Mauer des Schweigens. Die Akte Leipzig - Grit Poppe - E-Book

Mauer des Schweigens. Die Akte Leipzig E-Book

Grit Poppe

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Beschreibung

Ein faszinierender Krimi aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung  Frühjahr 1991: Kalter Wind weht durch das wiedervereinigte Land. Kommissarin Beate Vogt ermittelt gerade im Fall einer spurlos verschwundenen Lehrerin, als sie zu einem Tatort am Leipziger Markt gerufen wird. Ein Toter wurde in Auerbachs Keller gefunden, offensichtlich ermordet. Er kann identifiziert werden als Immobilieninvestor aus Bayern, der Häuser in Leipzig aufgekauft und sich damit womöglich Feinde gemacht hat. Gemeinsam mit dem Nürnberger Hauptkommissar Josef Almgruber begibt sich Beate auf Spurensuche. Wer steckt hinter der Tat? War es einer der ehemaligen Arbeiter aus dem VEB, der entlassen wurde? Oder doch die Mieterin, die sich weigerte auszuziehen? In einer Zeit, als die Hoffnung der Ernüchterung weicht und wider Erwarten keine Landschaft erblüht, suchen Vogt und Almgruber nach der Wahrheit. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mauer des Schweigens. Die Akte Leipzig

GRIT POPPE, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitet als freiberufliche Autorin. Ihr Jugendroman Weggesperrt wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Für den Jugendroman Verraten erhielt sie den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis. Sie lebt in Potsdam.Von Grit Poppe ist in unserem Haus erschienen:RabenkinderZusammen mit Niklas Poppe:Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen

Kalter Wind weht durch das wiedervereinigte Land. Kommissarin Beate Vogt ermittelt gerade im Fall einer spurlos verschwundenen Lehrerin, als sie auf einen Tatort am Leipziger Markt stößt. Ein Toter wird in Auerbachs Keller gefunden, offensichtlich ermordet. Er kann identifiziert werden als Immobilieninvestor aus Bayern, der Häuser in Leipzig aufgekauft und sich damit womöglich Feinde gemacht hat. Gemeinsam mit dem Nürnberger Hauptkommissar Josef Almgruber begibt sich Beate auf Spurensuche. Wer steckt hinter der Tat? War es einer der ehemaligen Arbeiter aus dem VEB, der entlassen wurde? In unruhigen Zeiten suchen Vogt und Almgruber nach der Wahrheit.

Grit Poppe

Mauer des Schweigens. Die Akte Leipzig

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Januar 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © www.buerosued.de (Landschaft), Personen:  Arcangel Images / © Evgeniia TankovaFoto der Autorin: © Gregor BaronE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3285-7

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

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Anhang

Leseprobe: Die Dämmerung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

TEIL EINS

TEIL EINS

1

Die Kreide rieselte in feinem Staub auf ihre frisch geputzten Schuhe, während Ina Reinhardt die Sechser-Malfolge für die dritte Klasse an die Tafel schrieb. Sie hörte hinter sich das Rascheln von Papier, das Flüstern eines Kindes, dann war es still.

Die Lehrerin drehte sich um und lächelte. Sie hatte sich ein bestimmtes Lächeln angewöhnt, um den Schülern zu begegnen. Ein sehr schmales, dünnes Lächeln, brüchig wie Eis. Komm zu mir, wenn du magst, aber komm mir nicht zu nahe, hieß es. Nicht, dass sie sich vor den Kindern fürchtete. Es ging um den Respekt, den sie sich täglich neu verschaffen musste. Gerade in diesen Zeiten des Umbruchs und der allgemeinen Verunsicherung, der – wie sie es empfand – Unordnung und des Chaos.

Sie wusste nicht, was die Zukunft bringen und ob sie ihren Job behalten würde. Es sah nicht danach aus. Der neue Direktor, der stets glatt rasiert in die Schule kam, hatte ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen »mit großem Bedauern« eröffnet, dass bis zum Ende des Jahres 1991 Entlassungen erfolgen würden. Nicht nur in dieser Polytechnischen Oberschule, in ganz Leipzig. Die Zahl 7.000 fiel. 7.000 Lehrerinnen und Lehrer allein in Leipzig. Aber es werde »Einzelfallprüfungen« geben, und er persönlich würde sich selbstverständlich für den Erhalt jeder einzelnen Arbeitsstelle einsetzen.

Ina Reinhardt gab nichts auf diese vollmundigen Versprechungen. Der neue Direktor kannte sie ja kaum richtig. Und in ihrer Kaderakte stand, dass sie nach einem entsprechenden Studium als Freundschaftspionierleiterin eingestellt worden war. Auch wenn sie von Beginn an lieber in der Unterstufe unterrichtete, hatte sie ihre politische Funktion erfüllt, gewissenhaft, für die SED, für den Staat DDR. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass ihr gerade das mal auf die Füße fallen würde.

Die Mädchen und Jungen schrieben die Aufgaben mechanisch in ihre Hefte. Sie konzentrierten sich auf die Tafel und schauten an der Lehrerin vorbei. Nur Elsa schrieb wieder einmal nicht. Sie hockte teilnahmslos auf ihrem Platz in der mittleren Reihe und starrte sie an.

»Elsa, hast du eine Frage?« Die Lehrerin veränderte ihren Gesichtsausdruck nicht; sie wollte weder freundlicher zu Elsa sein als zu den anderen Kindern noch unfreundlicher.

Elsa schüttelte den Kopf.

»Warum schreibst du dann nicht?«

Das Kind zuckte mit den Schultern und murmelte etwas. Die Lehrerin verstand nur das Wort »vergessen«.

»Hast du deinen Füller vergessen?« Sie wischte sich mit der Kreide in der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Die Kreide legte sie selten beiseite. Der Staub auf ihrer Haut beruhigte sie: Sie war die Lehrerin, sie gehörte hierher. Die Schülerinnen und Schüler hatten ihren Anweisungen zu folgen, auch Elsa.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Hast du dein Heft vergessen?« Ihre Stimme blieb ruhig. Die Kinder schrieben. Nur zwei oder drei von ihnen hoben die Köpfe und blickten neugierig zu ihrer Mitschülerin.

»Nicht das Heft«, antwortete das Kind leise.

»So. Also nicht das Heft. Was dann?«

Elsa schwieg. Sie zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne.

»Was dann?«

»Meinen Schulranzen.«

Die Lehrerin schluckte. Elsa vergaß oft etwas. Mal die Federtasche, mal ein Buch. Die Hausaufgaben sowieso. Aber ohne Schulranzen in die Schule zu gehen, dazu gehörte schon einiges an Kopflosigkeit. Es lag bei diesem Kind jedoch nicht an mangelnder Intelligenz, das wusste Ina. Sie war ein durchschnittlich begabtes Mädchen; es schien allerdings so, als lebte sie in ihrer eigenen Welt, als sei sie eines dieser Kinder, die sich verträumt und unaufmerksam treiben ließen; die am Nachmittag nicht mehr wussten, wo sie am Morgen ihr Fahrrad abgestellt hatten.

»Dann komm bitte nach vorn, und löse die Aufgaben an der Tafel.« Ihre Stimme klang jetzt streng, fremd, verärgert; das Lächeln verrutschte seltsam. Sie nahm sich vor, in der Pause mit dem Kind zu reden.

Sie wollte es nicht vor der Klasse demütigen. Sie wollte es auf keinen Fall demütigen. Ina musste auf der Hut sein; auf der Hut vor den Fallen ihres Berufes. Es gab viele Fallen und viele Fallensteller. Die Kollegen, die Kinder, der Direktor, die Eltern …

Immer häufiger und ungenierter hörte sie ihren Spitznamen, den ihr die älteren Schüler gaben. Vor ein paar Tagen verbot sie einem Jungen das Rauchen auf dem Schulhof; er schnipste die Kippe in hohem Bogen durch die Luft, so dicht an ihr vorbei, dass der Rauch ihr in die Nase stieg. Sie trat die Glut aus, eher instinktiv als absichtlich, und der Junge murmelte etwas. Sie tat, als hätte sie ihn nicht verstanden, und drehte ihm den Rücken zu.

Er sagte es noch einmal, leise, gehässig: »Narbengesicht.«

Sie ließ sich nicht provozieren, ging steif weiter. Narbengesicht. Dabei sah man ihre Narben kaum noch. Nur bei genauem Hinschauen erkannte man die auf der Wange und die winzige unter ihrem Kinn.

Seit der Wende wurden die Schüler aufsässiger, ließen sich von ihr, der ehemaligen Pionierleiterin, kaum noch etwas sagen, wehrten Ermahnungen mit höhnischem Gelächter ab. Aber natürlich gab es auch erfreuliche Tage, hilfsbereite Kollegen und nette Schüler.

Die Schule genoss einen verhältnismäßig guten Ruf: Sie lag verkehrsgünstig, bot ein vergleichsweise preiswertes Mittagessen, die Wände waren erst kürzlich in hellen grüngelben Farben gestrichen worden. Lehrer, Eltern und Schüler hatten bei der Umgestaltung der Schule mitgeholfen. Eine neue Zeit begann. Ernst Thälmann hatte ausgedient. Sie musste nicht mehr darauf achten, dass die immer gleich aussehenden Wandzeitungen über den Arbeiterführer gerade hingen, oder darauf, dass das Thälmann-Foto wieder mal staatsfeindlich verunstaltet wurde – ein durchaus beliebter Sport unter den Jugendlichen. Die Wandzeitungen waren abgeschafft worden, die sozialistischen Parolen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, der Fahnenappell fand nicht mehr statt, es gab keine Pioniere und FDJler mehr. Sie war jetzt nur noch eine ganz normale Lehrerin.

