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Nur wenige Fahrer haben den Motorsport je so aufgemischt wie Max Verstappen, in seiner Karriere reiht sich ein Rekord an den nächsten. 2015 debütierte der Niederländer mit 17 Jahren als jüngster Fahrer in der Geschichte in der Formel 1. Nur ein Jahr später, bei seinem Debüt für Red Bull beim Großen Preis von Spanien, war er der jüngste Fahrer, der jemals ein Rennen gewann. 2021 wurde er einer der jüngsten Formel-1-Weltmeister aller Zeiten – in einem einmaligen, hochdramatischen Saisonfinale, das in diesem Buch ausführlich und mit viel Hintergrundwissen geschildert wird. Als Sohn der Formel-1-Legende Jos Verstappen und der Kart-Elitefahrerin Sophie Kumpen war Max Verstappens Weg in den Rennsport vorbestimmt. Der britische Sportjournalist James Gray schildert in seiner tiefgehend recherchierten Biografie den Weg vom Ausnahmetalent bis auf den Weltmeister-Thron. Dabei beschäftigt er sich intensiv mit Verstappens ureigener Art und seinem freimütigen Wesen – und seinem aggressiven Fahrstil, der bei Fans und Experten für viel Begeisterung, aber auch für Kritik sorgt. Eine hochspannende Biografie für alle, die von der Formel 1 und diesem ganz besonderen Fahrer fasziniert sind.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2022
Prolog
1Born to race
2Ein belgischer Fahrer unter niederländischer Flagge
3Papa, der schlimmste Chef der Welt
4Ein Gamer im echten Leben
5Wie ein Fisch im Wasser
6Heraustreten aus dem Schatten des Vaters
7Aus der Pubertät ins Monoposto
8Die Formel 1 im Blick
9Red Bull gewinnt das Rennen um Max
10Konkurrenzkämpfe im Team
11Kritiker sind dazu da, eines Besseren belehrt zu werden
12Jede Menge Herausforderungen
13Ein echter Rivale für Hamilton
14Weltmeister
Max Verstappens Erfolge und Rekorde
Danksagung
„Wir brauchen ein Wunder.“
Red-Bull-Teamchef Christian Horner meinte es ernst. Max Verstappen versuchte in der Schlussphase des dramatischsten Titelkampfs der Formel-1-Geschichte, Lewis Hamilton um jeden Preis zu bezwingen. Vor dem Rennen waren die beiden Fahrer noch punktgleich gewesen, doch auf der Strecke lag der Brite nun vorn. Auf den Tribünen flehten Tausende orange gekleideter niederländischer Fans, deren Fingernägel vermutlich schon bis zum Nagelbett abgekaut waren, um göttlichen oder wie auch immer gearteten übernatürlichen Beistand, um Max zu helfen, den Rückstand noch irgendwie aufzuholen.
Keine Frage: An diesem Tag war der Mercedes das schnellere Auto. In Abu Dhabi hatte dieses Team schon oft das Rennen dominiert, aber Red Bull war nah genug dran, weshalb sich Verstappen auch am Samstag die Pole-Position sichern konnte. Hamilton erwischte jedoch einen perfekten Start und übernahm die Führung, obwohl er die härteren Medium-Reifen aufgezogen hatte. Die weichen Reifen des Red Bull hätten Verstappen eigentlich vom Start weg einen Vorteil verschaffen müssen, aber Hamilton hatte ihn zunichtegemacht. Die Formel 1 ist ein Sport der Kompromisse: Reduziert man den Abtrieb, um auf den Geraden schneller zu sein, hat man weniger Grip in den Kurven; gibt man mehr Geld für einen Fahrer aus, hat man weniger, um das Auto weiterzuentwickeln. Am Ende ist alles eine Frage des Abwägens, wie bei der Reifenentscheidung: Fährt man an die Box und holt sich frische, mit denen man schneller ist, oder bleibt man draußen und sichert die Position mit den langsameren?
Die Reifenstrategie ist entscheidend: Die weicheren Reifen sind schneller, halten dafür aber nicht so lange. Hinter Hamilton zu fahren war nicht Teil des Plans und würde letztlich zu einer Niederlage führen. Verstappen sticht auf der Innenseite in die Haarnadelkurve und zwängt sich neben Hamilton. Seit Wochen wurde im Fahrerlager darüber spekuliert, wie aggressiv Max wohl im Entscheidungsrennen zu Werke gehen würde, dem großen Finale einer Saison, an die man sich allein schon aufgrund einiger spektakulärer Crashs zwischen ihm und Hamilton immer erinnern würde. Nach nur sechs Kurven machte Verstappen einmal mehr deutlich, dass er aufs Ganze geht und kein Pardon kennt.
Hamilton war klar, dass, wenn sie infolge eines Unfalls beide aus dem Rennen ausscheiden würden, Verstappen Weltmeister wäre, und um eine Kollision zu vermeiden, ließ er sich abdrängen, fuhr über die Track Limits und verließ die Strecke. In Monaco wäre er in der Mauer gelandet. In Silverstone wäre er in einem Kiesbett gestrandet. Aber der moderne Grand-Prix-Kurs in Abu Dhabi bietet reichlich Auslaufzonen. Der amtierende Weltmeister ließ die Kurven sechs und sieben aus und fuhr praktisch geradeaus. Max blieb auf der Strecke und kam mit mehr als einer Sekunde Rückstand auf Hamilton aus der Kurvenkombination heraus.
Mit seinem linken Daumen drückte er die Funktaste. „Er muss die Position zurückgeben“, beschwerte sich Max, wobei der Adressat seiner Worte wohl weniger sein Team als der Rennleiter Michael Masi war, der in dieser Saison von beiden Teams viel kritisierte Schiedsrichter, der über die etwaige Sanktionierung solche Vorfälle entscheiden musste. Der Australier sah die Sache anders als Verstappen: Hamilton blieb in Führung. Die Red-Bull-Anwälte machten sich hektisch Notizen. Ihre Kollegen von Mercedes wahrscheinlich auch. Niemand machte sich Illusionen darüber, ob nach dem Rennen Protest eingelegt würde. Dass es dazu kommen würde, war so gut wie sicher, die Frage war nur, wer wogegen protestieren würde. Beide Teams hofften, dass sie es nicht selbst sein würden.
Fast das ganze Rennen über – sogar als Sergio Perez eine unschätzbar wichtige Rolle im Titelkampf spielte, indem er Hamilton aufhielt, um Max wieder bis auf wenige Sekunden an die Führung heranzubringen – sah es so aus, als würde Mercedes feiern und Red Bull bis spät in die orientalische Nacht und darüber hinaus prozessieren.
Und dann geschah das Wunder. Nicholas Latifi, der in der Fahrerweltmeisterschaft den 17. Platz belegte, dürfte vermutlich nie wieder so viel mit dem Ausgang einer Formel-1-Weltmeisterschaft zu tun haben wie in diesem Moment. Der Williams-Pilot schlug fünf Runden vor Schluss in die Leitplanken ein und blockierte mit seinem ramponierten Wagen die Strecke. Das Safety-Car musste raus, damit der Williams geborgen werden konnte. Und damit war nicht nur Hamiltons Vorsprung dahin, denn Verstappen fuhr gleich in die Box, um frische Reifen zu holen.
Auch wenn das schon eine ganze Menge Wunder war, Red Bull brauchte noch ein wenig mehr davon. Es lagen immer noch fünf überrundete Fahrer zwischen Hamilton und Verstappen, die zufällig in der Safety-Car-Warteschlange zwischen den beiden stecken geblieben waren. Sie bildeten eine Art Schutzschirm für Hamilton, der wahrscheinlich schon an seiner Dankesrede als achtfacher Rekordweltmeister feilte.
Das Schicksal hatte jedoch noch eine letzte überraschende Wendung für ihn parat. Rennleiter Masi ordnete, entgegen seiner gerade erst abgegeben Ankündigung an, dass sich die Überrundeten zurückrunden und ans Ende des Feldes vorfahren sollten, aber nur diejenigen, die zwischen den beiden Führenden lagen und somit Einfluss auf den Ausgang des Rennens gehabt hätten. Hätte er auch allen hinter Verstappen liegenden Überrundeten befohlen, ans Ende des Feldes vorzufahren, hätte das Rennen mit der Safety-Car-Phase geendet. Die Zeit reichte einfach nicht aus, um alle Protokolle abzuarbeiten. Hamilton wäre mit 80 km/h vor Verstappen über die Ziellinie gefahren und hätte die Weltmeisterschaft gewonnen. Und dann würde es neben der Rennstrecke noch mehr Drama geben. Masi wollte das verhindern. Er traf eine Entscheidung. Vor der letzten Runde kam das Safety-Car rein und die beiden besten Fahrer der letzten Jahre hatten rund anderthalb Minuten Zeit, um in einem Herzschlagfinale zu klären, wer Formel-1-Weltmeister 2021 werden würde. Es war eine Sudden-Death-Entscheidung, wie sie die Formel 1 noch nie erlebt hatte und vielleicht nie wieder erleben wird. Die ultimative Nervenprobe.
