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Magisterarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Universität Osnabrück, Sprache: Deutsch, Abstract: Max Frisch (1911–1991) – sicherlich einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – hat Zeit seines Lebens sowohl persönliches als auch gesellschaftliches Engagement gezeigt. Während in seinem literarischen Werk zumeist das Individuum mit seinen subjektiven Problemen im Vordergrund steht, hat er sich gleichzeitig kritisch mit den je aktuellen gesellschaftlichen Themen beschäftigt und Stellung bezogen. Der Roman „Stiller“ (1954) veranschaulicht die für Frisch charakteristische Verschränkung von sozialer und individueller Dimension, denn der persönliche Konflikt des Protagonisten intensiviert sich in der Konfrontation mit seiner Umwelt. Dabei umfasst das Werk inhaltlich eine ganze Bandbreite von Themen, die bis heute nicht an Aktualität eingebüßt haben: die Suche des Einzelnen nach seiner wahren Identität, das Verhältnis zu Anderen, die Rolle des Künstlers, die Stellung des Individuums in Opposition zur Gesellschaft und spezielle Gesellschaftskritik an der Schweiz. Dabei entfalten sich die zentralen Motive in einer äußerlich vermeintlich einfachen Geschichte: Der aus Amerika eingereiste Mr. White wird an der Schweizer Grenze aufgrund des Verdachtes, der verschollene und in einen Spionagefall verwickelte Bildhauer Anatol Stiller zu sein, verhaftet. Bereits mit dem ersten Satz des Romans „Ich bin nicht Stiller“ versucht der Protagonist, die ihm aufgedrängte Identität zu leugnen und gibt in sieben Heften, die er während des Gefängnisaufenthaltes zur Aufdeckung der Wahrheit schreiben soll, einerseits Aufschluss über seine Person und andererseits als distanzierter Protokollant eine Darstellung der Vergangenheit des Gesuchten aus den Perspektiven dreier relevanter Personen, wobei sich allmählich die Gleichheit von Stiller und White offenbart. Hinter dem scheinbar einfachen Kriminalfall – eine bloße Fassade, steckt ein tieferer Sinn, der sich in der Identitätssuche des Individuums nach seinem wahren Ich enthüllt. Mit dem Wissen, dass White und Stiller identisch sind, wird offensichtlich, dass der Protagonist nicht eine physische Verleugnung, sondern die Leugnung der eigenen Vergangenheit als Teil seiner Persönlichkeit zu erzielen versucht. Definiert man die Identitätsproblematik und den damit verbundenen Versuch der Selbstverwirklichung als Hauptthema des Romans, so ist eine deutliche Nähe zur Existenzphilosophie, die die je individuelle Existenz des Menschen und dessen Möglichkeiten zur Verwirklichung derselben fokussiert, zu erkennen.
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„Wenn ich beten könnte, so würde ich darum beten müssen, daß ich aller Hoffnung, mir zu entgehen, beraubt werde. Gelegentliche Versuche, zu beten, scheitern aber gerade daran, daß ich hoffe, durch Beten irgendwie verwandelt zu werden, meiner Ohnmacht zu entgehen, und sowie ich erfahre, daß dies nicht der Fall ist, verliere ich die Hoffnung, auf dem Weg zu sein. Das heißt, unter Weg verstehe ich letztlich noch immer nur die Hoffnung, mir zu entgehen. Diese Hoffnung ist mein Gefängnis. Ich weiß es, doch mein Wissen sprengt es nicht, es zeigt mir bloß mein Gefängnis, meine Ohnmacht, meine Nichtigkeit. Ich bin nicht hoffnungslos genug, oder wie die Gläubigen sagen würden, nicht ergeben genug. Ich hörte sie sagen: Ergib dich und du bist frei, dein Gefängnis ist gesprengt, sobald du bereit bist, daraus hervorzugehen
1Frisch, Max: Stiller. In: Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985. Band III 1949-1956. Herausgegeben von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt am Main 1998, S. 359-780, S. 690. (Im Folgenden zitiert als: Frisch, Stiller.)
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Einleitung
Max Frisch (1911-1991) - sicherlich einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts - hat Zeit seines Lebens sowohl persönliches als auch gesellschaftliches Engagement gezeigt. Während in seinem literarischen Werk zumeist das Individuum mit seinen subjektiven Problemen im Vordergrund steht, hat er sich gleichzeitig kritisch mit den je aktuellen gesellschaftlichen Themen beschäftigt und Stellung bezogen, ohne sich von einer der gerade modernen Ideologien vereinnahmen zu lassen. Bezüglich seines literarischen Werkes lässt sich - wie das vorangestellte Zitat bestätigt - die Betonung der subjektiven Komponente feststellen.
Für den Menschen Max Frisch bedeuteten die Jahre 1954/55 einen radikalen Umbruch. Die Veröffentlichung des Romans „Stiller“ (1954) verhalf ihm zum literarischen Durchbruch und ließ ihn in Kürze zu einem renommierten Autor seiner Zeit werden, was ihm ermöglichte, die Literatur zum Hauptberuf zu machen - aus dem „Freizeitschriftsteller“ wurde der „freie Schriftsteller“ Max Frisch. Den Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben vollzog er indes nicht nur auf beruflicher Ebene mit der Aufgabe seines Architekturbüros, sondern darüber hinaus durch die Trennung von seiner Familie.
Der Roman „Stiller“ gibt ein deutliches Beispiel von der bei Frisch charakteristischen Verschränkung von sozialer und individueller Dimension, denn der persönliche Konflikt des Protagonisten intensiviert sich in der Konfrontation mit seiner Umwelt. Dabei umfasst das Werk inhaltlich eine ganze Bandbreite von Themen, die bis
2Zitiert nach: Arnold, Heinz Ludwig: Gespräche mit Schriftstellern. Max Frisch, Günter Grass, Wolfgang Koeppen, Max von der Grün, Günter Wallraff, München 1975, S. 44. (Im Folgenden zitiert als: Arnold, Gespräche.)
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heute nicht an Aktualität eingebüßt haben. Es geht um die Suche des Einzelnen nach seiner wahren Identität, sein Verhältnis zur mitmenschlichen Umwelt und speziell dem Ehepartner, des Weiteren wird die Position des Künstlers in Frage gestellt, die Stellung des Individuums in Opposition zur Gesellschaft problematisiert und in Ansätzen spezielle Gesellschaftskritik an der Schweiz geübt.3Dabei entfalten sich die zentralen Motive in einer äußerlich vermeintlich einfachen Geschichte: Der aus Amerika eingereiste Mr. White wird an der Schweizer Grenze aufgrund des Verdachtes, der verschollene und in einen Spionagefall verwickelte Bildhauer Anatol Stiller zu sein, verhaftet. Bereits mit dem ersten Satz des Romans „Ichbin nicht Stiller“4versucht der Protagonist, die ihm aufgedrängte Identität zu verleugnen und gibt in sieben Heften, die er während des Gefängnisaufenthaltes zur Aufdeckung der Wahrheit schreiben soll, einerseits Aufschluss über seine Person und andererseits als distanzierter Protokollant eine Darstellung der Vergangenheit des Gesuchten aus den Perspektiven dreier relevanter Personen - seiner Ehefrau Julika, seiner Geliebten Sibylle sowie deren Mann und Whites gegenwärtigen Staatsanwalt Rolf, wobei sich allmählich die Gleichheit von Stiller und White offenbart. Aus dieser mehrschichtigen Darlegung von Stillers Vergangenheit und Whites eigener Gedanken, Reflektionen, Träume, Erinnerungen und Geschichten über seine Zeit in Amerika sowie der Beschreibung seines Lebens in der Haft ergibt sich ein komplexes Bild, das die eigentliche Problematik - die Hoffnung auf Selbstverwirklichung - reflektiert. Whites Bericht endet mit der gerichtlichen Verurteilung, Stiller zu sein und wird durch das Nachwort des Staatsanwaltes und Freundes ergänzt, welches Auskunft über Stillers Leben nach der Haftentlassung sowie die Beurteilung seiner Entwicklung seitens Rolf beinhaltet.
