen?«, schrie ich. »Einfach dabei zugucken, wie du dich umbringst?«
»Spinnst du? Ich wollte mich doch nicht umbringen!«, sagte er und sah mich erschrocken an.
»Ich wär schon rechtzeitig zur Seite gegangen. Bin ich ja auch«, fügte er hinzu und grinste. Seine Zähne waren so weiß wie in einer Zahnpastawerbung, aber darauf fiel ich nicht herein.
»Du hast einen Vollschaden. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Milad lachte, legte sich mit dem Rücken auf den Bordstein und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ich wollte einfach wissen, wie das ist.«
»Wie was ist?«
»Das Gefühl. Danach. Jetzt. Wenn man wieder mal so richtig merkt, dass man lebt.«
»Du hast einen Vollschaden«, wiederholte ich.
»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte er und schloss die Augen. »Es ist trotzdem schön.«
Die Eisenbahnschranke senkte sich. Kurze Zeit später rauschte ein Zug vorbei, und alles in meinem Körper zog sich zusammen. Was wäre wenn? Kreischende Bremsen, Knochen, die brachen, Schädel, die zerschmettert wurden. Wie schnell alles vorbei sein konnte, endgültig und ohne die Möglichkeit, es zurückzudrehen, nur eine Sekunde von jetzt an.
Wieso ist es so schwer, sich das vorzustellen?
Wieso hält man sich die meiste Zeit über für unsterblich, wenn man doch eigentlich ganz genau weiß, dass man es nicht ist?
Ich sah dem Zug hinterher, wie er über die Schienen der Bahntrasse davonratterte, und ich dachte, wer weiß, wie oft sich schon Verzweifelte in seinen Weg gestellt hatten, hinter Tunneln, auf verlassenen Bahnstrecken, wo keiner sie davon hatte abhalten können. Wir sind noch einmal davongekommen – in Berlin hatte ich mal das Plakat von einem Theaterstück gesehen, das so hieß. Ich weiß nicht, worum es darin geht, aber genau das war es, was ich in diesem Moment fühlte, so deutlich fühlte, dass es im ganzen Körper kribbelte. Wir sind nochmal davongekommen. Die Sonne schien, als hätte sie sich in der Jahreszeit verirrt, und hier waren wir, an einem Dezembertag, auf dem Bordstein neben der Bahntrasse. Und plötzlich wusste ich, was Milad gemeint hatte. Wir waren am Leben. Wir waren tatsächlich am Leben. Ich steckte das vollgeheulte Taschentuch in meine Hosentasche, legte mich neben ihn auf den Bordstein und sah hinauf in den Himmel, der jetzt noch viel blauer war als vorher, so übertrieben blau, dass es an Angeberei grenzte.
»Ich heiße übrigens Mathilda.«
Er drehte den Kopf zu mir und guckte mich an. »Mathilda?«
»Oder Mats. Du kannst mich auch Mats nennen.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte. So unterschrieb ich die Eintragungen in meinem Tagebuch. Im wirklichen Leben hatte mich noch nie jemand Mats genannt. Nicht einmal meine Eltern. Ich hatte mir schon oft gewünscht, dass es mal jemandem auffiel, dass Mats der beste Spitzname war, den man aus Mathilda machen konnte. Aber es kam niemandem in den Sinn. Ich hatte überhaupt keinen Spitznamen. Nur Omi nannte mich manchmal Tilli. Und das hätte sie sich auch sparen können, so will ja niemand heißen.
»Mats«, sagte er und nickte. »Das passt besser.«
Er hob seine Hand und hielt sie mir hin. »Milad. Freut mich.«
Es ist gar nicht so einfach, sich Hände zu schütteln, wenn man nebeneinander liegt; wir verdrehten unsere Hände und fingen an zu kichern.
Ein alter Mann fuhr auf einem klapprigen Damenrad vorbei und rief: »Habt ihr kein Zuhause?«
An seinem Gepäckträger baumelte eine Gießkanne und schepperte gegen die Radspeichen. Wir guckten ihm nach, und dann prusteten wir richtig los. Der alte Mann hob einen Arm und drohte uns mit der Faust, was sein Fahrrad gefährlich zum Schlingern brachte, und darüber mussten wir noch viel mehr lachen. Wir lagen auf dem Bordstein und lachten so sehr, dass wir uns fast in die Hosen pinkelten. Keine Ahnung, was so dermaßen lustig war, ich weiß es wirklich nicht. Aber wir konnten nicht mehr aufhören.