An der Boxenmauer lagen die Nerven längst blank. Mercedes-Chef Toto Wolff, der im Laufe des Jahres immer lebhafter geworden war, funkte Masi direkt an.
„Michael, das ist nicht richtig“, sagte Wolff. Hamilton hatte alte Reifen und Verstappen neue. Jetzt würden Wolff und Hamilton ein Wunder brauchen, um den Red Bull die ganze letzte Runde hinter sich zu halten.
Nicht weniger angespannt ging es nebenan in der Red-Bull-Box zu. Während Wolff vor einem Monitor saß, stand Horner an der Boxenmauer mit Adrian Newey, dem genialen Designer und Konstrukteur, dem Red Bull so viele Erfolge zu verdanken hat. Horners Augen waren so weit aufgerissen, als ob er selbst am Steuer säße, er scannte förmlich die zahllosen Bildschirme mit all den übermittelten Daten, um frühzeitig Probleme oder auch Chancen zu erkennen. Tatsächlich konnte er in diesem Moment rein gar nichts mehr tun. Max allein hatte es in der Hand.
Der Fahrer selbst war verstummt. Wenige Augenblicke zuvor hatte er noch seiner Enttäuschung Luft gemacht über die „typische“ Entscheidung, die Autos sich nicht zurückrunden zu lassen und ihm dadurch keine Chance gegen Hamilton zu geben. Als die Überrundeten dann an den Führenden vorbei ans Ende des Feldes fuhren, herrschte auf dem Äther Einigkeit darüber, was dies bedeutete. Verstappens Ingenieur Gianpiero Lambiase erklärte ihm in aller Ruhe die für die letzte Runde erforderlichen Motormodi. Nachdem er seine technischen Anweisungen gegeben hatte, sagte er einfach: „Das war’s.“ Neunzig Sekunden später schrie er auf:
„OH MEIN GOTT, MAX.“
Max’ Antwort war ein unverständlicher Schrei, pure Emotionen, die sich nicht erst seit ein paar Sekunden, Minuten oder Stunden aufgestaut hatten, sondern schon ein Leben lang. Praktisch von der Minute seiner Geburt an steuerte Max’ Leben auf diesen Augenblick zu.
Und dies ist die Geschichte, wie er dorthin gelangte.
In einem Sport, der von der Stoppuhr bestimmt wird, ist ein gutes Zeitgefühl wichtig. Und daran hat es Max Verstappen noch nie gemangelt. Sogar seine Geburt war gut getimt.
Sein Geburtstermin war für Anfang Oktober ausgerechnet, und das bedeutete, dass seine Mutter Sophie Kumpen in den Tagen nach der Geburt ihres ersten Kindes die Unterstützung von Freunden und Familie in Anspruch würde nehmen müssen und nicht auf die Hilfe ihres Ehemanns Jos hoffen konnte. Nicht etwa, weil der nicht dabei sein wollte, sondern weil ein Formel-1-Pilot zu dieser Zeit des Jahres, in die auch die längste Reise der Saison zum Großen Preis von Japan fällt, immer besonders viel unterwegs ist und zu tun hat.
Doch es kam anders. Als Jos am 28. September 1997 auf dem Nürburgring fuhr, setzten bei seiner Frau zu Hause in Belgien die ersten Wehen ein. Jos wollte eine der seltenen Top-Ten-Platzierungen für Tyrrell herausfahren, schied jedoch schon 17 Runden vor Rennende auf dem elften Platz liegend aus. Einige scherzten, dass er wohl hoffe, sich früh genug auf die 200 Kilometer lange Rückfahrt nach Belgien machen zu können, um die Geburt seines Sohnes nicht zu verpassen – er hatte schon eine längere Strecke auf der Rennstrecke zurückgelegt, bevor er seinen Boliden am Fahrbahnrand abstellen musste. Zum Glück für beide Eltern wurde Max aber erst am 30. September 1997 geboren, zwei Tage nach dem Großen Preis von Luxemburg, der kurioserweise in diesem Jahr wie auch im folgenden auf der Eifelstrecke ausgetragen wurde. Selbst wenn man ihn gezwungen hätte, mit seinem defekten Tyrrell nach Hause zu fahren, hätte Jos es noch rechtzeitig zur Geburt seines Sohnes zurückgeschafft.
Max Verstappen scheint ein ziemlich gesundes Baby gewesen zu sein. Auf Jos persönlicher Website, die es tatsächlich schon in den späten 1990er-Jahren gab, fand sich zur Geburt seines Sohnes folgender Eintrag: „Er heißt Max und er wiegt 3265 Gramm. Max Emilian, so sein ganzer Name, misst 48,5 Zentimeter. Sophie brachte Max ohne Komplikationen um 13.20 Uhr zur Welt. Die Geburt dauerte 40 Minuten. Max hatte den richtigen Moment gewählt, um auf die Welt zu kommen.“ Und weiter stand dort: „Wenn Max das Renntalent seiner beiden Eltern geerbt hat, wurde heute ein neuer F1-Fahrer für das Jahr 2020 geboren.“ In dieser Prophezeiung, die sich als nicht optimistisch genug herausstellte, wenn man bedenkt, dass Max sein Formel-1-Debüt schon 2015 gab, drückte sich nicht nur der Überschwang des frisch gebackenen Vaters aus. Der Stammbaum von Verstappen junior war hinsichtlich des rennsportlichen Erbes zweifellos beeindruckend. Dennoch hielt sich Jos Freude über die Herausforderung der frühen Vaterschaft in Grenzen. „Ich muss zugeben, dass ich im ersten Jahr nicht wirklich etwas mit Babys anfangen konnte“, sagte Jos in einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2021. „Sie machen ja nicht besonders viel.“ Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Ich war kein Experte im Windelnwechseln.“ Seine Kompetenz läge eher auf der Rennstrecke, meinte er.
Jos hatte als Fahrer zwei Spitznamen: „Jos the Boss“ und „Vercrashen“. Beide veranschaulichen auf plastische Weise, welches Bild sich die Racing-Community damals von ihm machte: Er galt als starker, dominanter Charakter mit reichlich Talent, aber der unseligen Angewohnheit, Rennen in der Streckenbegrenzung zu beenden.
Jos wuchs nur wenige Kilometer entfernt von Hasselt, wo er Max aufzog, im niederländischen Montfort auf. Seit seinem achten Lebensjahr hatte er sich im Kartsport hochgearbeitet und 1984 und 1986 die niederländische Meisterschaft gewonnen. In der heutigen Zeit wäre er vielleicht schnell in eine Fahrerakademie oder in eines der größeren Teams mit Plätzen in den verschiedenen Serien aufgenommen worden. Möglicherweise lag es auch an den fehlenden finanziellen Mitteln, den entsprechenden Beziehungen oder einfach daran, dass er ein so talentierter Kartracer war und den Erfolg auf dieser Ebene so sehr genoss, dass er sich damit begnügte, bis ins hohe Rennfahreralter beim Kartsport zu bleiben. Jedenfalls wechselte Jos erst als fast Zwanzigjähriger zu einem Rennwagen. In den Jahren davor hatte er nicht nur die nationalen Meisterschaften in den Niederlanden und in Belgien gewonnen, sondern auch kontinentale Wettbewerbe; Ende 1991 kam man jedenfalls nicht mehr umhin, seine zahlreichen Erfolge anzuerkennen.
Dank der Triumphe bei den Marlboro Masters 1993 (einem Formel-3-Rennen auf der berühmten Strecke bei Zandvoort) und der deutschen Formel-3-Meisterschaft im selben Jahr erhielt er die Chance, einen F1-Wagen für ein Team zu testen, das wegen des aktuellen Investors seinerzeit Footwork hieß, obwohl die meisten Motorsportfans sich an den Rennstall unter dem Namen Arrows erinnern werden. Das Team überließ ihm am Tag nach dem Großen Preis von Portugal in Estoril sein Auto, wo er zum ersten Mal mit einem der monströsen V10-Motoren fuhr, die damals das Maß der Dinge in der Königsklasse des Motorsports waren. Für Jos, der vor seinem Einstieg bei Footwork 1993 nur in der Formel 3 gefahren war, war dies ein enormer Leistungssprung. Er steigerte sich von 175 auf 750 Pferdestärken, also auf mehr als das Vierfache der Leistung unter seinem rechten Fuß, und musste zudem mit dem halbautomatischen Getriebe, der Traktionskontrolle und den Carbonbremsen zurechtkommen. Allein die im Vergleich zur Formel 3 nun weitaus höheren Kurvengeschwindigkeiten stellten angesichts der enormen G-Kräfte für die Nackenmuskulatur eine besondere Belastung dar. Nichtsdestotrotz arrangierte sich „Jos the Boss“ bestens mit den neuen Bedingungen.