»Komm bitte an die Tafel, Kind. Worauf wartest du?«

Elsa erhob sich immerhin. »Ich kann nicht«, sagte sie.

Ina fühlte die Kreide in ihrer Hand schmierig werden. Sie hatte nicht wenig Lust, sie dem Kind an den Kopf zu werfen. Mit Kreide zu werfen war nicht unüblich gewesen. Die Schüler kannten das und lachten meist, wenn das Stück durch den Raum flog. Aber sie befand sich in der Zeit der Überprüfung. Sie durfte sich keinen Fauxpas mehr leisten. Mit 36 würde sie nicht so ohne Weiteres einen neuen Job bekommen, keinen, der ihr gefiel, jedenfalls.

»Jetzt komm her. Stell dich nicht so an«, sagte sie leise. »Hast du mich gehört?«

»Ja, Frau …« Offenbar kam das Kind nicht auf ihren Namen. Es schob sich langsam an der Schulbank entlang.

Ina wandte sich der Tafel zu und schrieb die Zusatzaufgabe auf die olivgrüne Fläche. Unruhe breitete sich in der Klasse aus, jemand unterdrückte ein Kichern, und das Tuscheln hörte auch nicht auf, als sie sich wieder umdrehte.

Elsa stand dicht neben ihr und sah zu ihr hoch. In ihren kieselsteingrauen Augen lag ein Lauern. Sie hielt die Hand ausgestreckt, als erwarte sie Schläge mit einem Rohrstock. »Darf ich die Kreide bitte?«, fragte sie.

Die Lehrerin erschrak leicht vor den Worten und der fordernden Hand. »Natürlich«, sagte sie hastig. Das Gewisper und Geflüster in der Klasse hatte noch zugenommen, und schließlich, als sie ihre Kreide an das Kind weitergab, erkannte sie den Grund. Elsa trug weder Schuhe noch Strümpfe; sie stand barfuß vor ihr.

»Aber, Mädchen!«, entfuhr es ihr. Es war Ende März, manchmal herrschte noch Frost in der Nacht, und es war nicht besonders warm im Klassenzimmer. »Wo sind deine …« Sie deutete stumm hinab, als wäre das Wort »Schuhe« angesichts der nackten Tatsachen etwas Unaussprechliches.

»Vergessen«, murmelte Elsa. Sie wandte sich der Tafel zu und begann zu schreiben.

Ina sagte nichts. Sie starrte auf die schmutzigen Zehen, auf die Hacken, die rot aussahen, wie wund gescheuert. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste auf der Hut sein. Sie durfte sich nicht nachsagen lassen, sie hätte die Zeichen übersehen.

Das Quietschen an der Tafel hörte auf. Es war merkwürdig still in der Klasse geworden. Trotzdem sammelte sie zwei Stifte ein, die im Weg lagen, und reichte sie dem pausbäckigen Jungen, dem sie gehörten. Alles war in Ordnung. Sie hatte alles im Griff. Für jedes Problem gab es eine Lösung. Auf beinahe jede Frage konnte auch eine Antwort gefunden werden.

Sie hob den Blick.

Elsa stand barfüßig und breitbeinig da, den Kopf erhoben, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Die Kreide klemmte wie eine weiße Zigarre zwischen ihren Lippen. An der Tafel ballte sich der pure Unsinn. Elsa hatte hinter jede Aufgabe dieselbe Zahl geschrieben. Seltsame Zeichen und Fratzen leisteten der Zahl Gesellschaft.

Ina betrachtete das Bild nicht ohne Faszination: die Ziffer 666, unbeholfen gemalte Pentagramme, Grimassen mit langen Zähnen, mit Hörnern oder spitzen Ohren – so genau war es nicht zu erkennen – wirkten in diesem Zimmer so deplatziert, als hätte sich jemand auf dem Lehrertisch übergeben. Elsa schien unbeteiligt, ihre grauen Augen, ihr schmales, blasses Gesicht verriet weder Genugtuung noch Furcht. Sie stand einfach nur da.

Ina ging langsam auf Elsa zu, die jetzt nicht mehr so selbstsicher aussah, die ihre Arme hängen ließ und auf ihre nackten Füße starrte. Ina riss ihr das Stück Kreide aus dem Mund. »Wisch das ab«, sagte sie und drückte ihr einen Schwamm in die Hand.

Einen Moment betrachtete Elsa den Schwamm, als wüsste sie nicht, wozu der gut sein sollte.

Das ist ein Hilferuf, dachte Ina, während sie zusah, wie ihre Schülerin eine Fratze nach der anderen, eine Ziffer nach der anderen von der Tafel löschte.

Das Kind braucht Hilfe. Deine Hilfe.

»Na schön, pass auf«, sagte Ina nervös. »Du gehst jetzt zum Hausmeister und bittest ihn um ein Paar Schuhe, Turnschuhe oder … Schau einfach, was er hat. Er kümmert sich um die Sachen, die liegen bleiben, verstehst du? Sag ihm, dass ich dich schicke … Und warte einfach da auf mich. Ich hole dich dort ab. Ist deine Mutter zu Hause?«

»Weiß nicht«, nuschelte Elsa. Sie kaute wieder auf ihrer Strähne.

Ina schaute auf die Armbanduhr. »Hast du alles verstanden?«

Elsa nickte, ohne sie anzusehen.

Ina dachte daran, dem Mädchen durch das dünne blonde Haar zu streichen, ein paar tröstende Worte zu sagen, aber sie ließ es. Niemanden bevorzugen. Die Zeichen erkennen. Auf schwierige Situationen reagieren. Das Problem lösen. Aber niemanden bevorzugen.

Elsa trug graue Turnschuhe, als sie über den Parkplatz vor dem Schulgelände liefen. Wie selbstverständlich gingen sie nebenei­nanderher. Ein paar Erstklässler, die an der Bushaltestelle standen, winkten ihr zu, und sie winkte zurück. Sie fühlte sich gut in ihrer Haut. Sie wurde gebraucht, sie tat etwas. Vielleicht würde man sie doch nicht entlassen, wenn sie sich einbrachte, wenn sie ihre private Zeit opferte.

Zu Hause wartete niemand auf sie. Der Mann, den sie liebte, hatte sich vor Kurzem von ihr getrennt. Ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen. Er war verheiratet, Vater eines halbwüchsigen Sohnes, seine Frau erwartete das zweite Kind. Vielleicht war diese angeblich ungewollte Schwangerschaft der Grund für den Bruch. Sie wusste es nicht. Anfangs hatte sie versucht, es herauszubekommen, ihn eventuell umzustimmen. Dann rief sie ihn nicht mehr an. Aus, vorbei, tot. Sie fühlte sich manchmal leer, das schon. Ihre Haut fühlte sich leer an, ihr Herz, ihr Kopf. Aber sie gehörte jetzt wieder sich selbst. Niemandem sonst. Sie fühlte sich leicht, erleichtert. Keine heimlichen Treffen. Kein Hoffen, kein Warten auf einen Anruf, auf seine schnarrende Stimme am Telefon. Seine Stimme schnarrte manchmal, wenn er getrunken hatte, wenn er sie wollte und nicht haben konnte. Sie musste keinen teuren Wein mehr kaufen. Sie kaufte jetzt Billigwein in Tetrapaks. Nicht weil es billiger war, sondern weil er es verabscheute, wenn sie solchen Fusel trank.

Narbengesicht. Manchmal begannen die Spuren in ihrem Gesicht zu jucken oder zu brennen. Wenn das Wetter umschwang oder der Vollmond sie nicht schlafen ließ.

Ihr Liebhaber hatte sie nie nach den Narben gefragt. Sie war darauf gefasst gewesen, sie malte sich das Gespräch aus: »Ein Unfall, ja …?«

»Nein, kein Unfall. Oder doch … Man könnte es so nennen … Man könnte Unfall dazu sagen.« Aber er war zu taktvoll oder zu gleichgültig, um nachzuforschen.

Ihr Magen knurrte. Sie klimperte mit dem Schlüssel, als könne das eine Geräusch das andere vertreiben. Sie schloss den Wagen auf, einen gebrauchten Golf, den sie sich vor ein paar Monaten geleistet hatte, und nahm einen Apfel aus ihrer Handtasche.

Elsa öffnete die Tür mit einem kräftigen Ruck, sie schien es nicht gewöhnt, Autotüren zu öffnen. Sie setzte sich, ohne zu fragen, auf den Beifahrersitz und schaute sich neugierig um. Ihr Blick blieb an dem Apfel ihrer Lehrerin hängen.

»Möchtest du ein Stück? Ja, schon klar …« Ina seufzte und kramte ein Klappmesser aus ihrer Tasche. »Wir teilen ihn, okay?« In ihrem Magen brodelte es, aber sie achtete nicht darauf.

»Darf ich?«, fragte Elsa. Sie hielt ihre Hand auf, wie im Unterricht, als sie die Kreide verlangte, und sah wartend zu ihr hoch.

Ina zögerte. Sie fühlte den Blick des Kindes wie eine Berührung. »Schnall dich erst an«, sagte sie.