Hinter dem scheinbar einfachen Kriminalfall - eine bloße Fassade, der Verdacht der Spionage erweist sich überdies als falsch - steckt ein tieferer Sinn, der sich in der Identitätssuche des Individuums nach seinem wahren Ich enthüllt. Mit dem Wissen, dass White und Stiller identisch sind, wird offensichtlich, dass der Protagonist nicht eine physische Verleugnung, sondern die Leugnung der eigenen Vergangenheit als Teil seiner Persönlichkeit zu erzielen versucht.
3Insbesondere Jurgensen betont die doppelte Dimension der Romanthemen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. (Jurgensen, Manfred: Max Frisch. Die Romane. Interpretationen, 2., erweiterte Auflage, Bern 1976, S. 84-85. (Im Folgenden zitiert als: Jurgensen, Romane.)4Frisch, Stiller, S. 361.
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Definiert man die Identitätsproblematik und den damit verbundenen Versuch der Selbstverwirklichung als Hauptthema des Romans5, so ist eine deutliche Nähe zur Existenzphilosophie, die die je individuelle Existenz des Menschen und dessen Möglichkeiten zur Verwirklichung derselben fokussiert, zu erkennen. Thema dieser Magisterarbeit ist die auf der Ähnlichkeit der Themen und Problemkreise basierende Untersuchung des Romans „Stiller“ hinsichtlich seiner existenzphilosophischen Aspekte. Aufgrund der Vielzahl möglicher Auslegungen, die die Offenheit des Romans zulässt, darf die hier unternommene existenzphilosophische Analyse nur als ein möglicher Deutungsversuch, der weder Anspruch auf Vollständigkeit noch Angemessenheit bezüglich der Autorintention erhebt, angesehen werden. Mein wesentliches Anliegen besteht in der Präsentation der Parallelen und Gegensätze der im Roman enthaltenen Gedanken und den Aussagen der Existenzphilosophie. Frischs eigene Äußerung
„Es klingt anekdotisch, aber es ist so gewesen, daß ich bei der Niederschrift von ‘Stiller’ das Wort ‘Identität’ nie gedacht habe, zum Glück. Das heißt, ich bin ausgegangen von einer subjektiven Erfahrung, der Bedrängnis, die ich versucht habe darzustellen…“6
unterstreicht, dass die offensichtliche Korrespondenz seiner Gedankenwelt mit existenzphilosophischen Theorien nicht intendiert ist. Primär ist die Literatur des Autors Frisch von seinem eigenen Erfahrungsbereich bestimmt, so dass mir nicht die Untersuchung eines bewussten Einsatzes existenzphilosophischer Elemente, sondern vielmehr die Feststellung ihrer Existenz relevant erscheint.
Die nachfolgende Analyse gliedert sich in zwei Schritte. Der erste Teil dieser Arbeit wird einen theoretischen Hintergrund bieten, auf dessen Grundlage die explizite Interpretation des Romans bezüglich seiner inhärenten existenzphilosophischen Analogien und Divergenzen im zweiten Teil aufbaut.
Neben einem kurzen biographischen Einblick zu Max Frisch sowie der Darstellung der Aspekte Literatur und Philosophie bezüglich ihrer Relevanz und der theoretischen Überlegungen seitens des Autors steht im Zentrum des ersten Teils ein Überblick zur Existenzphilosophie, der durch Präsentation der konkreten Positionen von
5Eine solche Sichtweise findet sich u.a. bei Gunda Lusser-Mertelsmann, Helmut Naumann, Jürgen H. Petersen, Walter Schmitz, Alexander Stephan und Monika Wintsch-Spiess.6Zitiert nach: Arnold, Gespräche, S. 44.
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Sören Kierkegaard, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Albert Camus ergänzt wird. Die Auswahl und Beschränkung auf diese vier Standpunkte hat sowohl inhaltliche als auch formale Gründe. Eine erweiterte Darstellung, die sicherlich weitere interessante Aspekte bringen könnte7, würde innerhalb dieser Magisterarbeit zu weit gehen. Die Auswahl Kierkegaards erscheint aufgrund der seinem Werk „Entweder-Oder“ entnommenen und dem Roman vorangestellten Zitate nahezu unerlässlich. Auf Heidegger, der im engeren Sinn nicht als Existenzphilosoph gewertet werden darf, einzugehen, begründet sich hauptsächlich durch meine Auseinandersetzung mit der von Doris Kiernan vorgenommenen Studie.8Die Entscheidung, die beiden Existentialisten Sartre und Camus in die folgende Darstellung aufzunehmen, resultiert sowohl aus meinem persönlichen Interesse als auch der Ähnlichkeit ihrer Auffassungen mit denen Frischs.
Die im zweiten Teil vorgenommene existenzphilosophische Analyse zentriert sich um den sowohl in der Existenzphilosophie als auch im Roman „Stiller“ im Mittelpunkt stehenden Identitätsbegriff. Der Zugang erfolgt primär über textimmanente Interpretation im Vergleich mit den zuvor vorgestellten existenzphilosophischen Positionen, wobei ich an den von mir als notwendig erachteten Stellen zentrale Aussagen des Autors berücksichtigen werde. Zur Klärung, inwieweit die Hauptperson des Romans Stiller sowie die weiteren Figuren einen existenzphilosophischen Grad an Identität erreichen, werde ich einzelne zur Selbstwerdung relevante Aspekte näher betrachten. Den Abschluss wird eine Untersuchung der Korrespondenz von Form und Inhalt bezüglich des Romans bilden, denn laut Stephan ist der Erfolg des Werkes„vor allem auf die ungewöhnlich enge Verknüpfung der formalen (Struktur, Erzählerposition, Funktion der interpolierten „Lügen“-Geschichten, Tagebuchtradition, Stil, Sprache) und inhaltlichen Aspekte (Bildnisproblematik, Schweiz, wissenschaftlich-technisches Zeitalter, Leben im Zitat, Existentialismus)“9zurückzuführen. Insbesondere durch diesen letzten Punkt beabsichtige ich, meine zugrunde liegende Hauptthese zu bestätigen: Die offensichtliche Parallelität von „Stiller“, den Gedanken seines Autors Frisch und der Existenzphilosophie manifes-
7Beispielsweise wären die Standpunkte von Karl Jaspers und Gabriel Marcel als christlich-orientierte Existenzphilosophen gerade in Hinblick auf Sören Kierkegaard interessant.8Kiernan, Doris: Existenziale Themen bei Max Frisch. Die Existenzphilosophie Martin Heideggers in den Romanen Stiller, Homo faber und Gantenbein, Berlin/New York 1978. (Im Folgenden zitiert als: Kiernan, Existenziale Themen.) 9 Stephan, Alexander: Max Frisch. München 1983, S. 68. (Im Folgenden zitiert als: Stephan, Frisch.)