Schon nach seinen ersten 15 Minuten im Cockpit fuhr er die Rundenzeiten der beim Grand Prix vom Sonntag im hinteren Viertel Platzierten. Nach weiteren fünf Minuten auf der Strecke hatte er mit Aguri Suzuki gleichgezogen, dem Fahrer, der normalerweise hinter dem Steuer des ihm zur Verfügung gestellten Autos saß.
„Ich muss sagen, ich dachte, der Sprung von der Formel 3 zur Formel 1 würde sehr schwierig sein“, sagte Jos damals gegenüber Reportern. „Aber eigentlich war es gar nicht so schwierig. In der ersten Runde dachte ich: ‚Scheiße!‘ Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell sein würde. Aber in der dritten Runde hat es mir richtig Spaß gemacht; es war unglaublich. Nach zehn bis fünfzehn Runden fühlt es sich dann ganz normal an und man will mehr. Trotzdem ist das schon sehr schnell.“
Am Ende des Tages, nachdem er 65 Runden gefahren war und ihn Nacken- und Schulterschmerzen plagten, schaffte er eine Rundenzeit, die ihm ein paar Tage früher den zehnten Startplatz gesichert hätte. Er war nur 0,07 Sekunden langsamer gewesen als Derek Warwick, der mit seinen zwölf Jahren F1-Erfahrung die unumstrittene Nummer eins bei Footwork war.
Doch schon nach diesem ersten Test in einem Formel-1-Wagen wurden die Medienvertreter an das Dilemma mit der Geschwindigkeit erinnert. Verstappen kehrte am Donnerstag zurück, immer noch ein wenig angeschlagen von den Anstrengungen der Vortage, und während er sofort anfing, schnelle Rundenzeiten zu fahren, verlor er dann im letzten Hochgeschwindigkeitssektor die Kontrolle über das Auto und landete in den Leitplanken. Der Trainingstag war damit vorzeitig beendet, aber das schien die plötzliche Aufregung um den Namen Verstappen nicht sonderlich zu dämpfen. Das Telefon hörte nicht mehr auf zu klingeln.
„Wir hatten Kontakt mit … den meisten Teams“, sagte Jos in einem aufschlussreichen Interview 2019 für den Podcast Beyond the Grid. „Wir hatten einen Testtag mit McLaren in Silverstone, wir hatten Kontakt mit Eddie Jordan, Flavio [Briatore, dem Benetton-Boss].“
Schließlich entschied sich Jos Verstappen für die aus seiner Sicht beste Option und unterschrieb bei Benetton, weil man ihm hier statt eines Einjahresvertrags gleich einen Zweijahresvertrag anbot. Ursprünglich sollte er 1994 als Testfahrer eingesetzt werden, doch als sich JJ Lehto bei einem Unfall vor der Saison die Halswirbelsäule brach, gab Verstappen sein Debüt beim Großen Preis von Brasilien an der Seite eines gewissen Michael Schumacher. Dessen kometenhafter Aufstieg, nachdem er kaum zwei Jahre in der Formel 1 gefahren war, ähnelte auf bemerkenswerte Weise dem, was Jos Sohn zwei Jahrzehnte später erreichen sollte.
Jos’ Debüt war alles andere als märchenhaft. Er hatte viel zu beweisen, nachdem Schumacher im Qualifying fast zwei Sekunden schneller gewesen war und sich damit den zweiten Platz in der Startaufstellung gesichert hatte, während Verstappen sieben Plätze dahinter lag. Nach 36 Runden setzt er an, Eddie Irvine im Kampf um den achten Platz links zu überholen, doch der Jordan-Pilot, der das nicht mitbekommen hat, schert seinerseits nach links aus, um den vor ihm fahrenden Ligier von Eric Bernard zu überrunden, wodurch Verstappen mit den Außenrädern aufs Gras abgedrängt wird und der Wagen anschließend quer zurück über die Fahrbahn schießt. In der schrecklichen Szene war Verstappen machtlos, er konnte seinen schlingernden Wagen nicht stoppen, der zunächst mit dem Jordan und dem Ligier kollidierte und dann auch noch den in der Kurvenaußenbahn bremsenden McLaren von Martin Brundle traf und in die Luft geschleudert wurde, bevor er wieder auf dem Asphalt aufschlug und neben die Piste rutschte. Erstaunlicherweise wurde niemand ernsthaft verletzt, obwohl die wirkenden Kräfte so groß waren, dass Brundles Helm zersplitterte.
„Ich hatte nie Angst, und mein Selbstvertrauen hat darunter nicht gelitten. Ich hatte nie ein Problem damit“, sagte Jos mit dem für ihn typischen Übermut.
Auch in seinem zweiten Rennen drehte er sich – „ich gab alles, um Michaels Tempo mitzugehen, und [die Unfälle] haben mich nicht davon abgehalten, es weiter zu versuchen.“
Und dann kam der genesene Lehto zurück.
Wenn Jos etwas aus seinen ersten Erfahrungen in der Formel 1 gelernt hatte, dann, dass er körperlich nicht mithalten konnte, aber er begriff auch schnell, dass bei Benetton Schumacher die klare Nummer eins war. Das soll nicht heißen, dass das Team Verstappen nicht schätzte. Schließlich hatte ihm Benetton einen längeren Vertrag angeboten als jedes andere Team, und als der Finne nach seiner Verletzungspause nicht gleich wieder in Bestform war, kam Verstappen erneut zum Zug. Zu diesem Zeitpunkt hatte Schumacher schon fünf der ersten sechs Rennen gewonnen, und wenn er vorher schon im Team favorisiert worden war, standen nun alle komplett hinter Michael. Jos beteuert, dass er das verstanden habe, aber die Frustration darüber, dass er sich in seiner allerersten Formel-1-Saison gegenüber dem deutschen Teamkollegen mit weniger als drei Jahren F1-Erfahrung etwas zurückgesetzt fühlte, ist offenkundig.
„Die ganzen Tests wurden für die Regeländerungen [zur Saisonmitte] verwendet, nicht um mir zu helfen, Vertrauen in das Auto zu gewinnen und schneller zu werden. Es war nicht so wie heute, wo sie dem anderen Fahrer, der Probleme hat, wirklich helfen, damals spielte das keine Rolle.“
Als sich sein Sohn in einer ähnlichen Position als der jüngste Fahrer im Starterfeld und Teamkollege des weitaus erfahreneren Daniel Ricciardo befand, gab Max nicht klein bei und wehrte sich heftig bei der geringsten Andeutung, dass er nur die zweite Geige spiele. Vielleicht hat ihm sein Vater, der ihm immer ein enger Berater war, vor dem Hintergrund seiner bitteren Benetton-Erfahrung eine wertvolle Lektion vermittelt.
Trotz der Schwierigkeiten war Jos Aufstieg in den Olymp des Motorsports ein Grund zum Feiern in Montfort, und das Städtchen wurde, wie Jos Vater Frans sagt, „ein Wallfahrtsort“. Jahrelang betrieb Frans eine Kneipe namens Café de Rotonde, benannt nach dem großen Kreisverkehr in der Mitte der Stadt, an dem es liegt. Wenn sein Sohn Rennen fuhr, ging es hoch her und er machte beste Umsätze. „Vor allem in den Anfangsjahren war es ein Tollhaus“, sagte Frans 2015. „Damals war die ganze Straße abgesperrt und es gab ein großes Zelt, das sich über die gesamte Länge der Straße erstreckte. Ich hatte 18 Fernsehgeräte und es kamen immer zwischen 2000 und 3000 Gäste. So auch bei den Rennen in Ungarn und Belgien, bei denen Jos Dritter wurde. Danach war das Chaos komplett – die ganze Straße und der Kreisverkehrwaren überfüllt.“ Dabei muss man sich vor Augen führen, dass in ganz Montfort insgesamt nur rund 3000 Menschen leben.
Übertrieben sind die Darstellungen von Jos Vater sicher nicht. Auf einer verschwommenen VHS-Aufnahme vom Tag des Großen Preises von Ungarn 1994, bei dem Jos als Zwölfter startete und am Ende Dritter wurde, während sein Teamkollege Michael Schumacher den Sieg errang, sieht man, wie Frans von einigen Kneipengästen auf den Schultern getragen wird, deren schmerzverzerrte Gesichter den Eindruck vermitteln, als hätten sie sein Gewicht unterschätzt. Der Bürgersteig draußen steht voll mit Sonnenschirmen und Bierfässern, die als Tische benutzt werden. Eine Gruppe von Männern in traditioneller flämischer Tracht, die für Uneingeweihte auch in einem deutschen Brauhaus ein paar Kilometer weiter nicht fehl am Platz wirken würde, singt „Jos, Jos, Jos“ und noch einige Lieder mit etwas mehr Text, in denen seine Glanztaten und seine Heldenhaftigkeit gefeiert werden. Einer von ihnen hat ein signiertes Bild von Jos in sein Hutband gesteckt.