Das Kind gehorchte. Es hantierte eine Weile mit dem Gurt herum, machte Ina mit einer Handbewegung klar, dass es sich nicht helfen lassen wollte. Die Lehrerin nickte dem Mädchen zu und schaltete das Radio ein. Ein Radiosprecher berichtete von der Situation in Ostdeutschland, der zunehmenden Arbeitslosigkeit und von Protesten vor der Treuhandanstalt in Berlin. Für den Sommer wurden drei bis vier Millionen Arbeitslose prognostiziert, und die SPD forderte von Bundeskanzler Helmut Kohl, dass er seinen Osterurlaub abbrechen solle. Kohl selbst sprach von »Übergangserscheinungen eines totalitären Regimes, das bankrottgegangen ist«. Ina seufzte. Wie lange würde dieser Übergang dauern, und wohin mochte er führen? Und was sollte es nützen, wenn der Bundeskanzler seinen Urlaub abbrach? In Sachsen gab es leider keine richtigen Osterferien, aber immerhin ein paar freie Tage. Was sollte sie bloß anstellen in dieser Zeit? Etwa Eier auspusten? Das miese Wetter lud noch nicht mal zu einem Spaziergang ein.

Die Stimme im Radio sprach jetzt von Verhaftungen: Hochrangige Stasi-Offiziere wurden festgenommen, weil sie die Rote Armee Fraktion militärisch ausgebildet und bei Terroranschlägen unterstützt haben sollten.

Sie dachte kurz über die Beschuldigung Beihilfe zum Mord nach, die der Reporter erwähnte, drehte an dem Knopf, bis Musik erklang, reichte dem Kind, das endlich angeschnallt war, Messer und Frucht und fuhr los.

Statt in zwei Hälften schnitt Elsa den Apfel sorgfältig in kleine Spalten und legte sie auf das Armaturenbrett.

Die Lehrerin nahm ein Stück und schob es sich in den Mund. Elsa schien mehr am Schneiden interessiert als am Essen. Vielleicht war es ja ein Fehler, einer möglicherweise gestörten Achtjährigen ein Messer zu überlassen? Ina dachte an die Zeichen, die das Kind an die Tafel gemalt hatte. Schaute sie nur schlechte Filme?

Elsa bot ihr ein aufgespießtes Obststück an.

Ina nahm es von der Messerspitze herunter. Von dem wenigen Essen schien sie nur hungriger zu werden. »Klapp das Messer jetzt mal zu«, sagte sie.

Elsa stach die Klinge in das überflüssige Kerngehäuse. Ruckartig ließ sie das Fenster herunter und warf den Apfelrest auf die Straße.

»Besser, du gibst mir jetzt das Messer …« Die nackte Klinge zeigte auf Ina.

Er hatte ihr die Waffe geschenkt. Zu deinem Schutz, hörte sie ihn sagen. Zu deinem Schutz, Narbengesicht. Natürlich nannte er sie nicht so, nie würde er so zu ihr sprechen. Er war gebildet, kultiviert, sensibel, dieser Scheißkerl.

»Leg das Messer beiseite, und iss ein paar Apfelstücke. Sonst esse ich sie alle.« Ina lachte gezwungen. Narbengesicht. Vielleicht hatte er sie ja deshalb verlassen. Wegen ihrer Narben?

Elsa klappte das Messer zu und steckte es in die Hosentasche. »Ich gebe es Ihnen später«, sagte sie ruhig. »Ich gebe es Ihnen später zurück.«

Die Lehrerin nickte abwesend, als wäre sie das Kind.

Ina fuhr jetzt schneller. Warum machte sie sich diese Mühe? Warum kutschierte sie eine ihrer Schülerinnen durch die Gegend, statt wie sonst nach Hause zu fahren? Sie wohnte im Waldstraßenviertel in einer verwinkelten Zweizimmerwohnung unter dem Dach, mit Ausblick auf die Parklandschaft des Leipziger Zoos. Im Sommer hörte sie manchmal das Trompeten der Elefanten. Die Lage der Wohnung war optimal, und sie wollte gern weiter in ihr wohnen. Allerdings war das Haus verkauft worden. Und der neue Eigentümer, der, wenn sie sich nicht irrte, aus einem Nest in Bayern stammte, gab sich alle Mühe, die alten Mieter zu vertreiben, damit er das Gründerzeithaus sanieren konnte. Genau genommen war sie die letzte Mieterin, die sich noch gegen einen vom Eigentümer finanzierten Umzug stemmte. Stur war sie schon immer gewesen. Und sie sah nicht ein, ihr kleines Reich für ein paar Hundert D-Mark aufzugeben. Sie fühlte sich wohl in ihrer Wohnung. Und sie war nicht käuflich. Auch wenn der Vermieter ihr mal den Strom, mal das Wasser für ein paar Tage abstellte, mal ein neues Entschädigungsangebot für ihren freiwilligen Auszug in den Briefkasten warf. Sie ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Am Abend würde sie ihren Tetrapak-Fusel genießen und, falls der Strom funktionierte, irgendeinen Spielfilm schauen oder ansonsten im Licht einer Kerze die Brigitte lesen, für die sie ein Probe­abo laufen hatte. Sie würde keine Zeit mehr damit verschwenden, an jemanden zu denken, der keine Zeit verschwendete, an sie zu denken.

Die Gegend, in die sie jetzt kamen, wirkte so trostlos, dass sie eine Gänsehaut bekam. Vom Kohlendreck graue Häuser; manche sahen leer aus, unbewohnt, verfallen, hohle Fenster, als hätte jemand die Scheiben samt Fensterkreuz herausgerissen, mit Brettern vernagelte Türen, Balkons, die mit Balken gestützt werden mussten, damit sie nicht einfach auf die Köpfe der Passanten krachten, darunter aufgespannte Netze, die die Putzbrocken auffangen sollten. Aber Passanten gab es hier nur wenige. Ein paar Kinder bewarfen sich vor einem leer stehenden Geschäft, einem ehemaligen Lebensmittelladen der HO, mit irgendetwas, vielleicht mit Steinen oder einfach nur mit Dreck. Würden sie auch auf die vorbeifahrenden Autos zielen? Vorsichtshalber warf sie einen Blick in den Rückspiegel, sah aber nur einen Wagen, der zu dicht hinter ihr fuhr. Was sollte das?

Die Straße war eine enge dunkle Gasse mit Kopfsteinpflaster. Sie ähnelte einem Tunnel. Allerdings keinem, aus dem man schnell wieder herauskam.

»Da drüben ist es.« Das Mädchen tippte an die Scheibe. »Da wohne ich.«

Sie parkten auf dem Bürgersteig und stiegen aus. Es roch nach Rauch und etwas süßlich Versengtem. Die Fassade war fleckig, graubraun; faustgroße Löcher klafften wie Wunden in dem Gemäuer. Drinnen flackerte gedämpftes Licht, wie von Kerzen oder von schwachen Glühbirnen. In der Ferne bellte ein Hund.

»Na, dann los.« Ina lächelte ihr Lehrerin-Lächeln. Es fühlte sich noch gequälter an als sonst. »Vielleicht klingeln wir und warten darauf, dass deine Mutter herauskommt?«

»Klingeln?« Elsa schüttelte verwundert den Kopf. »Wir haben keine Klingel.«

Der Geruch nach Rauch wurde stärker. Der Hund bellte wieder. Aber es klang gar nicht mehr so fern.

Elsa stemmte sich gegen das schwere rostige Tor und schob es auf. Sie drehte sich nach ihrer Lehrerin um und winkte mit zwei Fingern.

Ina folgte dem Kind. Der Boden, den sie betrat, war weich wie Moos. Er bestand nur aus Sand, welken Blättern und Sand, nichts Besonderes. Dennoch kam es ihr einen Moment so vor, als würde sie versinken. Sollte sie umkehren? Das Kind sich selbst überlassen? Zögernd warf sie einen Blick zurück zu ihrem Wagen. Ein zweites Auto schob sich langsam hinter ihren Golf. Ein Mann in dunkler Kleidung stieg aus, starrte kurz zu ihr hinüber. Eine schwarze Kapuze bedeckte sein Gesicht zur Hälfte. War das etwa der Wagen, der zu dicht aufgefahren war? Hatte er sie verfolgt? Ach, Unsinn! Sie wandte den Blick ab.

Ina würde ein paar Worte mit Elsas Mutter wechseln und dann schleunigst von hier verschwinden. Hausbesuche waren seit der Wende ohnehin nicht mehr üblich. Wozu gab es die Elternabende? Sie sackte mit dem linken Stiefel in die Erde ein und spürte, wie Feuchtigkeit ihre Waden hinaufkroch. Kein Grund zur Sorge. Es hatte geregnet. Ein nasser, glitschiger Boden war normal. Wieder nahm sie einen süßen schwelenden Geruch wahr. Was verbrannte da? Sie spürte Übelkeit, Schwindel, etwas drehte sich in ihrem Kopf.

Was wollte sie der Frau erzählen? Dass ihre Tochter keine Schuhe trug? Dass sie Kreide in den Mund steckte? Dass sie ihre Schultasche vergaß? Genau. Deshalb war sie hier. Um einer Frau, die sie nicht kannte, Dinge zu erzählen, die diese Frau garantiert nicht hören wollte. Der Hund bellte. Das Geräusch fuhr ihr durch den Körper wie ein Stromschlag. Es klang nah, sehr nah, zu nah.