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tiert sich in der in allen drei Fällen geforderten Offenheit, die sich - wie sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen wird - auf alle Lebensbereiche und insbesondere auf den Bereich Literatur und Philosophie bezieht. So wie die Existenzphilosophie keine Lebensrichtlinien bietet, intendiert auch Frischs Literatur und insbesondere „Stiller“, dem Leser keine endgültige Lösung auf die werkimmanenten Probleme zu geben, sondern ihn vor Fragen zu stellen, die er sich individuell zu beantworten hat.
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1. TEIL
Um den Roman „Stiller“ und seine existenzphilosophischen Elemente zu analysieren, erscheint es mir unumgänglich, einen Einblick in die Biographie des Autors Max Frisch zu geben. Da diese Arbeit keine biographisch-orientierte Interpretation intendiert, beschränke ich mich auf eine Skizzierung seines Lebenslaufes und werde nur einige wenige für die weitere Untersuchung relevante Details näher erläutern. Dass ich die Themenkomplexe Literatur und Philosophie an dieser Stelle nur kurz ansprechen werde, begründet sich in ihrer gesonderten Betrachtung in den folgenden Kapiteln.
Am 15. Mai 1911 wurde Max Frisch in Zürich als zweiter Sohn des Architekten Franz Bruno Frisch (1871-1932) und dem früheren Kindermädchen Karolina Bettina Frisch (1875-1966), geborene Wildermuth, geboren.
Aufgrund der zeitweiligen väterlichen Arbeitslosigkeit war Frischs Leben bereits in frühen Jahren wesentlich von Geldsorgen geprägt, die dem Hauptinteresse der Eltern, ihren Kindern eine fundierte Ausbildung zu bieten, gegenüberstanden. Obwohl die jugendlichen Interessen weniger der Literatur und vorrangig dem Fußball galten, übte der erste Theaterbesuch eine derartige Faszination aus, dass Max Frisch im Alter von 16 Jahren sein erstes Theaterstück verfasste und nach dem 1930 bestandenen Abitur am Realgymnasium ein Germanistik-Studium an der Universität Zürich begann.10
Durch den Tod des Vaters im Jahre 1932 war er, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, zur Unterbrechung des Studiums gezwungen. Die Tätigkeit als freier Journalist bot einen Kompromiss, den notwendigen Brotberuf mit dem Wunsch
10Vlg. Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949. In: Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985. Band II 1944-1949. Herausgegeben von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt am Main 1998, S. 347-755, S. 584-585. (Im Folgenden zitiert als: Frisch, Tagebuch 1946-1949.)
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nach künstlerischer Tätigkeit zu vereinbaren.11Um diese Problematik kreist der zu jener Zeit erschienene Erstlingsroman „Jürg Reinhart“ (1934), der die für den Menschen Frisch problematische Vereinigung von künstlerischer und bürgerlicher Existenzweise thematisiert. Frischs Sehnsucht nach gesellschaftlicher Eingliederung kollidierte mit der Sehnsucht nach künstlerischer Freiheit. Das Stipendium eines Freundes ermöglichte ihm 1936 ein Architekturstudium an der ETH Zürich, das er 1940 erfolgreich beendete, und markierte damit - verstärkt durch den Abbruch der literarischen Tätigkeit, symbolisiert durch eine „kleine Bücherverbrennung“ im Jahr 1937 - die vorübergehende Entscheidung für ein bürgerliches Leben. Erst durch die mehrmalige Einberufung zum Militärdienst revidierte Frisch seinen Entschluss und begann 1939 mit seinem Kriegstagebuch die Fortsetzung der schriftstellerischen Arbeit. Fortan war sein Leben von einer Zweigleisigkeit geprägt: Auf der einen Seite die Literatur, auf der anderen Seite die Arbeit als Architekt - zuerst als Angestellter, ab 1942 auf selbstständiger Basis - und das bürgerliche Leben als Ehemann mit der 1942 angetrauten Gertrude Anna Constance von Meyenburg. Dabei entsprach der Architekturberuf durchaus Frischs Begeisterung für den schöpferischen Menschen und das soziale Element des Bauens.12In der Zeit bis zur Veröffentlichung des „Stillers“ und dem darauf folgenden Entschluss, sein Leben auf den künstlerischen Bereich zu beschränken, entstanden die Romane „J’adore ce qui brûle oder Die Schwierigen“ (1943), die Stücke „Santa Cruz“ (1944), „Nun singen sie wieder“ (1945), „Die Chinesische Mauer“ (1946), „Als der Krieg zu Ende war“ (1949), „Graf Öderland“ (1951), und „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie“ (1953) sowie die Erzählung „Bin oder Die Reise nach Peking“ (1945), das „Tagebuch mit Marion“ (1947), „Tagebuch 1946-1949“ (1950) und die Hörspiele „Herr Biedermann und die Brandstifter“ (1953) und „Rip van Winkle“ (1953), welches große Ähnlichkeit mit dem Roman „Stiller“ aufweist. Für Frischs weiteres Schaffen war das „Tagebuch 1946-1949“ entscheidend, da es die Grundlage vieler späterer Werke - sowohl in formaler als auch thematischer Hinsicht - bildete. Ansonsten demonstrieren die aufgezählten Werke hauptsächlich
11Vlg. Schwenke, Walburg: Leben und Schreiben. Max Frisch - Eine produktionsästhetische Auseinandersetzung mit seinem Werk, Frankfurt am Main/Bern 1983, S. 35-46. (Im Folgende zitiert als: Schwenke, Leben und Schreiben.)12Vlg. Petersen, Carol: Max Frisch. 6., ergänzte Auflage, Berlin 1978, S. 22. (Im Folgenden zitiert als: C. Petersen, Frisch.)
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„die Auseinandersetzung mit den existentiellen Themen der dreißiger und frühen vierziger Jahren. Themen wie der Suche nach dem Sinn des Lebens, der Konfrontation mit dem Nichts, dem Tod und dem Anspruch auf Glück“13.Die sich parallel verfestigte bürgerliche Existenz - was die Geburten der drei Kinder belegten - wurde anscheinend erst durch den in Folge eines Stipendiums möglichen einjährigen USA-Aufenthalt (1951-1952) von Frisch endgültig in Frage gestellt und durch die Aufgabe des Architekturberufes und die familiäre Trennung sowie die vier Jahre später erfolgende Scheidung besiegelt. In den Werken, die in den folgenden Jahren entstanden, haben die im „Stiller“ be-handelten Themenkomplexe nicht an Bedeutung verloren. Sowohl in dem Drama „Andorra“ (1961) also auch den Romanen „Homo faber“ (1957) und „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) beschäftigte sich Frisch mit der Identitäts-, Rollen- bzw. Bildnisproblematik, wobei speziell der „Gantenbein“-Roman, wie auch das spätere Drama „Biographie. Ein Spiel“ (1967), die inhaltliche Thematik auf formaler Ebene widerzuspiegeln versucht. Darüber hinaus weist die autobiographische Erzählung „Montauk“ (1975) mit dem inhaltlichen Versuch jenseits von Wiederholungen und festgelegten Rollen ganz in der Gegenwart zu leben, eine Parallelität auf und auch die späte Erzählung „Blaubart“ (1982) knüpft mit der Selbstreflektion und dem Schuldbewusstsein des Protagonisten an „Stiller“ an.