„Jos hat das alles bewirkt, und ich glaube, dass Max sogar noch mehr bewirken wird“, sagte Frans. Aber Druck machen? Natürlich nicht.
Als sein Enkel den Sprung in die Formel 1 geschafft hatte, gab Frans die Kneipe auf, zog auf die andere Seite des Kreisverkehrs und eröffnete dort eine Eisdiele, was dem Feiern jedoch keinen Abbruch tat, wenn auch etwas weniger Alkohol floss. Als Max in Australien sein Debüt in der Formel 1 gab, war das Rennen in den Niederlanden zu früh am Morgen, um irgendeine öffentliche Veranstaltung durchzuführen, aber sein zweiter Grand Prix in Malaysia begann um neun Uhr morgens, für Frans eine vernünftige Zeit, um Eiscreme-Frühstücke anzubieten, wofür er eine Konzession beantragte und erhielt.
Er ließ ein Festzelt neben dem Eiscafé aufstellen und stattete es mit großen Fernsehern und einem Lautsprechersystem aus, bevor er es bis unter die Decke mit Montfortenaars füllte. In seinem Toro Rosso belegte Max den siebten Platz und schlug damit seinen Teamkollegen Carlos Sainz und die beiden Red-Bull-Fahrer vom Mutterteam. In Montfort war der Jubel gewaltig und es wurde viel Eis verkauft. Frans sagte: „Ich bin der stolzeste Opa in Holland, ja sogar … auf der ganzen Welt. Da habe ich nie einen Hehl draus gemacht.“
Die Tradition wurde fortgesetzt, indem die Party von einem provisorischen Zelt in den Zaal Housmans umzog, ein Café ein paar Hundert Meter vom Kreisverkehr entfernt, das Harald Hendrikx, einem Freund von Frans gehört. An den Rennsonntagen wurde die Straße von Fans blockiert, die versuchten, einen Parkplatz in der Nähe der Bar zu ergattern. Aus den Fenstern hingen holländische Fahnen mit den Namen von Max oder Jos, und überall waren Mützen und Shirts von Red Bull Racing zu sehen.
Die Rennen wurden auf eine riesige Leinwand am Ende des Raumes projiziert, in dem es viele Erinnerungsstücke gab und auf dessen Bühne manchmal ein riesiges Porträt von Max stand. Häufiger genutzt wurde die Bühne allerdings von lokalen Bands oder für Open-Mic-Events. Der gesamte Veranstaltungsort war mit Fahnen und Bannern geschmückt.
Anders, als man vielleicht denken könnte, ging es Frans nicht ums Geld. Der stolzeste Opa der Welt überzeugte Harald, die Bierpreise niedrig zu halten, und animierte ganze Familien, den Nachmittag mit dem Anschauen der Rennen zu verbringen. Ihm ging es nicht um Profit, er wollte nur, dass alle an seiner Freude teilhaben – und wenn sie dann auch noch etwas kaufen wollten, verkaufte er es ihnen natürlich auch gerne. „Jeder Grand Prix live hier bei Opa Verstappen, freier Eintritt, jeder ist willkommen“, verkündete das Schild vor dem Housmans, unter dem eine Nachbildung von Max’ Red Bull stand.
Als Max 2016 mit dem Großen Preis von Spanien zum ersten Mal ein Formel-1-Rennen gewann, stand Frans auf der Bühne, während sein Enkel hinter ihm auf der Leinwand Champagner versprühte und zur Feier des Tages eine riesige niederländische Fahne schwenkte. Es regnete Konfetti von der Decke und es wurde reichlich Bier getrunken. Frans war schon öfter auf solchen Partys gewesen, aber noch nie mit einem Verstappen ganz oben auf dem Podium. Endlich hatten sie einen Grand-Prix-Sieg errungen.
Frans verstarb 2019 im Alter von 72 Jahren nach einer langen Krebserkrankung, nur wenige Tage nachdem Max seinen achten Grand Prix gewonnen hatte. Der Leichenwagen fuhr von dem Kreisverkehr, an dem er in den 90er-Jahren Bier für Jos Fans ausgeschenkt hatte, bis zu der Halle, in der das Konterfei von Max omnipräsent ist. Als er seine Bar zum letzten Mal verließ, standen die Anwohner mit Bengalos in den Händen Spalier. Obwohl sie an den Wänden allgegenwärtig sind, fielen Jos und Max durch ihre Abwesenheit auf. Der Enkel hatte gerade erst den Großen Preis von Brasilien gewonnen und die Formel-1-Saison war noch nicht zu Ende. Jos nahm zwar zusammen mit Max’ Schwester Victoria an der Beerdigung teil, nicht aber an der Gedenkfeier im Housmans. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Familienzusammenhalt doch nicht so eng war, wie Frans immer vorgegeben hatte.
Im Jahr 2016 wurde nach einem heftigen Streit zwischen Jos und Frans sogar die Polizei gerufen. Es ist nicht klar, was der Auslöser des Streits war. Max war beim Großen Preis von Ungarn gerade Fünfter geworden, was bedeutet, dass die Party, in deren Verlauf es zu dem Vorfall kam, schon einige Stunden im Gange gewesen sein musste. Im Polizeibericht steht, dass Jos seinen Vater von dessen Stuhl gestoßen habe und dieser daraufhin gegen die Wand gestürzt sei. Natürlich stürzten sich die niederländischen Medien auf die Geschichte. Nachdem Frans zunächst versucht hatte, den Vorfall abzustreiten, zog er drei Tage später seine Anzeige zurück und bezeichnete ihn als „eine Privatangelegenheit zwischen mir und Jos“, bevor er hinzufügte, dass „wir schon öfter erlebt haben, dass Jos die Hand locker sitzt, aber das war die Grenze.“
Sein Vater spielte damit auf das berühmt-berüchtigte Temperament von „Jos the Boss“ an. Als Fahrer hatte er sich den Ruf erworben, jemand zu sein, dem man besser nicht in die Quere kommt. Doch als er sich zur Ruhe gesetzt hatte, stand er außerhalb des Formel-1-Fahrerlagers, wo das tödliche Risiko des Sports den einen oder anderen Ausbruch oder eine Konfrontation zu legitimieren schien; er war nun in der „echten Welt“, wo seine Handlungen echte Konsequenzen hatten.
Auch Frans war nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt. Im Mai 1998 kam es auf einer Kartbahn in der belgischen Stadt Lanaken zu einem Streit zwischen Jos, der mit seinem Vater und einigen Freunden dort war, und einer anderen Gruppe, die die Anlage nutzen wollte. Schnell kam es zu einer Schlägerei, bei der ein 45-jähriger Mann einen Schädelbruch erlitt und Jos vor Gericht als Schuldiger ausgemacht wurde. Nach belgischem Recht kann ein finanzieller Opferausgleich die Strafe eines Angeklagten mindern, und tatsächlich holten die Verstappens, die beide der Körperverletzung für schuldig befunden wurden, das Scheckbuch heraus und kamen jeweils mit einer fünfjährigen Bewährungsstrafe davon.
Zum Zeitpunkt des Vorfalls hatte Jos kein Team. Er war von Tyrrell einfach ausgemustert worden, weil er nicht schnell genug gewesen war, und nachdem er wieder bei Benetton getestet hatte, erhielt er keinen Vertrag, weil er die Sponsorengelder nicht aufbringen konnte. Er wollte so schnell wie möglich zurück ins Cockpit eines Formel-1-Wagens, und sein Ruf als schneller Fahrer sorgte dafür, dass sein Name in den Zeitungen und Zeitschriften immer dann auftauchte, wenn in irgendeinem Rennstall ein Fahrer Probleme hatte.
Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass er sein Gewicht in die Waagschale werfen wollte, mit einem Ego, das immer noch aufgeblasen genug war, um zu glauben, dass ihm Unrecht getan worden war, und das es ihm nicht erlaubte, der Bitte nachzukommen, eine Kartbahn, die in seiner Gemeinde liegt, mit anderen zu teilen oder sogar zu räumen. Zum Glück für ihn dauerte es zwei Jahre, bis der Fall vor Gericht verhandelt wurde, und die Kontroverse hielt Stewart nicht davon ab, ihm nur einen Monat nach der medialen Aufregung um die Prügelei einen Platz als Fahrer zu geben, als Ersatz für den enttäuschenden Jan Magnussen (dessen Sohn Kevin später in der Formel 1 gegen Max antreten sollte).