»Ich kann nicht mehr. Hör auf.«
»Hör du doch auf.«
»Ich kann nicht.«
»Ich auch nicht.«
(Wimmern)
»Wir müssen aufhören zu lachen, sonst sterben wir.«
»Ich weiß.«
(Luft holen, atmen, atmen)
»Wollen wir ein Eis essen gehen?«
»Hä? Was?«
(Lachanfall)
»Wie kommst du denn jetzt auf Eis?«
»Magst du kein Eis?«
(Atmen, atmen)
»Doch, doch. Ich mag Eis. Nichts gegen Eis. Eis ist voll okay.«
(Erneuter Lachanfall)
»O Mann.«
»Hör doch mal auf.«
»Hör du doch auf.«
(Und so weiter)
Natürlich war die lokale Eisdiele um diese Jahreszeit geschlossen. Deshalb gingen wir in die Dicke Berta, eine schummrige Kaschemme, die direkt neben der Eisdiele lag und in die sich Leute in unserem Alter wahrscheinlich selten verirrten. Die Bedienung, die mit ihrem Körperumfang dem Namen der Kneipe alle Ehre machte, zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen, als Milad und ich zur Tür hereinkamen. Wir nahmen an einem der Holztische Platz und warteten. Vor den Fenstern hingen vergilbte Gardinen, es roch nach kaltem Zigarettenrauch und Bier. Ein Plakat von einem Schlagersänger dekorierte die Wand, auf dem Sims des Kamins in der Ecke versammelte sich eine beachtliche Mannschaft von Porzellanhunden. Im Fernseher über der Theke lief in brüllender Lautstärke ein Rosamunde-Pilcher-Film. Wir waren die einzigen Gäste. Widerwillig drehte die Dicke nach einer Weile die Lautstärke des Fernsehers runter und machte ein Geräusch in unsere Richtung, das man mit ein bisschen gutem Willen als »Ja?« deuten konnte.
»Haben Sie Eis?«, fragte ich.
»Nee, hab ich nich«, brummte die Bedienung. »Is ja kein Restaurant hier.«
»Cola?«
Die Dicke guckte uns ausdruckslos an. In Porzellan hätte sie sich gut in die Sammlung auf dem Kaminsims eingefügt.
»Meinetwegen«, sagte sie nach einer Weile, erhob sich ächzend von ihrem Stuhl und beugte sich unter die Theke.
»Wir feiern nämlich heute unseren Jahrestag«, sagte Milad, als die Bedienung uns die Gläser auf den Tisch stellte. Er ignorierte meinen irritierten Blick und legte lächelnd seine Hand auf meinen Arm. »Wir haben uns bei einer Freizeit der Katholischen Landjugend kennengelernt.«
»Na, dann Prost auf die junge Liebe. Geht aufs Haus«, sagte die Dicke und schlurfte zurück hinter ihren Tresen.
»Spinnst du?«, flüsterte ich Milad zu.
»Wieso? Ist doch lustig«, flüsterte er zurück. »Außerdem hab ich kein Geld dabei.«
Er hob grinsend sein Glas und prostete mir zu. Ich schüttelte den Kopf und tippte mir an die Stirn. »Katholische Landjugend. Du hast doch einen Knall.«
Milad lachte, und die Bedienung drehte die Lautstärke des Fernsehers wieder so hoch, dass es beinahe unmöglich war, ein Gespräch zu führen. Aber seltsamerweise machte das nichts. Es war schön, einfach so dazusitzen. Der Staub flimmerte in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster schienen, und im Fernseher verkündete ein Arzt einem jungen Mann, dass seine Verlobte leider unheilbar krank sei, woraufhin der junge Mann noch am Krankhausbett mit seiner Verlobten Schluss machte und der Arzt sie trösten musste. Was er mit ziemlich professionellen Arztmanieren machte. Er hatte sogar noch einen Kugelschreiber in der Hand, als er die junge Frau umarmte.
Ich nehme an, dass ich mich irgendwie hätte unwohl fühlen müssen. Immerhin, ich saß einem Jungen gegenüber, den ich eben erst und unter ziemlich seltsamen Umständen kennengelernt hatte. Ich hatte noch nie ein Date gehabt. Ich wusste nicht, wie man so etwas machte. Aber die Wahrheit ist, dass ich erst später darüber nachdachte. Hinterher wurde ich nervös und überlegte stundenlang, ob ich mich total bescheuert verhalten hatte, und was ich wann gesagt hatte, und was für einen Eindruck Milad wohl von mir hatte. Als wir dort saßen und an unserer Cola nippten und zusammen mit der dicken Berta auf die Mattscheibe guckten, da war das alles einfach gut. Im Fernseher stellte der Arzt fest, dass die Krankenschwester (sie hieß Mary und hatte ein Alkoholproblem) die falschen Werte in die Patientenakte eingetragen hatte und die junge Frau gar nicht so krank war, wie er vermutet hatte. Es gab einen Riesenkrach mit Schwester Mary, aber immerhin gute Neuigkeiten für die junge Frau – und das alles in ungefähr 120 Dezibel.