Im privaten Bereich war das Leben von Max Frisch bereits in der Kindheit von der Angst, als Außenseiter gelten zu können, geprägt. In späteren Jahren stand seine Tendenz zu depressiven Stimmungen, die sich in Minderwertigkeitsgefühlen und Versagensängsten manifestierte, seinem äußerlich zumeist selbstbewussten Auftreten, das sich in seiner geselligen und zumeist lebenslustigen Art zeigte, gegenüber.14Laut Bircher lassen sich Frischs Existenzängste sowohl als Korrespondenz zu den in der Existenzphilosophie beschriebenen Ängsten als auch auf soziologischer Ebene als Folge der kleinbürgerlichen Herkunft interpretieren.15Was seine Familie anging, zeichnete sich hauptsächliche Frischs mütterliche Beziehung durch eine große Nähe aus, wohingegen er selbst das Verhältnis zu seinem
13Stephan, Frisch, S. 38.14Vlg. Waleczek, Lioba: Max Frisch. München 2001, S. 16-18, 25. (Im Folgenden zitiert als: Waleczek, Frisch.)15Vlg. Bircher, Urs: Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Max Frisch 1922-1955, Zürich 1997, S. 26-27. (Im Folgenden zitiert als: Bircher, Zorn.)
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Vater als eine„Nicht-Beziehung“16bzw.„Gefühlslücke“17bezeichnet hat. Da trotz der subjektiven Dimension seiner Literatur und der beschriebenen fiktiven Lebensentwürfen das Thema Kindheit und Herkunft außer Acht gelassen wurde, scheint dieser Aspekt allerdings für Frisch insgesamt eher unproblematisch gewesen zu sein. Kontrastierend zu seinem Schriftstellerkollegen Kafka stellt die fehlende emotionale Vaterbindung keinen literarisch zu bewältigenden Konflikt dar. Einen bedeutsamen literarischen Einfluss hatten im Gegensatz dazu seine Frauenbeziehungen. Zwei geschiedene Ehen und diverse Liebesbeziehungen - u.a. in den Jahren 1958-1962 mit Ingeborg Bachmann - bestätigen die Problematik derselben, die in Frischs künstlerischer Tätigkeit Ausdruck in der Bildnisthematik gefunden hat. Waleczek konstatiert:
„Zeitlebens suchte Frisch die unmittelbare Nähe zu Frauen: Sinnliche Ausstrahlung, Schönheit und Anmut faszinierten ihn jedoch nicht nur im banalen geschlechtsspezifischen Sinn. So findet sich kaum eine literarische Arbeit von ihm, in der er nicht auch das Zusammenleben von Mann und Frau thematisierte. Der Frage nach genuinen Unterschieden zwischen den Geschlechtern begegnete er mit der Überzeugung, daß dergleichen auf sedimentierten Rollen, Zuschreibungen etc. beruhe.“18
Eng verbunden mit der Beziehung zum anderen Geschlecht ist der Zwiespalt zwischen bürgerlicher Existenzweise und dem Schriftstellerdasein. Anders als bei dem bereits erwähnten Autor Kafka und dem gleichfalls im Rahmen dieser Arbeit behandelte Philosophen Kierkegaard resultierte aus der Erkenntnis der Unvereinbarkeit der beiden Sphären für Frisch kein radikaler Rückzug in die künstlerische Isolation, sondern er kämpfte zeitlebens um einen Einklang zwischen seiner Berufung und seinen Liebesbeziehungen sowie mit der Frage, wie eine Dauerhaftigkeit der Liebe zu erreichen sei. Dabei war für Frisch anscheinend weniger das jeweilige Misslingen als der je neue Versuch entscheidend.
Des Weiteren interessant erscheint mir Frischs Verhältnis zum Tod. Diverse gesundheitliche Probleme sowie seine Krebserkrankung rückten das Sterben ab Ende der 80’er Jahre für Frisch in greifbare Nähe. Da er seinen Tod nicht zu ignorieren beabsichtigte, legte er frühzeitig präzise Angaben zu seinem Begräbnis fest. Mit der Vorstellung, dass der Tod den Endpunkt des Lebens markiert, versuchte er gleichzeitig,
16Zitiert nach: Waleczek, Frisch, S. 15.17Zitiert nach: Waleczek, Frisch, S. 15.18Waleczek, Frisch, S. 99.
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die Gegenwart des Lebens zu nutzen und war beispielsweise bis zu seinem Tod am 4. April 1991 in die Arbeiten zu den anlässlich seines 80. Geburtstags geplanten Max-Frisch-Tagen involviert.19
19Vlg. Waleczek, Frisch, S. 152-153.
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Der folgende Abschnitt bietet einen kurzen Überblick über den Themenkomplex Literatur im Leben von Max Frisch. Hierbei werde ich zum einen auf die thematischen und formalen Schwerpunkte seines Gesamtwerkes mit denen ihnen zugrunde liegenden Motivationen, sowie zum anderen auf Frischs theoretische Überlegungen zur Literatur und ihrer Zielsetzung eingehen.
Frischs ursprüngliche Schreibmotivation resultierte aus seiner defensiven Haltung gegenüber der Welt. Im Schreiben fand der Autor und Mensch Max Frisch eine Möglichkeit, der Welt standzuhalten - sein Leben überhaupt ertragen zu können. Nicht zu Unrecht bezeichnet Marcel Reich-Ranicki Max Frisch deshalb als einen„Dichter der Angst“20, wobei das unbewusste Grundgefühl der Angst nicht nur Basis, sondern auch thematischen Schwerpunkt seiner Literatur darstellt.21Dass dabei der individuell-subjektive Aspekt eine herausragende Stellung einnimmt, spiegelt bereits der Titel seines ersten Zeitungsartikel „Was bin ich?“ (1932) wider. Schon zu diesem Zeitpunkt zeigen sich die Frischs Gesamtwerk konstituierenden Fragen:
„Wer bin ich? Welches sind meine Möglichkeiten? Wo liegen meine Grenzen? Was ist das Leben? Welches ist der Sinn dieses Lebens? Warum kann ich nicht der sein, der ich im Grunde bin und gerne wäre? Warum will ich anders und mehr sein, als ich in Wirklichkeit bin? Was hindert mich an meiner Selbstverwirklichung? Was hindert mich in mir selbst? Was hindert mich außerhalb von mir? Wie kann man ein unverwechselbares Individuum sein und gleichzeitig Glied einer Gemeinschaft - sei es in der Ehe, sei es im Staat? Wie und wieweit ist Freiheit möglich? Freiheit in sich selbst und Freiheit innerhalb der Gemeinschaft?“22Diese Fragen enthalten die seinem literarischen Schaffen zugrunde liegende Aus-einandersetzung mit der eigenen Identität, die Frisch jedoch nicht rein autobiographisch, sondern durch seine Protagonisten vermittelt im gesellschaftlichen Kontext behandelt. Als weitere zentrale Motive seines Werkes kann das individuelle Verlan-
20Reich-Ranicki, Marcel: Der Dichter der Angst. 1963. In: Reich-Ranicki, Marcel: Max Frisch. Aufsätze, Zürich 1991, S. 13-36, S. 14. (Im Folgenden zitiert als Reich-Ranicki, Dichter.)21Vlg. Reich-Ranicki, Dichter, S. 13-14, 17.22Stäuble, Eduard: Max Frisch. Gedankliche Grundzüge in seinen Werken, 3., erweiterte Auflage, Basel 1974, S. 12 (im Folgenden zitiert als: Stäuble, Frisch) und vlg. Bänzinger, Hans: Frisch und Dürrenmatt. 7. neu bearbeitete Auflage, Bern/München 1976, S. 39. (Im Folgenden zitiert als: Bänzinger, Frisch/Dürrenmatt.)