Obwohl er nur knapp einer Gefängnisstrafe entgangen war, schien Jos sein Temperament nicht mäßigen zu können. Im Jahr 2008 stand er erneut vor Gericht, wieder wegen Körperverletzung, und diesmal war Max’ Mutter Sophie das mutmaßliche Opfer. Die beiden hatten sich inzwischen getrennt, und sie hatte nach wiederholten Drohungen ein Kontaktverbot gegen ihn erwirkt. Nun wurde er von ihr wegen Misshandlung und Droh-SMS angeklagt. Bezüglich des schwerwiegenderen Tatvorwurfs konnte ihm das Gericht keine Schuld nachweisen, jedoch wurde er wegen der Drohungen und des Verstoßes gegen das Kontaktverbot für schuldig befunden und – nicht zum ersten Mal – zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Im Januar 2012 erfuhr die niederländische Öffentlichkeit aus den Zeitungen, dass Verstappen senior erneut verhaftet worden war, diesmal wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag. Jos war in der niederländischen Stadt Roermond nach einem Zwischenfall mit seiner Ex-Freundin Kelly van der Waal festgenommen worden. Es wurde ihm vorgeworfen, sie mit seinem Auto angefahren zu haben, was die Schwere der Anklage erklärt. Das Verfahren wurde zwei Wochen später eingestellt, und 2014 versöhnten sich die beiden und heirateten. Die Zeremonie war klein und fand weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Im Januar flogen er und Kelly zusammen mit einigen Gästen auf die niederländische Karibikinsel Curaçao, wo sie am Strand heirateten. Jos trug einen dreiteiligen beigen Anzug mit strahlend weißen Schuhen, während sie ein trägerloses Brautkleid im Mermaid-Stil und mit leicht herzförmigem Ausschnitt trug. Die Kulisse und die Zeremonie waren traumhaft, etwas, woran man sich noch jahrelang gerne erinnern würde – die Ehe hielt allerdings nur drei Jahre.
Das Paar hat ein gemeinsames Kind: Kelly brachte eine Tochter zur Welt, Blue Jaye, die von ihrem siebzehn Jahre älteren Halbbruder Max genauso freudig in der Familie willkommen geheißen wurde wie einst seine kleine Schwester Victoria, die einige Jahre zuvor geboren worden war . Am 4. Mai 2019 wurde Jos dann zum vierten Mal Vater, seine Partnerin Sandy Sijtsma brachte einen Jungen zur Welt: Jason Jaxx. Die vier Verstappen-Kinder verbringen regelmäßig als Familie Zeit zusammen.
Max ist ein fürsorglicher und freundlicher großer Bruder. Er war gerade zwei Jahre alt geworden, als seine Mutter mit der kleinen Victoria aus dem Krankenhaus nach Hause kam, doch er war sanft und mitfühlend – und sehr geschickt darin, den häuslichen Frieden zu wahren.
„Victoria war die Chefin“, erinnerte sich seine Mutter Sophie Jahre später. „Max hat ihr immer das Sticker- oder Malbuch gegeben, damit es kein Geschrei gibt. Darin spiegelt sich gut sein Charakter: Er ist offen und lieb. Max ist ein gefühlsbetonter Mensch und er will immer zuerst reden, um eine Lösung zu finden.“ Sie fügt mit einem Seitenhieb auf ihren Ex-Mann hinzu: „Den ungestümen Renninstinkt hat er von Jos, die Sanftmut von mir.“
In den ersten Jahren lief das Familienleben im Hause Verstappen reibungslos. Jos verdiente gutes Geld in der Formel 1, obwohl er es gerade nicht konnte, da er nach einigem Hin-und-Her-Hickhack mit Jordan schließlich mit leeren Händen dastand und nun überhaupt kein F1-Cockpit hatte. Zudem zerschlugen sich die Pläne, Honda, für die er als Testfahrer arbeitete, zurück in die Formel 1 zu führen, als das Projekt nach dem plötzlichen Tod seines Freundes und ehemaligen Tyrrell-Chefs Harvey Postlethwaite erst mal auf Eis gelegt wurde. Nicht gerade förderlich, um im F1-Zirkus wieder unterzukommen, war womöglich auch, dass sein Manager Huub Rothengatter immer noch glaubte, von den Rennställen enorme Summen für die Dienste von Jos Verstappen verlangen zu können, obwohl er im Fahrerlager immer noch den Spitznamen „Vercrashen“ trug. „Niemand stellt ein Auto besser ab als Jos Verstappen“, hieß es im Scherz, so oft beendete er seine Einsätze am Streckenrand.
Der kleine Max bekam nichts mit von all dem, was hinter den Kulissen im Formel-1-Fahrerlager vorging und worum es außer Fahren sonst noch alles ging. Für ihn war sein Vater ein reisender, siegreicher Held, den er nur ungern gehen ließ. Er weinte, wenn Jos zu einem Rennwochenende aufbrach, nicht nur, weil sein Vater wegfuhr, sondern auch, weil er wusste, dass er Rennen fahren würde, und er wollte dabei sein. Er klammerte sich an Jos und schluchzte. Er wollte auf der Rennstrecke sein, wo sich alles um Geschwindigkeit drehte und nach Benzin roch.
Noch bevor er laufen oder sprechen konnte, spielte Max mit Spielzeugautos oder -motorrädern, er war besessen von allem, was Räder hatte. Seine Eltern versuchten, mit seinem Hobby Schritt zu halten, waren sich aber einig, ihn nie zu irgendetwas zu drängen, sondern ihn einfach das tun zu lassen, was er gerne wollte. Als er zwei Jahre alt war, schenkte ihm Jos zu Weihnachten ein Quad-Bike. Es war das erste Weihnachten der Verstappens als vierköpfige Familie, denn im Oktober war Victoria geboren worden. Vielleicht wollte Jos nur den Frieden wahren, aber wahrscheinlicher ist, dass er damit die Ausbildung seines Sohnes begann. Mehr als ein Jahrzehnt später, nach einer spektakulären Aktion beim Regen-Grand-Prix in Brasilien, erinnerte Max sich an seine Zeit auf dem Quad im Schnee, als er erklärte, wie er versuchte, das schleudernde F1-Auto zu stoppen. Als er älter wurde und die Quads und Motocrossmaschinen immer größer und leistungsfähiger wurden, fuhr er mit seinen Freunden um die Wette und jagte mit ihnen im Schnee oder im Schlamm herum. Er selbst ist sich nicht sicher, ob er dabei seine Fähigkeiten verbessern oder einfach nur Spaß haben wollte; das Ergebnis war dasselbe – die Entwicklung eines angeborenen Verständnisses für Grip, insbesondere unter schwierigen Bedingungen.
Seine Mutter Sophie sagte: „Mit seinem ersten Bobbycar das er von Mercedes bekommen hatte, sehe ich ihn noch immer driften und Kurven fahren. Die Geschwindigkeit war schon früh da.“
Max hatte als Kind auch andere Interessen. Das Haus war so etwas wie eine Menagerie, mit fünf Katzen, vier Hunden und einem Kakadu. Max erinnert sich daran, dass sein Vater hin und wieder mit einem neuen Haustier nach Hause kam und Sophie sich um sie kümmern musste, während Jos in der Welt herumreiste und arbeitete. Eine Wohnung im achten Stock in Monaco ist vielleicht nicht unbedingt optimal für Tierhaltung, aber das hielt Max nicht davon ab, sich 2021 zwei Katzen zuzulegen, Jimmy und Sassy. Er genießt es sehr, sie um sich zu haben, auch wenn er sich über ihre Angewohnheit ärgert, sich unter den Pedalen seines Simulators zusammenzurollen, wenn er einmal vergessen hat, sie aus dem Zimmer zu lassen.
Max spielte in jungen Jahren Fußball, wenn auch nicht besonders gut, wie man zugeben muss, doch er war linksfüßig und bemühte sich sehr, und das sind zwei Eigenschaften, die bei Jugendfußballtrainern hoch im Kurs stehen. Seinem Vater fiel auf, dass er beim Laufen während des Spiels immer ein gutes Gleichgewicht hatte, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass er so viel Zeit auf allen möglichen Fahrzeugen mit Rädern verbrachte. Die Schule machte ihm selten Spaß, denn es fiel ihm schwer, die ganze Zeit still zu sitzen und auf die Tafel zu schauen. Er fühlte sich eingesperrt. Manchmal bat er darum, auf die Toilette gehen zu dürfen, und kam dann nicht mehr zurück. Mittwochs war der Unterricht um 12 Uhr zu Ende, und dann ging er von der Schule aus direkt auf die Rennbahn. Als er elf wurde und auf die weiterführende Schule kam, entschied sich Jos für die Lehranstalt, deren Direktor zugesichert hatte, flexibel zu sein, weil Max wegen des Kartsports regelmäßig ins Ausland fahren musste. Solange Max seine Noten auf einem bestimmten Niveau hielt, würde er die freien Tage bekommen, die er brauchte, um zu wichtigen Wettbewerben zu fahren. Freitags um 15.15 Uhr rannte der Junge aus der Schule und sprang zu seinem Vater in den Van, um zu einer Kartbahn in Italien, Holland oder Deutschland zu fahren. Manchmal war alles, was er in seinem Rucksack dabeihatte, ein Satz Wechselunterwäsche. Alles, was er sonst noch brauchte, befand sich in der Werkstatt.