Ina blieb stehen. »Ich glaub, ich hab noch einen Termin.«

Elsa hörte sie nicht. Sie lief ein paar Schritte voraus, wandte sich um, kam zu ihr zurück und schubste sie sanft an. »Am Feuer ist es warm«, erklärte Elsa, als wollte sie Ina trösten. »Im Haus ist es kalt, aber am Feuer ist es warm.«

»So?« Ina bewegte sich nicht von der Stelle. »Aber ich … ich kann nicht … Ihr habt einen Hund, oder? Ich habe noch einen Termin … beim Arzt.«

»Sind Sie krank? Sie sehen nicht krank aus. Kommen Sie. Es gibt etwas zu essen.« Das Kind lachte. »Sie haben doch Hunger, oder?«

Ina seufzte. Sie war diejenige, die sich hier merkwürdig benahm. Das Kind verhielt sich vernünftiger als sie. Ihr fiel ein, dass sie am Nachmittag noch eine Verabredung hatte – mit Friederike, einer Freundin; sie war mit ihr in einem Café im Zentrum der Stadt verabredet. Es gab also etwas, worauf sie sich freuen konnte.

Sie kamen in einen engen Innenhof. Von Feuer konnte eigentlich keine Rede sein. Glut glomm. Ein paar Männer und Frauen saßen um die Stelle herum. Vier junge Männer, zwei junge Frauen. Schwarz gekleidet, schwarz gefärbte Haare, blasse Gesichter. Einige von ihnen trugen schwere Ketten um den Hals, um die Handgelenke. Metall bohrte sich durch ihre Nasen, Lippen und Ohren. Sie aßen Fleisch, das rosig aussah, als wäre es noch nicht ganz gar.

»Das ist meine Lehrerin«, sagte Elsa stolz. »Ich habe sie mitgebracht. Also, ich meine: Sie hat mich mit ihrem Auto nach Hause gebracht.«

Die Männer und Frauen reagierten nicht. Sie musterten die Ankömmlinge mürrisch, gleichgültig; sie warfen die Abfälle ihrer Mahlzeit in die Glut und wischten sich die Münder mit den Ärmeln ab.

»Meine Lehrerin hat Hunger«, erklärte Elsa und gesellte sich zu den Sitzenden. »Ich glaube, sie hätte gern ein Stück totes Tier.«

Raues Gelächter erklang, das abrupt wieder verstummte.

Ina schob tapfer ihr Lächeln auf die Lippen. »Machen Sie sich keine Umstände.«

»Sie kann meine Portion haben«, sagte Elsa. »Gebt ihr meine Portion, ja?«

»Nein, danke!« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme zu laut wurde. Als müsste sie sich gegen den Lärm im Klassenraum durchsetzen. Dabei waren diese Leute still, schweigsam, abweisend. Sie weigerten sich, sie wahrzunehmen. »Elsa, komm bitte mal zu mir.«

Das Mädchen folgte unschlüssig; ihre Schultern sackten nach unten, als sei sie wieder in der Schule, als sollte sie noch einmal Aufgaben an der Tafel lösen.

Ina versuchte, den Geruch der versengten Knochen und Hautfetzen zu ignorieren. Wahrscheinlich nur Hähnchen, dachte sie. Sie holte tief Luft. »Also … Wo ist sie?«

»Wer?« Elsa lächelte verständnislos.

Ina beugte sich zu ihr hinunter. »Ich meine deine Mutter. Wo ist deine Mutter?«

»Keine Ahnung«, sagte Elsa gleichgültig. »Vielleicht im Haus … Sie können meine Portion haben, wenn Sie wollen. Ehrlich. Ich mag sowieso keine toten Tiere. Wollen Sie nicht etwas essen? Sie sind so nett zu mir. Viel netter als die anderen Lehrer.«

Ina seufzte. Sie hockte sich vor das Kind und nahm seine schmalen kalten Hände. »Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Aber … ich möchte jetzt gern mit deiner Mutter sprechen.« Sie fühlte einen merkwürdig starken Impuls, das Mädchen an sich zu ziehen und zu umarmen. Doch sie war die Lehrerin, sie durfte kein Kind bevorzugen, nicht einmal außerhalb der Schule, nicht einmal jetzt. Sie ließ ihre Schülerin los. »Hol sie bitte«, sagte sie streng. »Ich warte hier.« Der Gedanke, allein mit den Gestalten am Lagerfeuer zu bleiben, gefiel ihr zwar ganz und gar nicht, aber noch weniger behagte ihr die Vorstellung, in dieses baufällige Haus zu gehen.

»Na schön«, sagte Elsa. »Na schön, wie Sie wünschen.«

Sie lief gerade, mit zurückgezogenen Schultern, wie jemand, der gezwungen ist, einen Befehl auszuführen, auf das Haus zu.

In die Eingangstür waren Zeichen geritzt, die der Lehrerin bekannt vorkamen. Es waren die gleichen, die Elsa an die Tafel gezeichnet hatte. Kaum vorstellbar, dass das Mädchen hier lebte. Dass sie ein und aus ging in ein Gebäude, das eigentlich abgerissen werden sollte. Manche Kinder sind eben arm dran, dachte sie. Da kann man nichts machen. Nicht genug. Es gibt zu viele, die arm dran sind. Sie warf verstohlene Blicke zu der Runde, die um die Feuerstelle saß. Die Männer und Frauen aßen immer noch schweigsam, kauten an den letzten Bissen, nagten an den Knochen und spuckten Knorpel aus. Nicht einer von ihnen beachtete sie. Wer war sie schon. Jemand Fremdes, jemand von draußen, niemand, der hierhergehörte. Erstaunlich schien allein die Tatsache, dass sie überhaupt an diesen Ort gelangt war. Erstaunlich für sie selbst jedenfalls. Unversehens fand sie sich in der Fremde wieder, mitten in einer Stadt, in der sie seit Jahren lebte.

Ein rasselnder Atem riss sie aus ihren Gedanken. Die Zunge sah sie zuerst, dann die weißen spitzen Zähne, die feuchte Nase, die großen nassen Augen, die sie ansahen. Der Schäferhund. Er war es. Derselbe, der sie vor Jahren fast umgebracht hatte. Der ihr das Gesicht zerfleischt hatte. Er war es wieder. Er stand wieder vor ihr. Wie in ihren Träumen. Wie in diesen widerlichen Träumen. Nicht an die Träume denken … Wie in der Realität. Kein Halsband diesmal. Kein Herrchen, kein Frauchen. Sie wich langsam zurück. Aber natürlich half ihr das nichts. Er folgte ihr, schnüffelte an ihr. Er schob seine Schnauze an ihr Fleisch. Sie spürte seine Zunge an ihren Händen, die schlaff herunterhingen. Sie roch seinen Atem; es war ein herber, aufdringlicher Geruch nach Hundefutter. Sein Gesicht sah schwarz aus, wie verkohlt. Er atmete mühsam, geräuschvoll.

Sie ging rückwärts bis zur Feuerstelle; sie trat auf etwas und murmelte eine Entschuldigung. Es war nur Holz, nur ein Stück angebranntes Holz. Der Schäferhund blieb bei ihr wie ein treu ergebener Feind. Jetzt sah das Haus gar nicht mehr so abschreckend aus. Die Tür stand einladend weit offen. Im obersten Stockwerk brannte Licht. Vielleicht wartete Elsa schon auf sie. Vielleicht saß Elsa bei ihrer Mutter auf einem weichen Sofa und wartete auf sie. Und falls Elsa ihre Mutter nicht gefunden hatte, wartete sie vielleicht auf jemanden, der sie in den Arm nahm und tröstete. Gewiss, sie war Lehrerin, sie durfte kein Kind bevorzugen, aber sie trug die Verantwortung. Die Verantwortung für das Kind und für sich selbst, dafür, dass ihr Herz nicht mehr hämmerte wie verrückt, dafür, dass es ihr nicht zersprang wie ein Stück Kreide unter zu viel Druck.

Sie musste in dieses Haus gehen. Es gab keinen anderen Weg.

Der Schäferhund begann zu knurren, als sie sich von der Feuerstelle wegbewegte. Aber er kam ihr nicht nach. Er lief zwischen dem Haus und den Menschen auf und ab. Ina ging unbeirrt auf die offene Tür zu. Sie hörte den rasselnden Atem des Schäferhundes hinter sich. Sie hörte sein heiseres Bellen. Ein Teil ihres Verstandes wollte sie an dem Haus vorbeiführen, sie musste nur den modrigen Weg zurückgehen, das Tor öffnen, in ihren Wagen steigen … Aber sie hatte ihren Auftrag noch nicht erfüllt, auch wenn es, abgesehen von ihr selbst, keinen Auftraggeber gab und sie sich nicht so recht erinnern konnte, welchen Auftrag es zu erfüllen galt.

Die Tür des Hauses stand jetzt sperrangelweit offen, unübersehbar, eine Einladung, eine Aufforderung … Und sie setzte einfach einen Fuß vor den anderen. Sie spürte ein leises Klopfen unter ihrer Gesichtshaut, in der Spur ihrer Narben. Es pochte rhythmisch in ihren Wundmalen. Es war ein sanftes Schlagen, nicht unangenehm. Ein Beweis dafür, dass sie lebte, existierte, dass sie tatsächlich hier war, an diesem Ort, in diesem Moment.