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gen nach Veränderung - das sich autobiographisch in Frischs eigenen häufigen Wohnortwechseln widerspiegelt -, das Verhältnis der Geschlechter, der Komplex des Alterns sowie die Thematik des versäumten Lebens bezeichnet werden.23Trotz der inhärenten autobiographischen Dimension darf man die Inhalte der Dramen, Romane und Erzählungen nicht als Darstellungen von Frischs eigenem Leben identifizieren. Die dargestellten und auch den Autor bedrängenden Probleme haben zwar persönlichen Charakter, werden aber nicht auf privater Ebene behandelt. Als exemplarisch kann die Thematisierung der Differenz von Bürger- und Künstlertum angesehen werden, die Frischs eigenes zwiespältiges Bedürfnis nach künstlerischem Schaffen einerseits und dem Wunsch nach Eingliederung ins Bürgertum andererseits illustriert, wobei vor allem auf die damalige Diskrepanz zwischen Züricher Bürgertugenden und Künstlertum hinzuweisen ist. Aufgrund der in familiärer Hinsicht eindeutig bürgerlichen Prägung kollidierten die literarischen Interessen des jungen Max Frisch frühzeitig mit den Konventionen des ihn umgebenden kleinbürgerlichen Milieus; die ersten Kontakte zum Theater und literarischen Ambitionen wurden von Seiten des Vaters entschieden missbilligt.24Während Max Frisch mit der dichterischen Sphäre ein„ausbrechen aus den Alltagszwängen und eintauchen in eine außergewöhnliche Welt tiefer Erlebnisse und intuitiver Selbstverwirklichung“25und somit eine Gegenwelt zur bürgerlichen Alltäglichkeit verband, konnte er sich gleichzeitig nicht von seiner ihn immer wieder heimsuchenden Sehnsucht nach einer bürgerlichen Existenz distanzieren. Diese innere Zerrissenheit, verursacht durch seine Ängste, sowohl als Bürger als auch Künstler zu versagen, kommt in seiner literarischen Arbeit zum Ausdruck und reflektiert seine persönlichen Versuche, diese Spannung zwischen den Polen künstlerischer Einmaligkeit und bürgerlicher Gewohnheit zu leben.26Besonders die frühe Schaffensphase ist von der Problematik Bürger- versus Künstlerexistenz beeinflusst, in der sich die Wunschvorstellung„Beruf soll nicht Zwangsjacke sein, […] sondern Lebensinhalt“27widerspiegelt. Erst
23Vlg. beispielsweise Petersen, Jürgen H.: Max Frisch. 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar 2002, S. 6. (Im Folgenden zitiert als: J. Petersen, Frisch.)24Max Frisch schickte eines seiner ersten Stücke an Max Reinhard. - Vlg. Bircher, Zorn, S. 29.25Bircher, Zorn, S. 36.26Vlg. Bircher, Zorn, S. 26, 29-30, 36.27Frisch, Max: Was bin ich? (I), 1932. In: Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985. Band I 1931-1944. Herausgegeben von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt am Main 1998, S. 10-15, S. 12.
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Frischs endgültige Entscheidung für die Literatur als Brotberuf (1954/55) ließ diese Thematik tendenziell in den Hintergrund rücken.28
Wie bereits angedeutet ist Frischs literarische Arbeit Resultat eines persönlichen Impulses. Dementsprechend bezeichnete er sich als„Notwehrschriftsteller“29und erläuterte dieses im Gespräch mit Arnold mit dem Wunsch nach Selbsterhaltung und Abwehr der ihn bedrängenden Ängste mit dem Mittel der Literatur.30Des Weiteren rechtfertigt Frisch mit dieser subjektiven Motivation die sich wiederholende Themenwahl, die sich in keiner bewussten Entscheidung, sondern in seiner spezifischen Eigenart begründet.
„Warum kommt er immer wieder auf das gleiche Thema - sieht er das denn nicht? Natürlich sieht er es - er hat aber nur dieses, weil ihn eben dieses am meisten brennt. Das wissen alle, die selber irgend etwas machen: daß wir diese große Wahl gar nicht haben - wir haben wohl die Wahl der Mittel, aber die Wahl der Themen haben wir kaum.“31
Diese subjektive Dimension des Gesamtwerkes spiegelt sich in der theoretischen Literaturauffassung wider, wobei Frisch von seinem politisch engagierten Zeitgenossen und Schriftstellerkollegen Bertolt Brecht zu unterscheiden ist. Die Intention des Autors Frisch besteht darin, einen Weg zwischen einem absoluten „l’art pour l’art“-Dogma und einer ideologisch-orientierten Kunst zu finden. Auf diese Weise will er seinen Lesern keine Richtlinie für ihr je eigenes Leben geben, sondern zum eigenen Nachdenken auffordern. Die darin liegende Absicht zur Veränderung muss von Brechts marxistisch orientierter Theorie differenziert werden. Frischs Werk liegt die Überzeugung zugrunde, dass
„die Entscheidung zur Veränderung seiner selbst […] beim Einzelnen [liegt], dessen Würde in der Wahl besteht; eine verbindliche Antwort oder gar Anweisung kann es nicht geben. Die Kunst des Vorangehenden besteht darin, die Frage unausweichlich zu stellen.“32
Frischs literatur-theoretische Entwicklung nimmt ihren Ausgangspunkt in einem
28Vlg. Schwenke, Walburg: Leben und Schreiben. Max Frisch - Eine produktionsästhetische Auseinandersetzung mit seinem Werk, Frankfurt am Main/Bern 1983, S. 269-276. (Im Folgenden zitiert als: Schwenke, Leben und Schreiben.)29Zitiert nach: Arnold, Gespräche, S. 44.30Vlg. Arnold, Gespräche, S. 44.31Zitiert nach: Arnold, Gespräche, S. 45 und vlg. Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. 3. vom Autor durchgesehene und erweiterte Auflage, München 1976, S. 29-30. (Im Folgenden zitiert als: Bienek, Werkstattgespräche.)32Naumann, Helmut: Der Fall Stiller. Antwort auf eine Herausforderung. Zu Max Frischs „Stiller“, Rheinfelden 1978, S. 185-186 (im Folgenden zitiert als: Naumann, Fall Stiller) und vlg. Kiernan, Existenziale Themen, S. 67.