Auch wenn er mit dem Schulunterricht nicht viel anfangen konnte, Erdkunde mochte er – wahrscheinlich war es sogar das einzige Fach, das er mochte. In seinem Zimmer hingen keine Poster von seinen Lieblingsrennfahrern wie Ayrton Senna oder Michael Schumacher, keine Stars seines Lieblingsfußballvereins PSV Eindhoven oder gar der große Johan Cruyff, von dem er sagte, dass er später seine Einstellung zum Rennsport geprägt hat, sondern Bilder von verschiedenen Ländern und eine Weltkarte. Er wollte wissen, wo alles war, und auf die Stadt zeigen können, in der sein Vater in dieser Woche war.
Das erste Mal, dass er seinen Vater begleiten durfte, seine erste wirkliche Erfahrung mit F1-Autos, war, soweit sich beide erinnern können, als Jos im Jahr 2000 für Arrows testete.
„Als wir testeten, nahm ich ihn mit – nur er und ich. Jemand aus dem Team passte auf ihn auf, während ich fuhr“, sagt Jos. Das Team kümmerte sich um die Betreuung von Max, doch die Autos auf der Strecke faszinierten ihn schon damals ungemein. Ihn von der Rennstrecke fernzuhalten, war vielleicht noch schwieriger, als ihn zu beschäftigen und bei Laune zu halten.
Dann kam irgendwann die Zeit, in der es einfacher war, Max mitzunehmen, als ihn zu Hause in Belgien zu lassen. Der junge Max war im Fahrerlager bald ein vertrauter Gast, wenn er herumlief und durch die Boxen stromerte. Das begann 2001 in Malaysia, als Max gerade dreieinhalb Jahre alt war und Jos in seinem zweiten Jahr bei Arrows. Es war das einzige Mal in seiner Karriere, dass er zwei komplette Saisons hintereinander für dasselbe Team fuhr.
Bei Temperaturen von knapp 38 Grad Celsius am Freitagnachmittag und einer Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent kann es für Max eigentlich kein ganz so angenehmer Aufenthalt gewesen sein, auch wenn er sich selbst nur daran erinnert, dass der ganze Ort wie ein riesiger Spielplatz aussah.
„Das Wichtigste ist, ins Ziel zu kommen“, sagte ein pessimistischer Jos nach dem 18. Platz im Qualifying am Samstag. Das Team hatte den Motor während des Trainings am Samstag austauschen müssen. Das Auto untersteuerte immer noch zu stark und benötigte eine weiterentwickelte Vorderradaufhängung, die aber nicht mehr rechtzeitig zum Rennen eintreffen würde. Und Jos klang nicht so, als ob er sich auf das Rennen auf der körperlich anstrengendsten Rennstrecke von allen freute oder gar erwartete, beim ersten Grand-Prix-Wochenende, bei dem sein Sohn dabei war, etwas zu erreichen. Was folgte, war ein Rennen, das den heutigen Fans seines Sohnes vertraut vorgekommen wäre.
Nach einem verpatzten Start fuhr Verstappen bereits in der ersten Runde vom siebzehnten auf den sechsten Platz vor und stieß dabei in mehrere Lücken, die eigentlich gar nicht vorhanden zu sein schienen. „Wie um alles in der Welt ist das möglich?“, wunderte sich der Kommentator Murray Walker, als er den Zuschauern mitteilte, dass es tatsächlich der Arrows von Verstappen war, der in die Punkteränge fuhr, bevor er feststellte: „Das ist die große Chance für ‚Jos the Boss‘, und er weiß es.“
Nur wenige Runden nach Rennbeginn setzte der Regen ein und sorgte dafür, dass sowohl Michael Schumacher als auch Rubens Barrichello, die führenden Ferraris, in derselben Kurve von der Strecke abkamen. Zum Glück für die beiden nahmen die Autos dank der weitläufigen Auslaufzonen in Sepang keinen Schaden und sie konnten weiterfahren und in der Box auf die passenden Reifen wechseln. Dadurch kam Verstappen allerdings noch weiter nach vorne. Einmal lag er auf P2 hinter David Coulthard, als sein ehemaliger Teamkollege Schumacher hinter ihm in den Spiegeln auftauchte. Der Deutsche hatte Intermediates aufgezogen, die zwar schneller sind, aber wegen der geringeren Verdrängung mit den großen Wassermengen auf der Strecke weniger gut klarkommen als die Regenreifen, für die sich Jos entschieden hatte. Verstappen, einst sein Teamkollege bei Benetton, war fest entschlossen, Schumacher das Leben so schwer wie möglich zu machen. Was ihm auch gelang. Hinterher empfand Jos es als Kompliment, als der amtierende Weltmeister sagte, es sei „übel“ gewesen, ihn zu überholen, obwohl er es trotzdem schaffte, an ihm vorbeizukommen und das Rennen zu gewinnen.
Jos beendete das Rennen knapp außerhalb der Punkteränge auf einem undankbaren siebten Platz, als letzter Fahrer in der Führungsrunde: Schumacher hatte alle anderen überrundet. Der Niederländer war hin- und hergerissen zwischen den Emotionen eines Ergebnisses, das weit besser war, als irgendjemand hätte erwarten können, und dem knappen Verpassen eines wertvollen WM-Punktes. Der Regen hatte sogar den zermürbenden Bedingungen die Schärfe genommen. Als er Max wiedersah, war er verständlicherweise immer noch erschöpft.
Ein Freund hat die beiden im Hospitality-Bereich auf der Rückseite der Arrows-Box in Sepang fotografiert. Jos hat seinen Rennoverall heruntergezogen und um seine Taille gebunden. Max, dessen Haare viel blonder sind als im Erwachsenenalter, hat sich für den Anlass herausgeputzt und trägt ein kurzärmeliges Karohemd mit Button-Down-Kragen. Er deutet mit zwei Fingern auf seinen Vater, während Jos ihn fragend anschaut. Max hat eine Hand auf den Arm seines Vaters gelegt und sieht aus, als würde er mit ihm eine strenge Nachbesprechung abhalten. „Du warst Zweiter, Papa, du hättest Zweiter werden können“, scheint er zu sagen. Wohl nur wenige hätten geahnt, dass derselbe Junge sechzehn Jahre später seinen zwanzigsten Geburtstag mit einem Sieg auf genau dieser Strecke feiern würde.
Die Niederlande sind keine traditionelle Hochburg des Motorsports. Es ist ein Sport, der im Allgemeinen ein Nebenprodukt anderer Industrien ist: Amerikas Besessenheit vom NASCAR geht unmittelbar zurück auf Schmuggler, die maßgeschneiderte Autos bauten, um der Polizei zu entkommen; in Finnland sind Fahrkünste unter allen Bedingungen überlebenswichtig, was die Vorliebe für den Rallyesport erklärt; die italienische und deutsche Politik betrachtete die Autoproduktion als zentral für ihre Volkswirtschaft, und ihre Autos dominierten lange Zeit und auch heute noch die Elite des Motorsports; das britische Empire brachte England in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die Spitze der Fahrzeugentwicklung.
Für die Niederländer ist der Weg zur benzingetriebenen Leidenschaft jedoch nicht so klar. Als traditionell große Seefahrernation hat ihr flaches, fruchtbares Land wenig dazu beigetragen, den Rennsport in ihren Genen anzulegen, und es gab keine multinationalen Autogiganten mit Sitz in den Niederlanden, die Teams gegründet oder unterstützt hätten. Während Max Verstappen die Gegenwart und Zukunft des niederländischen Motorsports verkörpert, ist nicht ganz klar, worin seine Vergangenheit gründet.