»Darf ich Ihnen mein Zimmer zeigen?« Elsas Stimme klang heller, kindlicher, als wäre sie plötzlich jünger geworden. »Oder wollen Sie … den anderen Raum sehen?«

Ina stolperte in das Haus hinein, über Schutt, leere Flaschen, irgendwelche Dinge hinweg, auf ihre Schülerin zu. Ihre Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Aber es dauerte nur einen Moment, dann sah sie erstaunlich klar. Elsa lächelte. Sie schien sich tatsächlich zu freuen über ihre Anwesenheit.

»Den anderen Raum?«, fragte Ina.

» … das verbotene Zimmer«, flüsterte das Kind. »Ein Geheimnis …, von dem niemand wissen darf.«

Ina hörte die gewisperten Worte sehr genau, sie war geschult darin, auch die leisen Stimmen wahrzunehmen. Sie hörte das Bedrohliche, das wie eine Warnung klang. Aber ihre Neugier überwog.

»Ein Geheimnis? Was denn für ein Geheimnis?« Ihre Stimme klang rau, kaum vernehmbar, es war mehr Geräusch als Sprache, Elsa schien sie dennoch zu verstehen. In ihren Kieselsteinaugen glomm ein düsteres Licht auf. Es war das erste Mal, dass das Kind sie so ansah, so wissend.

»Eigentlich darf ich es keinem zeigen«, flüsterte das Mädchen.

Die Stufen in dem Treppenhaus waren ungleichmäßig, einige fehlten. Das Geländer wackelte, etwa in der Mitte des Hauses hörte es ganz auf.

Das gehört dazu, dachte Ina, das gehört dazu, wenn ich meinen Job nicht verlieren will. Irgendetwas stimmt hier nicht. Und ich muss herausfinden, was.

Ina wusste, dass sie diesen Weg zu Ende gehen musste. Es gab keinen Weg zurück. Sie fühlte sich ruhig, beinahe glücklich. Sie musste nur etwas für dieses verlorene Kind tun. Es war fast zu einfach.

Von unten schallte etwas zu ihnen herauf. Stimmen von Erwachsenen, Schritte. Kam das vom Hof? Ina nahm wahr, dass Elsa zusammenzuckte. Das Mädchen blieb abrupt stehen und reichte ihr einen harten Gegenstand, ihr Messer.

»Du musst bis ganz nach oben gehen«, sagte das Kind leise. »Bis zur letzten Tür. Da findest du das verbotene Zimmer. Du erkennst es an den Zeichen. Ich darf dich nicht weiter begleiten. Sonst wissen sie Bescheid.«

»Worüber denn?« Ina umschloss das Taschenmesser mit festem Griff.

Elsa seufzte. Ihr Gesicht sah jetzt ernst und blass aus. »Dass ich das Geheimnis verraten habe«, flüsterte sie.

Ina lächelte ratlos, sah, wie Elsa die Stufen hinunterstürmte. »Ich warte in meinem Kinderzimmer auf dich!«, rief sie ihr noch zu.

Ein Geheimnis also. Aha. Wahrscheinlich war da oben gar nichts weiter. Nur ein alter staubiger Dachboden. Und nachmittags würde sie mit Friederike Kaffee trinken und ihr von ihrem merkwürdigen Hausbesuch erzählen. Dann hatten sie etwas, wo­rüber sie lachen konnten.

2

Beate erwachte allmählich, blinzelte schlaftrunken, lauschte in die Stille hinein und nahm Steffens gleichmäßigen Atem wahr. Sie drehte sich zu ihm, vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, und beobachtete ihn eine Weile; irgendwie überrascht, dass er neben ihr lag und friedlich schlief. Er sah aus wie ein Kind, fand sie. Blondes struppiges Haar, lange Wimpern, volle Lippen, glattes Kinn. Auf alle Fälle wirkte er jünger, als er eigentlich war. Sein Kopf ruhte auf dem Kissen wie auf einer Wolke. Seine Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten sich schnell hin und her. Er schien zu träumen. Wovon? Beate hätte es gern gewusst.

Sie waren jetzt schon eine Weile zusammen, auch wenn sie das vor den Kollegen der Kripo Leipzig immer noch verheimlichten. Es brauchte niemand zu wissen, dass sie mit dem jungen Kriminaltechniker ins Bett ging. Falls …

Falls was? Im Grunde erstaunte es sie jedes Mal aufs Neue, dass er bei ihr blieb, dass er sich nach dem Sex nicht einfach davonschlich und sie links liegen ließ. Waren sie denn wirklich zusammen? War er in sie verliebt? Manchmal kam es ihr so vor und manchmal nicht. Steffen war kein Typ, der im Kino Händchen hielt und ihr rote Rosen, teuren Schmuck oder auch nur ein paar klebrige, mit Alkohol und Kirschen gefüllte Pralinen schenkte. Und sie war keine Frau, die solche Dinge erwartete.

Im Gegenteil. Sie versuchte, gar nichts von ihm zu erwarten.

War das möglich? Wohl kaum. Man erwartete doch immer irgendetwas von einem Menschen, der mehr oder weniger zufällig im selben Bett lag, oder?

Hatte sie sich in ihn verliebt? Sie freute sich, dass er da war, dass sie neben ihm aufwachte, nicht allein frühstücken musste, mit ihm über das Wetter, neue Filme im Kino oder die Arbeit reden konnte. Genügte das für eine Beziehung?

Sie mochte diesen Begriff nicht besonders. Er erschien ihr so beliebig, so ungefähr, beinahe bedeutungslos. Das Wort Affäre traf es wohl eher, auch wenn es etwas anrüchig klang. Und eine Affäre zu haben hieß doch, dass es nur etwas Oberflächliches war, nichts »Ernstes«, nichts »Festes«, nichts, was länger dauern oder gar zum Traualtar führen würde.

Beate nickte leicht vor sich hin. Genau. Der Begriff »Affäre« stimmte schon. Heiraten kam für sie sowieso nicht infrage. Der Anblick von Hochzeitskleidern in Schaufenstern bewirkte einen Würgereiz bei ihr. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum Frauen oft so erpicht darauf waren, sich in ein unbequemes, gardinenähnliches Kleid mit kratzender Spitze zu hüllen, und fast in Ohnmacht fielen, wenn sie endlich einen Ring auf den Finger geschoben bekamen. Beate war viel zu freiheitsliebend, um sich in die Ketten einer Ehe legen zu lassen. Also war so ein Abenteuer mit einem sympathischen Kerl, der Steffen nun mal war, doch genau das Richtige für sie, oder? Würde sie sich von ihm trennen, wenn er ihr einen Heiratsantrag machen würde? Wahrscheinlich schon. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass er nicht auf eine solch hirnverbrannte Idee kam.

Das schrille Klingeln des Telefons riss Beate jäh aus dem Bett. Sie lief in den Flur, in dem der Apparat auf einem zierlichen dunklen Holztisch stand.

»Hallo?«

Sie hörte ein Räuspern. »Beate?«

Wer sonst, dachte sie. »Ja?«

»Du musst herkommen. Tut mir leid, dich am Karfreitag … ähm … stören zu müssen. Die neue Kollegin, Sophie Steiner, hat sich krankgemeldet. Genauer gesagt, ihr Kind ist krank.« Ihr Vorgesetzter Arno Berg knurrte mehr ins Telefon, als dass er sprach, als wäre er selbst nicht ganz gesund.

»Hm.« Beate seufzte.

»Ich weiß. Ostern steht vor der Tür. Aber … Du musst herkommen und diese Vermisstensache übernehmen. Es sieht … nicht gut aus.« Er räusperte sich wieder. »Vermisstenfall mit Straftatverdacht«, fügte er düster hinzu.

»Die Lehrerin?«

»Genau die.«

»Verstehe.« Beate fröstelte. Sie war barfuß und trug ein dünnes weißes, fast durchsichtiges Nachthemd, von dem sie hoffte, dass es auf Steffen einigermaßen sexy wirkte. Wäre sie allein gewesen, hätte sie ihren roten Flanellschlafanzug angezogen, der aussah wie ein altmodisches Weihnachtsmannkostüm und sie nachts zuverlässig vor der Kälte schützte.

Ihre neue Kollegin Sophie war nett, intelligent, sympathisch, clever und in Beates Alter, nein, etwas jünger. Aber … sie hatte einen kleinen Sohn, der erst seit Kurzem eine Kita besuchte und leider oft krank wurde. So viel war klar: Einen Vermisstenfall konnte man nicht auf die lange Bank schieben.

»Ich komme«, murmelte sie in den Hörer und legte auf.

Kurz dachte sie daran, Steffen zu wecken und ihm Bescheid zu sagen.

Stattdessen schrieb sie ein paar erklärende Worte auf einen Zettel, den sie auf ihr Kopfkissen legte. Dann fiel ihr etwas ein, und sie nahm das Papier noch einmal an sich und fügte hastig hinzu: Bitte die Meerschweinchen füttern!

Arno Berg empfing sie mit einem Lächeln, das etwas griesgrämig schien.

Es roch nach Kaffee in dem Büro, doch er bot ihr keine Tasse an.

Die Leipziger Dienststelle wirkte ungewöhnlich leer. Sogar Moni, die Sekretärin, war für ein paar Tage im Osterurlaub. Und der Kollege Josef Almgruber, mit dem Beate normalerweise zusammenarbeitete, besuchte zusammen mit Sohn Florian seine Mutter, die in Nürnberg lebte, soweit Beate wusste, der Stadt, aus der Almgruber stammte.