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rein apolitischen Kunstinteresse, aber lässt in ihrem Verlauf eine stärkere Hinwendung zur Integrierung politischer Themen erkennen. Entsprechend seiner Ideologieablehnung stellt er sich nie in den Dienst einer bestimmten Partei, sondern akzentuiert die auf das Individuum bezogene Dimension seines Engagements.33Die politische Komponente seines Schaffens sieht Frisch im Infragestellen der gesellschaftlichen Zustände durch ihre dichterische Darstellung. Dabei offenbart sich der subversive Charakter, insofern sich die rein individuelle Erfahrung kaum mit der allgemeinen Auslegung decken wird. Nach Frisch kann nur eine solche Darstellungsform mit dem innewohnenden Appell zur eigenen Reflektion langfristig eine Veränderung des Leserbewusstseins bewirken:
„Es ist meine persönliche Meinung, daß ich mit einem Text, der nicht direkt meine politische Überzeugung verbalisiert, aber eine Darstellung des Konkreten gibt, mehr erreiche (mehr zu erreichen hoffe), indem ich den Partner vorher ‘verunsichere’, ihn […] frei mache, das Dargestellte neu zu sehen und zwar der Situation angemessener zu sehen.“34
Aufgrund von Frischs Plädoyer für die Offenheit und Autonomie von Kunst gegenüber jeglichem ideologischen Gehalt ist eine größere Nähe zu Büchner, Keller und Zollinger als zu seinem zeitgenössischen Kollegen Brecht zu erkennen.35Nach Frisch liegt der problematische Kern jeder Ideologie in ihrer Tendenz zur Verfestigung und Erstarrung.36Neben dem subjektiven Ausdruck besteht für ihn die Aufgabe der Literatur durch ihre Darstellungsfunktion in der Verunsicherung und Zersetzung ideologischen Gedankengutes. Dass für Frisch die Fragen im Vordergrund stehen, deckt sich mit Reich-Ranickis Charakterisierung des Autors: „Erist ein Diagnostiker menschlicher Leiden, nicht etwa ein Therapeut.
33Vlg. Bänzinger, Frisch/Dürrenmatt, S. 38 und Stäuble, Frisch S. 35-41.
34 Zitiert nach: Bloch, Peter André/Hubacher, Edwin (Hrsg.): Der Schriftsteller in unserer Zeit. Schweizer Autoren bestimmen ihre Rolle in der Gesellschaft. Eine Dokumentation zu Sprache und Literatur der Gegenwart, Bern 1972, S. 23-24 und vlg. 21 (im Folgenden zitiert als: Bloch/Hubacher, Schriftsteller), sowie Arnold, Gespräche, S. 67.35Vlg. Stephan, Frisch, S. 42-43; Jaques-Bosch, Bettina: Kritik und Melancholie im Werk Max Frischs. Zur Entwicklung einer für die Schweizer Literatur typischen Dichotomie, Bern/Frankfurt am Main/Nancy/New York 1984, S. 94-98 (im Folgenden zitiert als: Jaques-Bosch, Kritik und Melancholie); Lüthi, Hans Jürg: Max Frisch. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, München 1981, S. 136 (im Folgenden zitiert als: Lüthi, Bildnis) und J. Petersen, Frisch, S. 16.36Wie ich im 2. Teil, Kapitel 2.11.1 näher darlegen werden, ist die Vermeidung von Erstarrungen jeglicher Art eine von Frischs Hauptintentionen.
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Das soll heißen: Befund hat er zu bieten, nicht Lösungen.“37Obwohl Frisch in seiner literarischen Arbeit insgesamt der individuellen Existenz Vorrang gegenüber dem gesellschaftlichen Aspekt zuschreibt, realisiert er, dass sich Kunst niemals ganz vom politischen Bereich distanzieren kann; er weiß: „Wersich nicht mit Politik befaßt, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.“38Gleichzeitig beweist die innerhalb des Romans „Mein Name sei Gantenbein“ vertretene literaturtheoretische Auffassung die enge Verknüpfung zwischen privaten und öffentlichen Bereich und rechtfertigt damit den subjektiven Charakter seines literarischen Werkes:„(Manchmal scheint auch mir, daß jedes Buch, so es sich nicht befaßt mit der Verhinderung des Kriegs, mit der Schaffung einer besseren Gesellschaft und so weiter, sinnlos ist, müßig, unverantwortlich, langweilig, nicht wert, daß man es liest, unstatthaft. Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.)“39
Neben den bereits vorgeführten Differenzen zwischen Frisch und Brecht, stellt die Übernahme des Verfremdungseffektes Brechts bedeutsamsten Einfluss auf den jüngeren Kollegen dar, wobei Frisch die ideologisch-inhaltliche Komponente außer Acht lässt. Mit der Anwendung der Verfremdungstechnik auf epische Literaturformen beabsichtigt er, die Einfühlung des Lesers in das Erzählte zu verhindern und damit die Illusion der Realitätsnähe zu zerstören.40Des Weiteren ist die Tagebuchform und die damit verbundene Offenheit der Form als entscheidendes Merkmal von Frischs Gesamtwerk zu erachten. Dabei handelt es sich um eine „literarische Tagebuchform“, so dass selbst die herausgegebenen Tagebücher, „Tagebuch 1946-1949“ (1950) und „Tagebuch 1966-1971“ (1972), aufgrund ihres fiktionalen Charakters nicht als private Dokumente angesehen werden dürfen.41Frisch verdeutlicht, dass die Vorliebe für diese Form parallel zu seiner Themenwahl nicht beabsichtigt ist:
37Reich-Ranicki, Dichter, S. 17; vlg. Arnold, Gespräche, S. 48 und Kieser, Rolf: Max Frisch. Das literarische Tagebuch, Frauenfeld/Stuttgart 1975, S. 154. (Im Folgenden zitiert als: Kieser, Literarisches Tagebuch.)38Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 632 und vlg. 444-445.39Frisch, Max: Mein Name sei Gantenbein. In: Frisch, Max: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985. Band V 1964-1967. Herausgegeben von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt am Main 1998, S. 5-320. S. 68. (Im Folgenden zitiert als: Frisch, Gantenbein.)40Vlg. Stephan, Frisch, S. 47 und Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 600-601.41Vlg. Kieser, Literarisches Tagebuch, S. 23.