Rennwagen wurden in den Niederlanden zum ersten Mal im Jahr 1898 gesichtet. Damals gab es schätzungsweise nur zwölf Autos im ganzen Land, und als das Rennen Paris-Amsterdam-Paris im Juli durchs Land führte, geschah das nicht ganz ohne Hintergedanken. Das Rennen wurde vom Automobile Club de France organisiert und inspirierte die Gründung einer ähnlichen niederländischen Organisation – den Nederlandsche Automobiel Club, der dank der königlichen Anerkennung später zum Koninklijke Nederlandsche Automobiel Club (KNAC) wurde –, um „die Automobilindustrie in den Niederlanden zu fördern“. Der Automobilklub organisierte Reisen und Konferenzen, machte Lobbyarbeit bei der Regierung und baute sogar Hotels, um den Autofahrern das Leben einfacher zu machen, als das Auto Europa zu erobern begann. Ihren „königlichen“ Titel verdiente er sich 1913, als er den Streitkräften vor dem sich abzeichnenden Ausbruch des Ersten Weltkriegs dabei half, mit dem automobilen Fortschritt in anderen Ländern Schritt zu halten. Der Klub setzte sich auch für die Rechte der Zivilbevölkerung im Straßenverkehr ein, indem er sich bei der Regierung dafür starkmachte, keine Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Mautgebühren einzuführen. Die drei Dinge, die der Verein unter seinen Mitgliedern fördern wollte, waren: Verkehrssicherheit, Fahrzeugbeherrschung und Geschwindigkeitswettbewerbe.
Vor dem Ersten Weltkrieg wurden in Scheveningen, einem Badeort in der Nähe von Den Haag, einige Rennen veranstaltet, die man getrost als „primitiv“ bezeichnen kann; bis reguläre Rennen in den Niederlanden stattfanden, vergingen noch einige Jahrzehnte. In den 1930er-Jahren wurden Sportwagen populär oder erregten zumindest das Interesse der Öffentlichkeit, als Prinz Bernhard, der mehr als 60 Jahre lang Mitglied des KNAC war, seinen zweisitzigen Ford V8 in die Niederlande brachte und auch oft in einem italienischen Alfa Romeo 8C 2900 gesehen wurde, von dem nur 40 Stück gebaut wurden. Der aus Deutschland stammende Prinz war eine nicht unumstrittene Persönlichkeit mit einer Vorliebe für schnelle Autos, Boote und Flugzeuge, sein Einsatz für die Niederlande während des Zweiten Weltkriegs machte ihn bei den Niederländern jedoch sehr beliebt. Für seine Hochzeit mit Prinzessin Juliana im Jahr 1937 bestellte Königin Wilhelmina einen Maybach Zeppelin, ein besonders imposantes deutsches Auto mit einem Zwölfzylindermotor, das als viersitziges Cabriolet gebaut wurde. Nur ein Jahr später brach sich der Prinz bei einem Unfall mit einem seiner anderen Sportwagen mit 170 km/h Hals und Rippen.
Seine Begeisterung für schnelle Autos teilte auch der Bürgermeister von Zandvoort, Henri van Alphen. Die unweit von Amsterdam und Den Haag gelegene Stadt war ein beliebter Badeort. In der Hoffnung, die Veranstaltung als Aushängeschild für Zandvoort nutzen zu können, richtete Van Alphen einen Straßenkurs durch die Stadt ein und lockte eine Reihe von Superstars des internationalen Motorsports an, um auf dieser Strecke Schaurennen zu fahren. Höhepunkt der Veranstaltung im Jahr 1939 war die Anwesenheit von Manfred von Brauchitsch, einem der besten Rennfahrer der Welt, der 1937 den Großen Preis von Monaco gewonnen hatte und als Werksfahrer für das damals dominierende Mercedes-Benz-Team tätig war. Zur Freude der Einheimischen fuhr er mit seinem Mercedes W154 über den Stadtkurs, dessen Bahn sich in der Mitte fast traf und nur durch einige Strohballen getrennt war.
Doch nur wenige Monate später brach der Krieg aus. Er hätte Van Alphens große Pläne, Zandvoort zur Hauptstadt des niederländischen Motorsports zu machen, zunichte machen können, aber wie alle großen Visionäre ließ er sich nicht beirren.
Nach dem deutschen Einmarsch in Holland und der anschließenden Besetzung gelang es Van Alphen, die Nazis davon zu überzeugen, seine Pläne für die Rennsportinfrastruktur der Stadt weiter zu verfolgen – obwohl er das Ganze als etwas völlig anderes ausgab. Er legte ihnen einen Plan für einen neuen Park im Norden der Stadt vor, um den sich ein Wanderweg schlängelte, der zufälligerweise ein wenig wie eine Rennstrecke aussah. In den Plänen war auch eine lange gerade Straße vorgesehen, die er den Nazis damit schmackhaft machte, dass sie sich gut für eine große Siegesparade eignen würde, sobald der Krieg vorbei wäre. Seine Idee war zwar umsetzbar, aber sie als idyllischen Wanderweg zu verkaufen, war schon ziemlich tollkühn. Das Areal, das er ursprünglich ausgewählt hatte, war schließlich von den Nazis weitgehend zerstört worden – wie auch Hunderte von Häusern und Hotels –, um den Atlantikwall zu errichten, eine ausgebaute Verteidigungslinie, um die Alliierten abwehren zu können, falls sie versuchen sollten, an der niederländischen Küste zu landen.
Nichtsdestotrotz waren die Deutschen von Van Alphens Plan einer „Paradestraße“ überzeugt und so stellten sie ihm die nötigen Arbeitskräfte zur Verfügung, um an dem Projekt zu arbeiten. Eine glückliche und vielleicht gar nicht mal unbeabsichtigte Folge davon war, dass viele Männer im arbeitsfähigen Alter, die sonst womöglich nach Deutschland deportiert worden wären, um als Zwangsarbeiter in der Kriegswirtschaft eingesetzt zu werden, in Zandvoort blieben. Und obwohl Van Alphen als Bürgermeister abgesetzt und durch einen Kandidaten von der Nationaal-Socialistische Beweging ersetzt wurde, einer faschistischen Partei, die mit den Nazis sympathisierte, wurde der Bau fortgesetzt, bis Van Alphen nach der Befreiung des Landes 1945 wieder eingesetzt und die NSB geächtet wurde. Zwar ging er 1948, kurz bevor die Rennstrecke von Zandvoort noch im selben Jahr eröffnet wurde, freiwillig in den Ruhestand, doch sein Nachfolger Hector van Fenema vergaß nicht, Van Alphens überragenden Einsatz für das Projekt zu würdigen: Der Parcours erhielt den offiziellen Namen „Burgemeester Van Alphenweg“, wörtlich „Straße des Bürgermeisters Van Alphen“ – dessen Basis bildete die lange Start-Ziel-Gerade, die er den Nazis als „Paradestraße“ verkauft hatte.
Nach dem Bau der Rennstrecke nahm die Stadt Zandvoort die nächste Herausforderung an: die Durchführung eines Rennens, wovon sie nicht die geringste Ahnung hatten. Auf der anderen Seite des Kanals, in Großbritannien, war man mit der Materie vertrauter und so beauftragte man Desmond Scannell – seinerzeit nicht nur Sekretär des British Racing Drivers’ Club, sondern auch eine der treibenden Kräfte, die in den Anfangszeiten half, Silverstone zu dem zu machen, was es heute ist – um bei der Organisation des ersten in Zandvoort ausgetragenen Grand Prix zu helfen.
„Prijs van Zandvoort, internationale autoraces“ verkündete stolz das 70 Cent kostende Programmheft, auf dem eine große, halbseitige Firestone-Werbung prangte. Als Datum ist der 7. August 1948 angegeben, der damit wohl als Geburtsstunde des Motorsports in den Niederlanden angesehen werden kann. In einem Land, das keine nennenswerte Motorsportgeschichte hat, wirkte das Rennen improvisiert. Es gab keine richtigen Boxen an der Rennstrecke, sodass die meisten Autos, die an dem Rennen teilnahmen, mehrere Tage im Voraus per Schiff in den Niederlanden eintrafen und mitten in Haarlem, der nächstgelegenen größeren Stadt, parkten. Ein Herr, der behauptete, der König von Siam zu sein, dessen Neffe am Rennen teilnahm, kam mit großem Gefolge, um sich das Rennen anzusehen, und wurde von den Ticketkontrolleuren zunächst abgewiesen. Da er keinen öffentlichen Eklat riskieren wollte, ließ einer der verantwortlichen Funktionäre die Gruppe ohne Eintrittskarte durch. Ob es sich wirklich um den Monarchen handelte, weiß man nicht.