Ihr Chef schob ihr eine Akte über den Tisch. »Kollege Viktor Lüder hat schon alle Informationen zusammengestellt. Die Lehrerin Ina Reinhardt wird seit dem 26. März vermisst. Die Umstände ihres Verschwindens sind, nun ja, mysteriös könnte man sagen. Weißt du über den Fall Bescheid?«

»Im Groben schon. Wer hat sie vermisst gemeldet?«

»Ihre Freundin, mit der sie verabredet war. Name und Adresse findest du in der Akte. Sie weiß schon, dass du vorbeikommst. Ich habe gerade mit ihr telefoniert.«

»Aha.« Dann weiß sie das ja eher als ich, dachte Beate, sprach es jedoch nicht aus. »Was ist mit der Schule?«

»Was soll mit der sein?« Berg klang unwirsch. Offenbar erwartete er, dass sie sofort loszog, um die Frau zu befragen. Erläuternde Gespräche nach Anweisungen, die er erteilte, hielt der ehemalige Major oft für überflüssig. »Es sind Ferien. Da dürfte jetzt niemand sein. Erst nach Ostern …«

»Ich meinte: Hat sich jemand von ihrer Arbeitsstelle gemeldet?«, unterbrach Beate ihn.

»Steht alles in der Akte«, antwortete er kurz, in leicht genervtem Tonfall. »Der Hausmeister der Schule hat eine Aussage gemacht. Offenbar ist sie bei einem Elternbesuch verschwunden.«

»Bei einem Elternbesuch?« Von irgendwelchen Eltern hatte Beate bisher nichts gehört.

»Sie wollte wohl die Mutter eines Mädchens aus ihrer Klasse besuchen. Unangekündigt.« Arno Berg holte tief Luft. »In einem besetzten Haus in Connewitz.« Er schwieg einen Moment, sah Beate bedeutungsvoll an und rollte mit den Augen. »Du solltest erst mal mit der Freundin der Vermissten reden, ehe du zu diesen Hausbesetzern fährst.«

Beate ignorierte den verächtlichen Tonfall. Dass ihr Chef, der einstige Major, ein konservativer Knochen war, wusste sie ja. Und sie fühlte sich nicht dazu berufen, ihn umzuerziehen.

Friederike Dammert wohnte in einer ruhigen Nebenstraße im Leipziger Stadtteil Stötteritz. Vom Hausflurfenster aus konnte man in einen kleinen Park sehen, wie Beate feststellte. Sie gönnte sich einen kurzen Blick in das Grün des beginnenden Frühlings.

»Kommen Sie allein?«, fragte Frau Dammert verwundert, als sie die Tür ihrer Wohnung öffnete. »Dachte, die Kripo erscheint immer mindestens zu zweit.«

Beate lächelte höflich. Sie wollte lieber nichts von Personalmangel und Osterferien erzählen. »Es geht erst mal um ein Gespräch und Klärung der Sachlage.«

»Klärung der Sachlage? Früher hieß das: Zur Klärung eines Sachverhalts!« Friederike Dammert stieß einen verächtlichen Ton aus. »Am Telefon habe ich Ihrem Kollegen doch schon alles erzählt. Sie sollten schnellstmöglich anfangen zu suchen!«

»Kann ich reinkommen? Dann können wir in Ruhe alles besprechen.«

Beate wartete die Antwort nicht ab und schob sich durch die Tür, an der Person, die sie zu befragen hatte, vorbei, in den Flur hinein.

Einen Moment verhärtete sich das Gesicht der Frau. Eher widerwillig führte sie Beate in ihr Wohnzimmer.

Der Raum war weiß. Weiße Wände, weiße Möbel, ein weißes Lammfell auf dem Boden. Nur die Keramik, die überall herumstand – Schalen, Tassen, Becher und kleine Skulpturen – strahlten zarte, klare Farben aus.

Friederike Dammert hatte eine schmale Figur, ein längliches Gesicht mit einer Nase, die an einen Schnabel erinnerte. Ihre Fingernägel leuchteten perlmuttfarben. Ihre Mimik wirkte angespannt. Aber vielleicht war sie auch einfach nur nervös, weil ihre Freundin verschwunden war. Ihr asymmetrisch geschnittenes Haar und das weiße Männerhemd, das ihr bestimmt drei Nummern zu groß war, unterstrichen ihre Persönlichkeit, die – nach dem ersten Eindruck zu urteilen – keine einfache war.

»Sie sind Künstlerin?«, fragte Beate und zückte Stift und Notizbuch.

»Freiberufliche Keramikgestalterin«, antwortete die Frau mit einem gewissen Stolz. »Aber was tut das zur Sache?«

Beate ignorierte die Frage. »Seit wann vermissen Sie Frau Reinhardt?«

»Wir waren verabredet. Zum Kaffee. Letzten Dienstag. Am 26. März, um fünfzehn Uhr dreißig. Das habe ich alles schon zu Protokoll gegeben.« Sie strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. »Ina kam nicht in das Café am Thomaskirchhof, ins Bachstübl, kennen Sie das?«

Beate schüttelte den Kopf.

»Gegenüber der Thomaskirche ist das. Jedenfalls, sie kam nicht in das Café. Und sie hat mich auch nicht angerufen. Weder vorher, um mir Bescheid zu geben, noch nachher, um sich zu entschuldigen. Das ist absolut untypisch für sie. Ina ist sonst stets zuverlässig. Sie ist die Pünktlichkeit in Person!«

»Was haben Sie getan, als Ihre Freundin nicht auftauchte?«

»Vom Café aus rief ich in der Schule an, obwohl ich nicht damit rechnete, noch jemanden um die Zeit zu erwischen. Doch der Hausmeister ging schließlich ans Telefon. Er erzählte, dass Ina einen Hausbesuch machen wollte. Wohl wegen eines Mädchens aus asozialen Verhältnissen, wie er andeutete. Ina nimmt es immer sehr ernst, wenn mit ihren Schützlingen etwas nicht stimmt.«

»Sie meinen zu ernst?«

»Mag sein. Sie ist da etwas … übereifrig vielleicht. Aber ich kann das schlecht einschätzen. Ich bin ja schließlich keine Lehrerin.«

»Hat der Hausmeister erzählt, wo sie hingefahren ist?«

»Nein. Sie wollte dieses Kind nach Hause bringen und mit der Mutter sprechen. Mehr konnte er mir nicht sagen. Ich bin später bei ihr vorbeigefahren und habe geklingelt. Aber sie war nicht da. Dann habe ich in jedem Krankenhaus in Leipzig angerufen …«, sie holte tief Luft, »vergeblich.«

Beate nickte. Das hatte die Neue, Sophie Steiner, auch schon herausgefunden und den Kollegen bei der letzten Besprechung mitgeteilt. Eine Patientin namens Ina Reinhardt oder ein Unfallopfer, auf das die Beschreibung passte, befand sich in keinem der Krankenhäuser der Stadt.

»Und danach? Haben Sie Ihre Freundin auf eigene Faust gesucht?«

»Nein. Ich wüsste auch nicht, wo ich da anfangen sollte. Ich kenne niemanden ihrer Kollegen persönlich. Und zu Angehörigen ihrer Familie habe ich keinen Kontakt. Als die Anrufe bei den Krankenhäusern nichts brachten, bin ich ins Polizeipräsidium gegangen und habe Ina als vermisst gemeldet.«

»Sie kennen sich schon länger?«

»Lang genug. Über ein Jahr, würde ich sagen. Sie besuchte meinen Töpferkurs, da haben wir uns kennengelernt. Aber sie hielt den Kontakt auch danach, kam mit Fragen zu mir. Sie wollte mehr wissen – nicht nur über das Töpfern, sondern auch darüber, wie ich lebe.«

»Warum?«

»Sie hat wohl Angst davor, arbeitslos zu werden. Mir scheint, sie findet sich in der neuen Zeit nicht zurecht, mit all den Änderungen. Sie sucht, glaube ich, nach Alternativen. Genau weiß ich das auch nicht.«

»Sie steckte also in einer schwierigen Lage?«

»In der steckt sie noch immer. Die Angst, ihren Job zu verlieren, konnte ich ihr nicht nehmen. Ich war ja auch eine kurze Zeit arbeitslos, aber ich bin erst gar nicht zum Arbeitsamt gegangen. Die Demütigung habe ich mir erspart.« Sie stieß ein verächtliches Prusten aus. »Wissen Sie, ich wollte immer freiberuflich arbeiten. In der DDR wurde mir das verwehrt, und so war ich anfangs erschrocken, dann aber froh, als ich meine Arbeit im VEB Porzellanwerk Colditz verlor.«

Beate blickte überrascht von ihren Notizen auf. »Sie haben sich darüber gefreut, Ihren Job zu verlieren?«

»Ja, das klingt komisch, was? Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich war erleichtert, dass ich endlich das tun konnte, was ich immer wollte. Frei, kreativ, unabhängig und mein eigener Chef sein.«

»Verstehe«, sagte Beate, obwohl sie sich ein wenig wunderte. In diesen Zeiten kämpften so viele Menschen im Osten verzweifelt um ihre Arbeitsplätze. Da klang die klare Ansage von Frau Dammert recht ungewöhnlich. Konnte man von Keramikkunst und Töpferkursen denn leben?