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„[…] man kann wohl sagen, die Tagebuchform ist eigentümlich für den Verfasser meines Namens, Sie haben recht - gerade darum behagt mir Ihre Frage nicht. Stellen Sie sich vor, ein Mann hat eine spitze Nase, und Sie fragen ihn zuhanden der Leser: woher kommt Ihre Vorliebe für eine spitze Nase? Kurz geantwortet: ich habe keine Vorliebe für meine Nase, ich habe keine Wahl - ich habe meine Nase.“42
Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass Frischs Bevorzugung der diaristischen Form auch theoretische Gründe hat. Zum einen ermöglicht diese Form - wie die Romane „Stiller“ und „Homo faber“ beweisen - einen Weg der Selbstfindung, indem die Protagonisten schreibend versuchen, zu ihrer wahren Identität zu gelangen.43Zum anderen entspricht und dient das Tagebuch dem von Frisch propagierten Ziel der Wahrhaftigkeit. Subjektivität, Offenheit und Fragmentartigkeit diaristischer Aufzeichnungen ermöglichen die Revidierung jedes zuvor eingenommenen Standpunktes und beweisen damit die Verpflichtung des Schreibers zur Wahrheitssuche.44Mit der Überzeugung, dass eine solche Wahrheit im objektiven Sinn nicht existiert, geht es primär um ein „Umkreisen“, was Frisch selbst mit der Analogie von Literatur und Bildhauerkunst hervorhebt:
„Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, […]. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen. Unser Streben geht vermutlich dahin, alles auszusprechen, was sagbar ist; die Sprache ist wie ein Meißel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist, und alles Sagen bedeutet ein Entfernen. Es dürfte uns insofern nicht erschrecken, daß alles, was einmal zum Wort wird, einer gewissen Leere anheimfällt. Man sagt, was nicht das Leben ist. Man sagt es um des Lebens willen. Wie der Bildhauer, wenn er den Meißel führt, arbeitet die Sprache, indem sie die Leere, das Sagbare, vortreibt gegen das Geheimnis, gegen das Lebendige. Immer besteht die Gefahr, daß man das Geheimnis zerschlägt, und ebenso die andere Gefahr, daß man vorzeitig aufhört, daß man es einen Klumpen sein läßt, daß man das Geheimnis nicht stellt, nicht faßt, nicht befreit von allem, was immer noch sagbar wäre, kurzum, daß man nicht vordringt zu seiner letzten Oberfläche.“45
Mit seiner Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Wahrheitsabbildung eng ver-bunden ist der Anspruch auf Verhinderung von Festlegungen jeder Art. Die offene
42Zitiert nach: Bienek, Werkstattgespräche, S. 26-27.43Vlg. Stephan, Frisch, S. 45.44Vlg. Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 360-361.45Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 378-379. - Auf den Aspekt der Nicht-Darstellbarkeit von Wahrheit bzw. Frischs generellen Skepsis gegenüber solchen Abbildungen werde ich im 2. Teil in Kapitel 2.10 eingehen.
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und oft fragmentarische Form seiner literarischen Werke gibt Frisch die Möglichkeit, die Wirklichkeit der dargestellten Realität, so wie sie die geschlossene Form suggeriert, in Frage zu stellen. Die Offenheit ist Ausdruck eines Weltbildes, das keine fixierbare Wahrheit beansprucht; Autor und Leser stehen auf derselben Erkenntnisstufe. Frisch Hauptintention beinhaltet, die ihn beschäftigenden Fragen bei seinem Gegenüber offen zu halten.46
Eine explizite Analyse der Leserrolle, wie sie Egger unternimmt, möchte ich in dieser Untersuchung unterlassen, und nur darauf hinweisen, dass maßgeblich die formale Struktur - Offenheit und Fragment-Charakter wie sie insbesondere in der Tagebuchform zum Ausdruck kommen - den Leser zur eigenen Stellungnahme zwingt.47
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich auf die Parallelität des Themenkomplexes Literatur bei Frisch und der Existenzphilosophie hinweisen. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, besteht diese Analogie sowohl auf thematischer Ebene durch die Betonung der subjektiven Existenz sowie auf formaler Ebene in der Ablehnung einer festgelegten Wahrheit und der Favorisierung von offenen Darstellungsweisen.
46Vlg. Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 448, 634; Kieser, Literarisches Tagebuch, S. 21-22, 66-67 und Hanhart, Tildy: Max Frisch: Zufall, Rolle und literarische Form. Interpretationen zu seinem neueren Werk, Kronberg/Ts. 1976, S. 4-7, 109-110. (Im Folgenden zitiert als: Hanhart, Frisch.)47Für eine genauere Analyse vlg. Egger, Richard: Der Leser im Dilemma. Die Leserrolle in Max Frischs Romanen „Stiller“, „Homo faber“ und „Mein Name sei Gantenbein“, Bern/Frankfurt am Main/New York 1986, beispielsweise S. 214-216, 225-228, 230-232. (Im Folgenden zitiert als: Egger, Leserrolle.)
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Max Frischs literarische Arbeit nimmt - wie das vorangegangene Kapitel erläutert hat - ihren wesentlichen Ausgangspunkt in der subjektiven Sphäre des Autors. Er selbst begründet seine distanzierte Haltung gegenüber dem Bereich der Theorie mit seinen von ihm selbst als mangelhaft bewerteten intellektuellen Fähigkeiten. Im Gespräch mit Arnold erklärt er:
„Ich bin heute der Meinung, daß das Theoretische nie meine Stärke gewesen ist. Ich hab’s natürlich versucht, aber ich denke anderen Menschen dann doch sehr nach, also ich glaube nicht, daß ich eigentlich genuin theoretische Einfälle gehabt habe.“49
An die Stelle von reinen Denkmodellen rückt der persönliche Erfahrungshorizont als Voraussetzung für Frischs Literatur.
Bereits diese einleitenden Bemerkungen deuten die Schwierigkeit an, Frisch einer konkreten philosophischen Strömung zuzuordnen, was wesentlich mit seiner generellen Ablehnung ideologischer Inhalte übereinstimmt.
Von Seiten des Autors selbst fehlt es beinahe vollständig an Aussagen, die auf einen prägenden Einfluss konkreter philosophischer Konzeptionen hinweisen. Schmitz vertritt die These, dass man das„Thema: ‘Max Frisch und die Philosophie’ quellenkritisch kaum angehen“50kann. Petersen bestätigt die Schwierigkeiten, eine explizite Beschäftigung Frischs mit bestimmten philosophischen Autoren nachzuweisen. Seiner Meinung nach beweisen die in seiner Literatur enthaltenen Hinweise nicht notwendigerweise eine konkrete Kenntnis der Werke des genannten Philosophen, sondern können ebenso als Zeichen eines nur mittelbar vollzogenen Rezipierens gedeutet werden. Möglicherweise entsprechen diese Einflüsse auf den Schriftsteller Frisch
48Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 586.49Zitiert nach: Arnold, Gespräche, S. 13.50Schmitz, Walter: Max Frisch: Das Werk (1931-1961). Studien zu Tradition und Traditionsverarbeitung, Bern/Frankfurt am Main/New York 1985, S. 68-69. (Im Folgenden zitiert als: Schmitz, Tradition.)
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den von ihm im Roman „Stiller“ dargestellten indirekten Vermittlungsprozessen unseres „Zeitalter der Reproduktion“.51
Da auch ich - wie im Vorwort angedeutet - davon ausgehe, dass die in dieser Arbeit zu untersuchenden existenzphilosophischen Elemente des Romans „Stiller“ weniger der konkreten Absicht des Autors entsprechen, sondern vielmehr unbewusste Parallelen darstellen, möchte ich an dieser Stelle nur einige wenige Erkenntnisse der Sekundärliteratur bezüglich Frischs Beschäftigung mit existenzphilosophischen Autoren darlegen, wobei die Andeutung einiger Analogien zwischen Frischs Denken und dem der Existenzphilosophie nicht zu vermeiden sein wird.