Am Ende wurden die 50.000 Besucher der historischen Veranstaltung nicht enttäuscht. Sammy Davis, ein britischer Rennfahrer, der 1927 Le Mans gewonnen hatte, war der Hauptberater für das Streckenlayout. Er nutzte, was ihm zur Verfügung stand, nämlich die von den deutschen Besatzern gebaute Straße, den Wanderweg von Van Alphen und die natürlichen Unebenheiten der Dünen. Die Kurven schlängeln sich in herausfordernden Winkeln um Hügel und Dünen herum, manchmal mit Neigung zur Kurveninnenseite, um höhere Geschwindigkeit zu ermöglichen, manchmal mit Neigung zur Außenseite, um die Autos von der einfachen Ideallinie abzubringen. In dieser Hinsicht ähnelt die Strecke einem Linksgolfplatz, von denen es in der Stadt mehrere gibt, um der Geschwindigkeit der Rennstrecke etwas Ruhigeres zum Ausgleich entgegenzusetzen.
Schon früh galt Zandvoort als eine Strecke, die den Fahrern viel abverlangte, da der raue Nordseewind regelmäßig Sand auf die Fahrbahn blies, wodurch jeder Pilot infolge des Traktionsverlusts aufs Höchste gefordert ist. Die erste Hochgeschwindigkeitskurve am Ende einer langen, leicht ansteigenden Geraden, die Tarzan genannt wird, ist eine Kurve, bei der die Ideallinie früher nicht leicht auszumachen war, weshalb in den ersten Rennen hier oft Überholmanöver stattfanden.
Das Starterfeld dieses ersten Wettbewerbs im Jahr 1948 war in erster Linie britisch geprägt, da Scannell einige seiner Klubmitglieder von einem Start in Zandvoort überzeugen konnte, von denen viele zwei Jahre später an der ersten Formel-1-Weltmeisterschaft teilnehmen sollten. Nach zwei Vorläufen über 24 Runden entwickelte sich das entscheidende Rennen über 40 Runden zu einem wahren Thriller: ein Kampf zwischen Prinz Bira von Siam, einem Mitglied der thailändischen Königsfamilie, der nach England geschickt worden war, wo er das Eton College besucht und sich anschließend in London niedergelassen hatte, und Tony Rolt, einem Armeeoffizier, der kurz vor der Evakuierung von Dünkirchen in deutsche Gefangenschaft geraten war und fast zwei Jahre im sächsischen Colditz verbracht hatte. Er war vor allem als der Mann bekannt, der bei einem Fluchtversuch aus dem als Kriegsgefangenenlager für Offiziere fungierenden Schloss am Bau eines riesigen Segelflugzeugs mitgewirkt hatte, aber befreit wurde, bevor er es benutzen musste. Die beiden Kontrahenten waren also durchaus so etwas wie kleine Berühmtheiten, und dass sie um den Sieg kämpften – den Bira schließlich errang – galt auch als Erfolg für die Strecke, die ursprünglich gebaut worden war, um mehr Touristen in den Badeort zu locken.
Die Fahrer waren von der Strecke in den Dünen angetan, und schon zwei Jahre später, im ersten Jahr der neu eingeführten Formel-1-Weltmeisterschaft wurde der Große Preis der Niederlande in Zandvoort zu einem der beliebtesten Rennen der F1-Saisons. Berühmte Namen wie Alberto Ascari und Juan Manuel Fangio trugen sich in die Ehrenliste ein. Was im Grunde als eine Marketingmaßnahme zur Förderung des Fremdenverkehrs begonnen hatte, war zu einem ernstzunehmenden Sportereignis geworden.
Allerdings setzte im Europa der Nachkriegszeit der Aufschwung nur langsam ein und die Niederlande litten noch sehr unter den Folgen der langen Besatzung durch die Nazis. Kurzum, das Geld war knapp und die Zukunftsaussichten vage. Im Jahr 1954 wurde das Rennen wegen der hohen Kosten nicht ausgetragen, und die Suezkrise von 1956 und 1957 trieb die Treibstoffpreise so weit in die Höhe, dass das Rennen sogar zwei Jahre lang nicht stattfand. Als es 1958 wieder ausgetragen wurde, trug sich mit dem Sieger ein weiterer berühmter Name in die Annalen der Rennstrecke ein: Stirling Moss.
Doch auch von den Schattenseiten des Motorsports blieb der Circuit Zandvoort nicht verschont. Beim Grand Prix 1960 schoss nach elf Runden Dan Gurney in seinem BRM mit vollem Tempo in die berühmte Tarzankurve, doch im entscheidenden Moment versagten die Bremsen. Und so flog mit über 170 km/h über die Zäune und landete auf dem dahinter liegenden Grashügel, wo er den achtzehnjährigen Piet Alders aus Haarlem, der von dort aus zuschaute, traf und tödlich verletzte. Gurney, der bei dem Unfall mit nur einem gebrochenen Arm davongekommen war, wurde danach ein weitaus vorsichtigerer und auf Sicherheit bedachter Fahrer. Nach dem folgenreichen Bremsdefekt tippte er vor einer Vollbremsung manchmal leicht aufs Bremspedal, um die Funktion zu prüfen, und ganz allgemein achtete er mehr auf seine Bremsen als seine Konkurrenten.
Gurney schien jedoch der Einzige in diesem Sport zu sein, den dieser Unfall ernsthaft erschütterte. In den Anfängen der Formel 1 war die Sicherheit von Fahrern und Zuschauern kaum ein Thema, und Todesfälle waren zwar tragisch, gehörten aber als berufsbedingtes Risiko einfach dazu. Der Tod von Piet Alders wurde, wie die Lokalzeitung De Zandvoortse Courant berichtete, von der Masse der Zuschauer schnell vergessen. „Es schien, als wäre das ganz weit weg, auf einem anderen Planeten geschehen“, hieß es in dem Rennbericht. Europa hatte sich vielleicht schon zu sehr an den plötzlichen Tod von Menschen nach den zwei verheerenden Weltkriegen gewöhnt. Vielleicht machte diese permanente Todesgefahr genau wie die aufregenden Rennen selbst den Nervenkitzel und die Faszination aus. Jedenfalls gewann Jack Brabham, der das Feld dominiert hatte, das Rennen, Jim Clark und Graham Hill hatten sich ein langes Duell im Mittelfeld geliefert, bevor Hill Dritter wurde, vor Stirling Moss, der nach einem Reifenschaden eine brillante Aufholjagd hinlegte, die die Zuschauer in ihren Bann zog.
Trotz der großen Popularität des Rennens hat der Große Preis der Niederlande noch nie einen niederländischen Sieger hervorgebracht. Beim Grand Prix 1952 traten zwar mit Jan Flinterman und Dries van der Lof zwei Niederländer an, doch keiner der beiden hat danach jemals wieder an einem Formel-1-Rennen teilgenommen. Der erste reguläre niederländische Fahrer eines F1-Autos war Carel Godin de Beaufort, oder wie er mit ganzem Titel hieß Jonkheer Carel Pieter Antoni Jan Hubertus Godin de Beaufort, ein freigeistiger Aristokrat, der auf dem Familiengut Maarsbergen in der Nähe von Utrecht lebte. Auf dem Nürburgring hat er sich vor dem Start einmal einen Spaß erlaubt und einen Bratwurststand ans Heck seines Autos gebunden, was mit einem Haufen zersplittertem Holz, verbogenem Metall und etlichen ruinierten Würsten endete. (Als Kind hatte er einmal einigen Würdenträgern, die sein Elternhaus besuchten, einen ähnlichen Streich gespielt, woraufhin sein Vater losrannte, um sein Jagdgewehr zu holen. Zum Glück war ihm sein Sohn entkommen.) Trotz seines exzentrischen Sinns für Humor galt de Beaufort im Fahrerlager als wahrer Gentleman und wurde von den Deutschen, die ihn sehr bewunderten, als „Der letzte Ritter“ bezeichnet, eine Anspielung auf seine Herkunft und seinen Charakter.
De Beaufort, der 1957 in Le Mans gewann, war der Meinung, dass das Auto umso schneller sei, je enger die Beziehung zwischen Fahrer und Mechaniker ist, und dass alles sonst, worum sich ein Rennteam auch noch kümmern muss, wie etwa Sponsorenverträge und Werksbesuche, dem nur abträglich sei. Er nahm als Privatmann an den Grands Prix teil, das Auto, mit dem er die Formel-1-Rennen fuhr, gehörte ihm und er kannte es wahrscheinlich besser als jeder andere.
„Meine Art ist anders als ihre“, sagte er über die von den Herstellern unterstützten Teams, gegen die er antrat. „Ich gehe ins Werk und sage ihnen ganz genau, was ich haben möchte.“
Und weiter erzählte er: „Wenn ich von einem Rennen heimkehre, erzähle ich ihnen, was ich alles erlebt habe, und zeige ihnen meine Blätter mit den Rundenzeiten und die Fotos, die ich geschossen habe. Abends führe ich sie zum Essen aus. Und für den Fall, dass sie länger arbeiten müssen, kaufe ich ihnen eine Kiste Bier und bringe einen Haufen Essen mit.“