»Können Sie etwas konkreter benennen, in welchen Schwierigkeiten Ihre Freundin Ina Reinhardt steckt?«

»Sie ist davon ausgegangen, dass sie ihre Stelle als Lehrerin verlieren wird. Auch ihre Wohnsituation war alles andere als erfreulich.«

»Wie meinen Sie das?«

Friederike zuckte mit den Achseln. »Wie schon. Neuer Eigentümer eben. Ein Herr aus dem Westen, aus Bayern glaube ich, hat das Gründerzeithaus gekauft, wohl wegen der guten Lage. Und er hat die Mieter gedrängt auszuziehen, damit er so schnell wie möglich mit dem Sanieren beginnen kann. Sie haben das angebotene Geld genommen und sind gegangen. Nur Ina ließ sich nicht vertreiben.«

Beate nickte und schrieb mit. »Wissen Sie den Namen des Hausbesitzers?«

»Nein, keine Ahnung. Sie hat ihn vielleicht mal erwähnt, aber mein Namensgedächtnis ist nicht so ausgeprägt. Jedenfalls scheint er sie schikaniert zu haben, damit sie endlich auszieht.«

»Hatte sie sonst noch Probleme? Ärger mit einem Mann zum Beispiel?«

Wenn Frauen plötzlich verschwanden, steckte nicht selten der Ehemann, der sich eine Jüngere geangelt hatte, oder ein eifersüchtiger Liebhaber dahinter. Entweder flüchteten die Frauen vor der Gewalt, oder sie fielen ihr zum Opfer. Beate wollte zwar nicht mit dem Schlimmsten rechnen, aber sie musste herausfinden, ob eine Beziehungstat infrage kam.

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete die Frau. »Sie lebte schon länger getrennt, glaube ich. Aber so genau haben wir darüber nicht gesprochen. Sie wollte mich mit ihren privaten Angelegenheiten nicht belasten, erklärte sie mir einmal.«

»Den Namen ihres Ex-Freundes haben Sie dann auch nicht für mich?«

Friederike Dammert schüttelte den Kopf. »Wie erwähnt: Ich merke mir selten mal Namen, wenn sie für mich nicht weiter wichtig sind.«

»Schade«, bedauerte Beate. »Wenn Ihnen die Namen wieder einfallen, sagen Sie mir Bescheid?«

»Ja, aber das ist leider unwahrscheinlich. Sie müssen sich schon, was die Namen angeht, um andere Quellen bemühen.«

»Das werde ich.« Beate überging den leicht schnippischen Ton und betrachtete die Keramik, die auf dem Tisch und in den Regalen stand. Die meisten Gefäße waren blau-weiß, mit zarten Blumen, Kleeblättern und Grashalmen bemalt. Sie wirkten filigran und zerbrechlich, wie die Frau selbst. »Ich muss Ihnen leider noch eine unangenehme Frage stellen«, sagte sie.

»Sie meinen, Sie wollen mein Alibi wissen? Ich saß im Café, als sie verschwand, dafür gibt es Zeugen!«

Beate lachte unwillkürlich auf. »Nein. Es geht nicht um Ihr Alibi.« Jedenfalls noch nicht, dachte sie. »Wir müssen ja erst mal herausfinden, was überhaupt passiert ist. Vielleicht ist Ihre Freundin ja doch weggegangen und wollte ein neues Leben anfangen? Irgendwo an einem Ort mit besserer Perspektive? Viele verschwinden in den Westen und suchen sich in Westberlin, Hannover, Göttingen, München, Hamburg, Lübeck oder Frankfurt am Main eine Arbeit. Warum sollte Ina Reinhardt abwarten, bis sie aus ihrer Wohnung und dann vielleicht noch aus der Schule rausgeworfen wird?«, fragte Beate.

»Sie haben recht. Auszuschließen ist das nicht. Es ist sogar naheliegend, dass sie aus Leipzig weggeht. Aber sie hätte mir Bescheid gesagt! Und die Umstände ihres Verschwindens sind mehr als merkwürdig, finden Sie nicht?«

»Was ich finde, ist unerheblich. Wir nehmen Ihre Vermisstenanzeige natürlich ernst, sonst wäre ich nicht hier.« Sie klang missmutig, das hörte sie selbst. Wahrscheinlich ein Symptom des Kaffeeentzugs. Außer einer hastig heruntergeschlungenen Banane hatte sie auch noch nichts gegessen.

»Sie hatten mir eine unangenehme Frage angekündigt. Wollen Sie von mir wissen, ob Ina einfach so abhaut? Ob ich ihr das zutraue?«

Beate schüttelte den Kopf. Es fiel ihr merkwürdig schwer auszusprechen, was sie aussprechen musste. »Meine Frage ist eine andere: Halten Sie Ina Reinhardt, angesichts ihrer Probleme, für selbstmordgefährdet?«

»Auf keinen Fall!«, rief Friederike Dammert empört aus. »Sie hat nach Lösungswegen gesucht, nicht nach einem Strick oder nach einem Gift, um ihr Leben zu beenden!«

»Gut«, sagte Beate erleichtert. Sie hoffte, dass Frau Dammert mit ihrer Einschätzung recht behielt. »Meine Kollegen und ich werden sie finden«, versprach sie. »Früher oder später«, fügte sie hinzu, als sie den zweifelnden Blick wahrnahm.

»Ich hoffe, nicht zu spät!«

Beate blickte in das Gesicht, das zugleich sorgenvoll und skeptisch aussah. »Das hoffe ich auch. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

Friederike Dammert nickte und nahm die Visitenkarte, die Beate ihr reichte, mit kühler Miene entgegen. »Und noch eine letzte Frage: Haben Sie ein aktuelles Foto von der Vermissten?«

Nach dem Besuch bei Friederike Dammert dachte Beate einen Moment darüber nach, einfach nach Hause zu fahren, mit Steffen vielleicht noch zu frühstücken, die Suche nach der Lehrerin ruhig angehen zu lassen. Aber der Moment verging schnell. Heute war der vierte Tag des Verschwindens. Vier Tage waren schon eine lange Zeit. Und dass ihr Chef diesen Fall einer unerfahrenen Anfängerin übergeben hatte, die sich gerade um ihr krankes Kind sorgte, war ein Fehler und zeugte davon, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Jetzt lag es an ihr, sich auf Spurensuche zu begeben, eine Frau zu finden, die sich höchstwahrscheinlich in Not und vielleicht in Lebensgefahr befand. Alles deutete darauf hin, dass ihr etwas passiert sein musste. Bloß was?

Beate Vogt fuhr an etlichen Baustellen vorbei. Im Stadtteil Connewitz hatte die Sanierung der Gebäude bereits 1990 begonnen, aber nicht wenige Straßen wirkten immer noch, als wäre gerade ein Krieg zu Ende gegangen. Viele Häuser waren baufällig. Lücken zwischen von Kohlenruß schmierigen Fassaden klafften wie große Wunden in der Erde, da, wo bereits Altbauten abgerissen worden waren. Berge von Schutt und Dreck türmten sich in dieser Gegend. Trabbis, die niemand mehr fahren wollte, standen am Rand der Straße und dienten den Kindern als Spielplatz.

Aus Fenstern besetzter Häuser hingen Transparente mit irgendwelchen Losungen, wie Beate im Vorbeifahren bemerkte. Verwundert registrierte sie eine überdimensional lange DDR-Fahne, die aussah, als wollte das marode Haus der Stadt Leipzig seine Zunge zeigen.

Die Adresse zu finden war in dem Chaos nicht so ganz einfach. Teilweise fehlten die Nummern an den Häusern, die Schilder waren irgendwann abgefallen oder vom Rost zerfressen. Schließlich parkte sie einfach auf einer Brachfläche in der Straße, die zum Glück nicht besonders lang war, und machte sich zu Fuß auf den Weg.

Bauschutt knirschte unter ihren Füßen, aber Beate achtete nicht darauf. Die beinahe leere Straße wirkte irgendwie gespenstisch. Nur eine junge Frau mit Lockenmähne, die auf der anderen Seite einen Kinderwagen vor sich herschob, warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, rief Beate.

»Kommt drauf an, was«, lautete die unwirsche Antwort.

Immerhin war das kein Nein. Beate lief zu der Passantin hi­nüber und setzte ein professionelles Lächeln auf, das sie zu Beginn ihrer Zeit als Polizistin lange vor dem Spiegel geübt hatte. Die Kunst war, dass sie gleichzeitig streng und freundlich wirken wollte.

»Vogt. Kripo Leipzig. Eine Frau wird vermisst. Eine Lehrerin. Zuletzt wurde sie hier in dieser Gegend gesehen.« Beate zückte ihren Dienstausweis und zog dann das Foto aus der Tasche, das ihr Friederike Dammert überlassen hatte. »Die Lehrerin Ina Reinhardt hat am 26. März eine Schülerin namens Elsa nach Hause gebracht, die hier wohnen soll. Kommt Ihnen das Gesicht vielleicht bekannt vor?«

Auf dem Bild lächelte Ina etwas gequält in die Kamera. Im Hintergrund waren Gleise und Züge zu erkennen. Offenbar hatte Friederike ihre Freundin auf dem Leipziger Hauptbahnhof fotografiert.

Die Frau mit dem Kinderwagen warf einen flüchtigen Blick auf das Foto. »Nein, kenne ich nicht, nie gesehen.« Sie wollte weitergehen, aber Beate Vogt stellte sich ihr in den Weg. »Und Elsa? Wissen Sie, wo das Kind wohnt?«

Die junge Mutter seufzte genervt. Einen Moment sah es so aus, als würde sie den Wagen einfach an der Polizistin vorbeischieben.