Gerade in der für die Analyse des Romans „Stiller“ essentiellen Identitätsproblematik wird die Korrespondenz existenzphilosophischer Überlegungen mit denen des Autors Frisch deutlich. Beide Menschenbilder beruhen auf einer wesentlichen Zweiteilung, die einen für den Menschen problematischen Zwiespalt konstituiert, der diesen vor die lebenslängliche Aufgabe seiner Selbstwerdung stellt. Frisch sieht die grundlegende Spaltung des Menschen in einen bewussten und empirisch bestimmbaren sowie einen unbewussten und nicht zu erfassenden Bereich, den er auch als das „Lebendige“ bezeichnet, was für ihn eine Korrespondenz zu den göttlichen Attributen darstellt.52- Wie die Zweiteilung existenzphilosophisch interpretiert wird, erläutert das folgende Kapitel.
Darüber hinaus weist die formale Seite Frischs Literatur„eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen der Philosophie, die erkennen will, und zwar nicht pragmatisch, indem sie nur Fragen stellt, auf die sie eine praktikable Antwort weiß, sondern die sich für die Fragen an sich interessiert“53,auf, was vornehmliches Merkmal der Existenzphilosophie ist.
Als sicher gilt eine Beschäftigung mit dem dänischen Philosophen Kierkegaard, wovon die vor den ersten Teil des Romans „Stiller“ eingefügten Motti aus dessen Werk „Entweder-Oder“ Zeugnis ablegen. Frischs Aussage zu diesen Zitaten bestätigt jedoch die Vorrangigkeit seines persönlichen Erfahrungsbereiches
51Vlg. J. Petersen, Frisch, S. 10-19 und vlg. zur Form des indirekten Rezipierens 2. Teil, Kapitel 2.9 und Stiller, S. 535-536.52Vlg. Frisch, Tagebuch 1946-1949, S. 374.53Bloch/Hubacher, Schriftsteller, S. 21-22.
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gegenüber theoretischen Denkansätzen:
„[…] das Kierkegaard-Motto kam sehr spät dazu, weil ich dann anfing, Kierkegaard zu lesen und das entsprach mir natürlich von der Position aus ungeheuer. Ich habe dann dieses gewagte Motto genommen - eigentlich als Leserhilfe.“54Schmitz geht davon aus, dass Frisch zur Zeit der Niederschrift des „Stiller“ sowohl Kierkegaards Werke „Entweder-Oder“ und „Die Krankheit zum Tode“ als auch Teile der Tagebücher gelesen habe.55Inwieweit es sich dabei um eine gesicherte These handelt, möchte ich offen lassen.
Literarisch beschränkt sich der Einfluss Kierkegaards auf Frischs Werke „Stiller“ und „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie“. Während im Stück „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie“ hauptsächlich Bezug auf Kierkegaards Don Juan Analyse und das „Tagebuch des Verführers“ Bezug genommen wird, zeigt sich die Beschäftigung im Roman „Stiller“ auf inhaltlicher Ebene durch die Identitätsproblematik und die Auseinandersetzung mit den von Kierkegaard angebotenen Selbstwerdungsmöglichkeiten und auf formaler Ebene durch eine Angleichung des Romans an die Struktur des Werkes „Entweder-Oder“. Auf die konkreten Parallelitäten und Differenzen zwischen „Stiller“ und Kierkegaards Philosophie werde ich im Verlauf dieser Arbeit noch ausführlicher zu sprechen kommen. Außerdem besteht eine wesentliche Affinität der Werke beider Autoren in dem literarisch verarbeiteten Konflikt zwischen künstlerischer und bürgerlicher Lebensweise.56
Was den deutschen Philosophen Heidegger angeht, so taucht sein Name zwar an vier Stellen des Gesamtwerkes - u. a. an einer Stelle im „Stiller“57- auf, doch„jedesmal [ ] so beiläufig, daß man nicht einmal sagen kann, ob Frisch von Heidegger überhaupt etwas gelesen hat.“58
Kiernan dagegen geht davon aus, dass Heideggers Daseinsanalyse die Romane „Stiller“, „Homo faber“ und „Mein Name sei Gantenbein“ wesentlich beeinflusst
54Zitiert nach: Schmitz, Walter „Zur Entstehung von Max Frischs Roman „Stiller“. In: Ders. (Hrsg.): Materialien zu Max Frisch „Stiller“. Erster Band, 1. Auflage, Frankfurt am Main, 1978, S. 29-34, 34.55Vlg. Schmitz, Tradition; S. 251.56Vlg. Stemmler, Wolfgang: Max Frisch, Heinrich Böll und Sören Kierkegaard. München 1972, S. 1-5, 15 (im Folgenden zitiert als: Stemmler, Frisch Böll Kierkegaard) und J. Petersen, Max Frisch, S. 17.57Vlg. Frisch, Stiller, S. 536.58J. Petersen, Frisch, S. 13.
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habe.59Ihre Untersuchung des „Stillers“ mit Blick auf Heideggers Philosophie begründet sie mit dessen thematischer Nähe zu Kierkegaard und der fehlenden religiösen Komponente, was mit Frischs eigener Position korrespondiert.60Allerdings bestreitet auch Kiernan,„daß Frischs Romane gewissermaßen in Literatur ‘übersetzte’ Philosophie seien“61und betont den intuitiven Charakter von Frischs Arbeit.62
Inwieweit Frisch die existentialistischen Positionen von Sartre und Camus rezipiert hat, kann keine Angaben gemacht werden.
Was die Nähe zu Sartre angeht, so erscheint mir vor allem die miteinander korrespondierenden Auffassungen zum mitmenschlichen Umgang entscheidend, die auf der einen Seite in dem von Frisch und seinen Protagonisten propagierten Bildnisverbot und auf der anderen Seite durch Sartres theoretische Überlegungen zur Philosophie des Anderen und seine literarischen Darstellungen zum Ausdruck kommen. Frischs Zurückweisung jeglicher Verwendung von Kunst als Mittel der Vermarktung einer ideologischen oder philosophischen Gesinnung und der damit verbundenen offenen Form seiner Werke, die die Übernahme von individueller Verantwortung fordert, entspricht der gesamten existenzphilosophischen Kunst- und Literaturauffassung. Diese kommt meiner Meinung nach besonders Camus’ Selbstsicht als Künstler, dessen Werke nicht als philosophische Illustrationen beurteilt werden sollen, sehr nahe.
59Vlg. Kiernan, Existenziale Themen, S. 1.60Vlg. Kiernan, Existenziale Themen S. 3-4.61Kiernan, Existenziale Themen, S. 6.62Vlg. Kiernan, Existenziale Themen, S. 6-7.
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Existenzphilosophie bezeichnet eine der wichtigsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, die ihre Begründung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts durch Kierkegaards Ablehnung der traditionellen Essenzphilosophie und seiner Zentrierung des Begriffes Existenz in den Mittelpunkt philosophischer Überlegungen erfahren hat.
Auch wenn Existenzphilosophie im Laufe der Zeit verschiedene Arten angenommen hat, so ist all diesen Richtungen „zunächstdie Frage nach dem Charakteristischen und Eigentümlichen der Seinsweise des Menschen“63gemeinsam. Ein emphatischer Begriff von Existenz steht im Mittelpunkt des Interesses64:„Existenz als spezifisch menschliche Existenz ist von allen anderen Formen des Seins völlig verschieden. Dabei wird menschliche Existenz im Sinn von faktischer, konkreter oder gelebter Existenz genommen.“65