Beate stoppte die rollenden Räder mit dem Fuß. »Wenn Sie mir nicht sagen, was Sie wissen, kann das Konsequenzen für Sie haben«, drohte sie leise, aber deutlich.

»Also schön … Aber Sie verraten denen nicht, woher Sie Ihr Wissen haben, klar?« Die Frau kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum, wie Beate registrierte.

»Quellenschutz ist für mich selbstverständlich.«

»Bitte was für ein Schutz? Na, egal. Eine kleine rotzfreche Göre Namens Elsa gehört zu den Chaoten im Haus Nummer 66. Die spielt öfter Klingelstreiche, jedenfalls bei den Nachbarn, wo die Klingel noch funktioniert. Manchmal klaut sie auch was von der Wäscheleine. Aber das ist natürlich nicht ihr anzurechnen. Kein Vater da, dafür viele Chaoten und diese Mutter …« Sie winkte ab. »Wenn Sie mich fragen: Das sind alles Assis, Asoziale, die keinen Bock haben, arbeiten zu gehen. Na jedenfalls: Sie müssen über den Hof. Die wohnen im Hinterhaus.«

»Danke. Wo ist die 66?« Beate betrachtete einen Moment das Baby im Kinderwagen und lächelte unwillkürlich. Es schlief tief und fest unter einer Daunendecke. Viel mehr als das kleine Gesicht war nicht zu sehen. Was für ein friedfertiger, entspannter Anblick.

Die Mutter des Babys drehte sich um und wies mit ausgestrecktem Finger auf einen verrosteten Zaun, als wollte sie auf ihn schießen. »Da hinten gleich.«

Beate dankte ihr und verabschiedete sich mit einem Nicken.

»Na dann, viel Erfolg!«, rief die Frau ihr nach. Der Wunsch klang eher sarkastisch als freundlich.

Als Beate das rostige Zauntor aufschob, fuhr ihr das quietschend schabende Geräusch direkt in die Nerven. Auf dem Hof sah sie eine erloschene Feuerstelle, daneben leere Bierflaschen und Knochen, die vermutlich von verspeisten Tieren stammten. Dennoch machte sich ein Gefühl von Unbehagen in ihr breit. War es ein Fehler, hier allein aufzukreuzen? Wieso musste Josef Almgruber ausgerechnet jetzt in den Urlaub fahren? Bei einer Ermittlung zu zweit hätte sie sich sicherer gefühlt.

Als sie weiter auf das Haus zuging, flog auf einmal etwas durch die Luft, sauste an ihrem Kopf vorbei. Beate sprang erschrocken zur Seite. Dann erkannte sie, was es war: ein Stock. Kein besonders großer. Er hätte sie wohl kaum verletzen können. Wo kam der her?

Aus einer Ecke mit allerlei Gerümpel schoss plötzlich ein schwarzer Schäferhund heraus. Beate zuckte es in den Fingern, ihre Waffe aus dem Halfter zu ziehen. Doch sie ließ es. Das Tier stürzte sich zum Glück nur auf den Stock und nicht auf sie. Beate hörte ein Kichern. Von einem Kind?

Der Hund beachtete sie nicht weiter, schnappte sich den Stock und trug ihn zu dem Müllhaufen.

»Elsa?«, rief Beate auf gut Glück. Ein Mädchen, das anderen gern Streiche spielte … Das musste sie doch sein, oder? Zumindest widersprach sie nicht.

»Ich würde gern mit dir reden und auch mit deiner Mutti«, erklärte Beate ins Nirgendwo und hoffte, dass sie erhört wurde.

Der Hund knurrte jetzt. Sonst blieb es still.

»Es geht um deine Lehrerin, Frau Reinhardt. Ich bin auf der Suche nach ihr!«

Beate ließ dem Kind Zeit, aus dem Gerümpel, das aus alten kaputten Möbeln, zusammengerollten Teppichen und zerstörten Fensterrahmen bestand, herauszukommen. Aber nichts geschah.

Vorsichtig bewegte sie sich auf die Ansammlung aussortierter Dinge zu, behielt dabei auch die Fenster und die Eingangstür im Auge. Es war kein Mensch zu sehen. Nur der Hund tauchte wieder auf, trabte auf sie zu und schnüffelte an ihr herum.

»He, du«, sagte Beate freundlich und fragte sich, ob sie für die empfindliche Nase nach Meerschweinchen roch. »Kannst du mir sagen, wo Elsa steckt?«

Sie wartete ab, als könnte der Hund tatsächlich antworten. »Elsa?«, wiederholte sie betont deutlich. Erkannte er den Namen am Klang? Vielleicht würde er sie ja zu dem Kind führen?

Der Vierbeiner wedelte mit dem Schwanz und lief auf das Haus zu, das still und finster wirkte. Beate folgte ihm einfach. Beim Eintreten bemerkte sie die Zahl 666, die neben einer Teufelsfratze in das verschrammte Holz der Tür geritzt worden war. In der Akte, die ihre Kollegin Sophie erstellt hatte, war eine Notiz zu Elsas Mutter enthalten: Marion Mertens. Grufti-Szene?

Beate wurde nicht so recht schlau daraus. Gruftis waren aus ihrer Sicht Menschen, die sich langweilten. Und die taten manchmal seltsame Dinge. Besonders, wenn sie in einer Gruppe lebten und die anderen mit ihren komischen Ideen beeindrucken wollten. In Leipzig, besonders in Connewitz, gab es schon länger eine schwarze Szene – eine Bewegung, die seit dem Mauerfall immer mehr wuchs. Schwarz gekleidete Jugendliche mit schwarz gefärbten Haaren, schwarz umrandeten Augen, die sich ihren Schmuck aus Klospülketten und geklauten Friedhofskreuzen zusammenbastelten. Zum zur Schau getragenen Weltschmerz passte auch der Teufelskult. Man betete das Böse an, nicht das Gute. War das nur eine Mode? Vor allem in dieser Ecke der Stadt wollte man wohl anders sein als anderswo. Aber waren die Jungs und Mädels deshalb gefährlich? Beate zuckte mit den Schultern. Sie persönlich fürchtete eher die Gewalt rechtsradikaler Skinheads, die mit Baseballschlägern und Messern über Ausländer und Obdachlose herfielen. Goethes Mephisto, eine Art Wahrzeichen von Leipzig, war wohl eher ein Waisenknabe gegen diese hirnlosen Brutalos.

Merkwürdigerweise erinnerte sich Beate plötzlich daran, wie sie in der ersten Klasse als Teufel verkleidet in die Schule gegangen war. Es war Fasching, und ihre Mutter hatte ihr extra ein Teufelskostüm mit Hörnern und langem Schwanz geschneidert. Das Dumme war nur, dass die Feier erst am Nachmittag beginnen sollte. Die anderen Kinder hatten ihre Kostüme verstaut in Taschen und Turnbeuteln dabei. Beate saß verkleidet inmitten der normal Gekleideten und wurde ausgelacht dafür. Ausgerechnet als Teufel musste sie dort Stunde für Stunde absitzen! Die Demütigung hatte sie nie vergessen.

Etwas wie ein Schatten huschte oben auf der Treppe vorbei, und Beate hörte tapsige Schritte, als würde das Kind barfuß laufen.

»Elsa?«

Keine Antwort. Beate seufzte, lauschte eine Weile und begann schließlich, die Stufen hinaufzusteigen, die im dämmrigen Licht blutrot aussahen. Scherben knirschten unter ihren Füßen. Die meisten Fenster waren kaputt. Es war im Haus kälter als draußen und außerdem recht dunkel, trotz des Tageslichts, das durch die Fensterrahmen fiel.

Vermutlich konnte sich Elsa in jeder der Wohnungen vor ihr verstecken; sie waren bestimmt nicht abgeschlossen. Hausbesetzer ließen die Türen im Allgemeinen offen, schon weil sie keine Schlüssel besaßen. Wo sollte sie da anfangen zu suchen?

Beate hörte ein Bellen. Dann eine kindliche Stimme: »Sch, sch! Aus!«

Okay, das war nicht so weit weg, wie es schien.

»Komm, Hündchen, komm her zu mir!« Beate versuchte, ihre Worte so klingen zu lassen, als hätte sie etwas Schmackhaftes anzubieten.

Der Hund kläffte jetzt und winselte dann, als würde er zurückgehalten. Wieder ermahnte das Kind das Tier und bemühte sich, leise zu sprechen.

»Elsa? Hab keine Angst, ich will nur mit dir reden!«

Beate hörte eine Tür klappen. Dann folgten erneut tapsige Schritte. Hund und Kind. Sie liefen vor ihr davon. Sollte sie ihnen hinterherjagen?

»Sei vorsichtig, Elsa, hier sind Scherben auf den Stufen!«

»Weiß ich!«, kam es trotzig zurück.

Immerhin eine Antwort.

»Bleib einfach da stehen, wo du bist, ja? Ich komme zu dir hoch.«

»Ich darf nicht mit Fremden reden!«

»Das ist gut. Aber ich bin keine Fremde. Ich bin von der Polizei.«

»Mit Bullen darf ich erst recht nicht sprechen!«

»Na, so was«, murmelte Beate vor sich hin und fragte sich, ob sie das lustig finden oder sich ärgern sollte. »Wo sind deine Eltern? Wir können auch gemeinsam …«

»Nicht da!« Die Stimme kreischte jetzt.